Das Reich Albalon 1: Der Bund der Fiandur - Uschi Zietsch - E-Book
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Das Reich Albalon 1: Der Bund der Fiandur E-Book

Uschi Zietsch

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Beschreibung

Albalon, das Weiße Reich, ist ein Land voller Mythen und Legenden. Seit tausend Jahren herrscht Frieden unter den Völkern. Die Erinnerung an den "Großen Krieg" davor ist vergangen. Kaum jemand glaubt noch daran, dass er jemals stattgefunden hat. Doch ein Geheimbund, die Fiandur, ist seit vielen Jahren einem Netz aus Intrigen und Verschwörung auf der Spur. Was, wenn der Frieden nur eine Lüge ist? Eine unbekannte Macht hegt großes Interesse daran, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Und was hat es mit der Schauermär um den Helden Peredur auf sich, der angeblich seit Jahrhunderten auf der Suche nach seinem Herzen ist, weil es ihm von dem bösen Albtraumwesen "Schwarzauge" gestohlen wurde? Wie hängt das alles zusammen? Die Rätsel der Vergangenheit zu lösen, wird weitreichende Folgen für das Schicksal und die Freiheit aller Völker Albalons haben ...

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Uschi Zietsch

Das Reich Albalon

Band 1

Der Bund der Fiandur

Albalon, das Weiße Reich, ist ein Land voller Mythen und Legenden.

Seit tausend Jahren herrscht Frieden unter den Völkern. Die Erinnerung an den »Großen Krieg« davor ist vergangen. Kaum jemand glaubt noch daran, dass er jemals stattgefunden hat.

Doch ein Geheimbund, die Fiandur, ist seit vielen Jahren einem Netz aus Intrigen und Verschwörung auf der Spur.

Was, wenn der Frieden nur eine Lüge ist?

Eine unbekannte Macht hegt großes Interesse daran, die Vergangenheit ruhen zu lassen.

Und was hat es mit der Schauermär um den Helden Peredur auf sich, der angeblich seit Jahrhunderten auf der Suche nach seinem Herzen ist, weil es ihm von dem bösen Albtraumwesen »Schwarzauge« gestohlen wurde?

Wie hängt das alles zusammen?

Die Rätsel der Vergangenheit zu lösen, wird weitreichende Folgen für das Schicksal und die Freiheit aller Völker Albalons haben …

Die Autorin:

Uschi Zietsch publiziert seit 1986 erfolgreich in verschiedenen Genres und kann auf weit über zweihundert Veröffentlichungen zurückblicken. www.uschizietsch.de

Bisher erschienen:

Das Reich Albalon 1: Der Bund der Fiandur

Das Reich Albalon 2: Das Herz des Königs

In Vorbereitung: Band 3: Schwarzauges Erbe

In Vorbereitung: Band 4: Jaderose

Als Fantasy-eBooks sind ferner erhältlich:

Drakhim – Die Drachenkrieger

Die Chroniken von Waldsee (Trilogie Gesamtausgabe)

Nauraka – Volk der Tiefe (Waldsee 4)

Fyrgar – Volk des Feuers (Waldsee 5)

Der Stern der Götter (Waldsee – Prequel)

Eine Kurzgeschichte aus Waldsee: Der wahre Schatz

Sternwolke und Eiszauber (neue, erweiterte Ausgabe)

Der Traum der Wintersonne

HADES

Der Alp

Sowie die Kinderbuch-Reihe »Ich erzähl dir was« – aus dem Leben von Jungtieren

Impressum:

Cover: iStock

© der eBook-Ausgabe 2017 by fabEbooks. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage von 2011.

eISBN: 978-3-943570-87-8

INHALT

Karte

Kapitel1: Der Tag danach

Kapitel2: Und wie es dazu kam

Kapitel3: Eine Art Bund

Kapitel4: Die Leere des Geistes

Kapitel5: Die Weite dort draußen

Kapitel6: Der Strom, der nie versiegt

Kapitel7: Dagrim und die Unsichtbare

Kapitel8: In nagender Dunkelheit

Kapitel9: Einen Bogin sieht man nicht

Kapitel10: Die Fiandur

Kapitel11: Gerüstet und bereit, doch wohin?

Kapitel12: Der Weg nach Clahadus

Kapitel13: Der Pfad durch die Dunkelheit

Kapitel14: Einer, der Grün nie verschmäht

Kapitel15: Der Verlust

Kapitel16: Die Gebeine der Altvorderen

Kapitel17: Am See der Schönen Frau

Kapitel18: Hafrens Lilien

Kapitel19: Das geheime Reich und eine lange Geschichte

Kapitel20: Das Buch

Kapitel21: Epilog 1: Das Gericht

Kapitel22: Epilog 2: Einundzwanzig

Glossar

Kapitel 1Der Tag danach

Der Plan ist reif, das Ziel ist nahe. Wohlan denn! Zeit zu handeln.Ich bin Dubh Sùil, ich bin Schwarzauge, und ich sehe alles.

»Verdammt … was ist da nur schiefgegangen?«

»Ich habe keinerlei Erklärung.«

»Hast du denn wenigstens die Seiten?«

»Das ist es ja. Nein.«

»Verdammt. Und noch mal verdammt, ich höre jemanden kommen. Verschwinde!«

»Bin schon weg. Ich werde dir Nachricht schicken, sobald ich kann. Ruf du die anderen zusammen … alle. Es ist Zeit. Die Fiandur wird gebraucht! Sie müssen kommen, jeder, der dazu in der Lage ist. Wir treffen uns am vereinbarten Ort. Du musst die Stellung halten, alter Freund. Es tut mir leid.«

»Mir auch. Eile dich jetzt. Du musst fort. Hafrens Segen mit dir.«

»Mit dir auch. Verkünde es: Die Fiandur wird kämpfen! Möge der Bund verhindern, dass Dubh Sùil zurückkehrt!«

»Da sind sie! Wir haben sie!«

Er hörte das Jammern und Klagen der Gejagten, er sah, wie die Jäger lachend die Netze über die Fliehenden warfen, und rannte weiter.

Fionns Herz pochte so laut, dass er Angst hatte, es würde den Hufschlag übertönen. Sein Glück, dass es nicht so war.

Ja, ein Glückskind bin ich, dachte er freudlos, während er barfuß um die Ecke flitzte, ein echter Pfundskerl fürwahr!

Ein beliebtes Bogin-Sprichwort, wenngleich zu diesem Zeitpunkt reichlich schief. Die bewunderten Pfundskerle landeten nämlich regelmäßig in der Pfanne und wurden mit zerlassener Butter und gerösteten Mandelblättchen serviert, mit gebotenem Genuss und Wohlgefühl verzehrt und anschließend die Gräten den unter dem Tisch herumstaksenden Hühnern zugeworfen.

Fionn drohte ein weitaus schlimmeres Schicksal, wenn es ihm nicht gelang zu entkommen. Und das stand noch lange nicht fest. Bis jetzt war er gerade so entwischt, doch es wurde jedes Mal knapper, umso erschöpfter und langsamer er wurde, und das Ende der Jagd war keineswegs in Sicht. Nicht einmal die in wenigen Stunden nahende Dunkelheit würde die Häscher aufhalten. Sie würden nicht rasten und ruhen, bis sie alle Bogins gefangen hatten. So lautete der Befehl.

Nun war Fionn am Ende der Gasse angekommen und wollte die größere Straße überqueren, da hörte er sie rufen und von der anderen Seite im Galopp heransprengen. Hastig bremste er, schlug einen Haken und schlüpfte in eine schmale Häuserverbindung, die mehr Abfallrinne denn Weg war. Fionn hielt sich die Nase zu und unterdrückte den Ekel vor dem glitschigen Schlamm, durch den seine bloßen Füße glitten. Nicht hinfallen, aufrecht bleiben, und hindurch! Wenn er schneller rannte, konnte er vielleicht darüber hinweglaufen, wie es die ätherischen Elben vermochten, die kaum einen Fußabdruck im Staub hinterließen.

Solange du dir deinen Humor bewahren kannst, ist es noch nicht so schlimm. Als hätte Onkelchen Fasin persönlich gesprochen, hallte es in seinen Gedanken nach. Überhaupt auf die Idee eines Vergleichs zu kommen, mit seinen ungelenken Füßen und diesem eher gedrungenen Körper!

Beißender Gestank reizte seine Kehle, und er musste husten, aber er brachte es nicht über sich, durch die Nase zu atmen. Mit brennenden Augen hastete er voran, passierte den nächsten Häuserdurchgang und stand plötzlich vor einer Mauer. Links ging es weiter, und er folgte der Rinne in der Hoffnung, nicht im Kreis zu laufen. Beobachteten ihn die Leute? Wer mochten die Bewohner dieser heruntergekommenen, ungepflegten Behausungen sein? Fionn sah und hörte sie nicht, und niemand verstellte ihm den Weg. Vielleicht lebte hier gar niemand mehr, oder diese Wesen waren Nachtgeschöpfe. Das würde den Schmutz erklären, denn wer statt durch die Tür zu gehen aus dem Fenster flog, um das Haus zu verlassen, den brauchte die Sauberkeit der Straße nicht zu kümmern.

Die Stimmen klangen auf einmal viel näher, und Fionn konnte einzelne Wortfetzen auffangen, die zwischen den Häuserschluchten hindurchschallten. Hierhin! Da rüber! Sucht dort drüben! Hast du einen Bogin gesehen? Geht aus dem Weg, ihr Idioten! Im Namen des Palastes, macht Platz! Gebt Auskunft und verbergt nichts! Wagt es nicht, uns zu belügen, oder ihr erleidet dasselbe Schicksal!

