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Geschichten aus der Zukunft und der Gegenwart, die sich um ein Hauptthema drehen: den Menschen. Wie gestaltet sich die Gesellschaft, und wie diese die Zukunft? Kann dabei Individualität noch bestehen bleiben? Und wie kommt der Einzelne in so einer Welt, die manchmal gleich nebenan zu sein scheint, zurecht? Manche, die ihren finsteren Gelüsten frönen, stürzen dabei in seelische Abgründe. Andere erschaffen diese, aber nicht für sich. 17 Geschichten vom Sein-oder-Nicht-Sein. Band 1 der Werkausgabe gesammelter Storys.
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Seitenzahl: 289
Geschichten aus der Zukunft und der Gegenwart, die sich um ein Hauptthema drehen: den Menschen.
Wie gestaltet sich die Gesellschaft, und wie diese die Zukunft?
Kann dabei Individualität noch bestehen bleiben?
Und wie kommt der Einzelne in so einer Welt, die manchmal gleich nebenan zu sein scheint, zurecht?
Manche, die ihren finsteren Gelüsten frönen, stürzen dabei in seelische Abgründe. Andere erschaffen diese, aber nicht für sich.
Uschi Zietsch, geboren 1961 in München, publiziert seit 1986 in vielen verschiedenen Genres, ist als Susan Schwartz Teamautorin bei Perry Rhodan, gibt Schreibseminare, arbeitet zudem als Lektorin und Coach und ab und zu als Moderatorin sowie Stand-up-Comedian im Duo Außer&Irdisch.
Bei Fabylon sind u.a. erschienen:
Elfenzeit Die Chroniken von Waldsee Das Reich Albalon
www.uschizietsch.de
Hier ist er also nun, der erste Band meiner Kurzgeschichten-Werkausgabe. In diesem Teil finden sich unter anderem Science-Fiction, Social-und-Fiction, Krimis und eine Bonusgeschichte.
Allen Storys ist gemein, dass sie aufgrund irgendeines äußeren Reizes schlagartig und bereits fertig entwickelt und erzählt aus meinem Kopf purzelten. Sei es durch ein persönliches Erlebnis oder ein Thema, auch das Schlagwort einer Ausschreibung. Dem habe ich stets sofort nachgegeben, und wenn ich unterwegs auf einen Parkplatz fahren oder ein Abendessen unterbrechen musste, damit sie nicht gleich wieder verwehten.
Manche dieser spontanen Kopfgeburten wurden später veröffentlicht, manche bekamen Preise.
Die Bibliographie erzählt mehr dazu, hier und da mit Erläuterungen versehen.
Aber genug davon, lest und findet eure eigene Lieblingsgeschichte, so wie ich die meine. (Ist wahrscheinlich nicht schwer zu erraten, welche das ist.)
Viel Lesespaß!
Hallo ihr da draußen, hier ist Silberfuxxx!
Shup-shup, dass ihr alle live dabei seid, wenn ich mich heute an meine größte Herausforderung wage: Das Geheimnis des unheimlichen Monsters vom Grand National zu lüften! Seit Wochen treibt es sein Unwesen, zahllose Menschen hat es auf schaurigste Weise ermordet, und doch gibt es keine gesicherten Aufnahmen davon. Fakes allerorten, wer so alles das Monster gesehen und aufgenommen haben will, mehr cringe geht nicht. Echt was zum Fremdschämen. Fehlen nur noch die Selfies dazu, haha!
Um dazu gleich die ersten Kommentare der Hater vorwegzunehmen – ja, natürlich mache auch ich hauptsächlich Selfies, ich bin schließlich Influencerin und keine Journalistin, d’accord? Ihr wollt ja mich und mein hübsches Gesicht sehen, selbst meine Hater. Oder vor allem die? Uuuh, ich seh schon, wie es reinrasselt. Mir ist das gleich, Hauptsache, ihr folgt mir, und meine Beiträge gehen um die Welt. Darauf kommt’s mir an, denn, oh Wunder, ich hab was zu sagen, nicht nur zu zeigen!
Ja, Emma3001, ich nehme natürlich Rücksicht auf deine Aufmerksamkeitsspanne von zehn Sekunden und höre gleich mit der longlasting Einleitung auf. Und wer jetzt weiterskippt, verpasst die Neuheit, das Novum, das Noch-Nie-Dagewesene! Das wird sowas von siu, ihr werdet ausrasten!
Weil das nämlich – TUSCH! – eine Live-Sendung wird!
Ich setze mir jetzt die Vortex-D-Brille auf, und nun … wechselt die Perspektive. Ihr seht durch meine Augen! Verschärft, nicht wahr? Diesmal ziehe ich alle Register. Ihr könnt alles sehen, was ich sehe, aber sprechen kann nur ich. Hähä. Wie immer könnt ihr euch in der Kommentarspalte äußern, die ich auch weiterhin mitverfolge, soweit es halt mit zunehmender Hektik möglich ist. Hey, aber bitte nicht vollballern, jetzt sind gleichzeitig über hundert aufgeploppt. Wie wär’s, wenn ihr nur dann was sagt, wenn ihr auch was zu sagen habt, und bis dahin einfach zuhört? Und zuschaut!
Yay, ich sehe, wie die View-Daten steigen! Besser als gedacht! Großformatig!
Für alle, die jetzt erst zugeschaltet haben: Hier ist Silberfuxxx!
Shup-shup, dass ihr alle dabei seid, aber seid gewarnt: das wird eine lange, sehr lange Live-Sendung, und diese Wiederholung zur Begrüßung ist die letzte. Ich habe nicht vor, zwischendrin eine Pause zu machen, die Go-Ahead-Kamera bleibt permanent an, ebenso der Ton. Den schalte ich nur aus, wenn ich mal für kleine Füxxxe muss. Das Bild nicht, ihr seht mich ja nicht. Und in so einem Fall ist das gut so.
