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Eine geheimnisvolle finstere Macht breitet sich in dem sagenhaften goldenen Reich Ishgalad aus. Niemand weiß, woher der Eroberer Hatar Stygan kommt. Manche flüstern, er sei ein grauenvolles Monster. Sein oberster Scherge Hagan Tar verwüstet in seinem Namen das schutzlose Land, raubt, foltert und mordet. Unter vielen Opfern gelingt es, einen Hilferuf an den Zauberer Halrid Falkon zu senden. Zusammen mit seinem Drachen Fylang eilt er nach Ishgalad – doch er kommt zu spät. Die Schutzsphäre von Waldsee zerbricht. Der Siebenstern erlischt. Hatar Stygan setzt alles daran, die Welt zu einer Bastion der Finsternis zu machen. Halrid Falkon unterliegt im Kampf und verliert seine Macht. Seine düstere Vergangenheit holt ihn ein ... Das furiose Finale der großen Saga um die Chroniken von Waldsee!
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Seitenzahl: 476
Uschi Zietsch
Der Dunkle Hass
Die Chroniken von Waldsee 6
Eine geheimnisvolle finstere Macht breitet sich in dem sagenhaften goldenen Reich Ishgalad aus.
Niemand weiß, woher der Eroberer Hatar Stygan kommt. Manche flüstern, er sei ein grauenvolles Monster. Sein oberster Scherge Hagan Tar verwüstet in seinem Namen das schutzlose Land, raubt, foltert und mordet.
Unter vielen Opfern gelingt es, einen Hilferuf an den Zauberer Halrid Falkon zu senden. Zusammen mit seinem Drachen Fylang eilt er nach Ishgalad – doch er kommt zu spät.
Die Schutzsphäre von Waldsee zerbricht. Der Siebenstern erlischt. Hatar Stygan setzt alles daran, die Welt zu einer Bastion der Finsternis zu machen.
Halrid Falkon unterliegt im Kampf und verliert seine Macht. Seine düstere Vergangenheit holt ihn ein …
Das furiose Finale der großen Saga um die Chroniken von Waldsee!
Uschi Zietsch wurde 1961 in München geboren. Sie ist verheiratet und lebt seit Jahren als Schriftstellerin und Verlegerin mit ihrem Mann und den Tieren auf einem kleinen Hof im bayerischen Allgäu. Außerdem gibt sie Schreibseminare.
Ihre erste Veröffentlichung war 1986 der Fantasy-Roman »Sternwolke und Eiszauber« im Heyne-Verlag. Darauf folgten bis heute kontinuierlich über zweihundert Veröffentlichungen in den Bereichen der Science-Fiction, Fantasy, Kinderbücher, TV-Serien und vielen mehr. Unter dem Künstlernamen »Susan Schwartz« schrieb und schreibt sie jahrelang als Teamautorin bei »Perry Rhodan« und anderen Heftserien mit. Für die exklusiv bei BS-Editionen (Bertelsmann) erschienenen sehr erfolgreichen und beliebten Urban-Fantasy-Serien »Elfenzeit« und »Schattenlord« zeichnete sie für das gesamte Konzept und die Exposés verantwortlich und schrieb die meisten Romane.
Uschi Zietsch erhielt diverse Literaturpreise.
Der Stern der Götter
Die Chroniken von Waldsee (Trilogie): Dämonenblut/Nachtfeuer/Perlmond
Nauraka – Volk der Tiefe
Fyrgar – Volk des Feuers
Hatar Stygan – Der Dunkle Hass
Der wahre Schatz
Hinweis: Diese preisgünstige fabEbook-Ausgabe enthält kein Glossar, kein Sonderlayout und keine Farbgrafiken.
Umschlagbild: fotokostic
© 2018 by Fabylon Verlag
www.fabylon.de
eMail: [email protected]
Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten.
eISBN: 978-3-943570-84-7
»Auge um Auge: Wenn es alle so halten würden, was wären wir dann?
– Glücklich? –
… Blind …«
(Joshua und Jonathan Luna, »Das Schwert«)
Im Auge des Feindes sehe ich nur mich selbst.
(Sprichwort der Fyrgar)
Gerade die Leute, die sich über Oberflächlichkeit beschweren, kaschieren damit nur ihre Unfähigkeit, in die Tiefe zu tauchen.
(Sprichwort der Nauraka)
Einleitung
Ziel 1Ishgalad
Prolog: Sturmbringer
Kapitel 1: Trinkt dies, meine Brüder und Schwestern
Kapitel 2: Ruf des Goldenen Traums
Kapitel 3: Der Schatten des Perlmonds
Kapitel 4: Zwischen den Himmeln
Kapitel 5: Die Grenze von Wasser und Feuer
Kapitel 6: Der Sturz des Titanen
Kapitel 7: Chrysaora
Kapitel 8: Der dunkle Zauberer
Ziel 2Erytrien
Kapitel 9: Der Rote Dämon
Kapitel 10: Die Hügel der Schneeäpfel
Kapitel 11: Der Kreis schließt sich
Epilog: So sei es denn
Ausblick
Waldsee gehört zu den größten und ältesten Welten des Träumenden Universums.
Lúvenor war ihr Schöpfer. Nach und nach erwachte das Leben, tummelte sich in der Umschließenden See und kam über die Berge in das große, leere Land. Lúvenor empfand es als zu groß für nur einen Thron und teilte es auf in vier Reiche, die verbunden waren durch die Freien Straßen, und die ersten Freien Häuser wurden errichtet.
Die Vier Königreiche, das waren:
- im Norden Valia, die Segensreiche,
- im Osten Luvgar, der Lichtfels,
- im Süden Nerovia, der Schwarzweg,
- im Westen Ishgalad, das Traumgold.
Waldsee war im Universum sagenumwoben, seine Tore standen weit offen, und die Weisheit und Fähigkeiten der Alten Völker waren bei den nach und nach entstandenen jüngeren Welten sehr geachtet. Weitere Götter kamen mit ihren Völkern und bereicherten die Vielfalt der Welt.
Der Traum war niemals schöner gewesen als zu jener Zeit, so heißt es noch heute, und es ist die Wahrheit.
Vor tausenden Jahren wurde der Siebenstern geschaffen, der hoch am Himmel selbst bei Tage leuchtet. Mit ihm erhielt Waldsee eine Schutzsphäre, die sie vor dem Ewigen Krieg, der seit Äonen in den Gefilden des Träumenden Universums tobt, bewahrt. Waldsee gilt, was einzigartig ist, als neutral. Gleichzeitig bietet die Welt Schutz jedem Asylsuchenden, gleich ob er zu Lichtem oder Dunklem Regenbogen gehört.
Doch nun ist die Schlafende Schlange dabei zu erwachen, sie regt sich immer häufiger und erschüttert die Grundfeste des Universums. Ihr Erwachen liegt nicht mehr fern und bedeutet den vollständigen Untergang: Der Traum endet, und alles vergeht, als wäre es nie gewesen.
Der Sturm nähert sich unaufhaltsam, und er bringt unheilvolle Mächte mit sich.
Der Sturm zwang sie, umzukehren.
»Habt ihr schon jemals ein solches Unwetter erlebt?«, fragte die Frau ihre Begleiter. Sie waren magische Wesen und sollten nicht durch ein Naturereignis aufgehalten werden können.
»Ja«, antwortete der Mann. »Einmal. Vor sehr, sehr langer Zeit. Meine Erinnerung daran wurde erst viel später geweckt.«
»Was war es für ein Tag?«
»Der meiner Geburt.«
Der Zauberer nickte bestätigend, als seine Frau ihn daraufhin verwundert ansah. »Das Stampfen des Goldenen Widders dröhnte durch die Sphären bis herab zur Welt, denn Ungeheuerliches war mit meiner Geburt geschehen, und das Ringen der Mächte drohte, die Insel Erytrien zu zerreißen. Doch der Sturm verging zuletzt. Ich war unerreichbar, meine Seele verborgen. Der Wind konnte sie nicht finden und fortreißen.«
Die Frau blickte zum Himmel hoch, über den turmhohe schwarze Wolkenwellen rasten und sich tosend an den Sphären brachen. Sie konzentrierte sich.
»Aber das bedeutet mehr … Es ist ein prophetischer Sturm, nicht wahr?«, flüsterte sie. »Er ist nicht von dieser Welt, nicht von diesen Sphären, und nicht von den Göttern verursacht.«
»Prophetisch? Nein. Das ist eine bereits bestehende Gefahr. Aber … kannst du spüren, was ihn verursacht?« Der Zauberer zeigte sich zutiefst besorgt.