Schluchzend vor Angst bog Fionn erneut ab, verharrte kurz, um sich zu orientieren. Ein kleiner Platz, wie er seit Stunden mittlerweile ein Dutzend überquert haben mochte, vielleicht sogar genau diesen. Kleine, nicht mehr als zwei Stockwerke hohe und schmale Häuser schmiegten sich aneinander, manche schon so krumm, dass sie die Stütze der anderen brauchten. Bei den meisten blätterte die Farbe ab, sie waren beherrscht von dahinbleichendem Grün, und Gelb und Rosa, Violett und Blau. Und ein bisschen Weiß dazwischen sowie schwarze Fachwerkbalken mit tief hängenden roten Dächern.

Wenn er sich nur erinnern könnte, in welchem Sektor der unüberschaubar großen Reichshauptstadt es diese Art Häuser gab! Wie weit war er von zu Hause entfernt? Eine Wegstunde, oder nur ein paar hundert Fuß? Wohin konnte er sich noch wenden?

»Durchkämmt jede einzelne Gasse, jedes Haus!«, erklang es hinter ihm im Befehlston. Dieser Befehl galt für die ganze Stadt, doch es würde noch Stunden dauern, bis die Häscher tatsächlich alle Viertel erreicht hatten. Um es schneller zu schaffen, würden mindestens eintausend Mann gebraucht. Und damit stand die Richtung fest: Er musste vorwärts. Fionn war sich darüber im Klaren, dass sich das Netz immer enger um ihn zog. Wahrscheinlich trieben sie ihn längst systematisch vor sich her, und er konnte dem nicht entgegenwirken, weil er hier noch nie gewesen war.

Fionn wischte sich über die nassen Wangen und schämte sich. Er entschied sich für eine Gasse, in der im ersten und zweiten Stock zwischen den Häusern an Leinen Wäsche gespannt war, und lief dort entlang weiter.

Noch verfügte er über genug Atem, noch stampften seine Füße kräftig dahin. Fionn wunderte sich selbst über seine Ausdauer, da er bisher nie so einen Gewaltlauf unternommen hatte. Anscheinend lag es seinem Volk im Blut. Noch etwas, das er bisher nicht gewusst hatte.

Habe ich denn überhaupt jemals etwas gewusst, außer den Benimmregeln von Onkelchen Fasin?

Tiw erschien vor seinem geistigen Auge, und er sah vor sich, wie er den Kopf neigte und boshaft grinste und mit dem Pfeifenstiel in seiner Rechten auf ihn deutete: Fionn der Narr, der frischgebackene Zwanzigzweier, die ahnungslose Unschuld.

Gerade noch im letzten Moment stoppte Fionn, zog sich hastig hinter die Mauer zurück und verharrte unterdrückt keuchend. Schweiß bedeckte seine Stirn, und er mühte sich ab, den rasenden Herzschlag zu beruhigen. Vorsichtig spähte er um die Ecke.

Hier ging es nicht weiter. Das Gassengewirr endete an dieser Stelle und mündete in eine der breiten Hauptstraßen, die sternförmig zum Zentrum führten, wo sich auf dem Hügel über alle Dächer hinweg der prächtige Palast erhob.

Rechts das Schloss, links ein eng bebautes Viertel mit unterschiedlich hohen, großteils schiefen Hausdächern und Türmen; den Gerüchen und dem Lärm nach zu urteilen voller Gasthäuser, Schänken und vor allem Märkten. Der pulsierende Herzschlag jeder Stadt.

Das war es! Wenn er überhaupt irgendwo ein Versteck finden konnte, dann genau in dieser Richtung!

Fionn sicherte nach allen Seiten, lauschte auf das Stimmengeschwirr und wagte es, sich an den Hausmauern entlang nach links zu bewegen. Jeden Moment erwartete er, aufgegriffen zu werden, denn die Straße belebte sich zusehends. Aber er hatte erneut Glück – bis hierher schienen sie noch nicht vorgedrungen zu sein. Alles war wie an einem normalen Tag. Maultierkarren, Pferdefuhrwerke, Reiter und Fußgänger; die meisten waren Menschen und Elben, aber auch ein paar Zwerge befanden sich darunter; diese gehörten zu den Großen Völkern. Und dann gab es noch jede Menge der Kleinen Völker, zu denen auch Fionns Volk gehörte. Sie waren zumeist in Kapuzenmäntel gehüllt und bewegten sich in Gruppen. Sie waren zumeist von den Großen nicht sehr angesehen, obwohl viele von ihnen sich ein bisschen auf Magie verstanden und es gefährlich war, es sich durch Respektlosigkeit mit ihnen zu verderben. Oft waren sie in ihrem unberechenbaren Verhalten so skurril, dass es nicht leicht war, sich mit ihnen zu verständigen. Selbst für Bogins. (Es war übrigens nirgends festgelegt und von daher unverständlich, warum und seit wann die Bogins zu den Kleinen Völkern gezählt wurden, obwohl sie sich mit den Großen Völkern bestens verstanden und nicht über Magie verfügten. Vielleicht lag es an ihrer Gestalt? Sie waren mindestens vier Fuß 12 Zoll hoch, meistens aber gut über fünfeinhalb Fuß wie die Zwerge, nur im Gegensatz zu den Letzteren eben schmal und eher zierlich gebaut. Nicht fürs Grobe geschaffen, wie Onkelchen Fasin zu betonen pflegte.)

So viele verschiedene Völker auf einmal und auf engem Raum, das gab es nur auf den Märkten. Fionn hätte darüber beruhigt sein müssen, denn an und für sich könnte er sich einfach darunter mischen. Aber ein Bogin im Schlafgewand und barfüßig sollte trotzdem unweigerlich auffallen.

Doch niemand sah zu ihm herüber, alle waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt oder in Verhandlungen mit den Handwerkern und Geschäftsleuten auf der gegenüberliegenden Straßenseite verstrickt.

Offenbar wussten sie noch nichts von dem Haftbefehl, nahmen vielleicht an, er wäre auf Besorgung für seine Herrschaft unterwegs.

Fionn hatte herzlich wenig Ahnung von der Welt außerhalb des Hauses und der Gartenumfriedung seines Herrn. Gewiss hatte er davon geträumt, eines Tages die Emperata kennenlernen zu dürfen, über die er schon viel nachgelesen hatte und den Erzählungen seines Herrn gelauscht. Nun war alles ganz anders gekommen, und wie es aussah, lagen sein Leben und seine Träume in Trümmern, noch bevor es richtig begonnen hatte.

Rasches Nachdenken war angesagt, um den verbliebenen Vorsprung zu nutzen. Bald würden seine Verfolger auch hier durchkommen und alle befragen, und sie würden von der Belohnung reden, und das brachte gewiss so manchen in Versuchung, seinen Sparbeutel im Handumdrehen aufzufüllen.

Nach weiteren zwanzig Schritten aber ließ sich die Erschöpfung nicht mehr abwimmeln, die Grenze war erreicht. Seit seiner Flucht im Morgengrauen hatte er kein einziges Mal durchgeatmet, geschweige denn auch nur einen Moment lang überlegen und einen Fluchtplan entwickeln können. Dafür war es nun höchste Zeit, so ging es nicht mehr weiter. Er brauchte eine Ruhepause und er musste seine Gedanken sortieren.

Die Hauptstraße führte auf einen großen Marktplatz, von dem eine Menge Gassen abzweigten. Fionn entdeckte ein an der Mündung einer solchen Gasse abgestelltes, leeres Fuhrwerk mit herabhängenden Planen, das aussah, als würde es nicht so schnell benötigt. Das wäre vorerst eine gute Deckung. Er konnte beobachten, ohne gesehen zu werden. Aber wie dorthin gelangen?

Mach dich unsichtbar.

Ja, natürlich! Das war es! Eine besondere Eigenschaft der Bogins war es, unauffällig zu sein. Das war vermutlich noch ein Grund, weshalb bisher niemand auf Fionn geachtet hatte. Und das war etwas, woran er gleich hätte denken müssen, war es doch das erste, was ein Boginkind lernte.

Man übersah ihn und seinesgleichen.

Weil die Bogins allgegenwärtig, unentbehrlich und zugleich völlig unbedeutend waren.

So wie Hühner.

Hühner liefen überall herum, pickten hier und da, beäugten ihre gefangenen Artgenossen, die für den Verkauf hoch über ihnen an den Füßen aufgehängt waren, und staksten weiter.

Bogins waren Sklaven, sie waren zuständig für Haus und Hof und rundum Bedienung ihrer Herrschaften. Kein feiner Herr, keine edle Dame würde sich dazu herablassen, von einem so niederen Wesen Notiz zu nehmen. Entsprechend wurde jeder Bogin ab frühester Kindheit dazu angehalten, niemals aufzufallen, sich nicht aufzudrängen, sich weitgehend unsichtbar zu machen.

Fionn schüttelte den Kopf über sich selbst, weil er diesen wichtigen Faktor in seiner Panik verdrängt hatte. Dennoch durfte er nicht leichtsinnig werden. Denn genau dieser Punkt hatte sich auf Befehl hin geändert: Die Wachen waren angewiesen, speziell auf die Bogins zu achten und jeden Einzelnen zu verhaften.

Sobald das auch hier bekannt würde, wäre es mit der Unauffälligkeit vorbei, die Leute würden Ausschau halten und ihn sehen.

Also nicht lange zögern und hin zur Deckung, nicht zu schnell, nicht zu langsam und ganz so, als habe er etwas Wichtiges zu tun. Nicht Flucht, sondern Besorgung für seinen Herrn.

