Anderwelten - Uschi Zietsch - E-Book

Anderwelten E-Book

Uschi Zietsch

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Beschreibung

Das Tor ist geöffnet. Tretet hindurch! Was passiert, wenn ein Dämon seinen Auftrag nicht erfüllt? Wer steckte wirklich hinter dem Rattenfänger von Hameln? Ist es möglich, dass ein Gott seine Gläubigen verlässt? Ist der Tod ewig? Ein Bogin unternimmt seine erste Reise und gerät mitten in den Kampf zwischen zwei Dörfern, die ein Fluss trennt. Zwei Helden sind aus unterschiedlichen Motiven auf der Suche nach Drachen, obwohl es heißt, dass es diese längst nicht mehr gibt. Oder nie gab. Welches pikante Detail aus »Dornröschen« wurde uns vorenthalten – und warum können manche Menschen Dinge sehen, die anderen verwehrt sind? 12 Geschichten aus den uns umgebenden Welten. Band 2 der Werkausgabe gesammelter Storys.

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Seitenzahl: 306

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Titelseite

Uschi Zietsch
Anderwelten

Das Tor ist geöffnet. Tretet hindurch!

Was passiert, wenn ein Dämon seinen Auftrag nicht erfüllt? Wer steckte wirklich hinter dem Rattenfänger von Hameln?

Ist es möglich, dass ein Gott seine Gläubigen verlässt? Ist der Tod ewig?

Ein Bogin unternimmt seine erste Reise und gerät mitten in den Kampf zwischen zwei Dörfern, die ein Fluss trennt.

Zwei Helden sind aus unterschiedlichen Motiven auf der Suche nach Drachen, obwohl es heißt, dass es diese längst nicht mehr gibt. Oder nie gab.

Welches pikante Detail aus »Dornröschen« wurde uns vorenthalten – und warum können manche Menschen Dinge sehen, die anderen verwehrt sind?

12 Geschichten aus den uns umgebenden Welten.

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Die Autorin:

Uschi Zietsch, geboren 1961 in München, publiziert seit 1986 in vielen verschiedenen Genres, ist als Susan Schwartz Teamautorin bei Perry Rhodan, gibt Schreibseminare, arbeitet zudem als Lektorin und Coach und ab und zu als Moderatorin sowie Stand-up-Comedian im Duo Außer&Irdisch.

Bei Fabylon sind u.a. erschienen:

Unerwartete Begegnungen (Werkausgabe 1) Elfenzeit Die Chroniken von Waldsee Das Reich Albalon

www.uschizietsch.de

Impressum

© Fabylon Verlag 2024 Umschlaggestaltung: Madeleine Hirth, Cover: Julius H/KI/Pixabay ISBN 978-3-946773-50-4 Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten. www.fabylon.de

Vorwort

Vorhang auf für den zweiten Band der Werkausgabe!

Hier findet ihr Fantasy, Fantasy und noch mehr Fantasy. Einige Geschichten sind inspiriert von keltischen Mythen, andere leicht erotisierte Märchen, als »wahre Geschichte« überzeugend dargebracht. Außerdem finden sich Geschichten aus Albalon und Waldsee.

Alle Geschichten, einschließlich der bereits veröffentlichten, wurden gründlich überarbeitet und teilweise erweitert.

Auch hier habe ich eine Lieblingsgeschichte, und diese ist ebenfalls nicht schwer zu erraten.

Ich wünsche erneut viel Lesespaß!

Markt Rettenbach, April 2024

Siebensturm

Jener Raum befand sich im Seitenflügel des Schlösschens an der Seine, fünfzig Kilometer von Paris entfernt. Dieser Teil des ansonsten sehr romantischen Gebäudes war stark renovierungsbedürftig. Jahrhundertealter Staub trieb träge durch verbrauchte Luft, die sich auch durch häufiges Lüften niemals erneuern konnte. Der Putz fiel von den Wänden, das Parkett war eingesunken und an einigen Stellen gebrochen, Holzbalken lagen kreuz und quer, Einrichtung war in dem meisten Räumen überhaupt keine mehr vorhanden. Wer sollte sich hierher verirren? Nicht einmal stark angetrunkene Partygäste fanden den halb verfallenen Bereich nostalgisch reizvoll.

Genau deshalb ging Jean Roubinier hier seinen geheimen Projekten nach. Dazu gehörte unter anderem, einen Drudenfuß auf den Boden des Raumes zu zeichnen, Kandelaber an die Spitzen zu stellen und einen Kreidekreis darum zu ziehen, der mit speziellen Kräutern und Essenzen zweifelhafter Mischung ausgefüllt wurde. In einem Regal standen Lexika und Grimoires, Zauberbücher und ein Handbuch Aleister Crowleys, das durch häufigen Gebrauch fleckig und abgegriffen war.

An einem milden Maiabend zog Jean Roubinier sich in diesen Raum zurück, um wieder einmal eine Beschwörung durchzuführen.

Marie-Jade, dachte er. Er sah sie jeden Tag und fast überall. Ihr Gesicht prangte auf Bussen, an den Werbewänden der Metro, strahlte aus dem Fernseher oder von Hochglanz-Magazinen. Ganz Paris war von ihrem Lächeln erfüllt.

Jean Roubinier verlangte danach, dass Marie-Jades Lächeln ausschließlich sein Herz und Anwesen erfüllen sollte, er wollte sie für sich haben, auf immer und ewig. Als strahlende Gemahlin an seiner Seite und Mutter seiner Kinder. Es wurde Zeit, dass er daranging, denn er war der letzte Spross seiner Familie und lebte nicht ewig.

Sie waren einander schon vorgestellt worden, auf einer Filmparty oder Soiree, sie wurde überallhin eingeladen, weil sie wunderschön war und Frankreich in Mode und Kosmetik vertrat, und Jean Roubinier, weil er ein nicht unbedeutender Sponsor war. Marie-Jade war freundlich gewesen, hatte sich aber nicht weiter für ihn interessiert. Um nicht zu sagen: Sie hatte ihn abgewiesen. Eindeutig. Das wurmte Jean Roubinier gewaltig, denn er hatte ursprünglich den Ehrgeiz gehabt, Marie-Jade allein durch seine Person für sich zu gewinnen. Und danach mit seinem Geld, aber das interessierte sie nun gar nicht, da sie selbst als Supermodel längst vermögend war.

