Die Entwicklung der Individualpsychologie Alfred Adlers - Gisela Eife - E-Book

Die Entwicklung der Individualpsychologie Alfred Adlers E-Book

Gisela Eife

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Beschreibung

Die Intention dieses Buches ist die Ausarbeitung von Adlers grundlegenden Konzeptionen über die Jahre 1912 bis 1937: die Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls und die Verwurzelung des Konzepts des Gemeinschaftsgefühls in der emotionalen Erfahrung, im Leib-Seelischen und in der Philosophie des Lebens. Adler nimmt keine objektivierende Außenperspektive ein; er sieht den Gesamtzusammenhang nicht von außen aus einer reflexiven Distanz, sondern er blickt von der Erfahrung der menschlichen Gemeinschaft her auf die Bedingtheit des menschlichen Lebens. In dieser ganzheitlichen Sichtweise sind alle seine theoretischen Linien verbunden. Adlers theoretische Weiterentwicklung zeigt, dass die Grundbegriffe der Individualpsychologie nicht nur beschreibende Kennzeichnungen sind, sondern vom inneren Erleben ausgehen. Adler übt scharfe Kritik an allen Formen des Zusammenlebens, die vom "Willen zur Macht" geleitet sind, und setzt sich für ein Miteinander im Sinne einer wirklichen Verbundenheit ein. Das E-Book ist eine revidierte Fassung der Einleitung zum 3. Band der Alfred-Adler-Studienausgabe, ergänzt um das Kapitel »Die relationale Dimension der Individualpsychologie«. Da Alfred Adlers gesammelte Aufsätze chronologisch nach ihrem Erscheinungsjahr angeordnet sind, ist es möglich, die schrittweise Herausbildung der individualpsychologischen Theorie gut nachzuvollziehen. Die Zitate sind jeweils der Originalversion der Aufsätze entnommen.

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Gisela Eife

Die Entwicklung derIndividualpsychologieAlfred Adlers

Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie,Psychotherapie (1912–1937)

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Alfred Adler, um 1935/akg-images/Imagno

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-90122-0

Inhalt

Vorwort

Die Doppelte Dynamik: Das Herzstück von Adlers Theorie

1Die Kompensation

1.1Die neurotische Form der Kompensation: Die Minderwertigkeits-Kompensations-Dynamik

Exkurs 1: Das Trauma als Ursache der Neurose?

Exkurs 2: Der Negativismus der Neurose

1.2Die allgemein-menschliche Form der Kompensation

2Das Gemeinschaftliche

2.1Entwicklungslinie der Bewegung (1926–1933)

2.2Entwicklungslinie der emotionalen Erfahrung (1923/1926–1933)

2.3Entwicklungslinie des Gemeinschaftsgefühls (1923–1933)

3Die Zusammenführung der doppelten Linien: Kompensation und das Gemeinschaftliche

3.1Der unbewusste Lebensstil als das Ich

3.2Die immanenten Eigenschaften des Lebens

3.3Die Ausgestaltung der Lebenskraft in der doppelten Dynamik

4Behandlungsanweisungen

4.1Behandlungsanweisungen aus »Individualpsychologische Behandlung der Neurosen« (1913a)

4.2Behandlungsanweisungen in den Jahren 1926–1931

Ausblick: Die relationale Dimension der Individualpsychologie

1Die Erfahrungsbildung

1.1Die leibseelische Verarbeitung der Erfahrung

1.2Die Erfahrung der Mitbewegung und der Gefühlsabstimmung

1.3Die Ganzheitlichkeit des Erlebens

2Die intersubjektive Entwicklung des Lebensstils

3Interaktion der Lebensstile und die Begegnung von Therapeutin und Patientin

Literatur

Alfred Adler Studienausgabe

Adlers Schriften

Forschungsliteratur

Vorwort

Dieses Buch ist eine revidierte Fassung meiner Einleitung zum dritten Band der Alfred Adler Studienausgabe (Adler, 2010). Ein neues Kapitel wurde hinzugefügt: »Die relationale Dimension der Individualpsychologie«.