Konnte er das denn? Fionn war nicht einmal gut im Schwindeln, man sah es ihm sofort an, wie seine Ohren dann brannten und er zu stottern anfing. Ein Schauspieler auf der Bühne war er wirklich nicht. Dort gaben sie unendliche Liebe vor, bekämpften sich, schrien, starben – und alles wirkte ganz echt, dabei war es nur gespielt.

Dazu hatte Fionn kein Talent.

Tja, jetzt musste er es eben im Schnelldurchgang entwickeln.

Nicht länger zögern! Los!

Der junge Mann senkte Kopf und Blick, zog die Schultern hoch und überquerte den Platz mit gleichmäßigen Schritten, ohne besondere Eile, aber auch nicht zu langsam. Er sah nicht links oder rechts, schlängelte sich zwischen einigen Ständen hindurch, und tatsächlich, es achtete niemand auf ihn. Alle waren weiterhin beschäftigt mit dem Begutachten der Ware und den Verhandlungen, mit einem Schwätzchen oder einer Auseinandersetzung. Von den Kleinen Völkern beachtete ihn sowieso niemand, sie empfanden die Bogins als nicht zugehörig. Wie die Großen. Wenn man es genau nahm, gehörten Bogins nirgendwo hin, und genau das war Fionns Problem. Es gab niemanden, den er um Hilfe bitten konnte. Er war ganz allein.

Der junge Mann verhielt sich in seinen Bewegungen ganz ähnlich wie ein Huhn, nicht zielstrebig und geradeaus, sondern wechselnd, als hätte er nichts weiter sonst zu tun. Beinahe zumindest.

Immerhin!Ein Huhn ist immer noch weniger als ein Bogin, denn wir werden nicht gegessen.

So erreichte er das Fuhrwerk und rutschte, ohne sich umzusehen, mit einer fließenden Bewegung darunter, wobei er die Plane kaum berührte. In solchen Dingen wenigstens war er in seiner Kinderzeit immer gut gewesen: Sich schnell zu verstecken, ohne dass es auffiel. Weil man nur so die für die Herrschaft gedachten Kekse stibitzen konnte.

Atemlos kauerte er sich zusammen und musste zulassen, dass sein Körper kurz darauf von einem unkontrollierten Schlottern befallen wurde. Nun, da alles zum Stillstand gekommen war, da er sich verborgen vor der Welt dort draußen fühlte, überfielen ihn Überanstrengung und Angst wie ein Herbststurm nach einem besonders klaren Tag. Er konnte kaum noch atmen.

Das kann alles nicht wahr sein, dachte er zum wiederholten Mal.

Irgendwann, als das Zittern nachließ, schob er die Plane ein Stück beiseite und beobachtete das Treiben dort draußen. Nur einen Schritt entfernt und doch aus weiter Entfernung mit einem Graben dazwischen.

Dies also waren die Gassen von Sìthbaile, der großen Emperata, der berühmtesten Stadt der Welt (zumindest sagte man das so), von der alle schwärmten, und Fionn, hier geboren, hatte sich in ihr verloren.

Wie sollte er sich jemals zurechtfinden und seinen Verfolgern entkommen? Im Schlafgewand war er losgerannt, hatte nicht einmal Zeit gehabt, sich anständig zu kleiden. Eine Schande, eine Schande, würde Onkelchen Fasin sagen, der zu jeder Zeit und an jedem Ort äußersten Wert auf Tradition legte und vor allem darauf, dass ein Bogin, der etwas auf sich hielt, stets adrett und ordentlich gekleidet zu sein hatte. Was somit auf alle Bogins zutraf.

Aber welche Wahl hatte Fionn denn gehabt? Wie konnte man im Angesicht der Katastrophe noch auf Äußerlichkeiten achten oder sich die Zeit nehmen, einen Reisebeutel zu packen? Gewiss, Onkelchen Fasin war stets unerbittlich, doch wohin hatte es ihn gebracht?

Dorthin, wo sie jetzt alle waren. Die meisten waren bestimmt gut und standesgemäß gekleidet ins Verlies geworfen worden. Doch was half ihnen das?

Inzwischen mussten die Wachen nahezu alle gefangen haben. Fionn waren sie weiterhin auf den Fersen, und nicht etwa, um ihm die Hand zu schütteln und ihm recht freundlich zum Volljahr zu gratulieren, zur Doppelzwei, die man nur einmal im Leben dargeboten bekommt. Denn an diesem Tag öffnete sich die Große Arca mit allen zweiundzwanzig Geheimnissen, die einen den Rest des Lebens begleiteten, bis der Kreis sich dereinst wieder schloss und übrig blieb, was begann: der Narr …

Der bin ich und werde ich bleiben, dachte Fionn bitter, für den kümmerlichen Rest meiner Zwanzigzwei, die ich gestern so euphorisch gefeiert habe. In törichter Unwissenheit! Seht her – hier stirbt der Narr! Warum nur habe ich die Große Arca geöffnet? Oh, warum nur habe ich Tiw zugehört …

Während er sich selbst derart bemitleidete, ging das Leben jenseits der herabhängenden Plane munter weiter. Die Leute dort draußen schienen keine Sorgen und Nöte zu haben, und Fionn beneidete sie darum. Vor zwei Tagen noch war er wie sie gewesen, unbedarft und unschuldig, ohne Verantwortung und Last. Nun war er volljährig und gleichzeitig aus der friedvollen Beschaulichkeit gerissen. Er wusste nicht wohin, begriff nicht, wie er da hineingeraten war.

Aber er wusste wenigstens eines: wer die Schuld daran trug:

Tiw!

Zu ihm kehrten alle Gedanken zurück, denn mit ihm hatte all das begonnen: Tiw. Wenigstens ein Anhaltspunkt …

Bevor der junge Mann weitergrübeln konnte, riss ihn ein unmissverständliches Knurren aus der Versunkenheit.

Sein Magen machte ihm deutlich, dass er seit gestern Abend nichts mehr zu sich genommen hatte und nach all der Aufregung und den Anstrengungen Nahrung benötigte, sonst würde der Gejagte sich nicht mehr lange aufrecht halten können.

Aber wo sollte er etwas zu essen bekommen? Er hatte keine Münze bei sich und war auf der Flucht. Zu stehlen wie ein Dieb kam nicht in Frage, ganz abgesehen davon, dass Fionn gar nicht gewusst hätte, wie er das anstellen sollte. (Da war wieder das ich-kann-nicht-schwindeln-Ding.)

Er hatte sich noch nie ums Essen kümmern müssen, es hatte stets pünktlich auf dem Tisch gestanden. Woher all die Zutaten kamen und wie sie zubereitet wurden, hatte ihn nie interessiert. Nur der Genuss, der am Ende dabei herauskam und wohlig satt machte.

Fionns Nase zuckte, konzentrierte sich auf die verschiedenen Gerüche, die in Wellen vorbeischwangen, und so wies ihm sein Geruchsorgan schließlich den Weg: Er musste zu einem Gasthaus gehen und dort versuchen, an Essbares heranzukommen.

Nach allen Seiten sichernd kroch Fionn aus der schützenden Deckung und ging, stets im Häuserschatten, diejenige Gasse entlang, welche die meisten Düfte verströmte. Es war schon bedeutend ruhiger geworden, da der Nachmittag voranschritt und die meisten sich auf den Weg nach Hause machten. Auch einige Händler bauten ihre Stände ab, weil sie eine weite Heimreise hatten. Ridirean hatte deutlich hörbar die Fünf posaunt, der Abend war nicht mehr fern.

An einer Kreuzung entdeckte er ein Gasthaus, die Quelle aller Gerüche, und sah sich zugleich Hoffnung und Verzweiflung gegenüber. Hier gab es Essen zuhauf, und sicher wäre es wohlschmeckend. Eine Menge Pferde waren an der Nordseite angebunden, und einige Kutschen drängten sich in dem angrenzenden Hof. Auf dem Zunftschild waren ein saftiger Braten, ein schäumender Bierkrug und eine lachende Maid abgebildet, und der Name lautete »Zum Schlemmer«.

Fionn lief das Wasser im Mund zusammen, und sein Magen knurrte nur noch lauter. Gab es vielleicht eine Möglichkeit, um ein wenig Essen zu betteln? Sollte er sich eine Geschichte über seinen kranken Herrn ausdenken, für den er etwas holen musste, und der vergessen hatte, ihm Geld mitzugeben?

Lügen ist auch nicht viel besser als stehlen. Und vor allem kannst du genauso wenig lügen wie stehlen. Hast du das immer noch nicht begriffen?

Aber er musste etwas essen, das stand fest, lange konnte er nicht mehr durchhalten. Erst recht, da nun die Genüsse nahezu beinahe greifbar vor ihm ausgebreitet waren. Fionn wäre schon um einen bescheidenen Ranken Brot dankbar gewesen.

Vorsichtig schlich er sich näher heran, drückte sich im Hof herum, stets darauf bedacht, keinem Knecht zu begegnen. Ab und zu verließ jemand das Gasthaus, neue Gäste gingen hinein. Vielleicht konnte Fionn seine Dienste einem Knecht anbieten und dadurch etwas zu essen bekommen? Das erschien ihm noch der beste Plan zu sein, den er auch nicht zu lange aufschieben sollte. Die Sonne ging unausweichlich unter, bald würde das wärmende Licht der Kühle der Nacht weichen.

Da hörte er ein Geräusch aus der Gasse nebenan, das seine Aufmerksamkeit erweckte. Es klang wie ein Zischen und Schnarren und schien näherzukommen. Etwa ein Verfolger? Vorsichtig zog er sich an den Rand zurück und lugte um die Ecke.