Ja, DemeterIris, ich sehe und grüße dich. Und EstaYY348, hast du dir die Haare schneiden lassen? Ah, Dunkelbier32, ich sehe schon, warum du so heißt.
Ich bin gespannt, wie lange ihr durchhaltet. Momentan bewegt sich meine Zuschauerzahl im sechsstelligen Bereich – sehr löblich. Oder habt ihr nichts anderes zu tun?
Ich sage euch, was ich zu tun habe: Ich werde dieses schpiep verfpiep Monster stellen und weltweit bekannt machen!
Seit Monaten jagt es uns Angst und Schrecken ein, der Tourismus ist eingebrochen, die Polizei ratlos. Selbst wenn eine Drohne mal das Ding erwischt, explodiert entweder die Kamera oder es ist nur ein verwaschenes Chaos drauf, aus dem die beste KI nichts mehr zusammensetzen kann, damit es ein erkennbares Bild ergibt.
Nein, ExoTerroristMag, die Polizei ist nicht stümperhaft, ahnungslos oder doof. Nochmal so ein Kommentar, und du fliegst raus. Das gilt für alle, die nur vom Sofa aus schlaue Sprüche dreschen können. Wer hier nicht schon vor Ort war und mitbekommen hat, was abgeht, einfach Fresse halten, okay?
Denn, oh liebe Besserwisser, ich bin bereits seit zwei Wochen hier, ich recherchiere seither, bin bei Polizeieinsätzen dabei und habe Dinge gesehen, von denen ihr nichts wissen wollt. Deswegen hab ich die auch nicht mit euch geteilt. Sondern lieber kleine Schnipsel gebracht, um euch neugierig auf das große Event zu machen – meine Jagd auf das Monster.
Zwei Wochen lang habe ich mit Expertenhilfe nach einem Platz gesucht, bei dem die Wahrscheinlichkeit hoch liegt, dass das Monster genau dort das nächste Mal auftauchen wird. Ja, ich weiß, die bisherigen Wahrscheinlichkeitsberechnungen haben alle danebengelegen, was – wie manche populären selbst ernannten Wissenschaftler behaupten – dafür sprechen könnte, dass dieses Mördervieh mit einer Art Intelligenz ausgestattet ist. Oder, wie UFO-Beschwörer herumtönen, die Außerirdischen seien gelandet und sie seien Predators. So wie die aus den Filmen, und die Filme seien in Wirklichkeit Dokus gewesen, weil die Predators nämlich schon mal dagewesen seien. Habt ihr nie von gehört? Geschweige denn gesehen? Kein Wunder, das Zeug ist urururalt, als es noch nicht mal In-ter-net gab. Also noch Prä-Transnetz. Aber die UFO-Anhänger sind ja immer schon ewiggestrig gewesen, schon seit der Steinzeit, als die ersten Götter ins Dasein gerufen wurden.
Ja, zusammenmurksen kann man viel, schon als Zweijähriger. Wenn ich mir von allem ein Schnipsel nehme, konstruiere ich halt ein Wolkenkuckucksheim, das beim ersten wissenschaftlichen Anhauch in sich zusammenfällt.
Deshalb, Freunde, werde ich jetzt Beweise liefern.
Ob ich das kann, fragst du, HasiPutzi? Na, was denkst du, wobei ich gerade bin und worüber ich die ganze Zeit rede? Klar kann ich das. Auch wenn keine Drohnen, Augenzeugen oder Polizei das Ding je identifiziert haben, so wird es mir gelingen.
Ich habe zwei Wochen lang nach der richtigen Stelle gesucht, ein Mords-Equipment zusammengestellt und aufgebaut.
Ob die anderen das nicht auch gemacht haben, Schneckelwutz37?
Klar.
Für die bin ich eine von vielen, eine Spinnerin, und es hat einiges an Aufwand gekostet, dass ich mein Vorhaben live umsetzen kann. Weil nämlich für meine Sicherheit gesorgt wird, aber diese nicht garantiert werden kann. Da gab’s einen ganzen Roman zum unterschreiben der Ausschlüsse, Nicht-Haftungen etcpp, ich sag’s euch. Aber das ist es wert. Das ist meine größte Show, und ihr werdet dabei sein. Ohne Schnitt, Komma und Punkt. Kein Dreh unter lediglich Live-Bedingungen mit KI-Nachbearbeitung, sondern echt live, in Farbe und Bunt. Na gut, nachts eher grün, denn, ja, auch dafür ist gesorgt.
Seht ihr? Stativ, Kamera, Fotofalle, Mikros, Computer, Generator … Ich zeig’s euch im Detail. Alles erhalten von meinen Sponsoren, die ich jetzt an den Bildrändern einblende. Ich freue mich über jeden Klick, den ihr auf die macht und vielleicht auch noch was kauft. Denn dann sponsoren die mich weiter und meine Seite wird auch bezahlt.
Ja, was glaubt ihr denn, was dieser Spaß kostet? Denkt ihr, ich mach das hier aus reiner Funnesse, weil ich sonst nichts Besseres zu tun habe? Ich bringe hier vollen körperlichen Einsatz, um euch zu unterhalten! Das kostet!
Genug der Einleitung, ich zeige euch jetzt den Platz, wo ich das Equipment aufgebaut habe. Schön ist es hier, nicht wahr? Die Baumwipfel rauschen, das Gras ist fett, und an den feuchteren Stellen bei den Wurzeln sind überall Moose und kleine Farne. Die Renaturierung hat voll gegriffen, und mit dem sanften Tourismus, durch den man hier gegen teures Geld nur geführt rein darf, kommt auch die Finanzierung zustande.