Diese Seifenblase war also zerplatzt, und es war Zeit für Plan B, der allerdings wirkungsvoller sein würde, da Marie-Jade ihm dadurch vollkommen ausgeliefert wäre und er sich ihrer auf ewig sicher sein konnte. Vielleicht ohnehin die bessere Lösung, da sie keine potentielle Scheidung beinhaltete.

In einen schwarzen Kapuzenumhang gehüllt, begann Jean Roubinier die Beschwörung. Darin hatte er inzwischen Routine, allerdings gab es heute einen kleinen Unterschied zu sonst: Zum ersten Mal würde er einen Dämon der Mittleren Hölle beschwören. Bisher hatten die Angehörigen der Oberen Hölle genügt, aber Marie-Jade würde nicht so einfach zu erobern sein. Jean Roubinier musste ganz sichergehen, schließlich hing sein Erbe davon ab. Und sein Besitz. Also alles, was für ihn von Bedeutung war.

Mit viel Gemurmel und Gebrumme, Singsang und Gesten führte Jean Roubinier die Beschwörung durch und war erstaunt, wie gut, ja simpel es funktionierte. Ein Blitz, ein Knall, die Kerzen erloschen beinahe, bevor sie hell strahlend aufflammten, eine Schwefelwolke waberte durch den Raum – und in der Mitte des Pentagramms stand ein großer Dämon.

Seine Gestalt war nicht so recht auszumachen, eher diffus, hin und herwabernd, wie vom Winde verweht, rötlich-grau und mit der Andeutung von Hörnern.

»Was gibt’s?«, fragte er unfreundlich, streckte sich und kratzte sich unter der semimateriellen Achsel. »Ich werde nicht gern aus dem Schlaf gerissen.«

»Bist du … ein Dämon der Mittleren Hölle?«

»Mhm. Siebensturm, wenn’s beliebt, 23. Bataillon, Fünfter Kreis …«

»Moment mal«, unterbrach Jean Roubinier verwirrt. »Heißt das, du hast irgendwas mit Wind zu tun? «

»Schlaues Bürschlein«, stellte der Dämon anerkennend fest. »Wie mein Name schon sagt, kenne ich mich mit Stürmen aus. Wen willst du wegblasen? Soll ich eine Stadt für dich verwüsten? Ein Schloss auf einen Berg pusten? Die Fabrik eines Konkurrenten zerstören? Du hast Glück, es ist gerade Angebotswoche. Pro Stadtverwüstung gibt es einen Tod durch Blitzschlag gratis dazu.«

»Ich … ich wollte einen Liebesdämon beschwören!«, rief Jean Roubinier.

Der Dämon kam nah an die Grenze des Bannkreises heran und fletschte grinsend die Zähne. »Dann hast du dich wohl vertan, Schätzchen. Siebenlieb ist mein Bruder. Aber mach dir nichts draus. Kleine Verwechslung einer Rune, eine falsche Betonung … das kommt schon mal vor.«

»Äh … könntest du dann bitte gehen und deinen Bruder holen?«

»Nein.«

»Aber ich habe dich beschworen, du musst mir gehorchen!«

»Ja, in Menschendingen. Dämonenangelegenheiten gehen dich nichts an. Ich bin kein Laufbursche. Wenn du meinen Bruder haben willst, mach gefälligst alles richtig.«

Jean Roubinier schwieg und dachte nach. Es war sehr aufwendig gewesen, alle Bestandteile für diese Beschwörung zusammenzubekommen. Und die Mittlere Hölle war nicht zu unterschätzen. Die Dämonen dort waren nicht nur sehr groß, sondern auch schlau und mächtig. Möglicherweise sprach es sich herum, dass Jean Roubinier gepatzt hatte, und dann konnte es böse enden.

»Also, da ist dieses Mädchen …«, fing er an.

»Uäks«, machte der Dämon.

»Aber hast du sie überhaupt gesehen?«, fauchte Jean Roubinier erbost. Er hatte ein Plakat mitgebracht, um dem Dämon die Frau seiner Träume zu zeigen und eine Verwechslungsgefahr auszuschließen, entfaltete es und hielt es hoch. »Das ist Marie-Jade.«

»Uih«, sagte der Dämon.

Seine kleinen rotglühenden Augen funkelten auf einmal in einem anderen Licht. »Also, äh …«, fuhr er mit lang heraushängender, sabbernder Zunge fort. »Ich will mal nicht so sein. Was kann ich für dich tun?«

Jean Roubinier entschloss sich, das Angebot anzunehmen. Dämon war Dämon, letztendlich. Und warum sollte ein windiger Typ seine Angebetete nicht auf eine rosa Wolke fliegen können?

Er setzte Siebensturm auseinander, was er wollte, und versprach ihm dafür nicht nur eine, sondern zwei Seelen: die seine und Marie-Jades. Denn Jean Roubinier wollte Marie-Jade auch in der Hölle an seiner Seite haben. »Meine Kinder allerdings bleiben von dem Handel ausgeschlossen«, sagte er bestimmt. »Für den Preis von Marie-Jades Seele verlange ich ein langes, erfülltes Leben mit ihr und frühestens dann unser gleichzeitiges Ableben, wenn wir schon erwachsene Enkelkinder haben.«

»Klar, warum nicht«, antwortete Siebensturm, dessen Augen beunruhigend glitzerten. »Für mich spielen die paar Jahre mehr oder weniger keine Rolle – Hauptsache, ich mache Karriere. Und du riechst mir ganz danach, Bürschlein. Außerdem ist gerade Angebotswoche, habe ich das schon erwähnt?«

»Ich glaube, ja.«

»Also gut, abgemacht. Ich verderbe Marie-Jades Seele und sorge dafür, dass sie dich für immer und ewig anbeten wird, ihr beide lebt glücklich, bis eure Enkelkinder dein Imperium erben, und dann kriege ich eure beiden Seelen gleichzeitig.«

»Ja, ich denke, das können wir so besiegeln.«

»Allerdings gibt es keine Garantie, keine Gewährleistung und kein Rückgaberecht. Ich liefere, der Rest geht mich nichts an. Und du wirst mich kein zweites Mal beschwören, egal was passiert.«

»Einverstanden.« Jean Roubinier zog einen Ritualdolch, stach sich damit in den Handballen und ließ fünf Tropfen Blut auf den Rand des Kreises fallen. Zischend stieg Dampf auf, und der Bann löste sich an dieser Stelle auf. »Unterschrieben und besiegelt. Jetzt mach dich an die Arbeit.«

»Bin schon unterwegs!«, pfiff Siebensturm und sauste wie ein Scirocco durch ein gesprungenes Fenster davon.