Es war kein Verfolger. Zwei Menschen, einer ziemlich groß, eingehüllt in einen Kapuzenmantel, der andere eher gedrungen und in abgerissener Kleidung, hatten offenbar Streit.

Das ging Fionn nichts an, und er wollte sich gerade wieder zurückziehen, da sah er einen Schatten, der sich dem großen Mann von hinten näherte, und verharrte misstrauisch.

»Gib mir, was ich will, und wir scheiden als Freunde«, zischte der Gedrungene.

»Geh mir aus dem Weg, und du scheidest nicht aus dem Leben«, antwortete der größere Mann mit dunkler, leicht rauer Stimme.

Fionns Augen weiteten sich, als er sah, dass der Schatten hinter ihm ein weiterer Mensch war, der ein Messer in der Hand hielt. Er hatte sich fast bis auf Armlänge in den Rücken des größeren Mannes geschlichen.

Ohne nachzudenken bückte Fionn sich und hob einen Stein auf, dann rannte er los. »Achtung, Herr, hinter Euch!«, rief er und warf den Stein.

Er hatte nicht zielen können, doch er traf immerhin den Arm des Angreifers, der mit einem überraschten Schmerzlaut zurückwich.

Der Mann, der ausgeraubt werden sollte, fuhr herum, und bevor der Heimtückische reagieren konnte, wurde er mit einem Fausthieb niedergeschlagen.

Der Kumpan stieß einen Wutschrei aus. »Was mischst du dich da ein, Bucca!«

Bevor Fionn ausweichen konnte, bekam er einen heftigen Schlag auf den Kopf. Zuerst glaubte er, dass ihm das gar nichts ausmachte, aber dann zog es ihm plötzlich den Boden unter den Füßen weg, und er sackte zusammen. Vor seinen Augen tanzten Sterne, und er erkannte verschwommen, dass nun auch sein Angreifer zu Boden ging. Der große Mann riss zuerst den einen, dann den anderen glücklosen Räuber hoch und herrschte beide an: »Packt euch, bevor ich mich vergesse!«, woraufhin sie wie geprügelte Hunde davonliefen.

Fionn versuchte benommen sich aufzurichten, als ein Schatten über ihn fiel. Erschrocken verharrte er, als er den Mann, der ausgeraubt werden sollte, erkannte.

Er beugte sich über ihn. Eine Strähne grauen Haars fiel unter der Kapuze hervor, und eine von einem dunklen Bart umrahmte Kinnpartie wurde sichtbar, die von einem starken Willen zeugte. In der Dunkelheit darüber glitzerten klare, bernsteinfarbene Augen, die ihn kühl musterten.

»B-bitte tut mir n-nichts!«, stieß Fionn panisch hervor.

Die Lippen des Mannes zogen sich leicht in die Breite. »Eine erstaunliche Sorge dafür, dass du mich verteidigt hast«, erwiderte er mit ironischem Klang. »Weshalb sollte ich dir wohl etwas antun?«

»Ich-ich weiß nicht«, stammelte Fionn. »Offen gestanden, weiß ich überhaupt nicht viel, und es wird mit jeder Stunde weniger.«

»Du scheinst keine hohe Meinung von Menschen zu haben, wenn du mir zutraust, dass ich deine Hilfe mit Hieben vergelte.«

»Ich hab gar keine Meinung, bitte um Verzeihung, aber ich bin um mindestens einen Kopf kleiner als Ihr und wiege wahrscheinlich nur halb so viel, und ich habe keine Waffe …«

»… aber enorm viel Mut, einem Fremden zu helfen und dabei das eigene Leben zu riskieren.«

»Darüber habe ich überhaupt nicht nachgedacht.« Fionn zitterte jetzt noch mehr, als ihm bewusst wurde, wie sehr der Fremde recht hatte. »Ich konnte es einfach nicht mit ansehen …«

Der Mann schüttelte leicht den Kopf. Er griff plötzlich nach Fionns Hand, der vor lauter Schreckensstarre nicht in der Lage war, sie zu entziehen, und zog ihn kurzerhand auf die Beine, stellte ihn gerade hin und klopfte ihn behutsam ab.

»Ich danke dir, junger Freund aus dem Volk der Bogins«, sagte er freundlich. »Du solltest jetzt zusehen nach Hause zu kommen, denn bald wird es dunkel, und du bist für die Nacht nicht ausreichend gekleidet. Hm. Nein, das ist nicht richtig. Bisher warst du für den Tag nicht ausreichend gekleidet. Nun, dann geh schnell, die Nacht wird zu kühl außerhalb des Bettes in so dünner Kleidung.«

Fionn brachte zunächst kein Wort hervor, weil sich sonst seine ganze Trostlosigkeit in Tränen aufgelöst hätte. Wusste der Fremde es nicht, oder war es ihm gleichgültig, dass er momentan mit dem einzigen frei herumlaufenden Bogin in Sìthbaile sprach? Nach Hause! Ins Verlies des Schlosses vielleicht, das sein neues und einziges Zuhause nunmehr war. Der Große redete so leicht dahin …

»Manchmal ist einem nichts anderes verblieben, und es ist immer noch besser als nackt zu sein«, stieß Fionn flüsternd hervor. Dass er im verdreckten Schlafanzug vor dem Menschen stand, empfand er als Demütigung, und er schämte sich. Schlimm genug, dass der Räuber ihn Bucca genannt hatte. Bogins waren von sehr gutmütigem, freundlichem Wesen, aber das bedeutete nicht, dass Beleidigungen sie nicht verletzten.

»Ja, mag sein«, stimmte der Mann zu, »doch nach Einbruch der Dunkelheit ist es kalt und gefährlich für harmlose Wesen wie dich. Also such dir schnell einen Schutz, diese Gegend hier ist alles andere als sicher.« Er nickte dem jungen Bogin zu und verschwand um die Hausecke nebenan, ohne sich noch einmal umzusehen.

Einige wenige Worte eines Menschen nur – und Fionn wurde so richtig bewusst, was er getan hatte, und was ihn erwartete.

Er war ein Geächteter, jeden Moment in Gefahr, verhaftet zu werden. Er hatte nichts dabei, um überleben zu können – kein Geld, nicht einmal richtige Kleidung. Er wusste nicht, wohin er gehen konnte, weil er sein Geburtshaus noch nie in seinem jungen Leben verlassen hatte. Er hatte keine Freunde außer denen, die im selben Haushalt gelebt hatten, und die waren verhaftet worden. Einschließlich Cady. Und seiner Eltern. Ach, Mutter!, dachte er mit verschwimmenden Augen. Sie war so stark, sie hätte bestimmt einen Ausweg gewusst. Aber nun war sie wie alle anderen in den Kerker geworfen worden. Er war der Einzige, der entkommen war. Auch das wurde ihm jetzt erst so richtig bewusst. Die Angst um das Befinden seiner Familie umkrampfte sein Herz, und seine Verzweiflung erreichte einen neuen Höhepunkt.

Sein Magen knurrte, diesmal lauter und eindringlicher. Bevor er nicht etwas zu essen bekam, würden seine Gedanken sich nur immer mehr verwirren. Das musste sein vordringlichstes Ziel sein: Nahrung zu beschaffen und einen Platz für die Nacht suchen. Wenn er bis morgen früh noch frei war, würde er sich dann überlegen, wie es weitergehen sollte.

Fionn schlich sich an dem Gasthaus vorbei zum nächsten. Vielleicht gab es dort eine Möglichkeit, Reste von Mahlzeiten aufzutreiben. Schon bei dem Gedanken daran drehte sich ihm der Magen um, aber in seiner Lage durfte er nicht wählerisch sein. Wenn es ihm möglich wäre, sich wie einer von den anderen Kleinen Völkern zu verkleiden, könnte er sogar Erfolg haben. Er könnte seine Dienste zum Tellerwaschen anbieten. Die großen Leute konnten ja oft einen Bogin, obwohl er größer war, nicht von den anderen Angehörigen der Kleinen Völker unterscheiden; für die waren sie alle gleich.

Fionn entdeckte schon in der nächsten Gasse ein weiteres Gasthaus mit einem großen Hof und mehreren Eingängen. Wenn er einen der Knechte abpasste, konnte er vielleicht um etwas zu essen betteln, als Gegenleistung für seine Dienste. Knechte machten es sich gern bequem, wenn sie jemanden hatten, der ihre Arbeit erledigte, und ein bisschen Essen aus der Küche zu beschaffen, konnte nicht so schwer sein.

Nicht lange nachgedacht, gehandelt – und er marschierte drauflos. Sein Magen knurrte immer ärger. Auch der Durst quälte ihn.

Fionn hörte es wie aufs Stichwort plätschern, und da sah er eine Tränke, an der sich einige Kutschpferde gütlich taten. Gespeist wurde sie aus einem ständig laufenden Hahn.

Frisches Wasser! Fionn schien es das köstlichste Geräusch der Welt zu sein, und er spürte schon die prickelnde Kühle auf der Zunge. Es war gerade niemand in der Nähe, also sollte er es wagen.

Die Pferde hielten kurz beim Saufen inne, spitzten die Ohren und hoben die Köpfe, als sich ihnen etwas näherte, das sie nicht gleich erkannten. Doch als sie begriffen, dass dieses Wesen eher klein war und nicht wie ein Raubtier roch, schnaubten sie kurz und hielten die Schnauzen wieder ins Wasser.