Was keineswegs erklärt, wie ein Monster da drin versteckt sein kann. Wurde es sogar hier geboren? Ist unter all den Häslein und Rehlein aufgewachsen, bis es irgendwann zu groß geworden ist, Blut geleckt und festgestellt hat, dass Menschen am besten schmecken?
Oder ist es einem Labor entkommen?
So viele Fragen, keine Antworten. Vor allem in Bezug auf einen fehlgeschlagenen Laborversuch wird man den Teufel tun, uns die Wahrheit zu sagen. Und genau deswegen bin ich jetzt hier!
Seit acht Wochen werden wir nun terrorisiert. Eine Urban Legend baut sich auf, und die Fakes draußen überschlagen sich fast, einschließlich der Abzocker, die sofort ihre Chance gewittert haben und nun alle möglichen angeblich echten Devotionalien, verwackelte und verschwommene Aufnahmen und dergleichen mehr verkaufen, einschließlich der angeblich wissenschaftlichen Dokus.
Dem schiebe ich einen Riegel vor! Ich werde euch den Beweis liefern, alle werden es sehen, und dann haben diese ganzen Lügner und Bizneps das Nachsehen.
Oh, mittlerweile feiern wir schon einen Rekord. Die Zuschauerzahlen steigen und steigen!
Das freut sicherlich auch den Leiter der SOKO, den ich euch hiermit vorstelle, der alles koordiniert und überwacht. Bedankt euch bei ihm, dass ich hier sein darf. Ja, sehr gut, ich zeige ihm die Kommentare und Herzchen und Daumenhochs. Schön, nicht wahr?
Vielen Dank, dass Sie mir das Vorhaben trotzdem noch ausreden wollen, aber wir waren uns ja einig, der Welt die Wahrheit zu zeigen, damit mal alles runterkommt von der Massenhysterie.
Denn, ihr glaubt es kaum, hier gibt es Vandalismus ohne Ende, ständig dringt jemand in den Park ein, treibt die Tiere raus und zerstört mutwillig zerbrechliche Ökologie, nur um angeblich das Monster erlegen zu wollen. Es ist schon zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen, und was die Medien darüber berichten, nun ja, trägt nicht gerade zur Deeskalation bei.
Vielen Dank, ich weiß, dass Sie in der Nähe sind und brauche keine Angst zu haben. Sie alle werden mich beschützen.
Ob ich mich als Köder sehe, AgentDark11?
Ja, natürlich bin ich das, da brauchen wir gar nichts zu beschönigen.
Das Biest tritt immer nur nachts auf, aber sicherlich hat es mitbekommen, dass ich hier drei Stunden lang das Equipment aufgebaut habe. Wenn es stimmt, dass es über eine gewisse Intelligenz verfügt, kann es sein, dass es dann woanders zuschlägt. Der ganze Wald ist derzeit abgeriegelt, überall sind schwerbewaffnete Posten, auf alles gefasst. Sollte es fliehen wollen, keine Chance – im Freiland haben wir es sofort. Dort fliegen Drohnen Patrouille und Hubschrauber sind sofort starbereit. Alles wird es ja wohl nicht gleichzeitig zerstören und explodieren lassen können, oder?
Jetzt oder nie.
Es kann natürlich auch sein, und das ist genau die Wette, auf die ich setze, dass die Bestie grad erst recht den Angriff auf mich startet, um mir zu zeigen, wie blöd ich bin, mich in ihre Nähe zu wagen und zu glauben, schlauer zu sein als sie.
Klar habe ich Angst, ihr vielen Kommentatoren, aber ich werde wirklich gut bewacht. Wir hatten überlegt, dass ich mich in eine Art Haikäfig setzen könnte, aber das würde erst recht zur Todesfalle, weil ich da nicht mehr rauskomme. Nach allem, was die Bestie bisher zerstört hat, halten wir oberirdisch nichts für stabil genug, um ihr standzuhalten. Mehr dazu gleich noch.
Wir müssen halt einfach alle sehr schnell sein.
Und ihr bekommt hoffentlich ein Spektakel, wie es noch nie eines gegeben hat.
Oh, gut, dass du mich darauf hinweist, Naturkind2024, an dem Käfig bin ich bisher nur vorbeigeschwenkt, und jetzt randaliert er, weil er sich nicht beachtet fühlt.
Das hier ist Hugo, der Eichelhäher. Hübsch, nicht wahr? Eichelhäher sind Krähenvögel und die Wächter des Waldes, ihnen entgeht nichts, und sie sind immer die ersten, die anschlagen. Und zwar mit einem Gekreisch, das keiner überhören kann.
Das war auch bei jedem Angriff des Monsters der Fall, weswegen wir uns schon darauf einstellen können – nur leider vergehen lediglich drei bis vier Sekunden von der Warnung bis zum Gemetzel, sodass man sich nicht wirklich in Position bringen kann. Dem wollen wir diesmal abhelfen, indem Hugo bei mir ist, mich warnt, und dann tauche ich ab.
Jep, kommen wir jetzt zu der Käfig-Alternative: Schaut mal, wir haben hier unter dem Moos so einen kleinen Schutz gebaut, es ist nicht mehr als ein Sarg, haha, der aber einigem Druck standhalten kann. Ich verschwinde darin, mach den Deckel zu, der von außen keine Nut und Naht aufweist und somit keinen Hebelpunkt für einen ungeduldigen Schläger, und dann sind die anderen am Zug. Luftversorgung hab ich für ein paar Stunden, sollte es erforderlich sein, denn zu meinem Grab soll das ja nicht werden.