Siebensturm war gar nicht böse darum, beschworen worden zu sein. Selten genug bekam er Gelegenheit, die Hölle einmal zu verlassen – außer zu Kriegszeiten. Seine Brüder waren häufig unterwegs und gaben nur so an mit ihren Erlebnisberichten, wohingegen Siebensturm selten mitreden konnte. »Du bist halt zu windig«, sagten seine sechs Brüder zu ihm und lachten, bis Feuer aus ihren Ohren schlug.

Alle sammelten sie Seelen und waren längst befördert worden, nur Siebensturm hatte immer noch den Status des einfachen Gefreiten. Dabei war er eine echte Naturgewalt, wenn er so richtig loslegte! Doch sein Vater bevorzugte Seuchen und Pest, Schändung, Zerstückelung und Folter und überhaupt alles, was schön blutig und grausam war. »Wenn ich ein Hausdach auf eine Familie fallen lasse, gibt es doch auch Blut!«, verteidigte sich Siebensturm, aber sein Vater winkte ab: zu harmlos. Vor allem waren Opferseelen jeglicher Art für ihn verloren. Auch die von Wirbelstürmen, Tornados, Zyklonen, Blizzards. Opfer waren eben Opfer.

Welch ein Glück daher, dass dieser dumme Mensch sich in der Beschwörung vertan hatte! Wenn Siebensturm gleich zwei Seelen vorweisen konnte, würde sein Vater ihn bestimmt mit anderen Augen betrachten und ihn endlich befördern. Die Seele Jean Roubiniers war bereits verdorben genug, sie war dem Dämon sicher und würde einen guten Preis in der Hölle erzielen. Marie-Jades Seele aber, die noch rein war, könnte die Bank des Casinos sprengen, wenn Siebensturm sie verdarb. Das war endlich einmal eine richtige Herausforderung! Rien ne va plus, alles oder nichts. Er würde Marie-Jade nach allen Regeln der Dämonenkunst verführen und verderben, bevor er sie Jean Roubinier übergab und dann über die Jahre näher an die Hölle locken. Das würde ein Spaß!

In der nächsten Zeit beschäftigte Siebensturm sich zunächst damit, sein Opfer kennenzulernen, um die weitere Strategie zu planen.

Als sanft säuselnde Brise, die sie umwehte und umschmeichelte, begleitete er Marie-Jade auf ihrem täglichen Nachmittagsspaziergang mit ihrem schwarzen Mops Anabell. Sie fühlte sich nicht schlecht an, soweit er das als Körperloser feststellen konnte. Manchmal wirbelte er kleine Blätter vor dem Mops her, der ihnen verspielt kläffend nachjagte, nur um Marie-Jades glockenklare Stimme zu hören. Damit sie »Anabell! Fang sie!«, rief und vergnügt lachte, wenn der kleine Ringelschwanz mit dem quirligen Hund vorndran nur so fröhlich wedelte.

Siebensturm gesellte sich frühmorgens als frischer Windstoß zu Marie-Jade auf ihrer zehn Kilometer umfassenden Joggingrunde, bevor sie ins Fitnessstudio ging. Geduldig wartete er draußen und empfing sie mit kurzem Brausen, sobald sie herauskam.

Er beobachtete Marie-Jade bei ihren Terminen, wenn sie zu ihrer Agentur ging, sich mit einem Fotografen traf, ein Interview gab. Ab und zu gönnte sie sich einen Kaffee und ein heimliches Eis. (Ein guter Ansatzpunkt, notierte Siebensturm: Sie war verführbar.)

Abends machte sie sich fein und ging ins Theater, zu einem Empfang, in einen Club, auf eine Party oder auch in die Disco. Siebensturm war immer mit dabei und machte sich einen Spaß daraus, ihre aufwendige Frisur durcheinanderzuwirbeln. Sie wurde nicht zornig. Sondern kicherte darüber wie eine Zehnjährige, die sich kopfüber in einen Laubhaufen stürzte.

Einmal empfing Siebensturm einen Ruf und traf sich mit Jean Roubinier im Beschwörungsraum. Der Mann war sehr ungeduldig und verlangte Rechenschaft, doch der Dämon ließ sich nicht in seine Arbeit hineinreden und hauchte Jean Roubinier mit einer Wolke aus Schwefel und Salpeter an, bis der ganz grün wurde. Dann baute er sich zum brausenden Wirbelsturm auf und donnerte: »Wage es nicht noch einmal, mich zu dir zu zitieren! Ich komme, wenn mein Teil des Abkommens erfüllt ist, und bis dahin wirst du dich gedulden, oder ich entreiße dir deine Seele sogleich und werfe sie den Höllenhunden zum Fraß vor!«

»D-das darfst du nicht, e-es gibt Regeln«, stotterte Jean Roubinier eingeschüchtert, doch Siebensturm lachte nur dröhnend.

»Ihr Menschen wisst gar nichts über uns und die Regeln. Wir sind die Regeln!« Als Dämon musste man schließlich einen gewissen Ruf wahren, sonst wurden diese Sterblichen zu aufmüpfig. Immerhin wirkte sein Auftritt, der Mann entschuldigte sich und versprach, sich nicht mehr einzumischen.

Damit sah Siebensturm den Zeitpunkt gekommen, in Phase Zwei seines Plans zu treten: direkte Konfrontation.