Fionn murmelte beschwichtigende Worte; ganz geheuer waren ihm diese großen Tiere nicht, aber immerhin befand sich die Tränke dazwischen. Er war schon ganz nah, konnte die Feuchtigkeit auf seinen Wangen spüren … und dann streckte er die ausgetrocknete Zunge aus und ließ zuerst den Wasserstrahl darauf laufen, trank anschließend mit geschlossenen Augen gierig in großen Schlucken.

Da wurde er am Kragen gepackt und zurückgerissen.

Fionn verschluckte sich und hustete, spürte keinen Boden mehr unter den Füßen und starrte mit angstgeweiteten Augen in das Gesicht eines Menschenmannes. Es war schmutzig wie seines, die Haut grobporig, die Nase vom Alkohol gerötet, und der Gestank von Schnaps wehte mit dem Atem aus dem Mund. Der Mann trug einen schlabbrigen Filzhut, ein löchriges Hemd und eine ebenso löchrige Hose und zeigte ein Grinsen voller Zahnlücken.

»Nun sieh mal einer an, was haben wir denn da?«

»Wovon sprichst du?«, erklang eine zweite Stimme aus dem Hintergrund, und dem jungen Bogin rutschte das Herz hinab in die Hose.

Für einen Augenblick glaubte Fionn, den Räubern wiederzubegegnen, doch diese beiden waren noch abgerissener und sehr viel älter. Was seine Lage kaum erleichterte.

Der zweite Mann sah demjenigen, der Fionn immer noch festhielt, ähnlich, nur dass er gar keine Zähne mehr besaß und keinen Hut trug.

»Ach, schau an«, sagte er. »Brüderchen, da haben wir heute wohl das große Los gezogen.«

»In der Tat. Wenn wir den nicht zu Geld machen können, dann will ich ab sofort Thumble heißen.«

»Wenn Ihr bitte die Güte hättet, mich herunterzulassen, guter Mann«, bat Fionn.

Die beiden Brüder lachten. »Und eine gewählte Aussprache hat er auch noch!«, rief der eine, der Thumble heißen wollte. Und der andere, der Zahnlose: »Wird dir etwa schwindlig in dieser Höhe?«

»Ich bitte Euch.« Fionns Beine zappelten, und seine Finger wanden sich um den erbarmungslosen Griff des Menschen.

»Na gut.« Der Mann mit dem Filzhut setzte ihn unsanft ab. »Bürschlein, was machst du hier so allein? Wo ist dein Herr?«

Fionn war versucht zu antworten »im Gasthaus«, aber er verschluckte diese Worte gerade noch rechtzeitig. Diese Lüge würde sofort aufgedeckt. Ihm fiel nicht ein, was er sonst sagen könnte; das Lügen war er nun einmal nicht gewohnt. Das lag einem Bogin fern. Es gab keinen Grund dazu.

Thumble, der ihn immer noch im Nacken festhielt, schüttelte ihn. »Los, gib Antwort!«

»Ach, lass ihn«, sagte sein Bruder. »Sieh ihn dir an, mit seinem schäbigen Schlafanzug. Der ist weggelaufen!«

»So, machst deinem Herrn also auch noch Schwierigkeiten, indem er dich nicht den Palastwachen übergeben kann, was? Wahrscheinlich ist dein Herr deswegen an deiner Stelle verhaftet worden!«

Fionn wollte es nicht hoffen. »Bitte, ich wollte nur ein wenig Wasser schöpfen und dann weiterziehen …«

»Weiterziehen?« Die beiden johlten. »Ein wandernder Sklave!«

»Aber nein, ich …«

»Halt den Mund!«

Die beiden Brüder überlegten laut, was sie mit ihm anstellen sollten. In den Palast bringen? Nein, da erwartete sie keine Belohnung; derzeit war kein Preisgeld auf entflohene Sklaven ausgesetzt. Man würde ihnen danken und sie daran erinnern, dass sie ihrer Bürgerpflicht nachgekommen waren, das wäre aber auch schon alles.

Schließlich hellten sich ihre Gesichter auf, anscheinend hatten sie beide denselben Gedanken gehabt.

Der Mann, der Fionn festhielt, beugte sich zu ihm, kam ihm so nahe mit seinem Gesicht, dass die Kälte seiner Augen noch auf der Haut zu spüren war. »Jetzt hör mal zu, Bucca«, zischte er. »Wir gehen mit dir ins Gasthaus und veranstalten eine Auktion. Du bist jung und kräftig, wirst uns ein hübsches Sümmchen bringen. Ich möchte dir raten mitzumachen, andernfalls wird es dir schlecht ergehen – sehr schlecht.«

Fionn schwieg. Selbst ein unerfahrener Bogin wie er wusste, dass es keinen Sinn hatte, um Gnade zu bitten. So zerlumpt wie sie waren, würden sie jede Gelegenheit nutzen, um zu Geld zu kommen. Wahrscheinlich hatten sie ebenfalls seit mehreren Tagen nichts Ordentliches mehr gegessen. Still und ergeben ließ er sich mitschleifen.

Schlag Sechs posaunte Ridirean durch die Stadt hinaus, und Fionn kam es wie sein Henkerslied vor, das ihn, und nur ihn, zum Schafott oder zum Galgen begleitete.

Die Männer polterten in die Gaststube, und Fionn verschlug es den Atem, aber nicht vor Freude. Die Luft war schwer und stickig, es stank nach Schweiß, Alkohol und halb Verdautem, dazu Küchengerüche, der Rauch von Fischöllampen und noch andere Dünste, die Fionn nicht herausfiltern konnte und auch nicht wollte. Ihm wurde schwindlig und übel, und er wünschte sich weit fort – ja, sogar ins Verlies des Palastes, denn nicht einmal dort konnte es schlimmer sein, aber er wäre wenigstens wieder unter Bogins.

Es herrschte ein chaotischer Lärm an Unterhaltungen, Bestellungen, Stühlescharren, Klirren von Krügen, Schmatzen und Schlürfen.

Der ältere Bruder stellte sich breitbeinig vor den Ausschank und stemmte die Arme in die Seiten. »Alle mal herhören!«, sagte er laut und vernehmlich.

Die Geräusche verstummten, und alle wandten sich den Neuankömmlingen zu. Fionn schluckte, als er sah, wie er von vielen Augenpaaren gemustert wurde. Diesmal wurde er nicht übersehen.

»Wir haben hier einen Bogin anzubieten«, fuhr der Ältere fort. »Wie ihr alle wisst, ist heute der Befehl ausgegeben worden, alle Buccas zu verhaften. Warum, wissen wir nicht, und das spielt auch keine Rolle – fest steht, dass es seither einen gewaltigen Mangel an Sklaven gibt. Deshalb verkaufen wir diesen Bogin dem Meistbietenden. Er ist jung, er ist gesund, und wenn sein neuer Herr acht gibt und nicht überall ausplaudert, dass er einen Sklaven hält, wird er in dieser kargen Zeit und darüber hinaus viel Freude mit ihm haben.«

»Der bringt nur Ärger!«, rief jemand. »Wenn ihn jemand sieht …«

»Auf dem Feld kann er natürlich nicht eingesetzt werden, und dafür ist er uns auch zu schade. Seht her, seine zarten Hände, sein gepflegtes Äußeres …«

»Der starrt doch vor Dreck!«

»Weil er geflohen ist, mein Freund. Aber dieser Schmutz ist nur dünn und ganz oberflächlich, da braucht’s nicht einmal Schrubben. Ein vornehmer Sklave für ein gemütliches Heim. Eure Freunde und Eure Familie werden euch beneiden!«

»Ja, und uns drangeben!«

»Noch gibt es keine Belohnung.«

»Dann klauen sie uns den Sklaven.«

Allgemeines Gelächter. Die beiden Brüder sahen sich an und zuckten die Achseln. »Wir haben uns schon gedacht, dass ihr kein Geld habt«, sagte der Ältere. »Drüben im ›Weißen Hasen‹ haben sie uns fünf Goldaugen geboten, aber das war uns zu wenig. Na, dann ziehen wir halt weiter zum …«

»Fünf Goldaugen? Nie im Leben, ihr Vagabunden!« Ein schwergewichtiger Mann, seiner prächtigen Zunftkleidung nach zu urteilen ein Pillendreher, trat nach vorn. »Ich biete zehn Bronzestücke!«

Das empfanden selbst diejenigen, die sich überhaupt nicht für einen Sklaven interessierten, als Frechheit, und der Pillendreher musste sich jede Menge Beschimpfungen als Geizhals gefallen lassen und wurde noch dazu mit Brotstücken und Tomaten beworfen.

»Pah!«, machte er, drehte sich hochnäsig um und kehrte auf seinen Platz zurück.

»Ich biete zwei Silberköpfe!«, rief nun ein anderer, und damit ging das Bieten los.

Fionn wollte nicht glauben, was er da hörte. An sich konnte er nicht verkauft werden, da er nicht über die dafür notwendigen Papiere verfügte. Und ein Sklave durfte von Gesetzes wegen nicht zwei Herren gehören oder auch nur dienen. Trotz seiner Versuche, die beiden Stadtstreicher darauf aufmerksam zu machen, ging die Versteigerung munter weiter. Niemand hörte auf ihn; warum auch, diese ganze Auktion war ungesetzlich. Aber den Leuten machte es Spaß, sie lärmten fröhlich durch den Raum und boten nicht nur, sondern kündigten auch an, wofür sie den Sklaven verwenden würden. Da kamen eine Menge Einfälle zusammen, und Fionn gefiel kein einziger. Noch weniger gefiel ihm, wie er vorgeführt wurde, wie ein Stück Schlachtvieh. Als sie von ihm Kunststücke verlangen wollten, weigerte er sich und fing sich dafür ein paar Ohrfeigen ein. Aber auch die konnten ihn nicht umstimmen. Das wiederum imponierte dem Einen oder Anderen, und der Preis wurde erhöht.