Der Ausgangspunkt der psychotherapeutischen Theorie Adlers kann in seinem Hauptwerk »Über den nervösen Charakter« (Adler, 1912a/2008a) gut studiert werden. Die weitere Ausarbeitung erschließt sich vor allem in dem Sammelband »Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie, Psychotherapie« (Adler, 2010). Wesentliche Gesichtspunkte sind auch aus der Schrift »Der Sinn des Lebens« (Adler, 1933b/2008b) zu entnehmen. In einem Überblick kann man folgende Konzepte als Hauptstationen der Theorieentwicklung benennen: die Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls und das Konzept des Gemeinschaftsgefühls, dessen Verwurzelung in der emotionalen Erfahrung, im Leib-Seelischen und in einer lebensphilosophischen Basis. Alle diese Tendenzen durchziehen Adlers gesamtes Werk.

Viele Einflüsse, Impulse und Anstöße haben zum Entstehen dieses Buches beigetragen, insbesondere die Lebensphänomenologie des französischen Philosophen Michel Henry. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die meine individualpsychologische Entwicklung begleitet haben. Der Austausch mit meinem Lebensgefährten, dem Psychoanalytiker und Meister-Eckhart-Forscher Karl Heinz Witte, hat mich in vielen Gesprächen bereichert und inspiriert. Ich danke Erik Mansager von der Classical Adlerian Depth Psychotherapy (CADP) und Paola Prina-Cerai, einer der Herausgeberinnen des UK Adlerian Year Book, für ihr Interesse und ihre Unterstützung. Meiner Lektorin Frau Ulrike Rastin danke ich für ihr Interesse an meinem Buchprojekt und für ihre freundliche Hilfsbereitschaft in allen meinen Fragen und Anliegen.

Die Doppelte Dynamik: Das Herzstück von Adlers Theorie

Adlers Theorie thematisiert, wie der Mensch sein Leben in der Welt bewältigt. Das Leben des Einzelnen wie der Masse stellt sich nach Adler als ein »Kompensationsprozess« (1937g)1 dar, der gefühlte oder vermeintliche »Minderwertigkeiten« körperlich und seelisch zu überwinden trachtet.

Für Adler ist dies »ein Glück des Menschen, der Beginn, der Keim zur Entwicklung der Menschheit« (1926k, S. 258). Das Minderwertigkeitsgefühl ist »Ansporn« (S. 258) und »Anstoß« (1933l, S. 568) für das Streben nach einem Ziel der Sicherheit und Überlegenheit. Damit begründet Adler seine Neurosenlehre in einem übergeordneten Motiv, nämlich der Zielorientiertheit des Menschen, statt in einem Partialtrieb (Libido) oder in einem System von mehreren Motivationen.

In den ersten Jahren nannte Adler diesen Kompensationsprozess »Lebensplan« und ab 1926 »Lebensstil«.

Noch unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs fügte Adler 1918 das Gemeinschaftsgefühl in seine Theorie ein. Die Entdeckung des Gemeinschaftsgefühls stellt eine entscheidende Wende in Adlers Theorieentwicklung dar. Er entdeckte, dass seelische Gesundheit nicht allein durch eine Korrektur von Störungen zu gewinnen ist. Die Gesundheit der Patientinnen2 ist vom Grad ihres Gemeinschaftsgefühls abhängig. Seit der Einführung des Gemeinschaftsgefühls ist Adlers Theorie eine Wertpsychologie. Gemeinschaftsgefühl dient als Korrektiv und Kriterium.