»Ja … es drängt sich auf …« Die Allumfassende schloss halb die Augen. »Seht!«, rief sie und deutete nach oben. »Der Siebenstern flackert! Wie kann das …« Sie strauchelte und ihr Ehemann fing sie auf. Legte den Arm schützend um ihre schmalen Schultern.
»Also wird es geschehen«, sagte er leise. »Diesen Tag haben wir lange gefürchtet! Und so verzweifelt gehofft, er möge nie kommen …«
»Alles vergebens«, dröhnte die Stimme des Drachen. »Ich hatte euch gewarnt, aber keiner wollte auf mich hören!«
»Und was hätte es geändert, wenn wir auf dich gehört hätten?«, fauchte der Zauberer ihn an.
»Nichts, aber ich wollte es wenigstens gesagt haben.«
Die Schutzaura, die sie um sich gewoben hatten, begann an den Rändern zu zerfasern.
Das erschreckte sie alle drei gleichermaßen. Sie waren die Hüter der Welt und zusammen sollten sie unüberwindlich sein. So war es zumindest bis jetzt gewesen.
»Wir können nicht weiter«, stellte die Frau fest. »Seht, alles versiegt!« Windfinger griffen durch erste Risse und zausten ihr Haar. Ein spielerischer Vorbote der nahenden Zerstörung.
Der Zauberer bot seine Macht auf, doch er vermochte nicht, die Risse zu schließen. Bald würde sich die Aura vollends auflösen, und dann wären sie den Gewalten schutzlos ausgeliefert. Hier draußen in der Ebene, so nah an der Wüste, gab es keine Bäume, keine Felsen, keine Erdlöcher, um sich verbergen zu können, bis der mächtige Wind weitergezogen war.
»Das ist noch nie geschehen!«, stieß er erschüttert hervor. Er war das mächtigste Wesen der Welt – und scheiterte an einem Sturm?
Bedeutete dies nun das Ende? Sollte es wirklich vorbei sein? Nach all der langen Zeit? Ein einziger Windstoß und … Schluss?
»Wir werden einen Weg finden«, sprach seine Frau in seine Gedanken. »Wir sind nicht allein. Der Sturmbringer schon.«
»Sturmbringer …?«
»Welche Bezeichnung sollte er sonst haben?«
»Wohl wahr.«
Doch seinen wirklichen Namen kannten sie alle. Nur, wer wagte schon, ihn laut auszusprechen?
Der Tag war gekommen, genau wie der Zauberer gesagt hatte. So lange hatten sie seine Ankunft befürchtet. Selbst die Götter. Alles hatten sie unternommen, auf der Welt wie gleichermaßen in den Sphären, um Waldsee zu schützen, die Altehrwürdige, die Große.
Da! Der Siebenstern flackerte erneut. Als ob ein Schatten darüber zöge. Wie war das möglich? Nicht einmal Götter könnten ihn zum Erlöschen bringen!
Bis auf ihn.
»Er ist es, kein Zweifel«, sagte der Drache. »Niemand sonst kommt in Frage.«
»Und er ist sehr viel mächtiger als Nachtfeuer uns gesagt hat«, murmelte der Zauberer.
»Es ist seit der Entstehung des Siebensterns viel Zeit vergangen«, erinnerte die Allumfassende. »Sobald er das Erbe des Schmiedes anzutreten vermag, kann nur noch Erenatar uns beschützen.«
»Der Gott Lýtir ist tot, hier gestorben, durch die Hand des Fyrgars Aldavinur – deines Vaters! Erenatar war damals fern und ist heute fern. Wir werden Waldsee schützen!«, rief ihr Ehemann erbost.
»Halten wir uns nicht mit wilden Spekulationen auf, bald weht es uns davon. Lasst uns zurück zum Freien Haus gehen und dort beratschlagen, was wir unternehmen werden«, schlug der Drache vor und wölbte seine Schwingen schützend über seine Gefährten.
Anderswo … und Mondwechsel zuvor.
In dem Moment, als die Farbe des Himmels sich zum ersten Mal änderte, erklang die Stimme in seinem Kopf, und es war nicht seine eigene. Keine der sonstigen vielen inneren Stimmen, die seine besten Ratgeber waren, sondern eine ganz fremde. Von außen. Er brauchte eine Weile, bis er das begriff, und kämpfte zuerst dagegen an, weil er dieses ungebetene Eindringen als äußerst unhöflich empfand. Schließlich aber durchfuhr ihn die Erkenntnis, dass diese Stimme gar nicht der Feind war.
Nun, zumindest nicht der seine.
Also hörte er zu. Lauschte der Stimme zusehends aufmerksamer, je länger sie sprach, und ein Funke entzündete sich tief in seiner schwarzen Seele, je mehr sich ihm offenbarte, und ein wildes, grausames Lächeln verzerrte seine Züge zu jener grauenvollen Fratze, die Albträume gebiert und Ungeschützte in den Wahnsinn treibt.
Worauf er so lange gewartet und gehofft hatte – endlich war es soweit.
»Mein ist die Rache«, flüsterte Hatar Stygan, und ein unheilvolles dunkles Feuer loderte aus seinem glühenden Auge.
An jenem Tag, der den Untergang einläutete, begleitete Tesfayé zum letzten Mal seinen Meister Yesh zum Wilden Troll in Iskundar. Eine lieb gewordene Gewohnheit, die er sehr vermissen würde. In seiner Annahme sollte er sich nicht täuschen, doch ging er unwissentlich von falschen Voraussetzungen aus.
Tesfayé war zu Beginn der zweiten Stufe seiner Ausbildung nicht sonderlich erbaut darüber gewesen, als man ihn dem Großmagister Yesh als Adepten zuteilte. Die Gerüchteküche über den Gelehrten brodelte im Collegium unermüdlich. Der alte Zausel galt als sinnenfroher Mensch, was nicht von allen Collegas innerhalb der Schule gutgeheißen wurde. Als Großmagister hatte man schließlich ehrwürdig zu sein. »Alles gut und recht«, pflegte Yesh, wenn er deswegen kritisiert wurde, zu sagen. »Und jetzt füllt meinen Krug Wein nach.« Viele, vor allem Jungmagister, machten sich hinter seinem Rücken über Yesh lustig, sobald es nur eine Gelegenheit dazu gab. Er sei zu klein geraten, altersvertrottelt, käme immer zu spät, und außerdem hätten alle seine Adepten nach Abschluss nie ein gutes Angebot bekommen, weil Yeshs Ruf ihnen vorauslief.
Aber dann … hatte Tesfayé einen überaus reizenden, manchmal durchaus schussligen Herrn in seinen guten Neunzigern kennengelernt. Er hatte nach dem ersten Unmut ohnehin bei sich gedacht, dass es seinen Grund haben musste, wenn das Collegium den hutzligen, leicht gebückt dahintrippelnden kleinen Gelehrten immer noch beschäftigte. Gewiss war er der Älteste und sein Wissen umfassend.
»Wie sieht’s aus, mein Junge?«, hatte Yesh seinen neuen Adepten an dessen erstem Morgen begrüßt. »Was hältst du von einem guten Frühstück, um sich kennenzulernen? Die Schule zahlt!«
Selbstverständlich hatte die Schule nicht gezahlt, weil Meister Yesh gar kein Geld dabei gehabt hatte, und anschreiben war nicht möglich: »Bevor ich wieder einen Kredit gebe«, hatte der Wirt verkündet, »will ich erst mal die Außenstände sehen.« Und entrollte eine ziemlich lange Liste, darunter nicht nur eine ordentliche Zeche, sondern auch Spielschulden des verschmitzt grinsenden Gelehrten. Seine Anmerkung dazu: »Mit Frauen hab ich’s nicht mehr so.«
Diese Liste war Tesfayé denn doch zu lang, also hatte er flink die aktuelle Zeche bezahlt.
»Euch privilegierte Schnösel hab ich sowieso gefressen«, brummelte der Wirt, nachdem er überrascht die Münzen in Empfang genommen hatte.
Tesfayé erkannte, dass der Mann es nicht gewohnt war, so viel Geld auf einmal zu erhalten, und nahm es ihm nicht übel, denn er war tatsächlich privilegiert. Mit dem Erbe seiner Eltern hatte er sich das Magie-Collegium finanziert, und da er sehr bescheiden lebte, war durchaus einmal ein solch gutes Frühstück drin. Einschließlich Lehrmeister.