*

Der Dämon passte einen Nachmittag ab, als Marie-Jade sich wieder einmal der Sünde hingab, ungeschminkt und in Lotterjeans zu einem Café mit Außenplätzen schlich, in dem man sie noch nicht kannte, und dort mit Anabell Schokoladentorte naschte. Und zwar ein ganz großes Stück, mit Sahne, Amarena-Kirsche und Schokostreuseln.

Darauf hatte er gewartet.

Er brauste zu dem Tisch auf dem Trottoir, an dem die junge Frau allein saß, und baute sich vor ihr auf. Dabei achtete er darauf, dass nur Marie-Jade ihn sehen konnte, niemand sonst. Das war die erste Lektion, die ein Dämon in der Ausbildung lernte – die richtige Frequenz einzustellen, andernfalls funktionierte die Sache mit der Besessenheit nämlich nicht. Was alle sahen, verlor seinen Schrecken.

»Du hast dich versündigt!«, donnerte er mit seiner wirkungsvollsten Tornadostimme. »Deine Seele gehört nun mir!«

Anabell sah zu ihm hoch, wedelte kurz und schenkte ihm dann weiter keine Beachtung. Hatte keine Angst. Dummer Hund. Schien zu sehr damit beschäftigt, den Anteil am Schokoladenkuchen aufzuschlecken.

Dass sie ihn überhaupt sah, war nicht verwunderlich, bei Tieren funktionierte das mit der Frequenz nicht. Aber so gar keine Angst zu haben, das war einfach … unerhört!

Marie-Jade musterte den hoch über ihr aufragenden, grauroten, wirbelnden, gehörnten Dämon mit kühlem Blick. »Wegen eines Stückchens Schokoladenkuchen? Ich habe es noch nicht einmal ganz gegessen.«

Siebensturm war für einen Augenblick aus dem Konzept gebracht, stellte kurz die Rotation ein, um sie dann gegenläufig fortzusetzen. »Völlerei ist eine der sieben Todsünden! Und ich, Siebensturm, bin beauftragt, jedes dieser Vergehen zu bestrafen!« Ziemlich beeindruckend, fand er. Sieben Todsünden, sein Name … ja, das hatte was.

Marie-Jade rührte in ihrem Espresso. »Wenn ich das richtig verstehe, bist du ein Dämon?«

»Ganz recht, ich bin Siebensturm, der …«

»Und seit wann arbeitest du für den da oben?« Sie deutete mit dem Löffel zum Himmel.

Gerade noch konnte er sich bremsen, nach oben zu blicken. Sein sofortiges unrühmliches Ende wäre das gewesen. Obwohl er manchmal schon gern gewusst hätte, wie es da so aussah. Selbst als Sturm war der Blick nur nach unten gerichtet, auf das Ziel, das er heimsuchte.

»Das tu ich nicht, wie kommst du darauf?«

»Nun, soweit ich weiß, werden die Todsünden doch vom Himmel geahndet.«

»Ja, und dein Urteil wurde bereits gefällt – somit wirst du der Hölle übergeben!« Siebensturm wurde allmählich wütend. Was war nur aus den schreckhaften, abergläubischen Menschen geworden, die er früher heimgesucht hatte? Diese Sterbliche hatte nicht nur keine Angst, sie wagte es, mit ihm zu diskutieren?

»Ziemlich kleinlich.« Marie-Jade zuckte die Achseln. »Spielt sowieso keine Rolle. Ich glaube nicht an Dämonen.«

»Ich …« Siebensturm, der sich gerade aufgeblasen hatte, um Marie-Jade mit sich zu nehmen und auf ihr künftiges Leben »vorzubereiten«, fiel halb in sich zusammen, wie ein Ballon, aus dem die Luft gelassen wurde. »Äh … wie bitte?«

»Deine großen Spitzohren sind wohl nur zur Dekoration da? Ich sagte, ich glaube nicht an Dämonen oder die Hölle!«

»A-aber wieso denn nicht?«

»Na, sieh dich doch mal um in der Welt. Reicht das nicht?«

Der Dämon war so fassungslos, dass er auf den leeren Stuhl an Marie-Jades Tisch sank, kaum mehr als ein Hauch war von ihm übrig. »Aber du kannst mich doch sehen …«

»Ich bin anscheinend empfänglich für ektoplasmatische Erscheinungen. Was weiß ich. Du hast davon angefangen, nicht ich.«

»Ektopl…« Siebensturm versagte die Stimme. Ihm fiel nichts mehr ein. »Aber deine Seele …«

»Ich will dir mal was sagen.« Marie-Jade beugte sich vor. Ein dunkles Licht lag in ihren sonst strahlenden Augen. »Ich habe keine Ahnung, was meine Seele ist. Aber Typen von deiner Sorte kenne ich zur Genüge, die glauben, sie können sich alles nehmen, was sie haben wollen. Du musst schon andere Geschütze auffahren, wenn du mich beeindrucken willst. Angst machen kannst du mir jedenfalls nicht. Nach allem, was ich bereits durchgemacht habe, brauche ich nichts mehr zu fürchten, glaub mir.« Sie schob eine Strähne hinter ihr linkes Ohr, und eine feine weiße Narbe wurde am Haaransatz sichtbar. »Diese Narbe und andere stammen tatsächlich von Schönheits-OPs, aber sie haben nichts mit Lifting zu tun.« Sie fixierte den Blick des Dämons. »Wenn du der bist, der du vorgibst zu sein, kannst du in mich hineinblicken. Tu es!«

Siebensturm gehorchte und saß dann völlig vernichtet da. Er würde seinen Teil der Abmachung nicht erfüllen können, das hatte er begriffen. Diese wunderschöne, liebliche Frau hatte bereits in die Abgründe der Hölle geblickt, um nicht zu sagen, sie war noch lebend darin gewesen. Es gab nichts, womit Siebensturm sie beeindrucken, ängstigen, geschweige denn sie brechen könnte. Darüber war sie längst hinaus. Unverdorben aus der Asche hervorgetreten.