1918 beschreibt Adler am Beispiel der Werke Dostojewskis »eine doppelte Bezogenheit« (1918c, S. 109). »Es ist die doppelte Bezogenheit jeder Figur auf zwei außerordentlich fixierte Punkte, die wir fühlen. Jeder Held Dostojewskis bewegt sich mit Sicherheit im Raum, der einerseits abgegrenzt wird durch das isolierte Heldentum, wo der Mensch sich in einen Wolf verwandelt, andererseits durch die Linie, die Dostojewski als Nächstenliebe so scharf gezogen hat. Diese doppelte Bezogenheit gibt jeder seiner Figuren einen so sicheren Halt und einen so festen Standpunkt, dass sie unerschütterlich in unserem Gedächtnis und in unserem Gefühl ruhen« (1918c, S. 109).

Adlers theoretische Schlussfolgerung lautet, die »Erfahrung von der überragenden Notwendigkeit der Gemeinschaftsbestrebungen« streite gegen das »Verlangen nach Macht« (1918h, S. 115). Adler sieht den Gegensatz in den zwei Fixpunkten, auf die jede Figur bezogen ist: das isolierte Heldentum oder die Nächstenliebe. Beide Tendenzen des menschlichen Lebens erinnern an Melanie Kleins Konzept der depressiven und paranoid-schizoiden Position (Klein, 1944/1975, S. 317), aber für Adler sind diese Konzepte in seiner Lebensphilosophie begründet.

Wenn Raskolnikow von einer Bezogenheit in die andere wechselt, überschreitet er »die Grenze […], die ihm durch sein bisheriges Leben, durch sein Gemeinschaftsgefühl und durch seine Lebenserfahrungen gesetzt war« (1918c, S. 102). Diese Grenze kann eine Umkehr der Lebensbewegung darstellen, einen Ausstieg aus der Kompensationsdynamik in ein Leben im Gemeinschaftsgefühl. Adler hat diese Gedanken damals nicht weiterverfolgt. Erst 1929 prägte er für diese beiden Tendenzen des menschlichen Lebens den Ausdruck »doppelte Dynamik«. Diesen Begriff hat er nie definiert, aber in vielen Gedankengängen hat er in dieser Richtung weitergeforscht (siehe 3. Kapitel).

1918 bemerkt Adler, wie der Mensch auf diese zwei Fixpunkte bezogen ist: das isolierte Heldentum oder die Nächstenliebe. Zu dieser Zeit löst er diese Fixpunkte noch nicht in Bewegung auf – ein Phänomen, das er Ende der 1920er Jahre konzeptualisiert. Bemerkenswert ist, dass er von Bezogenheit spricht, der Beziehung zweier Romanfiguren, später dann nur noch von Formen der Bewegung. Auch in der Quantenphysik (Görnitz u. Görnitz, 2008) sind die festen Strukturen aufgelöst, und es gibt nur noch Beziehungen oder Bewegungen. Adler kannte die damals neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. 1914 kritisierte er »die jetzt überholte ältere Naturwissenschaft mit ihren starren Systemen« (1914h, S. 145). Bei derartiger experimenteller Forschung erscheine »das subjektive Denken und Einfühlen ausgeschaltet«, während es »in Wirklichkeit freilich recht kräftig den Zusammenhang meistert«. Diese Wissenschaft sei »heute allgemein ersetzt […] durch Anschauungen, die biologisch, aber auch philosophisch und psychologisch das Leben und seine Varianten im Zusammenhang zu erfassen trachten« (S. 145).

1926 nennt er nochmals diese doppelte Bezogenheit, das »Streben nach Überlegenheit« und die »Größe des Gemeinschaftsgefühls, das dieses Individuum an die andern bindet« (1926m, S. 275). 1929 gelingt ihm die prägnante Formulierung der doppelten Dynamik, die beide Bezogenheiten als Bewegungen erfasst und vor allem beide Bewegungen in jedem Phänomen erkennt: Man kann »die gleichlaufenden Linien und Bewegungsformen des Gemeinschaftsgefühls und des Strebens nach Überlegenheit in zwei oder mehreren Ausgestaltungen« (1929f, S. 354) wahrnehmen.