Vor allem, weil es genau der richtige Moment und Ort gewesen war, um seinen Meister kennenzulernen und ihn seitdem rückhaltlos zu schätzen. Ja, bereits nach kurzer Zeit zu lieben wie einen Großvater.
Der Gelehrte Yesh war im alltäglichen Leben kaum zu gebrauchen und benötigte Fürsorge, was ihn umso liebenswürdiger machte. Aber im Fach der Magie – egal, welcher Themenbereich – war er ein unbestrittener Meister. Da machte ihm keiner etwas vor, und schon nach kurzer Zeit war Tesfayé stolz und dankbar, sein Adept sein zu dürfen. Er begriff nun den Hohn der anderen – es war nichts weiter als Neid, und zwar jener von der ganz giftgrünen Sorte, die man treffender als Missgunst bezeichnet. Der Weisenrat, Vorstand des Collegiums, sah in dem neuen Anwärter wohl etwas Besonderes, denn Meister Yesh hatte immer nur einen Adepten im Gegensatz zu den anderen Magistern. Nicht der Ausschuss, sondern im Gegenteil die besonders Begabten, die nicht dem alltäglichen Schema entsprachen, wurden zu ihm geschickt.
Selbstverständlich sprach Tesfayé seinen Meister nie darauf an, der hätte nur mit ungehaltenem Schnauben geantwortet und ihm ein paar schmerzhafte Kopfnüsse mit seinem gichtknotigen Ringfingergelenk verpasst. Und dann gefragt, wovon sein Adept da überhaupt spräche. Anschließend hätte er ihm ein paar unangenehme Aufgaben aufgetragen, wie etwa Putzdienst (und in dem völlig verstaubten, rettungslos überfüllten Raum war das wirklich kein Spaß), oder das Auswendiglernen der 83 Krankheitsflüche aus dem sicar librium samt ekelerregender Begleiterscheinungen, die man auf nüchternen Magen nur deshalb zu ertragen vermochte, weil man nichts von sich geben konnte.
An diesem verhängnisvollen Tag war Tesfayé im vierten Jahr und hatte soeben seine Abschlussarbeit abgegeben. Mit seinem Meister war er so vertraut und verschworen, dass sie inzwischen beide als »verschrobenes Paar« galten. Was Tesfayés Chancen bei den jungen Damen Iskundars nicht gerade erhöhte, denn der Ruf eilt einem immer voraus, und das bis in Kreise, bei denen es man nie für möglich halten würde. Doch das kümmerte ihn nicht. Seine Ausbildung und vor allem der Abschluss waren ihm wichtiger. Und, wie sich herausstellte, anderen und bedeutenden Leuten ebenso, denn er hatte noch vor Veröffentlichung der Note einige Angebote erhalten.
So viel zu den Gerüchten vor seinem Antritt, dass keiner von Yeshs Adepten es jemals zu etwas gebracht hätte. Die Absolventen, und dazu gehörte bald auch Tesfayé, waren lediglich abgereist, ohne darüber zu sprechen, welche formidablen Angebote sie erhalten hatten. In sämtlichen Anschreiben an Tesfayé hatte der ausdrückliche Hinweis der absoluten Diskretion gestanden.
Er konnte es sich aussuchen, welches Angebot er annahm, obwohl seine Note noch nicht feststand und er daher offiziell nicht einmal als »bestanden« galt. Alle gingen kurzerhand davon aus, dass sein Diplom nurmehr eine »Formalie« wäre. Was nicht von der Hand zu weisen war, an und für sich ging es nur darum, ob er mit »explizitem Lob« oder mit »exzellentem Lob« bewertet wurde. Nicht nur die spannende Anstellung an sich – auch die jeweilige Entlohnung machte ihn schwindlig und erschwerte die Entscheidung, denn jedes Angebot klang gleichermaßen gut.
Das erfreute Tesfayé, machte ihn zugleich aber auch traurig. Die lehrreiche Zeit mit Yesh ging endgültig zu Ende. Er hatte schon vorsichtig angefragt, ob er denn nicht als Assistent des mittlerweile sehr gebrechlichen alten Mannes bleiben dürfe. Aber sowohl der Dekan als auch der Gelehrte selbst hatten rundheraus und empört abgelehnt. Das habe es noch nie gegeben und jetzt fange man gar nicht erst damit an!
Nun also, wie es begonnen hatte, sollte es enden. Sie saßen im Wilden Troll, diesmal nicht zum Frühstück, sondern zum kleinen Nachmittagsmahl. Yesh, der in den vergangenen vier Jahren noch mehr zusammengeschrumpelt war, aß inzwischen wie ein Spatz. Seinen Wein allerdings genoss er nach wie vor, der nähme, sagte er, ja auch nicht viel Platz weg im Magen, sondern »liefe so durch«.
»Mein lieber Junge«, sagte er, während er den Pokal hob. Seine Nasenspitze leuchtete in fröhlichem Rot, seine von dichten langen Brauen beschatteten blauen Äuglein blitzten. »Lass dir gesagt sein, du warst mein letzter Adept.«
»Dann lasst mich doch bei Euch bleiben und ich trete Eure Nachfolge an!«, entfuhr es Tesfayé spontan.
»Das wäre eine äußerst dumme Entscheidung von dir«, stellte der Gelehrte fest. »Das Salarium ist mehr als gering. Keine Anerkennung. Keine Familie. Und mich, der ich stets älter und nörgeliger werde. Und nein, meine Position wirst du nicht beerben. Alles ist im Umschwung. Solche wie mich gibt es nicht mehr. Ganz abgesehen davon, dass dir eine glänzende Karriere bevorsteht.«
»Mir?« Tesfayé war verblüfft.
»Denkst du denn, diese Angebote sind ein Scherz? Das ist erst der Anfang.« Yesh beugte sich vor. »Ich habe dich nicht ohne Grund als meinen letzten Schüler erwählt. Die Welt ist im Wandel. Und du wirst deinen Anteil dazu beitragen, dass sie das übersteht.«
»Ich? Wie sollte ich das tun, Meister?«
»Oh, es liegt nicht an deinem besonderen Talent, bilde dir darauf nichts ein. Alle meine Schüler waren so. Aber du bist gerade in dieser Zeit zu mir gekommen, als der einzige Hoffnungsträger unter all den schwachen Leuchten deines Jahrgangs. Im Gegensatz zu ihnen warst du schon damals hoffnungslos langweilig.«
»Oh! Aber …«
»Sie haben die Nächte durchgefeiert, verbotenen Zauber betrieben, um Frau oder Mann flachzulegen, sie haben Streiche gespielt. Du aber hattest deine Nase immer in den Büchern, Tag und Nacht, warst fleißig und anständig und gehorsam. Sag selbst, wer außer dir war noch so?«
Tesfayé schwieg gekränkt.
»Hab ich recht?«
»Ja, sicher.«
»Es liegt also an dir. Du bist die absolute Ausnahme dieses Jahrgangs. Ganz ehrlich, ich beneide dich nicht darum.«
Tesfayé schwieg weiter. Der Alte legte versöhnlich eine Hand auf seinen Arm. »Nun, nun, sieh einem alten Mann seine Grillen nach. So gut solltest du mich kennen.«
»Ich komme gleich wieder«, sagte Tesfayé und stand auf, um auszutreten.
Während er den Raum verließ, verließ Tesfayé zugleich die Wut. Yesh hatte doch völlig recht, er war ein Langweiler. Er hatte keine Freunde, keine Familie, immer nur an das Studium gedacht. Das war sein ganzer Ehrgeiz gewesen. Und daran war nichts Falsches, fand er. Alles der Reihe nach. Mit dem Diplom in der Tasche und der guten Anstellung würde er bald eine fröhliche Frau finden und eine Familie gründen.
Der Lärm in der großen Schankstube wurde von der sich hinter ihm schließenden Tür ausgesperrt. Tesfayé bog in den schmalen Gang nach rechts ab, zum Hinterhaus, in dem die Abtritte angelegt waren. Er begegnete dort niemandem, was ihn ein wenig verwunderte, denn die Gaststube war gut besucht und es wurde ordentlich verzehrt und gezecht. Es war ihm jedoch nur allzu recht und er beeilte sich, damit er nicht gestört wurde.