»Lebst du deswegen allein?«

»Nicht allein.« Marie-Jade deutete auf Anabell. »Aber ich lebe nicht mit einem Menschen zusammen, das ist lorrekt.«

Was es eigentlich einfacher machen sollte, sie zu verderben, da ihm niemand ins Handwerk pfuschen konnte. Aber in diesem Fall …

»Du bist geschickt worden, richtig?«, fuhr Marie-Jade fort. Sie hob Anabell auf ihren Schoß und streichelte sie, was der Mops mit wohligem Grunzen quittierte. Siebensturm wusste nicht warum, aber er war ein bisschen neidisch. »Ich kann mir schon denken, von wem. Seit einem halben Jahr stellt er mir nach. Wenn du mich fragst, ist er geisteskrank. Aber auch gefährlich. Männer wie er … nun. Was tun wir jetzt?«

»Ich werde dich töten«, antwortete Siebensturm ernst. »Dann werde ich deine Seele nehmen und sie verderben. Glaub mir, das geht. Jede Seele kann verdorben werden. Damit werde ich mich bei meinem Vater von der Verpflichtung meinem Auftraggeber gegenüber freikaufen.« Er deutete auf Anabell, die ihn aus großen feuchten Augen betrachtete, ihr Ringelschwanz wedelte zaghaft. »Ich werde sie benutzen, um dich zu kriegen.«

In Marie-Jades Augen blitzte kurzzeitig Schmerz auf. Doch ihre Stimme klang ruhig. »Dann mache ich dir einen Gegenvorschlag, und niemand wird etwas erfahren, wenn du es richtig machst.«

Siebensturm zeigte sich aufgeschlossen. Er war nicht gerade erpicht darauf, sich mit seinem Vater auseinanderzusetzen.

»Überzeuge mich«, sagte Marie-Jade. »Wenn es dir gelingt, mich zu überzeugen, werde ich freiwillig mit dir gehen und mich diesem Kerl ausliefern. Da meine Seele dann ohnehin schon verloren ist, werde ich einen Weg finden, ihn binnen eines Jahres auszuschalten, damit er mit mir in der Hölle brennt.«

»Wie … soll ich dich überzeugen?«, fragte Siebensturm ratlos.

»Waff«, machte Anabell. Hatte sie gerade zu ihm gesagt, dass er dumm war?

Marie-Jade lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen zurück und lächelte bedeutungsschwer. »Erfülle deine Aufgabe als Dämon: Verführe mich.«

Ach so! Siebensturm grinste. »Nichts leichter als das.« Das war eine schöne Herausforderung. Der Auftraggeber konnte ruhig noch eine Weile schmachtend leiden. Seine Laune besserte sich erheblich. Das würde nun wirklich ein Spaß!

*

Dachte Siebensturm, der Dämon, geborener Verführer. Aber es war keineswegs so einfach, wie er sich das vorstellte. Mit simpler Erotik war es nämlich überhaupt nicht getan, also diese Geschichten mit Incubus und Succubus und all das. Marie-Jade war innerlich ausgehöhlt und tot, sie empfand kein Begehren mehr, und die Nähe eines Mannes, der noch dazu wie ein sabbernder Dämon aussah (obwohl er sich in sein bestes Outfit geworfen hatte), war ihr widerwärtig. Siebensturm versuchte es also in weiblicher Gestalt und scheiterte bereits an der Schwelle.

Was wollte Marie-Jade? Was verstand sie unter Verführung? Nachdem er sie nachts nicht einfach heimsuchen konnte, verabredete Siebensturm sich mit Marie-Jade jeden Abend aufs Neue. Irgendeinen Weg, einen Trick musste es geben, ihr Verlangen zu wecken. Der Dämon reiste nach Transsilvanien und sprach mit Vampiren. Er brauste nach Deutschland, um sich von Werwölfen beraten zu lassen, den Nachkommen Isegrims, der einst Rotkäppchen verführte – so war es nämlich in Wirklichkeit gewesen, bevor die prüden Brüder Grimm etwas anderes daraus machten. Er wehte nach Japan und Indien und China, um sich in allen Regeln der Liebeskunst unterweisen zu lassen.

Aber jeden Abend schloss Marie-Jade ihre Tür vor seiner Nase. Manchmal war sie erbost über sein rüdes Verhalten, manchmal peinlich berührt. Manchmal fand sie ihn lächerlich, aber immer sagte sie: »So nicht. So billig gebe ich meine Seele nicht her.«

Jeden Abend wiederholte sich dieselbe Szene. Siebensturm traf sich mit Marie-Jade, sie gingen aus, er versuchte sich in immer neuen Verführungskünsten, und sie ließ ihn abblitzen.

Der Dämon hatte Jean Roubinier vergessen, jetzt packte ihn der persönliche Ehrgeiz. Er fing an, darauf zu achten, was Marie-Jade gefiel. Achtete mehr auf sein Aussehen und seine Kleidung, lernte Benimm, sagte Höflichkeiten anstatt mit Schwefel gewürzte Derbheiten. Brachte ihr süße Leckereien mit, denen sie nicht widerstehen konnte. Stürmte nicht mehr forsch voran, sondern gab sich als milde, sanfte Brise.

Irgendwann stellte er fest, dass ihm ihr Lachen gefiel. Er fühlte sich wohl dabei. Also gab er sich Mühe, dass sie so viel wie möglich lachte. In ihren Augen tanzten dann Sterne, was er wundervoll fand. Schließlich sah ein Dämon niemals die Sterne, der Blick zum Himmel war ihm strengstens verboten und würde ihn wie festgestellt auch umgehend vernichten.

Marie-Jade zeigte ihm Dinge, die er nie für möglich gehalten hätte, sie erzählte ihm Geschichten, die er noch nie gehört hatte. Er hörte ihr zu. Er sah sie an.

Eines Abends fragte er: »Was liegt dir nur an diesem kleinen schwarzen Ding, das nicht mehr als schnaufen und grunzen und mit den Ohren schlackern kann?« Und das ihn bei allem Schwefelgestank und schlechten Manieren vertrauensvoll ansah. Auffordernd geradezu. Schon wieder wackelte der Ringelschwanz, und der Mops legte den runden Kopf leicht schief, als er ihn ansah.

»Anabell liebt mich, einfach so«, antwortete Marie-Jade. »Sie ist immer da, sie ist immer treu, und … sie verlangt keinen Preis.«

»Das geht doch nicht. Alles hat seinen Preis!«

»Nicht das, was bedingungslos ist.«

»Wäh! Sentimentaler kitschiger melodramatischer Quatsch!« Es schüttelte ihn.