»In jeder seelischen Ausdrucksbewegung ist demnach neben dem Grad des Gemeinschaftsgefühls das individuelle Streben nach Überlegenheit festzustellen und an anderer Stelle zu bestätigen. So werden wir erst beruhigt die Akten schließen, wenn wir diese doppelte Dynamik im neurotischen Symptom genau in der gleichen Weise spielen gesehen haben wie in irgendwelchen anderen Lebensäußerungen« (S. 353).

Adler beschreibt hier zwei Bewegungsformen in jedem Phänomen, eine »im Sinne des Gemeinschaftsgefühls«, die andere »im Sinne der persönlichen Macht« (1928m, S. 332). Der Ausdruck »doppelte Dynamik« meint nicht zwei gegensätzliche Kräfte, sondern eine Lebenskraft, die sich ichbezogen und mitmenschlich auswirken kann.

Mit der Formulierung der doppelten Dynamik versucht Adler, das menschliche Leben insgesamt in ein Konzept, in einen lebensphilosophischen Entwurf zu fassen. In dieser ganzheitlichen Sichtweise sind alle seine theoretischen Linien verbunden. Und dies ist das Wesentliche an Adlers Ganzheitsbetrachtung: Das ganze menschliche Leben ist von dieser doppelten Dynamik bestimmt. Daraus folgt, dass alle Begriffe Adlers in ihrer existenziellen Bedeutung nur von dieser Dynamik her zu verstehen sind. Deshalb stellt dieses Konzept für mich den inneren Zusammenhang von Adlers Theorie dar.

Im Folgenden gehe ich diesen Aspekten oder Tendenzen nach:

–der Kompensation,

–dem Gemeinschaftlichen und

–ab 1931 der Zusammenführung beider Linien.

Die neurotische Form der Kompensation erarbeitet Adler zuerst.

1Die Kompensation

Adlers Theoriebildung geht von der Organminderwertigkeit aus. Schon 1908 spricht er von Kompensation der Organminderwertigkeit »durch Wachstum und Funktionssteigerung« (1908e, S. 54). Kennzeichnend für die minderwertigen Organe ist seiner Meinung nach, dass sie in ihrer embryonalen Entwicklung noch nicht ganz ausdifferenziert seien; der Mangel könne aber in der weiteren Entwicklung kompensiert werden.

Diesen Gedanken der Kompensation erweitert er auch auf die psychische Entwicklung. Anstoß für die Kompensation sind also Minderwertigkeit und Minderwertigkeitsgefühl. Das Minderwertigkeitsgefühl stammt »aus realen Eindrücken«; es wird später »tendenziös« (1913a, S. 63) festgehalten und verlangt eine Kompensation im Sinne der Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls.

Für diese Kompensation findet Adler ein allgemeines Prinzip des menschlichen Lebens, das bereits den existenziellen Ansatz seiner Dynamik deutlich macht: Der Mensch entwirft (unbewusst) Vorstellungen von sich selbst, wie er sein möchte, um in dieser Welt leben zu können.3 In den frühen Aufsätzen wird die Kompensation zum »männlichen Protest«, 1912 in »Über den nervösen Charakter« (1912a) zum »Willen zur Macht« und zum »Streben nach persönlicher Überlegenheit«. Der männliche Protest wird nur noch in zwei Beiträgen (1930n, S. 373; 1931n, S. 21–24) genannt; er sei nichts anderes als die »Konkretisierung eines Strebens nach Macht, wie sie durch die soziale Unterschätzung und Unterwertung der Frau in unserer Kultur notwendigerweise erzwungen wird« (1930n, S. 382).

Der »Wille zur Macht« wird in den folgenden Aufsätzen nicht mehr erwähnt. Adler gibt dieses Konzept nicht auf; er nennt den »Willen zur Macht« jetzt »Streben nach Überlegenheit«, »Streben nach Gottähnlichkeit« und ab 1926 »Streben nach Überwindung und Vollkommenheit«.

Adlers Neurosenlehre wurde in seinem Hauptwerk »Über den nervösen Charakter« (1912a) in seiner endgültigen Fassung vorgelegt und später in seiner Grundstruktur nicht mehr verändert. Adler beschrieb zuerst die neurotische Form, ab 1926 dann die allgemein-menschliche Form des Kompensationsstrebens.