Auf dem Rückweg warf Tesfayé durch ein geöffnetes kleines Gangfenster einen Blick nach draußen. Ein schöner Tag, wie die meisten in Ishgalad, dem verzauberten Reich. Gerüche vielfältiger Gewürze und Blüten wehten herein, angereichert mit gedämpften Geräuschen vom Markt. Er hatte die Bilder dazu vor Augen – Stände voller Fruchtdolden in Violett und Türkis, prächtige Blumenranken, feinste Seidenstoffe in den Farben des Lichten und Dunklen Regenbogens, zarte Haarbänder, geklöppelte Spitzenwaren, feine Holzschnitzereien, harmonische Musikinstrumente … und dazu erlesene Spezialitäten, Kleinvieh, Vögel …
Da geriet Tesfayé unerwartet ins Schwärmen, was an seiner seltsamen Stimmung liegen mochte. Schließlich war heute ein ganz besonderer Tag. Es war ja nicht so, dass er keinen Sinn für Schönheiten und Genüsse hatte, doch war ihm bis heute das Studium wichtiger als alles andere. Seit dem tragischen frühen Tod seiner Eltern, damals zählte er gerade mal vierzehn Frühlinge, war er mangels weiterer Verwandter auf sich gestellt gewesen. Weil er Ehrgeiz besaß und nicht schon so früh im Leben scheitern wollte, hatte er umgehend Prioritäten gesetzt. Das war eben seine Art: Nicht alles auf einmal und im Überfluss, aus Angst vor dem Scheitern.
Doch wie sah es heute aus? Vielleicht sollte der angehende Magister den restlichen Tag frei nehmen und einfach nur herumschlendern? Sich betören lassen von Gerüchen, Musik und Gelächter, von den Anpreisungen der Händler? Es gab nichts mehr zu lernen, nichts mehr zu tun, sein Studium war beendet und der Abschied nahte. Nicht einmal sein Pflichtbewusstsein könnte ihn jetzt noch daran hindern, spontan zu sein, die Nase aus den Büchern und Schriftrollen zu nehmen und ins Leben dort draußen einzutauchen. Eine Kleinigkeit aus einer Garküche am Markt zu sich zu nehmen und anschließend etwas Süßes – oh, dafür hatte er wirklich eine Schwäche. Die Zuckerbäcker Iskundars waren die berühmtesten des gesamten Reiches, ihre Kreationen unerreicht.
Ich habe es mir verdient, jawohl, das habe ich. Und Meister Yesh hat selbst gesagt, dass es Zeit wird, ans Leben zu denken. Er wünscht meine Betreuung nicht, also kann ich auch gleich …
Aber nein, so sehr wollte er den alten Mann nicht vor den Kopf stoßen. Schon tat es ihm wieder leid. Vielleicht wollte er sogar mit auf den Markt gehen? Oder … er ahnte es bereits und machte den Vorschlag, dass Tesfayé einen ausgedehnten Spaziergang ohne Verpflichtungen und mit freiem Kopf unternähme, während Yesh sein Nachmittagsnickerchen hielt.
Eine gute Idee! Hinfort mit dem Langweiler, dem Bücherlindling, der Pergamentlaus. So frei wie heute würde er nie wieder sein, in diesem Zwischenstadium des Abschlusses und des Neuanfangs in einer festen Anstellung und auf der Suche nach einer guten Frau zwecks Familiengründung.
Da würden seine Mitstudenten aber staunen, wenn sie das wüssten! Kein Auslachen mehr und Sich-lustig-machen, keine Häme, kein Spott. Kein Neid … oder doch, der vielleicht schon. Nämlich, weil er der Beste des Jahrgangs sein würde, mit Auszeichnung, und schon in ein paar Tagen aufbrach. Wohin, das würden sie natürlich nicht erfahren, doch er konnte immerhin geheimnisvoll tun und Andeutungen machen, dass man ihm nicht weniger als vier Stellen angeboten habe. Würden sie ihm das glauben? Aber ja: Tesfayé war reichlich ungeschickt im Lügen, selbst schon im Schwindeln. Zu harmlos für diese Welt, hatte sogar Meister Yesh hin und wieder kopfschüttelnd bemerkt.
Heute zeige ich es ihnen allen!
Heiter, fast schwindlig von seinem Enthusiasmus und der neu entdeckten Spontanität, öffnete Tesfayé die Tür zur Gaststube – und verharrte abrupt.
Stille, diese ungesunde Stille, sie ließ den jungen Mann innehalten. Wie auch immer es geschah, dass Tesfayé so deutlich Gefahr spürte, bevor er einen Überblick bekommen hatte – es musste an der Ausbildung liegen, denn in seinem Gemüt lag kein Misstrauen. Er war stets freundlich allem gegenüber eingestellt und vermutete niemals Arglist. Sein alter Magister hatte ihn sehr gut unterwiesen, dass er in diesem Moment nicht arglos in die Falle tappte. Er stoppte den Schwung der Tür und drückte sie wieder ein Stückchen zu, trat dahinter, reckte den Kopf vor und linste vorsichtig durch den Spalt.
Die Gaststube war so voll wie zuvor, doch keiner regte sich mehr, alle Männer und Frauen schienen zu Statuen erstarrt zu sein. Niemand sprach, die zuvor entspannten und fröhlichen Mienen waren versteinert. In den Augen lag Angst.
Tesfayé roch es. Obwohl er seit seiner Ankunft in der Universität stets behütet gewesen war und in den vergangenen zehn Jahren nie Schlimmeres erlebt hatte als ein paar Streiche seiner Mitstudenten, wusste er sofort Bescheid. Es wühlte seine Vergangenheit auf, zerrte Erinnerungen hervor, die er seit jenem Tag damals eisern verdrängt und tief in sich verschlossen hatte.
Ein einziges Mal in seinem Leben hatte er Furchtbares erlebt, fast ein Kind noch, und er hatte damals die Wahl gehabt zu zerbrechen oder sich in ein anderes Leben zu flüchten. Er hatte die Flucht gewählt und schon nach kurzer Zeit hatte er geglaubt, dass ihm nie wieder Ähnliches widerfahren könne, dass alles vorbei wäre, für immer, dass selbst die Erinnerung nur noch ein blasser, zerfaserter Schemen wäre, der nie mehr zusammengesetzt werden könne.
Aber da war er. Der Geruch.
Alles konnte man verleugnen und verdrängen. Den Blick auf die Dinge. Die Erinnerungen. Selbst den Klang. Aber niemals, niemals, und das lernte Tesfayé heute in einer bitteren Lektion, obwohl er sein Studium für abgeschlossen erachtet hatte, den Geruch.
Eine Nase ließ sich nicht täuschen. Und sie vergaß niemals.
Tesfayés Nase erkannte den Geruch nach zehn Jahren wieder, als hätte er ihn erst vor wenigen Stunden wahrgenommen. Der Geruch eines Menschen, den kein anderer besaß. Für Tesfayés Nase war er beißend, scharf wie von einem Raubtier, durchsetzt mit geronnenem Blut, bedeckt von räudigem altem Fell, dem der Moder fiebriger Sumpfkrankheiten anhaftete. Dazu kam ein metallischer Gestank nach Eisenspänen, wie sie vom Schliff einer Axt fielen, und einem glühenden Schwert, dessen Schneide durch eine Wunde gezogen wurde und sich mit Blut und Fleischfetzen verband und zu einem neuen Stoff verschmolzen wurde: Dem Gewebe des Todes.
Tesfayé hatte ihn nie gesehen. Nie gehört.
Aber er wusste, wer er war. Er hatte ihn damals gerochen, überall, sein Gestank hatte alles überlagert, war dem Jungen wie das böseste aller Omen entgegengeweht, voller Hohn und Niedertracht.
Alles in ihm schrie danach, sofort auf dem Absatz kehrtzumachen und zu fliehen, durch den Hinterausgang hinaus und weiter, ohne seine Sachen zu holen, nur weg. Er wusste die Adressen der Angebote auswendig und die Entscheidung wäre sogleich gefallen: Dorthin, wo er am weitesten von dem Gestank entfernt wäre.
Doch Tesfayé blieb wie angewurzelt stehen, seine Beine weigerten sich zu gehorchen, seine Augen konnten sich nicht lösen von dem, was er sah.