Ob ich das ohne durchzudrehen aushalte, RambosSchatz1213?
Ich glaub schon, wenn da über mir ein Biest wütet. Da ist alles willkommen, was vor Pranken und Klauen oder was auch immer schützt. Und ich muss ja auch nicht allzu lange darin ausharren. So schnell der Angriff erfolgt, so schnell ist er auch wieder vorbei, das war bisher jedes Mal der Fall. Das dauert keine Minute.
So!
Es fängt an zu dämmern, also gehe ich jetzt in Position.
Ich mache mal aus meiner Bodenperspektive einen schönen Schwenk. So fühlt man sich wohl als Waldmaus.
Diese Stimmung ist toll, nicht wahr? Die rosafarbenen Wolkenschleier, die immer röter werden, je tiefer die Sonne sinkt. Im Wald ist es ruhig, die einen gehen schlafen, die anderen kommen grad erst zu sich. Die Bäume werden zusehends dunkler in dem Dämmerlicht, wie düstere Standbilder.
Es ist windstill, aber ich spüre trotzdem, wie es rasch kühl und klamm wird. Hauchfeiner Nebel tastet sich über die Grasspitzen heran, hinterlässt im letzten Licht glitzernde Tropfen auf den zwischen den Halmen gespannten Spinnennetzen. Vielleicht gibt es den ersten Frost … noch bildet sich kein Dampf vor meinem Mund. Wäre ein toller Zusatzeffekt gewesen, nicht wahr? Vielleicht flechte ich das noch in das Special ein, das ich vorhabe, komprimiert mit den Highlights und KI-unterstützt aufbereitet. Das kommt bestimmt gut an.
Gähn! Jetzt sind drei Stunden Warterei vergangen, und ehrlich gesagt, mir tut alles weh. Ich hab mich nicht bewegt, ich wünsche mir einen dampfenden Becher heißen Tee, meine Füße sind eingeschlafen, und ich hab eiskalte Finger. Hunger hab ich auch. Das ist schon was, mal live so was mitzumachen, ohne zu zocken oder ne Serie zu bingen. Ich kann aber nicht sagen, hab ich nicht gewusst, denn ich wurde darauf vorbereitet.
Ihr habt es gut, die ihr immer noch zahlreich dabei seid! Und geduldig mit mir ausharrt! Ja, ich weiß, EllenHochDrei, dass du seit der ersten Sekunde dabei bist und ich freue mich, dass du mich bei der Stange hältst.
Und deswegen halte ich das aus, ihr People da draußen, nur für euch.
Das Einzige, was mich kirre macht ist die immer stärker drängende Frage, ob der ganze Aufwand vielleicht doch umsonst ist und ich vergeblich hier vor mich hin leide.
Und das Zweite, ja-ha, es gibt doch noch was zu dem Einzigen dazu, mir fallen langsam die Augendeckel zu. Das wäre aber schlecht für euch, denn dann seht ihr nichts mehr und hört nur noch mein Schnarchen.
Hugo schläft natürlich auch längst und wird nicht von Nutzen sein.
Wahrscheinlich werden die anderen bald abbrechen. Ich gebe das Signal nicht, das steht fest. Denn ihr seid alle bei mir und wir halten das durch.
Mit der Nachtsicht ist das alles schon recht geheimnisvoll, schlierige Bewegungen, alles grün und schattig, ab und zu seh ich Augen aufglühen. Das ist gruslig. Aber es ist ein Fuchs. Jetzt ein Dachs. Die Katze, ob das wohl eine echte Wildkatze ist, oder ein Stubentiger? Oh, hallo Hase.
Da bin ich gleich wieder hellwach, ich hätte gar nicht gedacht, dass so viel los ist auf diesem kleinen Fleckchen. Da staksen zwei Rehe, seht ihr sie? Habt ihr sowas Entzückendes nachts im Wald schon mal erlebt?
Sie fangen an zu mümmeln, als wüssten sie, dass kein Jäger unterwegs sein wird. Die allgemeine Jagd ist hier ja sowieso strengstens verboten. Und trotzdem ballern hier immer welche illegal rum, weil man ja sein Fleisch für den Teller selbst jagen muss, so wie damals in der Urzeit. Das ist vermutlich das, was diese Wilderer unter »im Einklang mit der Natur« verstehen. Nur, dass es längst keine echte Natur mehr gibt und Töten mithilfe von jeder Menge Technik und modernen Waffen aus der Fabrik nichts mit »Einklang« zu tun hat. Den Tieren wird Stress und Schmerz bereitet, nur um nen Steifen zu kriegen. Na aber hallo, wie wär’s mit dem Monster?
Heute jedenfalls scheint niemand da zu sein, zumindest höre ich kein Knallen. So allmählich zeigen die Absperrungen und die Festnahmen samt Geldstrafen doch Wirkung.
Oh, was ist das? Ist das … ein Licht? Sieht seltsam aus, was haltet ihr davon?
Scheinwerfer könnten es sein, einfache Taschenlampe sicher nicht. Was, Handylicht? – Also bitte, echt nicht, Leute.
Ich höre Stimmen … oh, schnell weg mit der Nachtsicht, verdammt, jetzt haben sie die Strahler eingeschaltet. Hört ihr das? Scheint, als hätten sich doch wieder ein paar Spaßvögel eingeschlichen. Na, die werden was erleben.
Moment.
Irgendwas … stimmt da nicht. Da ist eine Bewegung im Wald, die nicht zu Menschen passt. Viel zu stark. Bäume bewegen sich! Und ein Wind … irgendsowas … kommt auf.