Sie waren bei fünfzig Silberköpfen angekommen, als eine neue Stimme erklang, die sofort alle zum Aufhorchen und Schweigen brachte.

»Ein Goldauge.«

Er sagte es nicht einmal laut, dennoch wurde seine Stimme bis in den hintersten Winkel gehört. Alle starrten zur Tür, wo der Fremde stand, niemand hatte bis dahin sein Hereinkommen bemerkt. Fionn erkannte ihn sofort wieder und wusste nicht, ob er erleichtert sein sollte.

Die beiden Brüder staunten mit offenem Mund und mussten sich zunächst sammeln, bevor der Ältere hervorbrachte: »Ist dies ein ernst gemeintes Gebot?«

»Es gibt kein weiteres, denn der Sklave gehört mir.«

»Äh … aber wenn jemand mehr bieten will …«

»Ich handle nicht, Bursche«, sagte der hoch gewachsene Mann streng. Er trat weiter in den Raum hinein, schlug Mantel und Kapuze zurück. Er trug die Kleidung eines Wanderkriegers mit metallverstärktem Wams, breitem doppelten Waffengürtel und Schultergürtel. An seiner rechten Seite hing eine doppelseitige Kriegsaxt, und in der Rückenscheide steckte ein Langschwert, dessen Griff knapp über seinen Kopf hinaus ragte. An der linken Seite war ein weiteres Handschwert befestigt, und vorn im Gürtel steckte ein Dolch.

Dass er die Lebensmitte überschritten hatte, wie man an seinen grauen Haaren und dem wettergegerbten Gesicht erkennen konnte, verringerte die Eindringlichkeit seines Auftritts kein bisschen. Er war eindeutig ein erfahrener und langjähriger Söldner, und mit einem solchen Mann legte sich niemand gern an. Sollte er, was aufgrund der Geschmeidigkeit seiner Bewegungen nicht anzunehmen war, nicht mehr über die einstigen Körperkräfte verfügen, so machte er dies in jedem Fall mit vollendeter Kampfkunst wett. Nur die besten Söldner erreichten im Besitz sämtlicher Gliedmaßen ein Alter, in dem sie graue Haare trugen.

Die Leute an den vordersten Tischen wichen unwillkürlich ein wenig zurück; keiner der hier Anwesenden gehörte zu den Kämpfern, sie waren Bauern, Handwerker, Händler, Reisende. Gediegene Leute, die bestenfalls das Rasiermesser schwingen konnten.

»Es scheint mir, du hast mich nicht richtig verstanden«, fuhr der Wanderkrieger fort. »Dieser Sklave gehört mir. Ich bin sein Eigentümer. Und deshalb wirst du ihn mir sofort übergeben.«

»Aber …« Der Zahnlose ließ sich noch nicht ganz entmutigen. »Du hast für ihn geboten …«

»Um mir Gehör zu verschaffen.«

»Aber wir haben alle das Gebot gehört!«, protestierte jemand ganz hinten, der sich im Schatten einer Säule versteckte. »Und außerdem, zeig doch erst mal seine Papiere vor! Wäre ja ganz was neues, ein Söldner mit persönlichem Leibsklaven.«

Der Fremde legte die Hand an den Axtgriff. Augenblicklich scharrten Stühle, viele waren auf dem Sprung. Der Wirt rief seine Schankmaiden hinter den Tresen und bat um Barmherzigkeit.

»Ich erhielt ihn anstelle einer Bezahlung bei meinem letzten Auftrag. Und das ist der einzige Beleg, den ich dir dafür gebe, du Hanswurst.«

»Doch er war nicht mehr in deinem Besitz, und wir haben ihn gefunden«, beharrte nun der Mann mit dem Hut und zerrte Fionn vor sich. »Und wir haben ihn nicht ausgeliefert, wie du es hättest tun müssen.«

»Vielleicht wollte ich das ja, und er ist mir davongelaufen«, erwiderte der Wanderkrieger.

»Nun, dann will er sicher nicht zu dir zurück …«

»Doch, er will!«, schrie Fionn auf. »Lasst mich sofort zu meinem Herrn!« Er zappelte und wehrte sich gegen den Griff, aber vergeblich.

Die beiden Brüder sahen sich an; der Jüngere zog ein Messer und hielt es Fionn an die Kehle.

»Was auch immer Unnormales zwischen euch vorgeht«, sagte der Ältere. »Uns geht das nichts an und interessiert uns auch nicht, aber du zahlst für deinen Sklaven eine Auslöse. Ein Goldauge, und er darf zurück zu dir.«

Der eine oder andere Mund öffnete sich, doch angesichts der Bewaffnung des Fremden schloss er sich wieder ohne jegliches weitere Wort, das vielleicht Protest hatte ausdrücken wollen. Die Auktion war allein durch die Haltung des Wanderkriegers beendet, und die Leute wandten sich erneut ihrer vorherigen Beschäftigung zu.

Der Wanderkrieger zog einen Beutel von seinem Gürtel, der hinter der Axt befestigt war, und holte eine große schimmernde Münze hervor – pures Gold, geprägt mit dem gütigen Auge der Àrdbéana. Fionn konnte es kaum glauben.

»Möge ihr Segen der eure sein«, sagte er und warf die Münze.

Beide Brüder wollten sie auffangen, fielen dabei halb übereinander und schubsten sich. Fionn war frei; so schnell er konnte rannte er zu dem Fremden, dessen rechte Hand sich schwer auf seine Schulter legte. »Lass uns gehen«, sagte er.

Damit war Fionn nur zu einverstanden, und er ließ es zu, dass der Wanderkrieger ihn beim Hinausgehen vor sich herschob.

Kaum waren sie draußen, schlug der Mensch die Kapuze wieder über und den Mantel um den Bogin.

»Komm, wir sollten uns beeilen.« Er zog ihn mit sich um die Ecke in eine kleinere Gasse.

»Ja, denn wenn ihnen das eine Goldauge nicht genügt und sie mehr bei dir vermuten …«, stieß Fionn aufgeregt hervor. Er konnte es nicht fassen, dass ein wildfremder Mensch so viel Geld für ihn ausgab – noch dazu ein Wanderkrieger, der sicherlich nicht mit Reichtümern gesegnet war.

»Das war kein Goldauge«, murmelte der Mann.

»Wie bitte?« Hatte er sich gerade verhört? Er hatte es doch selbst gesehen!

»Das war Elbengold«, gestand sein unbekannter Retter.

Fionn rutschte das Herz ins Knie. »Oh nein …«

»Oh ja. Sobald das Goldauge den Besitzer wechselt, offenbart es seinen wahren Wert. Das wird bald der Fall sein, wenn die beiden Brüder sich Schnaps bestellen, vielleicht sogar in ihrem Überschwang eine ganze Lokalrunde ausgeben. Deshalb werden wir uns tunlichst entfernen, und zwar hurtig und so weit als möglich.«

Fionn verlor bald den Überblick, als sie schnell hintereinander die schmalen, verwinkelten Gassen wechselten; er hätte schon nach kurzer Zeit nicht mehr zu dem Gasthaus zurückgefunden. »Aber da draußen sind bestimmt noch …«

»Die Häscher, ganz gewiss. Doch keine Furcht, hier in diesem Bezirk werden sie kaum suchen. Niemand hier hält Sklaven.«

Fionn fragte nicht nach, weshalb das so war, er nahm es zu seiner eigenen Beruhigung einfach hin. Schließlich erreichten sie ein für ein Gasthaus kleines, altes, ganz aus Holz errichtetes Haus, ein wenig windschief und rußgeschwärzt. An der schmiedeeisernen Stange hing ein verblichenes Schild, dessen Lettern längst nicht mehr lesbar waren; nur noch ein schwarzes Ross war halbwegs erkennbar, und ein Teil der Klinge eines Schwertes. Fionns Retter ging die drei knarrenden Stufen hinauf, drückte die Tür auf und polterte, den jungen Mann mit sich ziehend, in die Gaststube.

Fionn, auf das schlimmste gefasst, war erstaunt. Das Feuer eines großen Kamins verbreitete freundliches Licht und Wärme, und die Luft war sogar einigermaßen atembar. In der Mitte der Stube gab es etwa zehn Tische, dazu ein paar Nischen und einen Seitenraum, der noch einmal Platz für fünf Tische bot. An den Wänden waren große Kerzenhalter befestigt, Schutzgläser waren über die Kerzen gestülpt, sodass sie nicht flackerten und rußten, sondern ruhig brannten.

Fionn sah Menschen und Zwerge und einige Elben, allesamt Reisende, und viele in ähnlicher Kleidung wie der Wanderkrieger. Dies waren also jene geheimen Orte, an denen solche Leute normalerweise verkehrten – und unter sich blieben. So stand es in den Abenteuergeschichten, die Fionn als Kind zuhauf verschlungen hatte, und es war zumindest in dieser Hinsicht wahr.

Der Wirt, leicht zu erkennen an seiner ledernen Schürze, bediente selbst. Mit zwei Händen voll Krügen, bis oben gefüllt mit schäumendem Bier, kam er den Neuankömmlingen entgegen. Er war mittelgroß und massig, die Haare standen wie Igelstacheln von seinem Kopf, und er trug den prächtigsten Schnauzbart, den Fionn je gesehen hatte, mit zwei langen, mehrfach nach innen gerollten Enden. Sein Kinnbart war sehr kurz gehalten.