Bisher war er nicht entdeckt worden, doch das mochte sich jeden Moment ändern – sein Verstand war immerhin noch so weit beisammen, dass er hastig einen Übersiehmich beschwor, was zumindest für den Moment helfen mochte.
Schweiß perlte eiskalt auf seiner Stirn, doch er wagte nicht einmal zu blinzeln. Seine Kehle war wie zugeschnürt, ein dicker Kloß erschwerte das Atmen. Sein Herz raste. Es war genau wie damals, fortgewischt waren die zehn Jahre. Anfangs hatte er noch wissen wollen, was genau geschehen war und wer es getan hatte. Irgendwann hatte er begriffen, dass Nichtwissen manchmal ein Segen war, dass es ihn schützte und ihn davor bewahrte, seinen Verstand in Dunkelheit stürzen zu lassen. Zu leben, weiterzuleben, das war seine Aufgabe, ohne Trübung.
Alles umsonst.
Voller Grauen starrte er auf das Geschehnis in der Gaststube.
Ein halbes Dutzend gerüsteter und bewaffneter Männer hatte sich während Tesfayés Abwesenheit in der Stube verteilt. Die Hälfte von ihnen hatte das Schwert gezückt, ohne direkt auf jemanden zu zielen. Das wirkte bedrohlich genug, vor allem, weil die Soldaten den Schankraum allein schon durch die Wucht ihrer Masse füllten. Niemand konnte mehr an ihnen vorbeikommen.
Ihre Gesichter waren nicht zu erkennen, da sie Helme mit geschlossenen Gittervisieren trugen. Die Rüstungen waren aus bronzefarbenem Metall mit einem Wappenhemd darüber, dessen Grundfarbe völlig schwarz war. Das Symbol in der Mitte zeigte ein blutrotes Auge, in dessen Zentrum statt einer Pupille ein schwarzer, mit der Spitze nach unten gerichteter, geflammter Dolch zu sehen war.
Tesfayé hatte noch nie ein solch schreckliches Zeichen gesehen. Ishgalad war ein friedliches Reich. Wohl gab es Fürsten und Ritter, die sich ab und zu im Turnier maßen. Doch seit dem Wiederaufbau nach der zerstörerischen Schlacht auf dem Titanenfeld, die zur Trennung Ishgalads von den anderen Reichen geführt hatte, hatte es keinen Krieg mehr gegeben. Und die Titanenschlacht lag mehr als fünfzehntausend Jahre zurück.
Kein Fürstenhaus führte eine derart schaurige, finstere Fahne. Die Farben waren sonst vielmehr bunt und strahlend, die Symbole bestanden zumeist aus Fabelwesen, edlen Blüten oder funkelnden Waffen. Die Einwohner des Goldenen Reiches waren hauptsächlich Künstler und Philosophen und Weise, Handwerker und Händler. Das Land war reich und fruchtbar und es gab keinen Grund zu Missgunst. Die Gilde der Magier sorgte als Oberste Gerichtsbarkeit dafür, dass Streit schon in den Anfängen geschlichtet wurde, und wer sich uneinsichtig zänkisch zeigte, musste sich in der Öffentlichkeit mit Wort oder Waffe messen und durfte niemanden vorschicken – schon gar nicht Truppen.
Tesfayé lief deshalb ein eisiger Schauer den Rücken hinunter, als er die wuchtigen Rüstungen sah, die Gesichter verbergenden Helme, aber vor allem das böse Symbol erschreckte ihn zutiefst. Irgendetwas flüsterte tief in ihm, dass er die Bedeutung dieses Symbols kannte. Aus irgendeiner alten Schrift …
Doch der Auftritt war nur das Vorspiel, wie sich jetzt zeigte. Denn im Eingang stand ein weiterer Mann, und von ihm ging jener schreckliche Gestank aus, der Tesfayé schwindeln machte. Der Anführer, wie unschwer zu erkennen war, trug keinen Helm und nur eine leichte Lederrüstung mit demselben Wappenhemd. Außerdem lag ein blutroter Umhang um seine breiten Schultern, mit dem in umgekehrten Farben gehaltenen Symbol darauf, dessen mit neun Augen geschmückte Schließe vorn an der Brust wohl seinen hohen Rang auswies. Ein General. Mindestens.
Er war mittelgroß und stämmig, das dichte, ungekämmte blonde Haar schulterlang. Sein bartloses, wettergegerbtes Gesicht trug einige Narben, die Lippen waren nicht mehr als dünne blutleere Striche, da konnte auch sein breites Lächeln keine Freundlichkeit vortäuschen. Und seine blassen, nur mit einem Hauch Blau gefärbten Augen waren kälter als der ewige Gletscher des Himmelstänzers, des höchsten Berges Ishgalads, dessen Gipfel bis fast in die Sphären reichte.
Kalt und hart und … grausam. In den Tiefen der Pupille konnte Tesfayé selbst auf die Entfernung das kaum gezähmte Ungeheuer erkennen, das ungeduldig an der dünnen Mauer seines Gefängnisses mit scharfen Krallen kratzte.
»Guten Tag, liebe Freunde!«, sagte er mit schwungvoller Geste, als wäre er ein Fürst, der seine edlen Gäste begrüßte. Seine Stimme passte zu ihm, voluminös, aber scharf wie ein Papiermesser.
»Es ist gut, euch alle hier anzutreffen«, fuhr er fort. »Darf ich mich vorstellen«, er zeigte die Verhöhnung einer höflichen Verbeugung, »mein Name ist Hagan Tar. Heermeister Hagan Tar, das bin ich, und ich komme im Namen meines Herrn Hatar Stygan, der folgende Botschaft für euch hat – merkt wohl auf!«
Wie ein König schritt er durch den Raum, und seine eigenen Leute wichen vor ihm zurück wie eine Mimose vor drohender Berührung.
»Großes kündigt sich an – ein neues Zeitalter für Waldsee! Ein Mächtiger wird kommen, um die alte Welt zu neuer Jugend und Glorie zu führen. Bald steht er vor unseren Toren und wird eintreten, sobald alles für seine Ankunft gerichtet ist. Und Hatar Stygan ist der Auserwählte, der Erkorene, der Heilsbringer, der diesen Boden bereiten wird. Erfreut euch dessen und huldigt ihm, denn ihr geht ruhmreichen Zeiten entgegen. In Ishgalad fängt es an, und es wird geschehen, wovon wir schon so lange träumen – die Wiedervereinigung aller Reiche!«
Er drehte sich schwungvoll dem Tresen zu. Tesfayé konnte von seiner Warte aus den Wirt nicht sehen, doch er zweifelte nicht daran, dass dieser ebenso vor Angst erstarrt war wie alle anderen.
»Nun denn, Herr Wirt, hast du das Fass bekommen, das ich zu dir bringen ließ?«
Es folgte ein gekrächztes, zittriges »Ja, Herr.«
»Oh nein, nein, nicht ›Herr‹, das maße ich mir nicht an. ›Herr‹ und Lord ist allein Hatar Stygan der Großmächtige. Mich kannst du Heermeister oder auch formlos General Hagan nennen.«
»J-ja, H… G-General Hagan. Das Fass ist bereits angezapft.«
»Nun denn, so befehle deinen Schankmaiden und Knechten, die Krüge zu füllen und an jeden Gast hier einen zu verteilen.«
Mit ausgebreiteten Armen drehte Hagan Tar sich wieder zu den Gästen. »Ja, ihr hört richtig, liebe Brüder und Schwestern, denn das sind wir fortan, eine einzige wunderbare Familie! Hatar Stygan der Großmächtige gibt einen aus, scheut keine Mühen und Kosten, seinen einzigartigen, über lange Zeit hergestellten Nektar an das Volk zu verteilen. Ein Getränk, das jeden Arzneitrunk bei weitem übertrifft. Es macht glücklich und frei, gesund und stark. Wohlverdient ist es für jeden Einzelnen von euch, und ganz besonders an diesem Freudentag!«
Mit flinkem Blick beobachtete er, dass auch wirklich an jedem Platz ein Becher abgestellt wurde. Langsam wanderte er dabei durch den Raum und kam dabei dem heimlich Lauschenden immer näher.
Tesfayé spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte, er konnte es kaum mehr ertragen. Nun hatte das stinkende Böse ein Gesicht bekommen. Der Mörder seiner Eltern. In diesem Moment wünschte er sich, einer der Soldaten zu sein, die mit dem Schwert umzugehen vermochten und denen es nichts ausmachte, Blut zu vergießen oder gar zu töten.