Sie schmunzelte. »Der Preis ist, wenn du so willst, dass ich ihr etwas zurückgebe von dem, was sie mir schenkt.«

Siebensturm wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Begriff er es denn?

Marie-Jade lächelte ihn an. »Nur darum geht es«, sagte sie leise: »Das ist der Schlüssel.«

*

Nachdem Marie-Jade die Tür hinter sich geschlossen hatte, wehte Siebensturm unschlüssig durch die Gassen. Irgendetwas hatte sich verändert, das ihn beunruhigte. Zu spät bemerkte er, dass seine sechs Brüder ihn plötzlich umringten, und er konnte nicht mehr ausweichen.

»Wo treibst du dich die ganze Zeit herum?«, zischten sie. »Denkst du, du kannst einfach Urlaub machen? Vater verlangt Ergebnisse! Roubinier hat sich bereits mehrfach beschwert, und das ist gar nicht gut für unser Image!«

Sie schubsten ihn, schlugen ihn, traten ihn zu Boden, bedrohten und bespuckten ihn. Bezeichneten ihn als Versager, Schande, Speichellecker.

Siebensturm versuchte zu erklären, doch sie hörten ihm nicht zu.

Er bekam eine letzte Frist. Bis zum Morgengrauen. Danach würden sie sich der Sache annehmen – Marie-Jades und Anabells, dieses grässlichen, vertrauensvollen, niemals wankenden, Frohsinn verbreitenden Scheusals.

»Nicht der Hund!«, rief Siebensturm, und da lachten sie erst recht.

*

Zerschlagen und schluchzend schleppte Siebensturm sich zu Marie-Jades Wohnung zurück.

Auf sein Klingeln öffnete sie sofort – und ließ ihn über die Schwelle. Zum ersten Mal.

»Was haben sie dir angetan?«

Er erzählte ihr alles. Beichtete nun von Anfang bis Ende, wie diese ganze Sache zusammenhing, und dass sie ihn verstoßen und den Auftrag an seiner Stelle beenden würden, wenn er nicht bis zum Morgengrauen erfüllte, was besiegelt war.

»Siebensturm«, sagte Marie-Jade daraufhin ruhig. »Hast du je darüber nachgedacht, warum du all das getan hast?«

Er schüttelte den Kopf.

»Du bist ein mächtiger Dämon. Wie hätte ich mich dir denn widersetzen können? Du hättest mich einfach nur zu nehmen brauchen. Deine Drohung bei unserer ersten Begegnung, mich zu töten, hättest du umgehend umsetzen können. Wie du sagtest: Jede Seele kann verdorben werden.«

»Ich dachte, du glaubst nicht an Dämonen.« Schniefend zog er dämonischen Rotz hoch.

»An Dämonen nicht«, sagte sie. »Aber an dich.«

Er starrte sie aus blutunterlaufenen Augen an. Beinahe gleich groß waren sie jetzt, und er fühlte, wie Stofflichkeit ihn befiel. Seine Verbannung stand kurz bevor. Alles war verloren. »Wie meinst du das?«, flüsterte er verzagt.

Sie lächelte. »Du brauchst meine Seele?«, fragte sie.

Er nickte.

»Dann gebe ich sie dir.«

Siebensturm glaubte, sich verhört zu haben. Marie-Jade hielt sich die Hände an die Brust, als würde sie in sich hineingreifen. Etwas schien aus ihr zu fließen, eine kleine Kugel, die in ihren Händen aufleuchtete. Diese Kugel nahm sie und drückte sie Siebensturm an die Brust, ehe er erschrocken zurückweichen konnte. Die Kugel drang ihn in ein und löste sich auf.

»Oh …«, machte er, dann sank er keuchend auf die Knie. Körperlicher Schmerz durchflutete ihn, zum ersten Mal in seiner Existenz.

Marie-Jade kniete neben ihm nieder. »Eines Tages«, sagte sie sanft, »hast du es von dir aus getan: mich zu gewinnen. Nicht wegen des Vertrags. Du hast es für dich getan. Und mir dabei viel gegeben, um es zu erreichen. Mit jedem Tag mehr. Darum gebe ich dir nun meine Seele.«

Sie seufzte leicht und stand auf. »Nun hast du dein Ziel erreicht. Was wirst du damit anfangen?«

Siebensturm richtete sich langsam auf, betrachtete seine Hände, tastete seinen Körper ab. Seinen hörnerlosen Kopf. Standauf dem Boden. Spürte sein Gewicht, und das Gewicht der Welt. Staunend füllte er seine Lungen zum ersten Mal mit Luft. Er hatte eine Seele. Und war damit zum Menschen geworden!

Fühlte sich gar nicht mal so schlecht an. Sterblich, okay, aber man konnte nicht alles haben.

Das Beste war aber, dass die Vereinbarung damit hinfällig war, nichtig, weil der unterzeichnende Dämon keiner mehr war. Der Vertrag hatte sich aufgelöst und seine Brüder mussten ergebnislos nach Hause abziehen.

»Grundgütiger«, entfuhr es ihm. »Vater wird stinksauer sein.«

Aber, wenn er es recht bedachte, die Hölle war ziemlich weit weg, um nicht zu sagen, für ihn als Lebenden jetzt unerreichbar. Und Vater hatte ihn sowieso nie gemocht und nur selten beachtet. Wahrscheinlich war er sogar froh, wenn der Schandfleck der Familie blieb, wo er war. Und Jean Robiniers schwarze Seele war dem Großfürsten ja trotzdem sicher. Siebensturms Abschiedsgeschenk. Damit waren sie quitt.

Siebensturm streckte die Hand aus und berührte Marie-Jades zarte Haut an der Wange zum ersten Mal mit stofflichen Fingern. Fühlte ihre Wärme. Zeichnete das Lächeln ihrer Lippen nach. Versank in dem Licht in ihren Augen.

Sah darin ihre Seele.

»Wa… Du hast mich reingelegt!«, stellte er fest. Sonderbarerweise amüsiert, nicht erzürnt.