»Es ist lange her, mein Freund«, sprach er Fionns Retter mit raukehliger Stimme an und wies mit dem Kopf auf eine Nische, ohne den kleinen Begleiter zu beachten. »Dort ist frei. Das Übliche?«

Der Wanderkrieger nickte nur.

Kurz darauf fand Fionn sich an einem Tisch wieder; sein Retter hatte ihm ein Kissen besorgt, auf das er sich setzen konnte, damit die Höhe passte. Die stämmige Wirtin brachte ihnen zwei Bierkrüge, Brot und geräucherten Rohschinken. »Das Essen kommt gleich«, versprach sie und verschwand.

Die anderen Gäste achteten nicht auf sie, sondern widmeten sich still ihrer Mahlzeit, rauchten in sich versunken Pfeife oder unterhielten sich leise. Fionn hatte jedoch das unbestimmte Gefühl, dass sie beide seit Betreten genau taxiert worden waren.

»Es ist schön hier«, flüsterte er. Seltsam, aber er fühlte sich ausgerechnet hier wohl und sicher. Jeder einzelne Gast mochte sehr gefährlich als Gegner sein, perfekt im Umgang mit der Waffe und im Kampf, aber an diesem Platz war keiner streitbar. Gewiss waren sie alle froh um einen solchen Ort der Ruhe, an den sie sich zurückziehen konnten, ohne die Herausforderung eines übermütigen Draufgängers befürchten oder ihrem Ruf auf andere Weise gerecht werden zu müssen. Sie waren unter sich, konnten sich austauschen, die Zurückgezogenheit genießen, vielleicht auch einen Auftrag vermitteln.

Vorsichtig nippte er an dem Bier; nach der Feier und dem morgendlichen Schrecken war ihm zunächst nicht danach, doch es schmeckte gut, frisch und würzig, und löschte schon nach wenigen Schlucken seinen brennenden Durst.

»Es ist Speisebier«, erklärte sein Retter. »Du kannst es unbesorgt trinken, es wird deinen Verstand nicht berauschen.«

Fionns Magen krampfte sich angesichts des warm duftenden dunklen Brotes und des kräftigen Schinkens zusammen, doch er wagte es nicht, sich gierig darauf zu stürzen. Dabei lief ihm das Wasser im Mund zusammen, und er stellte sich vor, seine Zähne in saftigen Teig zu graben und alles in sich hineinzuschlingen, was in den Mund passte.

Sein Begleiter zog hinter seiner Taille ein scharfes Messer aus einer bisher verborgen gebliebenen Schlaufe an seinem Gürtel, schnitt ein Stück Brot und Schinken und legte es Fionn auf den Teller. »Nun greif schon zu, Junge, die Augen fallen dir fast aus dem Kopf, und du wirst womöglich ohnmächtig.«

»Danke«, stieß Fionn fast unhörbar hervor, seine Finger fühlten den warmen, weichen Teig, seine Nase sog den Duft nach Salz und Gewürzen ein. Er biss ein Stück Brot ab, dann ein Stück Schinken, fühlte dankbar den Geschmack im Mund und ein erlösendes Rumpeln in seinem Magen, als er schluckte. Er war völlig ausgehungert und erschöpft, das wurde ihm bewusster denn je zuvor, da nun die meiste Anspannung von ihm abfiel.

Bald darauf stand ein tiefer Teller, randvoll gefüllt mit dampfendem Eintopf vor ihm, und ein neuer Krug Speisebier. Fionn hatte das Gefühl, noch nie so glücklich gewesen zu sein.

»Warum … tut Ihr das für mich?«, fragte er schüchtern, nachdem er die Hälfte seiner Mahlzeit vertilgt hatte und endlich langsamer essen konnte.

»Das bin ich dir schuldig, denn du hast mir das Leben gerettet«, antwortete der Wanderkrieger. »Ich dachte mir schon, dass du in Schwierigkeiten geraten würdest, deswegen habe ich nach dir gesucht. Ich hatte vorher nur noch etwas zu erledigen. Ich bleibe nichts schuldig.«

»Danke. Ja, ich habe zu danken. Auch, dass Ihr mich nicht … ausgeliefert habt.«

»Pah, unsere Sorte hat nicht viel übrig für die feinen Soldaten am Hofe. – Stimmt doch, oder?«, rief er plötzlich laut in die Runde und hob den Krug.

»Aye, wahr gesprochen!«, kam es von verschiedenen Tischen zurück, und der Gruß wurde von Menschen, Zwergen und Elben gleichermaßen erwidert.

Fionn betrachtete fasziniert die Elben, die selbst einen Ort wie diesen zum Leuchten brachten, obwohl sie nicht besser gekleidet waren als die anderen. »Ich wusste gar nicht …«

»Die Spitzohren?«

Fionn schnappte nach Luft ob dieser respektlosen Äußerung über die edlen Unsterblichen.

»Die teilen sich in viele Stände auf, und diese da gehören zu den weniger Angesehenen. Ich glaube, man nennt sie sogar Braunelben.«

»Aus der herrlichen Waldstadt Brandfurt!«, rief einer von ihnen herüber.

»Oh, aus dem prächtigen Mittel des Südreiches, ein wahrhaft weiter Weg. Slént, Brüder!«

»Slént, Bruder Kurzohr!«

Fionn spürte, wie er errötete. »Die hören wohl alles?«

»Je spitzer die Ohren, desto feiner der Hörsinn. Außerdem entwickelt jeder Angehörige unserer Zunft mit der Zeit ein feines Gehör, das ist überlebenswichtig.« Der Wanderkrieger stieß Fionn leicht an und wies auf einige Plätze. »Übrigens sind nicht nur Männer hier, sondern auch ein paar Frauen. Hier und da, und dort auch.«

Fionns Blick folgte den Fingerzeigen, und erst jetzt fiel es ihm auf. Menschen und Elben … »Und Zwergenfrauen?«, flüsterte er aufgeregt.

»Die kriegst du nicht zu Gesicht, Kleiner, dieses Privileg ist nur wenigen Auserwählten vergönnt.«

»Haben sie wirklich, äh, Bärte?«

»Was fragst du mich?«

»Ihr gehört bestimmt zu den Auserwählten.« Fionn musterte seinen Retter kritisch. Dieser Mann war reich an Erfahrungen und Entbehrungen, wahrscheinlich war er schon durch ganz Albalon gereist und kannte selbst die geheimen Städte und die Labyrinthminen. »Darauf möchte ich wetten.«

»Nicht mit mir. Ich bin nur ein einfacher Söldner, heute hier und morgen da.« Der Wanderkrieger leerte seinen Krug und bestellte nun Schwarzbier. Fionn fragte sich besorgt, ob das nicht alles zu teuer würde, doch sein Begleiter schien sich keine Gedanken darum zu machen. Vielleicht hatte er vor kurzem seinen Sold ausbezahlt bekommen.

»Danke«, wiederholte er.

»Zu deinen Diensten, junger Bogin.«

Auch dafür war er dankbar. Er wurde nicht verächtlich »Bucca«, aufgeblasene Backe, genannt. Den Schimpfnamen verdankten sie dem Umstand, dass die meisten Bogins rosige Wangen hatten, und darüber machten sich viele gern lustig: »Trinkt und isst zu viel und ist faul.«Und die Großen blickten sowieso gern auf die Kleinen Völker herab, zu denen die Bogins nun einmal gehörten, ob sie wollten oder nicht.

Der Wanderkrieger wischte sich den Schaum aus dem dunklen Bart. »Nun, du hast dich jetzt erholt, dann kannst du getrost weiterziehen.«

Schlagartig war die gute Stimmung dahin, und die Wirklichkeit hatte ihn mit einem Faustschlag eingeholt. Es fühlte sich an wie der Winter, wenn man morgens die Tür öffnet und die Kälte einem entgegenschlägt, wo gestern noch ein freundlicher Herbst gewartet hat.

»Aber wie denn?« Fionn schluckte heftig, dann brach er in Tränen aus. Sein Herz raste vor Angst. »Ich … ich war doch noch nie außerhalb meines Heims. Ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll, was ich tun muss, wovon ich leben soll, und außerdem habe ich keine Kleidung und ich werde gesucht, und …«

»Dreh nicht gleich durch.«

»Ihr habt leicht reden, Herr!«, schluchzte Fionn verzweifelt.

»Nenn mich nicht Herr und vor allem hör mit dieser Anrede auf, ich bin kein Adliger. Ich werde genannt und bin Tuagh.« Er deutete auf die Axt an seiner Seite.