Aber davon war er weit entfernt, selbst sein Rachedurst konnte seinen Ekel und seine Angst nicht übertreffen. Panisch überlegte er, ob der Übersiehmich überhaupt noch wirkte, als Hagan Tar ihm immer näherkam, ja, sein Blick fiel sogar auf die schmale Türlücke.
Doch zum Glück verharrte der Blick nicht, sondern schweifte weiter. Mit schnellem Schritt war Hagan Tar plötzlich bei einem Tisch, an dem ein Mann den vor ihm stehenden Becher langsam zur Seite schob.
Er griff nach dem Becher, hob ihn an und setzte ihn hart vor dem Mann ab. »Möchtest du dieser großzügigen Geste etwa mit Unhöflichkeit begegnen?«, fragte er lächelnd, doch in dem Klang seiner Stimme schwang ein unterschwelliges Knurren mit. Das Ungeheuer in seiner Seele regte sich. »Diese Ehre wird nicht jedem und nicht an gewöhnlichen Tagen zuteil, und dem einfachen Mann steht es nicht zu, die Güte eines Lords in Frage zu stellen oder gar abzulehnen.«
»Er ist nicht mein Herr«, murmelte der Mann.
Tesfayé blieb das Herz fast stehen. Was tat der brave Bürger da? Erkannte er denn nicht, dass Widerstand völlig zwecklos war? Dass sie sich alle bereits in der Gewalt des Bösen befanden?
Seine Frau, die neben ihm saß, legte die Hand auf seinen Arm und sah ihn flehend an. »Ich bitte dich, lass ab davon.« Und zu Hagan Tar gewandt: »Selbstverständlich fühlen wir uns äußerst geehrt, edler Herr, und werden mit Freuden darauf anstoßen …«
»Ich sagte schon, ich bin weder ein Herr noch edel«, unterbrach der General. »Allmählich macht mich das ungehalten. Es ist nämlich so!«, wandte er sich laut an die Gemeinschaft. »Ich bin einer von euch – nein, einst war ich sogar weniger! Ich wurde nicht in einer Stadt geboren und nicht auf einem sauberen Hof, sondern in einer Abfallrinne. Niemand hat je auch nur ein Kupferstück auf mich gegeben, durchgeschlagen habe ich mich wie ein wildes Tier, verachtet und verhöhnt, ausgenutzt als Tagelöhner, ausgeraubt als Bettler! Da geschah es, dass Hatar Stygan mich fand und mir Obdach gewährte, und er heilte mich und gab mir Nahrung. Er sah in mir, was niemand sonst je gesehen hatte. Er lehrte mich und bildete mich aus, ich lernte lesen und schreiben, ich lernte den Umgang mit Wort und Waffe. Und nun seht mich an! Ich habe mich hochgedient und führe nun die Heere meines Lords. Ich habe ihn darum gebeten, sein Wort weitertragen zu dürfen, damit es euch allen so ergeht wie mir. Damit wir alle zu den höchsten Gipfeln der Berge wandern und die Erleuchtung erfahren!«
Seine Stimme verhallte. Tesfayé zitterte in seinem Versteck. Längst hätte er fliehen sollen, doch er konnte nicht weichen. Meister Yesh war noch in diesem Raum, und ihn musste er beschützen, wenngleich er nicht wusste, wie. Doch er würde ihn jetzt nicht verlassen. Da saß er, gar nicht weit entfernt, gerade so in seinem Blickfeld, am Rand eines Tisches. Klein und zusammengesunken, geradezu unsichtbar zwischen den Gästen.
Bekam er überhaupt mit, was hier vor sich ging? Seine Augen schienen geschlossen zu sein, das Kinn ruhte auf der Brust. Es wäre nicht ungewöhnlich, der Greis bekam häufig nach fröhlichem Weingenuss eine Schlafattacke, aus der er nicht so leicht zu wecken war. Umso besser – dann fiel er nicht auf und bekam vor allem nichts von diesem Schrecken mit, der womöglich sein gebrechliches Herz überfordert hätte.
»Nun!«, rief Hagan Tars Stimme Tesfayé ins Geschehnis zurück. »Ist hier sonst noch jemand, der zweifelt? Der ein Geschenk ablehnt, weil er zu stolz ist? Der missverstanden hat, worum es hier geht?«
Niemand rührte sich. Tesfayé sah an seiner Miene, wie es in dem Bürger arbeitete, doch seine Frau krallte die Finger in seinen Arm, und der Schmerz lenkte ihn ab.
»Also dann!« Hagan Tar winkte dem Mann und seiner Frau. »So sollt ihr die Ehre haben, nach vorn zu treten und den Trinkspruch auszubringen, bevor wir alle den Becher erheben und auf das Wohl Hatar Stygans des Großmächtigen anstoßen!«
Der Mann wollte nicht, aber seine Frau schob ihn von der Bank, und mit hängenden Schultern traten sie zu dem General.
»Eure Becher«, sagte er freundlich, holte sie und reichte sie ihnen. Dann machte er eine auffordernde Geste. »Bitte, ihr habt das Wort!«
Die Frau hob den Becher. Zögernd tat ihr Mann es nach. »Auf Hatar Stygan den Großmächtigen«, sagte sie mit zitternder Stimme.
Er setzte an: »Auf …« Dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann das nicht!« Er wollte den Becher zu Boden schleudern, aber dazu kam er nicht mehr.
Schneller als Tesfayés Blick ihm folgen konnte, hielt der General seine Hand ohne ersichtliche Anstrengung fest. Die freie Hand legte er in den Nacken des Mannes, schien ihn kaum zu berühren. Und doch verzerrte sich das Gesicht des Bürgers zu wildem Schmerz, Augen und Mund waren weit aufgerissen, aschfahl und blutleer geworden. Sein Kopf sank nach hinten, die Halsschlagader trat pochend hervor. Hagan Tar ließ ihn los, und der Mann hielt den Kopf wieder gerade, hob den Arm und setzte den Becher an die bebenden Lippen.
Seine Frau trank schluchzend leer. Und alle anderen folgten.
Bis auf Meister Yesh. Der schlummerte seelenruhig.
Tesfayé wusste, dass er etwas unternehmen musste und es doch nicht konnte. Hilflos blieb er der untätige heimliche Lauscher und sah, wie die Leute alle gleichzeitig den leergetrunkenen Becher mit derselben steifen Geste wieder absetzten. Wie ihre Gesichter noch bleicher wurden und dann eine graue Tönung bekamen. Wie plötzlich auch ein Grauschleier sich über ihre Augen legte und sie einheitlich blassgrau färbte, mit verborgener Pupille, als wäre der Seelenspiegel ausgelöscht worden.
Er sah, wie sie weiterhin still und reglos dasaßen, aber nun nicht mehr vor Angst, sondern willenlos wie Puppen.
Als wäre ein Netz über sie gelegt worden, mit ausgeworfenen Fäden an den Enden, die Hagan Tar nun aufnahm und in Händen hielt, wie ein Puppenspieler.
»Welche Freude!«, rief er. »Nun sind wir vereint, Brüder und Schwestern, und ich will euch leiten auf den neuen Weg zu Hoffnung und Glauben!«
Tesfayé spürte die Tränen heiß über seine Wangen rinnen. Sie waren verloren. Alles war verloren. Was er gesehen hatte, war erst der Anfang. Ganz Ishgalad drohte dieses Schicksal. Der General hatte von Heeren gesprochen – also waren sie vermutlich schon überall und verteilten den schrecklichen Trank.
Er sah auch, wie diejenigen, die nahe bei den Fenstern saßen, plötzlich vor dem hereinfallenden Licht zurückzuckten und ihm auszuweichen versuchten.
Da sah er noch etwas.
Während die Leute einer nach dem anderen aufstanden und auf den Ausgang zustrebten, flankiert von den Soldaten, sah Tesfayé eine Bewegung dort, wo er sie am wenigsten erwartet hätte.
Meister Yesh. Er schlief gar nicht!
Er hatte die Arme vor dem Bauch verschränkt, die linke Hand lugte unter dem rechten Arm hervor. Und diese bewegte er nun.
Viele Legenden rankten sich um die Magier, die ihre Kunst mit den Händen übten. Sie sollten Gedankenlesen können, weil sie sich augenscheinlich wortlos untereinander verständigten.