»So kannst du es sehen«, erwiderte sie. »Ich sehe es so, dass ich dir etwas gegeben habe, von dem du glaubtest, dass es eine Seele sei. Und wahrscheinlich ist es das auch. Ein Sprichwort sagt: Geteilte Freud ist doppelte Freud. Man kann sein Herz teilen, und offenbar auch eine Seele, wie wir jetzt wissen. Alles eine Sache des Glaubens, nicht wahr?«

»Nun ja … ich gl- … weiß nicht so recht.«

»Wirst du gleich. Komm mit.«

Er ließ sich von ihr aus der Wohnung über die Treppen nach unten ziehen. Anabell hüpfte schwanzwedelnd, ohrenschlackernd und hell kläffend hinterher, umtanzte Siebensturm und Marie-Jade dann auf der Straße, toll vor Freude, wie ein kleiner Mops nun einmal so war, wenn seine Menschen glücklich waren.

Denn Hunde sind in Wirklichkeit kleine Engel, deren Flügel sich in einzigartige und ausdrucksvolle Ohren gewandelt haben. Das wissen nur wenige, und am wenigsten die Hunde selbst.

Marie-Jade aber wusste es, denn Anabell hatte ihr einst das Leben und die Freude zurückgebracht.

Und wem tat solche überbordende Zuneigung und Fröhlichkeit denn nicht gut? Einem Ex-Dämon jedenfalls schon, es erfüllte sein junges, unverbrauchtes Herz, das gerade erst zu schlagen begonnen hatte.

In der Dunkelheit zwischen zwei Straßenlaternen blieb Marie-Jade stehen, matt vom Mondlicht beschienen, und deutete nach oben. »Schau.«

Und Siebensturm sah.

Der krumme Takt

He … Vorsicht, pass doch auf, wo du hintrittst! Was heißt hier: Hallo, Alva? Ist das eine Entschuldigung? Ach – du bist das? Entschuldige, ich bin ganz durcheinander! Es ist so ein Chaos hier, sechzigtausend Leute, das macht mich ganz verrückt … und ausgerechnet du trittst auf meine Füße, ich fasse es nicht! Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Fast zwei Jahre, nicht wahr? Ja, du hast mir auch sehr gefehlt. Ich bin blass? Verändert? Ja, das kann sein. Die ganze Welt ist verändert, es hat nur noch keiner bemerkt. Ich spreche in Rätseln? Ich kann dir erzählen, was geschehen ist, wenn du versprichst, dass du mir zuhörst, als der gute Freund, der du immer gewesen bist. Die Hoffnung, dass du mir glauben wirst, hege ich nicht, denn meine Geschichte ist viel zu verrückt. Aber selbst wenn du mir glaubst, wird das uns beiden oder der Welt auch nicht mehr helfen, denn es ist zu spät.

Mach nicht so ein sorgenvolles Gesicht. Du wirst gleich erfahren, warum ich so merkwürdig bin. Du warst immer mein bester Freund, und wir haben über alles miteinander geredet. Ich habe sonst niemandem, mit dem ich darüber sprechen könnte.

Die Zeit seit unserem letzten Treffen ist mit fast unheimlicher Geschwindigkeit vergangen, es kommt mir vor, als wär's ein Jahrhundert gewesen. Vielleicht war es ja so lang?

Ich lernte damals einen Mann kennen, er heißt Conn, und er ist der Leader von den New Dark Elves, deren Auftritt wir gerade sehnlichst erwarten. Da bist du platt, was? Ich kenne die größte Röhre der geilsten Rockgruppe der letzten Zeit, und nicht nur das, ich bin seine Geliebte, und, was das Schlimmste ist, ich bin ihm hörig. Du glaubst mir nicht? Hör einfach nur zu, ohne Fragen zu stellen. Bald wirst du verstehen.

*

Ich habe Conn kennengelernt, als die New Dark Elves noch nichts weiter waren als ein Name, eine fixe Idee. Ich befand mich zu der Zeit in den Staaten, vielleicht erinnerst du dich noch daran, dass ich fortlaufen wollte aus der Enge Deutschlands und in den Staaten Karriere machen. Du meintest damals noch grinsend, dass das nur wieder einer meiner vielen Träume wäre, woraus ja doch nichts würde, aber ich habe kurzentschlossen einen Flug nach New York gebucht, den Koffer gepackt und mich ins Flugzeug gesetzt, noch ehe ich so richtig über meinen Entschluss nachdenken und ihn vielleicht bereuen konnte.

Halt, die Flasche ist für mich! Danke. Was soll ich mit einem Glas? Ich habe nur zwei Hände und keinen Platz zum Abstellen. Was willst du denn noch von mir? Geld? Vergiss es. Schreib’s auf Conns Rechnung. Ja, du dich auch.

Prost! Auch einen Schluck? Bester irischer Whiskey. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal an so ein Zeug gewöhnen würde. Jetzt kann ich’s nicht mehr lassen, wie so vieles andere. Warum schüttelst du jetzt schon wieder den Kopf? Ich habe doch noch gar nicht richtig angefangen zu erzählen. Ach, der Whiskey? Das ist ganz normal. Ich trinke regelmäßig. Um es korrekt auszudrücken: ich saufe. Schon zum Frühstück. Das hilft mir über alles hinweg und ist meine einzige Möglichkeit, mich zu schützen und vor der Realität zu fliehen. Nur wenn ich betrunken bin, kann ich alles vergessen und Conn ertragen.

*

Damals habe ich noch gedacht, man könnte fortlaufen, indem man einfach in ein anderes Land fährt, das möglichst weit weg von zu Hause ist. Ich glaubte, man könnte anderswo leichter einen neuen Anfang finden, wenn man daheim nichts auf die Reihe kriegt. Damals war ich noch rührend naiv.