Ein Strahler explodiert, autsch, gut, dass ich die Nachtsicht aus habe.
Und Hugo … Hugo ist aufgewacht. Er schaut sich um, hüpft unruhig im Käfig.
Soll ich mich vielleicht doch lieber in den Sarg begeben?
Ja, ich weiß, dass ich hektisch atme, SuperDocMax, das hier ist Stress, Superstress, und allmählich krieg ich Angst.
Sobald der Vogel anschlägt, bin ich weg, das sag ich euch. In den Sarg kriegt mich keiner, das halte ich nicht aus, ich kriege jetzt schon Zustände, wenn ich nur daran denke.
Oh mein Gott, der zweite Strahler ist explodiert, und jetzt überschlagen sich die Stimmen, ich seh Bewegungen … schwer auszumachen ohne Nachtsicht, aber mit geht erst recht nicht bei dem Restlicht … Und da ist noch etwas.
Sie schreien. Die Menschen schreien panisch! Ich sehe die herumschwenkenden Lichter von Taschenlampen, der dritte Strahler knallt durch, und Hugo …
Schpiep, Hugo schlägt an. Hugo, kleiner Freund, nur die Ruhe, komm, ich nehm deinen Käfig, wir hauen ab, und zwar ganz schnell, du und ich. Ich hab keine Ahnung, was da passiert, aber ich setze dieser Show jetzt einen Schlusspunkt. Und ergreife Hasenpanier.
Leute, ich höre es kommen. Seht ihr, wie das Gebüsch wackelt? Und wo sind die anderen? Es ist so dunkel … es ist so still …
Ja, verdammt, ich weiß, dass ich schneller sein muss, aber lauft ihr doch mal im Dunkeln durch so unebenen Schmodder! Schreit mich nicht an, ich mach ja schon!
Fpiep! Da kommt
»Die Menschheit muss in Frieden leben können, befand der Friedensforscher Prof. Dr. Jesko Mirfrid im Jahre 2038. Er war natürlich nicht der Erste, der zu diesem Schluss kam. Aber der Erste, der … na, Mischki?«
Mischki, der sich gerade einen gesunden Schulschlaf gönnte, fuhr hoch, als sein Ecocas ihm durch einen Impuls einen elektronischen Klaps verpasste. »Autsch!«
»Falsche Antwort.«
»Aber ich habe doch gar nicht …«
»Natürlich nicht. Du hast wie immer keine Ahnung. Wer kennt die Antwort?«
Annake meldete sich eifrig zu Wort: »Prof. Dr. Jesko Mirfrid war der Wegbereiter des globalen Friedens, indem er entscheidend an dem Projekt zur Ableitung des Aggressionspotenzials mitarbeitete und die Lösung für einen Ausgleich fand!«
Mischki verzog das Gesicht. Sein V-Imago verfärbte sich daraufhin grün, Augen und Mund stachen rot hervor. »Alte Streberin!«, giftete er. Er sah sich im V-Teaching um, ob noch jemand derselben Meinung war wie er. Aber die übrigen Mitschüler waren alle aufmerksam und brav, wie immer. Sie beachteten den aufsässigen Mitschüler nicht einmal.
Das stets ein wenig verwaschen wirkende V-Imago der Lehrerin strahlte unverändert Freundlichkeit aus. Kireetha war sehr schön generiert worden, fast engelsgleich, mit ihren langen blonden Haaren, den großen blauen Augen und dem weichen Mund. Die meisten Schüler lagen im Wettstreit um ihre Gunst und legten sich dafür ins Zeug. Auch Mischki war stets sehr beeindruckt von Kireethas Erscheinung, doch leider verlor er sich eher im Träumen, anstatt fleißiger zu werden. Irgendwie schien Mischki etwas anders als die anderen zu sein. Aber das bekümmerte ihn selbst nicht, und es schien auch niemanden weiter zu interessieren.
Kireetha war darauf programmiert, den Schülern besonders viel beizubringen, und das so moderat und motivierend wie möglich. Sanft sagte sie: »Na siehst du, Mischki, so schwierig ist das gar nicht. Das könntest du auch wissen, wenn du nur ein wenig aufmerksamer wärst. Dann bräuchtest du nicht so viel Nachhilfe.«
»Ich glaube, ich bin etwas müde, weil ich so viel Nachhilfe bekomme«, meinte Mischki vorsichtig. »Ich kann einfach nichts dafür, dass ich immer einschlafe.« Das behauptete er ganz kühn und hoffte, dass Kireetha ihm das glaubte. Hastig zauberte er das mattbeige Bleich der Ehrlichkeit über sein V-Imago.
Dass er die Einstellungen manipulieren konnte, verstand sich von selbst. Sonst wäre Mischki schon längst aus diesem 3-Sterne-V-Teaching geflogen und in einem anderen gelandet, mit nur einem Stern und einem strengen, graufarbenen Koomes ohne Emotio-Siegel. Da spielte das Aussehen des V-Imago keine Rolle, auch nicht die Beteuerung, sich bessern zu wollen. Nur die Leistung zählte, und wurde die nicht erbracht, gab es Nachsitzen, bis der Kopf brummte.