1.1Die neurotische Form der Kompensation: Die Minderwertigkeits-Kompensations-Dynamik

In diesem Kapitel werden Themen behandelt, die für Adler entscheidend sind. Sie kommen bereits in Adlers Hauptwerk 1912 vor und werden im Lauf seines Lebens immer wieder aufgegriffen und fortgeführt. Diese Themen sind von Adlers Ganzheitsbetrachtung her zu verstehen, das heißt von der intrapsychischen, unbewussten Dynamik, die er später die doppelte Dynamik nannte. Die Themen lauten: Organminderwertigkeit, psychisches Minderwertigkeitsgefühl, Fiktion, Finalität, Persönlichkeitsideal, Kompensation, Einheit, Wille zur Macht, Individualität, subjektives Denken und Fühlen, bewusst – unbewusst, Kindheitserleben und Zielvorstellung, schöpferische Kraft, Körper und Psyche.

Adler nahm die »Organminderwertigkeit« (1908e) als Grundlage der Neurosen; später erweiterte er die Minderwertigkeit durch die psychologische Dimension zum Minderwertigkeitsgefühl. Aber das Interesse an der Organminderwertigkeit zieht sich durch Adlers ganzes Werk.

Da der Neurotiker sich dem Leben gegenüber minderwertig fühlt, strebt er danach, »sich dem Leben gewachsen zu erweisen« (1913a, S. 63) und es zu sichern. Adler spricht sogar vom »Zwang zur Sicherung der Überlegenheit« (S. 60).

Dieser Zwang »wirkt dermaßen stark, dass jedes seelische Phänomen […] neben der Oberfläche seiner Erscheinung noch den gleichen Zug in sich trägt: von einem Gefühl der Schwäche loszukommen, um die Höhe zu erreichen, sich von ›unten‹ nach ›oben‹ zu erheben« (S. 60). Jede »seelische Ausdrucksbewegung des Nervösen« trägt in sich zwei Voraussetzungen: »ein Gefühl des Nicht-Gewachsenseins, der Minderwertigkeit und ein hypnotisierendes, zwangsmäßiges Streben nach einem Ziele der Gottähnlichkeit« (1914k, S. 161).

Adler spricht von der »realen Not« (1923f, S. 217), der »Dürftigkeit und Hilflosigkeit des Kindes« (1923c, S. 207) und ergänzt, dass das Minderwertigkeitsgefühl auch aus der »Hinfälligkeit des menschlichen Organismus gegenüber der Natur« (1923f, S. 217) stammt.

Nun heißt für ihn »Mensch sein […] ein Minderwertigkeitsgefühl haben; denn gegenüber der Natur, gegenüber den Schwierigkeiten des Lebens, des Zusammenlebens, der Vergänglichkeit des Menschen kann sich ja niemand eines Minderwertigkeitsgefühls entschlagen« (1926k, S. 258).

Die Antwort auf diese existenzielle Erfahrung liegt in der individuellen Verarbeitung der Erfahrung. Und diese Antwort wird im »fixen Punkt« außerhalb der eigenen Persönlichkeit, einem Postulat Adlers, gesucht. Für Adler bündeln sich die psychischen Tendenzen in einer leitenden »Fiktion«; hier beruft er sich auf Vaihinger (1911).

Adler nennt diese unbewusste Vorstellung, die den Menschen vor dem Chaos und der Unsicherheit des Lebens sichert und ihm Orientierung gibt, einen »fixen Punkt außerhalb seiner selbst« (1912a, S. 80). Deshalb kann man mit der phänomenologischen Tradition von einer immanenten Transzendenz sprechen, einer »Intentionalität, die sich auf ein Außen richtet, ohne den Bereich der Subjektivität zu überschreiten« (Witte, 2008, S. 162). Diese immanente Transzendenz ist ein Wesensmerkmal des Individuums als Subjekt. Das Streben nach diesem Ziel, das »Streben nach oben« ist die treibende und organisierende Kraft der Persönlichkeitsbildung.