New York erschien mir als der richtige Ort, um wieder zu mir selbst zu finden. Ein Hexenkessel, eine schreckliche, zugleich unglaublich faszinierende Stadt. Es war genau die richtige Therapie. Nie zuvor war ich so verloren, einsam, gefangen und hilflos gewesen. Ich war in einem mittelmäßigen Hotel untergekommen, das Zimmer war einigermaßen sauber. Schon nach vier Tagen weinte ich mich jeden Abend in den Schlaf, ich fühlte mich elender denn je. Was wollte ich hier? Wovor war ich davongelaufen? Warum war ich ausgerechnet in diese Stadt geflohen, statt mich, da ich nun schon allein sein wollte, irgendwo in den idyllischen Schweizer Bergen zu erholen? Natürlich meldete ich mich bei keinem von euch, das Handy hatte ich gekündigt. Was sollte ich mit einer deutschen Nummer in den Staaten? Und sollte ich öffentlich machen, dass ich schon wieder gescheitert war?

Ziellos lief ich tagsüber durch die Straßen, machte eine Besichtigungstour nach der anderen, rannte durch alle Museen. Und immer die Angst. Überfallen zu werden, unschuldig in irgendwelche Justiztretmühlen zu geraten, verfolgt zu werden. Nachts ließ ich das Licht brennen. Jeden Tag wollte ich heimfliegen, aber davor hatte ich noch mehr Angst: vor dem Flug, vor der vertrauten Umgebung. Vor euch. –

Entschuldige, darauf muss ich einen trinken. Willst du wirklich keinen? Doch, jetzt schon? Na also. Köstlich, was? Jaja, die Iren.

Und dann wurde ich tatsächlich überfallen. Ich hatte mich hoffnungslos verirrt und war irgendwie in eine jener Gegenden geraten, die man besser nicht besichtigt. Es war Nachmittag, aber dort wurde es bereits Nacht. Der Himmel war hier irgendwie noch dunstiger, die verfallenden Häuser standen bedrückend eng aneinander, überall Müll und Dreck. Ich hatte schreckliche Angst. Ich konnte nichts mehr hören oder sehen, das Blut rauschte in meinen Ohren, und mein Herz hämmerte so stark, dass mir die ganze Brust wehtat. Ich kann mich nicht erinnern, wie lange ich dort umherirrte, bis ich einen Schlag auf den Kopf bekam und das Bewusstsein verlor.

Ich erwachte, als mich jemand an der Schulter rüttelte, und schlug erschrocken um mich.

»He, langsam«, hörte ich eine sanfte, ruhige Stimme über mir. Eine männliche Stimme. »Ich tue dir nichts.«

Ich rieb meine Augen, mein Kopf schmerzte fürchterlich. »Was ist denn passiert?«, krächzte ich.

»Du bist überfallen worden«, erklärte die Stimme.

Ich blinzelte, und endlich erkannte ich einen jungen Mann mit langen blonden Haaren und veilchenblauen Augen über mir. Einen ausnehmend hübschen jungen Mann. Bestimmt nur wenige Jahre älter als ich.

»Hallo«, stieß ich hervor.

»Hi«, sagte der Mann. »Ich bin Conn.«

»Ich bin Alva.«

»Welch ein passender Name.«

»Flirtest du gerade mit mir? Schlechter Zeitpunkt. Sehr schlechter Zeitpunkt.«

Ich stand langsam auf, mir war schwindlig, und vor meinen Augen verschwamm alles. Ich tastete meine Taschen ab und fluchte stöhnend.

»Alles weg?«, fragte Conn mitfühlend.

Ich nickte.

»Na, komm erst mal mit.« Er umfasste meinen Arm, aber ich riss mich los.

»Ich kann allein gehen. Beschreib mir nur den Weg zu meinem Hotel, dann finde ich mich schon zurecht.«

Er lächelte. »Ich bin kein verkleideter Unhold.«

»Kannst du das beweisen?«

»Nein. Aber du kommst jetzt mit.« Er nahm meine Hand, und es war, als erhielte ich einen elektrischen Schlag. Ich fühlte mich plötzlich ganz ruhig und geborgen, so merkwürdig leicht, und ließ mich einfach von ihm in ein abbruchreifes Haus führen. »Im Keller haben wir unseren Übungsraum«, erklärte er unterwegs.

»Wer – wir?«, fragte ich erschrocken, doch er öffnete bereits die Tür und deutete breit grinsend auf seine Freunde, die ihre Musikinstrumente traktierten. »Armagh, Borach und Buinne. Meine Kumpel.« Er stellte mich ihnen vor, drückte mich auf einen Stuhl und gab mir einen Kaffee.

»Wir sind eigentlich aus Irland«, fuhr er fort. »Unsere Familien sind nach Amerika ausgewandert, als wir noch ganz klein waren, und wir wollen jetzt zurück. Aber nicht als arme Bittsteller, sondern reich und berühmt, um unsere Landsleute zu unterstützen. Wir haben eine Band gegründet, und nicht die Schlechteste, kann ich dir sagen. Übermorgen haben wir einen Vorspieltermin, und sobald wir unser erstes Album aufgenommen haben, geht’s auf Tournee. Zuerst Amerika, dann Asien und Europa. Irland kommt zuletzt dran, weil wir dort dann auch bleiben.«

Ich lachte über seine Naivität. Jaja, solche Träume hatte ich auch gehabt und die hatten mich in diese Lage gebracht. »Glaubst du im Ernst, dass ihr gleich einen Albumvertrag bekommt?« Er nickte heftig. »Nichts gegen deinen Idealismus, aber ich halte ihn für etwas zu blauäugig.«

»Hör dir das doch erst mal an«, meinte Armagh. »Wir werden dir was vorspielen, dann wirst du schon sehen, was wir meinen.«

Und dann spielten sie mir ein Stück vor, das mich vom Stuhl riss. Es war Deirdres Sorrow, ihre nur wenige Wochen später erscheinende erste Single-Auskopplung, die gleich die Nummer 1 wurde. Du kennst sie, wie jeder um den Globus.

Aber ich war die erste, der sie das Stück vorgespielt hatten, noch vor dem Termin.

Nie zuvor hatte ich so eine unbeschreibliche, mitreißende und aufwühlende Musik gehört, und von meinem Gesicht war sicherlich deutlich abzulesen, was ich dachte.

Die vier grinsten, nachdem sie geendet hatten.

»Naaa?«, machte Conn gedehnt und triumphierend.

»Das ist irre!«, schrie ich. »So etwas hat die Welt noch nie gehört!«