Kireethas Lächeln wurde breiter. »Mach dir darüber keine Gedanken, das bekommen wir in den Griff. Vielleicht zeigst du bereits einen kleinen Fortschritt und kannst mir etwas über die Mirfrid-Konstante sagen?«
Jetzt kam Mischki ins Schwitzen. Kireetha war doch schlauer, als er angenommen hatte. Vielleicht glaubte sie ihm den guten Willen, aber sie ließ nicht alles durchgehen. Das bedeutete, jetzt musste er eine gute Antwort geben, sonst hatte er tatsächlich verspielt. »Ich … ich muss nur kurz nachdenken, dann kann ich antworten«, stammelte er. »Eine Minute, ja?«
»In Ordnung, Mischki. Eine Minute. Ich zähle.« Kireethas Mund bewegte sich, doch es kamen keine Laute, sondern Zahlen heraus. 60 … 59 … 58 …
Mischki schaltete auf Ruhe. Eine imaginäre Mauer baute sich um ihn herum auf; nun konnte ihn niemand mehr sehen. Er projizierte ein Sensorfeld und ließ seine virtuellen Finger darüber tanzen. Die Möglichkeit, sich hastig irgendwo in einer Bibliothek einzuloggen und nach der Lösung zu suchen, bestand leider nicht; das hatte bisher keiner geschafft, und wenn er noch so gewieft war.
Aber Mischki konnte sich in Annakes Terminal hacken; das war so ziemlich das erste, was er seit Zusammensetzung der Klasse gelernt hatte. Als Streberin kannte Annake die Antwort auf nahezu alles. Garantiert rezitierte sie gerade in Gedanken ihr Wissen über die Konstante, damit sie sich nicht verhaspelte, wenn sie nach Mischkis erwartetem Scheitern aufgerufen würde.
Mischki aktivierte ein Annake-Falschbild mit Stimmdämpfung, das er vor einiger Zeit in mühsamer Kleinarbeit programmiert hatte. Es legte sich über Annakes echtes V-Imago. Das Trugbild würde nicht lange halten, aber für Mischkis Zwecke dürfte es genügen. Gleichzeitig, bevor Annake die Manipulation auffallen konnte, schickte er einen kurzen Impuls, der Annakes Gehirn einen ganz bestimmten Reiz vermittelte. Diese Stimulanz hatte Mischki zufällig beim verbotenen Surfen im neurologischen Archiv der Apothekergenossenschaft gefunden. Wirkte besser als ein chemisches Wahrheitsserum!
Und prompt öffnete sich Annakes Mund, und sie plapperte die Lösung heraus. Die Stimmdämpfung sorgte dafür, dass nur ein leises Gemurmel durch das V-Teaching schwebte.
»Niemand sagt vor«, mahnte Kireetha, während die Zahlen 32 … 31 … 30 aus ihrem Mund strömten.
Bevor sie misstrauisch werden konnte, stellte Mischki sein V-Imago wieder auf aktiv und rasselte herunter: »Um einen positiven Frieden garantieren zu können, muss das menschliche Aggressionspotenzial auf ein Minimum herabgesenkt werden, wobei die vollständige Unterdrückung abzulehnen ist, da dies Devolution und Degeneration zur Folge hätte. Daher muss das Potenzial in die richtigen Bahnen gelenkt und vor allem umgeleitet werden, um eine Gefährdung der individuellen Entfaltung und Störungen des sozialen Bewusstseins von vornherein auszuschließen. Mit der ausgleichenden Formel, die dem Gehirn die notwendigen Reize für die aktive Friedensmodellierung sicherstellt, kommt es zur harmonischen Konfliktregulierung, und die Gewaltbereitschaft wird auf weniger als ein Prozent reduziert. Im Kollektiv besteht dadurch hundertprozentige Sicherheit, ohne auf Individualität verzichten zu müssen.«
»Hervorragend«, konstatierte Kireetha, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich gratuliere dir, Mischki.«
Mischki atmete auf. Er schien gerade noch davongekommen zu sein. Künstlich generierte Lehrer waren eben doch nicht so ausgefuchst wie echte Menschen.
Voller Freude sah er, wie Kireethas Gesicht durchsichtig und die Uhrzeit eingeblendet wurde.
»Das war es für heute, Kinder«, sagte Kireetha mit glockenklingender Stimme. »Eure Hausaufgaben werden jetzt gesendet. Bis morgen!«
Mischki war wieder einmal ein Glückskind. Die Schule war für den heutigen Tag beendet und der Junge tatsächlich um die Nachhilfe herumgekommen.
Hastig loggte Mischki sich aus und nahm den Helm ab. Erleichtert fuhr er sich durch die kurzen strohblonden Haare und hörte Mama Lythas Stimme, die zum Abendessen rief.