Nach Adler ist die Psyche ein Angriffs- und Verteidigungsorgan (1930n, S. 374). Der Mensch kann nicht anders, als sich auf etwas auszurichten. Von allen Merkmalen der Individualpsychologie ist dies das bedeutendste, dass Adler das Individuum in seiner Finalität erfasst hat. Er schreibt, dass wir nicht in der Lage sind, »zu denken, zu fühlen, zu wollen, zu handeln, ohne dass uns ein Ziel vorschwebte« (1914h, S. 146).

Die Zielgerichtetheit der Psyche sei eine Auffassung »a priori« (S. 146), die dazu diene, Geschehnisse zu ordnen und sie »unter ein gemeinsames Licht zu stellen« (S. 146). Dabei beruft sich Adler auf Kant, auf dessen Lehre von den apriorischen Formen der Anschauung (1932g, S. 566) und auf die »Festsetzung der Einheitlichkeit der Persönlichkeit […], ohne die eine psychologische Untersuchung überhaupt nicht denkbar wäre« (1926k, S. 252). Die Einheit »ist das Eingangstor zur Individualpsychologie, ihre notwendige Voraussetzung« (S. 252).

Das zielgerichtete Streben gibt der menschlichen Lebensbewegung eine einheitliche Richtung und bedingt die Einheit der Persönlichkeit. »Ein derartig einheitliches Handeln kann nur verstanden werden, wenn man annimmt, dass das Kind einen einheitlichen fixen Punkt außerhalb seiner selbst gefunden hat, dem es mit seinen seelischen Wachstumsenergien nachstrebt« (1912a, S. 80, Hervorh. von Adler).

Aufgrund der Zielsetzung ist trotz Symptomveränderung und Neurosenwandel die Einheit der Persönlichkeit gewahrt. Diese einheitliche Persönlichkeit besteht, »ohne dass sie dem bewussten Denken gegeben wäre, ohne dass sie der Kritik bewusst ist« (1926k, S. 256).

In verschiedenen Formulierungen wird von diesem »Punkt außerhalb seiner selbst« gesprochen: Zunächst ist er das Ziel des sichernden Strebens; Adler spricht von Persönlichkeitsideal, Ziel der Überlegenheit und Gottähnlichkeit und von leitender Fiktion. In den 1930er Jahren ist dieser Bezugspunkt »eine ewige Aufgabe des Individuums« (1931n, S. 483), das ferne Ziel der Entwicklung einer idealen Gemeinschaft »sub specie aeternitatis« (1933i, S. 555).

Ein einheitliches Erleben, in dem wir uns mit uns selbst identisch fühlen, erfahren wir nur durch das unbewusst gesetzte konkrete Ziel. Dadurch ist aber das Sich-identisch-Fühlen als Identität radikal infrage gestellt.

Für Adler gibt es keine natürliche, nur eine fiktive Identität.4 Zu diesem unbewussten »Ich« macht Adler 1931 eine bis heute radikal klingende Aussage, dass nämlich dieses Ich mit seinem Lebensstil identisch sei (1931l, S. 454) und nur fassbar in dieser Bewegung oder Stilisierung, »so dass wir immer und immer wieder auf die Individualität stoßen, auf den Lebensstil eines Menschen, auf sein Ich« (S. 454).

Das ist bis heute eine bemerkenswerte Aussage. »Was häufig als das ›Ich‹ (Ego) bezeichnet wird, ist weiter nichts als der Stil des Individuums« (1935e, S. 72). Das Ich ist nicht das angestrebte Ideal noch der vorgestellte Akteur, mit dem ich mich zu identifizieren versuche, sondern es ist die Bewegung des Lebensstils, es ist »die in Akten vollzogene Beziehung eines eigenartig stilisierten Individuums zu Fragen der Außenwelt« (1936j-1, S. 612).