Dabei war es eine geheime Sprache der Gesten, die nur Eingeweihte beherrschten. Ein gut gehütetes Geheimnis, das niemals ein Magier offenbaren würde.
Die Gesten waren schnell, es benötigte viel Übung, um aus den einzelnen Worten ganze Sätze zu bilden, doch Tesfayé war ein Talent darin, und er übersetzte die Gebärdensprache für sich immer sehr ausführlich. Das war einfach schöner, fand er, als die präzisen klaren kurzen Worte.
Mein Junge, ich weiß, du bist hier. Es ist schneller gekommen als ich befürchtet habe. Versuche nicht, mir zu antworten. Versuche nicht, mir zu helfen. Ich werde nicht trinken, denn ich werde mich nicht benutzen lassen. Noch weiß er nicht, wer ich bin, und ich werde es ihm nicht verraten. Ich habe das Gift bereits genommen und es wird bald wirken. Deshalb brauche ich keine Hilfe mehr und du wirst vernünftig sein. Es hängt an dir, wie ich dir prophezeit habe. So schnell. Es tut mir so leid. Laufe sofort zum Dekan und berichte alles. Sie werden wissen, was zu tun ist. Leb wohl, mein Junge, ich vertraue dir und setze auf dich.
Die Hand sank herab, und Tesfayé sah an der Veränderung, dass das Gift bereits zu wirken begann. Meister Yeshs Augenränder wurden rot, und seine Haut wurde grau wie die der anderen, obwohl der Becher unberührt vor ihm stand. Tesfayé hätte es bemerkt, wenn der alte Gelehrte ihn zuvor genommen hätte.
Er hatte Gift dabei gehabt – unvorstellbar. Wie lange schon hatte Meister Yesh die Furcht mit sich herumgetragen, dass Ishgalad Unheil drohte? Warum hatte er nie mit seinem Adepten darüber gesprochen?
Obwohl Tesfayé annahm, dass der Greis es nicht mehr sehen konnte, gestikulierte er, um Abschied zu nehmen und ihn ein letztes Mal zu ehren, während die Tränen erneut flossen: Danke, mein Meister, für alles. Geht in Frieden. Ich werde alles tun, um das Böse aufzuhalten.
Aber da … noch einmal ein kurzes Zucken. Ich ehre dich.
Tesfayé konnte kaum mehr an sich halten. Ja, sie hatten sich sehr oft ohne Worte verstanden, erahnt, was der andere gerade dachte, aber in diesem letzten Moment … das war Trost und Schmerz zugleich.
Hagan Tar schien den alten Mann nun endlich zu bemerken, da die Gaststube fast leer war und er der Einzige, der nicht aufstand. Er schritt auf Meister Yesh zu.
»Was ist mit dir, Alter? Trink! Und dann geh.«
Der uralte Gelehrte hob langsam den Kopf und die Lider. Die Bewegung fiel ihm schwer, das war deutlich zu erkennen, der Tod war ihm schon näher als das Leben. Doch er lächelte verschmitzt, wie es seine Art war.
Mit leiser, aber deutlich verständlicher Stimme sagte er: »Sie wird dein Schicksal sein.«
Dann sank sein Kopf auf die Brust mit einem letzten Atemstoß.
Tesfayé merkte, wie das Leben in seine Beine zurückkehrte, wie die Starre von ihm abfiel. Er spürte auch, dass der Zauber verging. Während der General noch wütend in die schütteren weißen Haare des Greises griff und seinen Kopf zurückriss, um sich davon zu überzeugen, dass er tot war, wandte der junge Magier sich um und hastete den Gang nach hinten, zu den Ställen.
Hagan Tar verließ als Letzter das Gasthaus. Die Leiche des Greises ließ er zurück, sollte sie doch dort verrotten. Selbst der Wirt und alle Dienstboten waren aufgebrochen, um Worte und Trank zu verteilen. Heute Nacht, denn das Sonnenlicht würden sie fortan meiden und zu Nachtgeschöpfen werden. Nachts, wenn die Sterne näher waren und die Sphären, flossen die meisten magischen Energien.
»Makar, die Leute werden nach Hause gehen und schlafen, und heute Nacht werden sie aktiv und ihren Dienst an unserer Sache verrichten. Es ist wichtig, dass sie alle von dem Trank bekommen, damit sie ihn weiterverteilen können.« Er wies auf einige Karren, die mit Fässern beladen heranfuhren. »Füllt ihn ab in Flaschen. Helft bei der Verteilung.«
»Wir sind nur zu sechst«, wandte der Soldat ein.
»Die Leute werden an die Verteilung gehen, ich sagte es gerade. Verlass dich drauf. Morgen schon gehört uns mindestens die Hälfte der Stadt, denn jeder neu gewonnene Anhänger wird weitere Gefährten gewinnen. Es muss nur immer genug Trank vorhanden sein – stellt an allen bedeutenden Kreuzungen Karren mit den Fässern auf und spendet reichlich.«
Der Soldat murrte. »Und wann werden wir kämpfen?«
Hagan Tar lächelte. »Oh, schon bald«, versprach er. »Ihr werdet metzeln und foltern und töten, und Blut wird fließen. Und jetzt tu, was ich befohlen habe!« Den letzten Satz äußerte er so scharf, dass Makar erschrocken zurückwich und mit Bücklingen versicherte, die Befehle getreulich auszuführen.
Hagan Tar stieg auf sein Pferd und trieb es eilig an. Bevor es ins Land ging, musste Iskundar ihnen gehören. Und das sollte nicht mit Waffengewalt genommen werden, sondern mit dem Trank. Hatar Stygan wollte die Stadt als Hauptstützpunkt und dafür brauchte er alle verfügbaren Einwohner für diverse Dienste. Sie sollten ihn und seine Anhänger versorgen. Nahrungsmittel, Ausrüstung, der Handel musste weitergeführt werden, um die künftigen Heere zu unterhalten. In Wirklichkeit bestanden sie noch gar nicht, wie Hagan Tar behauptet hatte, aber das brauchten die braven Bürger nicht zu wissen. Die kampffähigen Männer würden umgehend alle zum Kriegsdienst herangezogen und dank des Tranks auch sofort einsetzbar sein. Der Rest sollte dem Unterhalt dienen, und wer nicht nützlich, weil zu alt, zu jung, zu schwach oder zu krank war, würde beseitigt. Es gab genug Mäuler zu stopfen; auf jedes zusätzliche, das nicht von Nutzen war, sollte verzichtet werden. Außerdem würden die nützlichen Menschen seinem Herrn Kraft und Energie spenden.
Ishgalad war nur der Beginn, deshalb musste alles gut geplant und organisiert werden. Eine sorgfältige Auswahl derjenigen war vonnöten, die den Anbruch des neuen Zeitalters mitgestalten und für die Zukunft eingesetzt werden konnten. Alle anderen waren überflüssig und mussten weg – in stetiger Folge, was Hagan Tars Aufgabe sein sollte.
Alles effizient, hatte Hatar Stygan gesagt.
Was bedeutet das?, hatte Hagan Tar gefragt.
Das habe ich von Aldavinur gelernt, dem Größten aller Fyrgar. Er hat den Schattenweber vernichtet. Und ich bereite seinem Sohn den Weg.
Hagan Tar hatte die Antwort nicht verstanden, wie so oft. In Ishgalad gab es kein Volk namens »Fyrgar«. Und wer sollte »der Sohn des Schattenwebers« sein?
Hatar Stygans Blick reichte weit über die Grenzen Ishgalads, ja sogar Waldsees hinaus. Der General glaubte nicht, dass außer seinem Herrn irgendjemand sonst in dem isolierten Reich dazu in der Lage war, so weit zu blicken – selbst die gebildetsten Magier nicht.
Auch bei ihm war das der Fall. Er war zwar in einige Pläne seines Herrn eingeweiht, aber er begriff sie nicht einmal ansatzweise. Sein Gemüt war dafür zu schlicht, keine Frage. Er war talentiert mit der Waffe, aber nicht mit dem Verstand, der war zwar bodenständig und klar, jedoch auf die alltäglichen Dinge des Lebens beschränkt. Und das genügte. Es war schließlich nicht erforderlich, dass er weiter blickte. Sein Herr wusste, was zu tun war, und gab ihm die Befehle.
Und nur ihm. Niemand sonst kannte Hatar Stygan. Hatte ihn je erblickt. Keiner war ihm jemals auch nur flüchtig begegnet, obwohl er schon Jahrtausende zählte. Doch an die Öffentlichkeit trat er erst jetzt – und auch derzeit nur insofern, dass sein Name verbreitet wurde und Hagan Tar für ihn sprach.