»Na, Bengel?« Mama Cherrie nahm Mischki in den Schwitzkasten und verstrubbelte ihm das Haar. »Wie war die Schule?«
»Dauernde Wiederholung«, antwortete Mischki und befreite sich nur mit Mühe, aber nachdrücklich. »Wirklich, Macie, ich bin zu alt für so was.«
»Herrje, ich vergesse ja immer, dass du schon dreizehn bist – ein fast erwachsener Mann!« Mama Cherrie grinste und zwinkerte Mama Lytha zu. »Bald wird er sich an der V-Uni immatrikulieren!«
»Und was wäre so falsch daran?«, rief Mischki, während er sich setzte und Hackbraten mit Kartoffeln auf seinen Teller schaufelte. »Wenn ihr mir endlich erlauben würdet, mich in die UB-Schule einzuloggen, könnte ich …«
»Das haben wir doch schon geklärt«, unterbrach Mama Lytha ungeduldig. »Ich will nicht, dass du dir den Stoff im Schlaf einpflanzen lässt! Wer weiß, was sie da alles mit dir anstellen oder dich konditionieren!«
»Ja, ich weiß schon, die große Weltverschwörung«, murmelte Mischki verdrossen und vertiefte sich einige Momente still in sein Essen, während sein Teller sich allmählich leerte. Dann knüpfte er an: »Und was hältst du von der Mirfrid-Konstante, Mala?«
Mama Lythas grünfunkelnder Blick hob sich langsam von ihrem Teller. Mit Bedacht legte sie Messer und Gabel beiseite. »Die Mirfrid-Konstante«, fing sie an, noch mit gemäßigter Stimme, »die Mirfrid-Konstante ist genau das, was die Menschheit sich schon immer gewünscht hat. Endlich Frieden. Und zwar global. Wir haben es geschafft, unseren Planeten zu retten, ohne die Ressourcen vollends auszuschöpfen, weil wir uns auf andere Dinge konzentriert haben als Wettrüsten und Kriege um Land, Energie und Wasser. Wir haben es geschafft, nahezu Vollbeschäftigung herbeizuführen, weil wir ein Staatssystem gefunden haben, das gesetzlich verpflichtet ist, sich ausschließlich für das Wohl aller einzusetzen. Und wir haben eine Station auf dem Mond gebaut und planen eine Kolonie auf dem Mars, in globaler Zusammenarbeit. Dank der Mirfrid-Konstante. Und natürlich auch dank des V-Netzes, das uns ein weltoffenes Leben von zu Hause aus ermöglicht, ohne dem Stress langen Reisens oder unerwünschter Bekanntschaften ausgesetzt zu werden. Es geht uns so gut wie noch nie. Und das seit fünfunddreißig Jahren oder so.«
Mischki hörte neugierig zu. Er kannte Mama Lytha viel zu gut, um nicht zu wissen, dass das längst nicht alles war, was sie zu sagen hatte. Vor allem sah er, wie Mama Cherries Stirn sich leicht umwölkte.
Der Junge wusste ganz genau, dass er jetzt besser schweigen sollte. Oder auf ein anderes Thema umschwenken.
Mischki war jedoch nicht umsonst Mama Lythas leiblicher Sohn. Und so hakte er auffordernd nach: »Aber …?«
Und Mama Lytha sprang auf und explodierte: »Damit tischt man uns die größte Lüge aller Zeiten auf! Dieser verblödete Professor hat den Herrschenden genau das in die Hand gegeben, was das Volk endlich fügsam macht, ohne dass jemals Kriege geführt werden müssen! Ich weiß das, denn ich bin vor der Umstellung geboren worden, ich war bereits fünf Jahre alt und habe die Welt anders gekannt als …« Ihr restlicher Atem entwich, ohne einem weiteren Wort Raum zu geben.
Für den Bruchteil einer Sekunde huschte Erstaunen über ihr finsteres Gesicht. Dann hellte es sich auf, ihre Augen begannen zu strahlen, und sie setzte sich wieder mit einem fröhlichen Lächeln. Heiter schloss sie: »Und welch ein Segen für uns! Ich hätte nie gedacht, jemals so glücklich sein zu können, und so zufrieden. Ja, es waren die Wissenschaftler, die das zuwege brachten und das Paradies schufen.« Mit Bedacht hob sie die zerknüllte Serviette vom Boden auf, breitete sie auf dem Schoß aus und glättete sie sorgfältig.
»Aber …«, begann Mischki erneut, doch diesmal nicht als Frage, sondern als Einwand.
Mama Cherrie legte eine Hand auf seinen Arm. Selten sanft bemerkte sie: »Ja, Mischki, genau darum geht es. Unsere Zukunft liegt in den Händen der Wissenschaft. So hätte es schon immer sein sollen, dann wäre uns viel erspart geblieben. Das zu erkennen und zu vermitteln hat Professor Mirfrid geschafft und durchgesetzt.«
Mischki schüttelte ihre Hand ab. Er kam sich ziemlich veräppelt vor, ein Charakterzug, den er an den Erwachsenen überhaupt nicht leiden konnte. Kinder wurden nie ernst genommen, dabei war er bereits dreizehn und begriff inzwischen so manches.
Aber gerade hast du doch etwas anderes angefangen, wollte der Junge loslegen. Warum belügst du mich? Ich will endlich die Wahrheit wissen!
Noch während er sich in seinen Zorn hineinsteigerte, kurz davor war, mit der Hand auf den Tisch zu schlagen und seine Mütter anzubrüllen, spürte er auf einmal ein sanftes Klick in seinem Verstand, und er wurde überschwemmt von Glücksgefühlen und Wohlbehagen. Nicht weniger energiegeladen, jedoch auf äußerst erfreuliche Weise. Der ursprüngliche Wunsch, den fast leergegessenen Teller auf dem Boden zu zerschmettern, erstaunte Mischki nun, und er fragte sich, wie man eine so harmonisch glatte, runde Fläche, die als Unterlage für Dinge diente, um die Geschmacksknospen zu erfreuen, auf so brutale Art zerstören wollte, wie er es gerade vorgehabt hatte. Als ob er neben sich gestanden hätte, ein anderer Teil seines Selbst, der zum Glück nur selten zum Vorschein kam.
Mischki strahlte. »Ja, ich glaube, ich habe es jetzt begriffen«, sagte er begeistert. »Ab morgen werde ich endlich in der Schule mithalten können!«
Mischki wurde letztendlich doch ein Musterschüler, allerdings hegte er mit fünfzehn keine Ambitionen mehr auf die Universität. Man hatte ihm nämlich einen IT-Job angeboten, nachdem er beim Hacken in einen internationalen Konzern erwischt worden war. Die Frau, die Mischkis V-Identität im Netz einfing und festhielt, zeigte sich äußerst beeindruckt. »Noch zwei Jahre, und du bist besser als ich. Ich werde sehen, was ich für dich tun kann.«
Mischki hatte die Wahl: Entweder fünf Jahre lang Netzsperre, was totaler Isolierung und Rückkehr zur Steinzeit ziemlich nahe kam, oder als Trainee in eben diesem Konzern anzufangen, bei zunächst bescheidenem, dann profitorientiertem Gehalt.