»Aber ich kann doch nicht einfach …«

»Du kannst sehr wohl. Ich bin weder dein noch sonst jemandes Herr. Und wenn du damit nicht aufhörst, muss meine Axtschneide dich leider ein wenig an der Kehle kitzeln, um dieses dumme Wort aus dir herauszuschneiden.«

Erschrocken hob er die Hände. »Ich … ich werde es versuchen, H… T-Tuagh. Ich bitte um ein wenig Geduld, denn das bin ich nicht gewohnt.«

»Mit deinesgleichen redest du doch auch formlos, oder?«

»Das ist was anderes. Wir sind schließlich nicht gleich, Ihr … d-du und ich.«

»Ach? Und warum nicht?«

Fionn war so verdutzt, dass es ihm für einen Moment die Sprache verschlug. »Na, erstens einmal bin ich ein Sklave und I… du ein freier Mann.«

»Ich sehe hier einen Bogin und einen Menschen ungezwungen an einem Tisch sitzen und plaudern. Der einzige Unterschied ist die Größe, und, na schön, die Volkszugehörigkeit mag auch etwas ausmachen. Und dein Schlafanzug, das sollten wir wirklich ändern. Aber ich kann nicht erkennen, was dich zum Sklaven macht und mich zum freien Mann.«

»Also, es sollte nicht an mir sein, dir das erklären zu müssen!«, entfuhr es Fionn. »Du solltest eigentlich wissen, dass wir Bogins Sklaven von Geburt an sind, und so ist das seit langer Zeit, so weit wir zurückdenken können.«

Tuagh lehnte sich zurück und trank einen Schluck, bevor er entgegnete: »Und was wart ihr in der Zeit, die außerhalb eures Denkens liegt?«

»Ich verstehe nicht …«

»Eure Erinnerung wird ja wohl nicht bis an den Anbeginn aller Zeit zurückreichen. Also gibt es eine Zeit außerhalb eurer Erinnerung. Was wart ihr da?«

»Ich weiß nicht«, gab Fionn verwirrt zu. »Vielleicht gar nicht.« Dann runzelte er die Stirn. »Es ist nichts Schlechtes daran, ein Sklave zu sein.«

»Dem Anschein nach nicht, wenn man ein Bogin ist, der vielleicht auch einen Namen hat?«

»Oh, Verzeihung, H… Tuagh, ich bin sehr unhöflich. Ich bin Fionn Hellhaar.«

Der Wanderkrieger schmunzelte, und für einen Moment vertieften sich die Lachfältchen in seinen Augenwinkeln. Es musste eine Zeit gegeben haben, da er viel mehr gelächelt oder sogar gelacht hatte. »Wohlan, Fionn Hellhaar. Wie bist du überhaupt in den ganzen Schlamassel geraten?«

»Ach herrje, diese lange Geschichte …«

»Das scheint mir genau das Problem zu sein, denn ich glaube, sie macht deinen Kopf so voll, dass er schon ganz angeschwollen ist und bald platzt. Lass sie heraus, ich werde ihr auch nichts antun, sondern sie genau so belassen, wie sie ist. Es ist deine Geschichte.«

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll … und da ist Cady … und meine Eltern …« Fionn schluckte tapfer die erneut aufsteigenden Tränen hinunter; alles zu seiner Zeit, und er wollte sich nicht restlos lächerlich machen. Zu einer Witzfigur, die die Bezeichnung »Bucca« verdiente. »Willst du sie wirklich hören?«

»Interessiert mich brennend.«

Fionn zögerte. »Du siehst nicht aus wie einer, der gern Geschichten lauscht.«

»Ich habe dir versprochen, sie nicht zu zerhacken.« Tuagh klopfte erneut gegen den Axtstiel an seiner rechten Seite. »Die bleibt schön da, wo sie hingehört. Glaub mir, unter dieser rauen Schale«, er wies auf sich, »steckt kein so übler Kerl, wie man meinem Aussehen nach annehmen möchte. Ich kann durchaus romantisch sein.«

»Um Romantik geht es hier gar nicht, sondern um Mord, Blut, Gewalt und Ungerechtigkeit.«

»Sag ich doch! Meine Rede. Ich bin ganz Ohr!«

Kapitel 2Und wie es dazu kam

Wollt ihr wissen, wer ich bin, wer hinter dem ruhmreichen Namen, den ihr übersetzt Schwarzauge nennt, steckt? Macht euch keine Gedanken. Es genügt, dass ich weiß, wer ihr seid.

Die Katastrophe begann in genau jenem Moment, da Fionn kurz nach dem Mord die Leiche von Magister Brychan fand und alles darauf hinwies, dass es die Tat eines Bogins gewesen war, was sich deswegen als umso schlimmer erwies, dass ausgerechnet er – ein Bogin, da gab es nun einmal nichts dran zu rütteln – nur wenige Augenblicke später neben genau dieser Leiche und auch noch blutbesudelt aufgefunden wurde.

Und das geschah am Tag nach der Feier, genauer gesagt am frühen, ja am allerfrühesten Morgen, und Fionn war trotz seines mächtigen Katzenjammers ein zweites Mal entgegen seiner Gewohnheit derart zeitig aus dem Bett gestiegen. Gestern, weil es sein Geburtstag gewesen war, und heute, weil er ein Geräusch gehört hatte.

Ein Geräusch, das ungewöhnlich war und nicht in dieses Haus gehörte, und das selbst durch wein- und bier- und schnapsselige Träume, die um ein zauberhaftes Wesen namens Cady kreisten, hindurchschallte und ihn weckte. Und er wusste, es war etwas geschehen, und nichts Gutes.

Die Vernunft warnte seinen trunkenen Verstand liegenzubleiben und abzuwarten, doch seine angstbehaftete Neugier zwang ihn auf die Beine und dorthin, von woher das Geräusch gekommen war.

Noch war er der Erste, noch schien alles im tiefen Schlummer zu liegen, noch war Fionn mit dem Entsetzen seiner Entdeckung ganz allein.

Und so nahm das Verhängnis seinen Lauf …

»So ist es recht!«, bemerkte Tuagh lobend und bestellte die nächste Runde Schwarzbier. Er schien sich bestens zu amüsieren. »Das habe ich erwartet. Trotzdem geht es mir etwas zu schnell. Wie kam es dazu?«

»Ich komme ja schon darauf zu sprechen«, sagte Fionn seufzend. »Aber dazu muss ich ein bisschen ausholen.«

»Ich kann es kaum erwarten. Erzähl mir von euch Bogins! Ich weiß so wenig über euch.«

»Niemand weiß das, denn wir fallen ja nicht weiter auf und sind kaum in aller Öffentlichkeit anzutreffen. Abgesehen davon, dass wir als Bucca bezeichnet werden, will man auch nicht viel von uns wissen, scheint mir.«

»Nun, bei mir ist das anders. Als Bucca habe ich euch nie bezeichnet, vermutlich, weil ich noch kaum einem deiner Art begegnet bin. Doch wir wollen uns nicht mit langatmigen Ausführungen über Beleidigungen aufhalten. Fahre fort!«

Genau einen Tag zuvor war alles in bester Ordnung gewesen, um nicht zu sagen, es sollte der beste aller Tage werden, zählte man eine spätere Hochzeit nicht mit dazu. Zumindest war es der wichtigste Tag im Leben eines Bogins, ja, noch wichtiger als der Bund einer Vermählung.

Der Tag der Doppel-Zwei, des Volljahrs, war gekommen. Fionn Hellhaar war so aufgeregt, dass er ganz gegen seine sonstige Gewohnheit schon vor Sonnenaufgang erwacht war. Ridirean hatte noch nicht einmal den ersten Schlag getan. Noch schneller als üblich war er gewaschen und angekleidet und untersuchte sich im Spiegel daraufhin, ob es vielleicht eine erkennbare Veränderung zu gestern gab.

Denn gestern war er noch ein Kind gewesen, und ab heute galt er als Mann.

Doch alles was er sah, war der Bogin, den er jeden Tag sah. Schmal von Gestalt, fast ein wenig zu groß, von mäßiger Behaarung und mit seidig-lockigen blonden Haaren, die ihm knapp auf die Schultern fielen. Und dazu Augen von dem dunklen Blau eines kalten, klaren Winterhimmels. Seine Haut war hell, und seine schmalen Wangen wiesen nur einen leicht rosigen Schimmer auf.

Er sah so gar nicht nach einem typischen, gestandenen Bogin aus, egal wie sehr er sich jeden Abend aufs Neue wünschte, am Morgen verändert aufzuwachen – nämlich so, »wie es sich gehörte«, wie Onkelchen Fasin zu sagen pflegte und ihn dabei scheel von der Seite ansah.

»So haben Bogins nicht auszusehen«, dozierte der alte Benimmmeister der Heranwachsenden und zeigte jedes Mal auf Fionn Hellhaar als Beispiel.

Bogins hatten eine ins bräunliche neigende Samthaut; vor allem wenn sie draußen im Garten arbeiteten, nahmen sie schnell unter der Sonne Farbe an, die mindestens hüftlangen braunen bis schwarzen Haare waren dicht gelockt, und sie besaßen zumeist große dunkle Augen. Allen gemeinsam waren die gesunden rosigen Wangen.

Das alles hatte Fionn irgendwie nicht vorzuweisen. Seine Erscheinung gab Anlass genug zu Spott, wenngleich es niemand wagte, auch nur eine Silbe in der Nähe von Alana, Fionns Mutter, verlautbaren zu lassen. Im Gegensatz zu seinem sanften Vater, der am liebsten nach getaner Arbeit im Garten saß und Pfeife rauchte, war Fionns Mutter eine resolute, kräftige und große Boginfrau, die selbstbewusst genug war, dass sie dem Herrn die Stirn bot. Sie saß selten still und fand leider auch immer genug, womit sie ihren einzigen Sohn antreiben konnte, nicht nur seinen Vater Hagán. Und alle anderen natürlich auch. Selbst Onkelchen Fasin spurte vor ihr.

Fionn rückte die sorgfältig gebundene Schleife an seinem frisch gestärkten, gestreiften Hemd zurecht, zupfte am Sitz der langen dunklen Hose, wischte einmal über die neuen Halbschuhe, damit sie so richtig glänzten, und zog die leichte Jacke mit den Seidenapplikationen über, die seine Mutter ihm für heute genäht hatte. Er seufzte tief.

»An diesem Tag solche Trübsal?«, erklang eine Stimme hinter ihm, und er fuhr zusammen. In der Tür stand der Gelehrte.

»Oh, Herr, es tut mir leid«, stammelte Fionn und verbeugte sich artig.