Natürlich nahm Mischki den Job an, da er seine Lieblingsbeschäftigung zur bezahlten Arbeit machen konnte. Er akzeptierte dafür auch die Notwendigkeit, nicht von zu Hause arbeiten zu dürfen, sondern ein Büro im abgeschirmten Konzernhaus beziehen zu müssen.
Mama Lytha und Mama Cherrie sah er bald immer seltener, er bekam eine Dienstwohnung und Ausweise für diverse teure Clubs, in denen er regelmäßig mit stets wechselnder weiblicher Begleitung gesehen wurde.
2079 bekam Mischki eine Nervenkrise, als er sich nicht mehr aus einem historischen V-Game, das er gerade entwickelte, ausloggen konnte und gewaltsam durch Stromabschaltung befreit werden musste. Eine gefährliche Situation, die einen Schock herbeiführte.
Sehr zum Erschrecken seiner Freunde und Familie verhielt Mischki sich in den folgenden Wochen geradezu abartig, er wurde tollwütig wie ein Berserker – eine Verhaltensweise, die nach der Mirfrid-Konstante eigentlich gar nicht mehr möglich war. Mischki tobte, schrie und brüllte. Niemand konnte ihn beruhigen.
Man sperrte ihn in dem geschlossenen, gedämmten Raum eines neurologischen Labors ein und untersuchte ihn eingehend.
Schließlich wurde die Ursache gefunden: Ein winziger Tumor unterhalb des Stirnlappens, der genau auf das Emotionszentrum gedrückt hatte. Er wurde entfernt und Mischki nach der Mirfrid-Konstante »neu justiert«, wie die Wissenschaftler ihm erklärten.
»Was bedeutet das genau?«, wollte Mischki wissen.
»Das Verhältnis der positiven Emotionen ist wiederhergestellt«, antwortete ein gelehrter Mann. »Das Aggressionspotenzial wird wieder erfolgreich umgeleitet.«
»Umgeleitet, wohin?«, fragte Mischki.
»In positive Energien, natürlich«, lautete die etwas gereizt klingende Auskunft. »Aggression ist ein Urtrieb, der uns eine Menge Energie spendet, die wir nutzen wollen und müssen. Deswegen merzen wir sie weder genetisch aus, noch unterdrücken wir sie – wir leiten sie in positive Antriebe um. Oder fühlen Sie sich etwa nicht besser?«
»Doch«, gab Mischki zu. Er fühlte eine Aufwallung von Wärme und Zufriedenheit. Und den Wunsch, das Labor so schnell wie möglich wieder zu verlassen. »Ich fühle mich nicht besonders wohl als Versuchstier. Außerdem will ich endlich wieder etwas tun.«
»Interessant, wie Sie das sagen«, meinte der Wissenschaftler. »Nun, Sie sind gesund, der Tumor hat keine Rückstände hinterlassen. Sie können nach Hause und bald Ihre Arbeit aufnehmen.«
In seiner Wohnung wurde Mischki wie ein Held empfangen, und sie feierten das ganze Wochenende hindurch. Mischkis Firma bot ihm an, in einer Woche wieder ins Büro zu kommen, um seinen Auftrag zu beenden. Es gäbe natürlich noch die Möglichkeit, dass er einen einfacheren Job übernahm, der ihm das Arbeiten von zu Hause aus gestattete. Doch man sähe es lieber, wenn Mischki zum »normalen« Leben zurückkehrte.
Mischki kehrte mit gemischten Gefühlen zu seinem Auftrag zurück. Aber diesmal ging alles gut. Das Spiel wurde von der Presse mit großem Lob aufgenommen und verkaufte sich entsprechend. Man war sehr zufrieden mit Mischki, und bald sprach niemand mehr über sein »seltsames Verhalten« oder bedachte ihn mit seltsamen Seitenblicken.
Doch irgendetwas war anders geworden. Zuerst fiel es ihm selbst nicht so sehr auf. Mischki war nicht mehr so oft in den Clubs zu sehen, er hielt kaum noch Kontakt zu Freunden und den Müttern. Er schien sich von allem zurückzuziehen. Als Lytha sich einmal beklagte, seit Wochen nichts mehr von Mischki gehört zu haben, wurde er nachdenklich. Er verstand sich selbst nicht, warum das so war und hatte keine Erklärung für seine Mutter. An seiner überstandenen Krankheit lag es nicht, daran verschwendete er keinen Gedanken mehr.
Mischki konnte nicht in Worte fassen, was sich verändert hatte. Es kam ihm so vor, als sähe er die Welt nun mit anderen Augen. Er fühlte sich eigentlich nicht anders, war zufrieden und ausgeglichen wie früher. Trotzdem … etwas stimmte nicht. Das verwirrte ihn.
Und dazu fühlte er sich verfolgt. Vor zwei Tagen, als er in der Dunkelheit von der Arbeit nach Hause kam, hatte er beim Blick über die Straße zufällig einen Schatten an einer Mauer entlang huschen gesehen. Nur ganz kurz. Aber Mischki war sicher, dass er sich nicht getäuscht hatte. Denn er spürte körperlich, in einem eisigen Schauer, der ihm den Rücken hinunterlief und dabei die Nackenhärchen aufstellte, dass zwei Augen ihn aus der Dunkelheit heraus durchbohrend anstarrten. Ihn abschätzten.
Und das Schlimmste dabei war, dass Mischki das Gefühl hatte, diese Augen zu kennen.