Hagan Tar trug den Ehrennamen, den er mit Erlaubnis sich selbst gegeben hatte in Anlehnung an den Namen seines Herrn, nicht zu Unrecht. Dank Hatar Stygan hatte er sich aus dem stinkendsten Morast erhoben und war nun der Vertraute des mächtigsten Wesens Ishgalads, ja, sogar seine rechte Hand. Er war darauf stolz. Und dadurch selbst mächtig. Bald schon der zweitmächtigste Mann im Staate, der Einzige, dem Hatar Stygan vertraute, der Einzige, der mit dem Großmächtigen sprach, ihn kannte … nun ja, wenngleich mit Einschränkungen. Die Gedankengänge seines Herrn konnte er nicht einmal ansatzweise nachvollziehen. Doch Hagan Tars Talente genügten offensichtlich, dass er die Stimme und das Schwert seines Herrn war und an seiner Stelle das Wort verbreitete.
Und heute, jetzt, hatte es begonnen.
Von wilder Freude erfüllt, galoppierte er aus dem Südtor der Stadt.
Iskundar lag in einer wasserreichen Senke, mitten in einer riesigen Oase, die wiederum von der Großen Wüste umgeben war. Richtung Nordosten ging es zu der unüberschreitbaren Grenze nach Nerovia, genannt »Schwarzweg«. Direkt im Norden lag der Meereinschnitt, der einst während der Titanenschlacht geschlagen worden war und Ishgalad von den anderen Ländern auf immer getrennt hatte.
Hatar Stygan hatte es Hagan Tar erzählt: Der Dämon Nachtfeuer, einer der erbarmungslosesten und mächtigsten Kämpfer, war in der Schlacht getroffen worden, aus den Sphären gestürzt und hatte bei dem Aufprall auf der Welt den tiefen Graben geschlagen, den die endlose See binnen weniger Tage mit einer gewaltigen Flut gefüllt hatte.
In jener Schlacht war auch der Gott Schattenweber gefallen, Lýtir der Schmied, wie er genannt wurde.
»Letztendlich«, hatte der Großmächtige erklärt, »gab es an jenem Tag so grausame Verluste, dass alle Fronten den Kampf einstellten und schworen, es niemals wieder dazu kommen zu lassen, die Welt an den Rand des Abgrunds zu führen und sie beinahe zu zersplittern. Ob Lichter oder Dunkler Regenbogen, sie alle wollten Waldsee beherrschen, nicht vernichten. Doch sie mussten angesichts der schrecklichen Verwüstung durch die Schlacht einen anderen Weg finden.«
»Und war es nicht gut?«, hatte der General wissen wollen.
»Nicht für die Richtigen«, hatte die Antwort gelautet. »Ich habe sehr lange daran gearbeitet und darauf gewartet, die Machtverhältnisse wieder geradezurücken. Nun wird es bald soweit sein, denn ich habe endlich das Zeichen und die Unterstützung bekommen. Die wahren Mächte werden bald über Waldsee herrschen, wie es sein soll.«
»Und die Götter?«
»Wen kümmern die Götter? Der, der kommen wird, ist mächtiger als sie.«
Hagan Tar fürchtete sich vor nichts. Angst war ein Privileg der Besitzenden, zu denen er nie gehört hatte. Doch zu wissen, dass einer kommen sollte, der mächtiger war als die Götter in den Sphären, das jagte ihm doch einen eisigen Schauer über den Rücken. Und einen zweiten, wenn er daran dachte, dass sein Herr mit diesem Wesen einen Pakt geschlossen hatte.
Aber ich habe daran Anteil. Er vertraut mir. Ich bin seine Hand, ich führe alle Pläne aus. Ich werde ganz vorn dabei sein.
Was hatte der Greis in dem Gasthaus doch gleich gesagt? Sie wird dein Schicksal sein.
Was für eine seltsame, dumme Prophezeiung. Schade, dass der Alte sich selbst vergiftet hatte, damit hatte er Hagan Tar um das Vergnügen seines Foltertodes gebracht. Sicherlich hatte er das nur gesagt, um ihn zu beeindrucken, um ihn zum Zögern zu bringen und vielleicht sogar zum Nachdenken.
Weit gefehlt. Was auch immer dieser dumme Satz zu bedeuten hatte, er sagte nichts darüber aus, wann und wie. Oder durch wen. »Sie« konnte alles Mögliche sein. Die Sonne, eine Frau, eine Krankheit, ein weibliches Tier, eine Fischgräte …
Hagan Tar musste lachen. Ja, lächerlich, das war es. Tattriger Alter.
Die Straße führte durch die Oase hindurch. Palmen, Ölbäume, duftend blühende Büsche soweit das Auge reichte. Viele Bachläufe, kleine Teiche, größere Seen. Gehöfte mit Vieh, das friedlich Gras weidete. Millionen schillernder Vögel, die zwitschernd umherflogen.
Dies war immer noch das Gebiet von Iskundar; der Bereich, der die Stadt ernährte und versorgte und der den gesamten Unrat verschwinden ließ. Das Zentrum Ishgalads, des Goldenen Reiches.
Der General hielt auf ein großes Gasthaus zu, das an der Kreuzung der Haupthandelsstraßen lag. Viele Karren waren dort abgestellt, in den ausgedehnten Stallungen waren hunderte Pferde und Kamele untergebracht.
Das Haus besaß so gut wie keine Wände, nur ein vor gelegentlichem Regen schützendes Dach, da es hier immer gleichbleibend warm war. Auch die meisten Gastzimmer, die häufig über Fallleitern, Brücken und Wendeltreppen von außen erreichbar waren, bestanden aus nicht mehr als trittsicherem Boden und Hängematten. Lediglich für die Abtritte und Waschungen gab es abgeschiedene Bereiche, wobei im Innenhof auch mehrere öffentliche sprudelnde Quellen für ein ausgedehntes Bad eingerichtet waren.
Hunderte schwarzblau schillernde Raben sorgten mit vielen Augen und laut schnatternden Schnäbeln dafür, dass niemand sich an fremdem Eigentum bediente oder sich heimlich hinein- und wieder herausschlich, ohne zu bezahlen.
Hagan Tars Blick schweifte zu einem der großen Ausschänke, und sein Mund fühlte sich trocken an angesichts des golden schäumenden Bieres, das reichlich in Krüge abgefüllt wurde. Auch sein Magen meldete sich, da er seit dem frühen Morgen nichts mehr zu sich genommen hatte.
Doch das musste warten.
Er lenkte das Pferd zu den Stallungen hinter, ganz ans Ende, wo noch die ersten Bauten standen; aus Lehmziegeln gefertigt, eng, dunkel und kühl. Hier wurden schon lange keine Tiere mehr untergebracht, doch man riss die Gebäude aus wehmütiger Erinnerung nicht ab.
Hagan Tar hielt das Pferd an, stieg ab und band es an einem im Alter versteinerten Balken an. Dann trat er aus dem strahlenden Licht des warmen Tages in die düstere Kühle des letzten Gebäudes. Unwillkürlich erschauerte er. Das Licht fiel als Fächer durch ein kleines Fenster und den Türausschnitt in den Raum, ohne ihn wirklich zu erhellen, eher wurde es dahinter noch dunkler. An den Wänden befanden sich Überreste der Anbinderinge und Ketten. Die Tiere damals mussten kleiner gewesen sein, denn sein Pferd würde nicht einmal durch den Türrahmen passen.
Ja, Ishgalads Anfänge waren bescheiden gewesen nach dem großen Einschnitt, nach der zerstörerischen Trennung. Doch das Land hatte sich rasch zur Blüte emporgeschwungen. Dies war das Zeugnis des Neubeginns.
Es roch nach altem Heu und Stroh, nach feuchtem Lehm.
Und nach ihm.
Scharf, intensiv; ein wildes, sehr altes Raubtier auf lautlosen Ballen.
Hagan Tar roch ihn, spürte ihn. Seine Präsenz füllte den Raum aus, wallte als glitzernde Dunkelheit heran, als er sich näherte. Der General drehte sich weg davon, denn er wusste, Hatar Stygan mochte es nicht, unaufgefordert angeblickt zu werden. Er musste sich allerdings nicht niederknien und durfte auch auf eine formelle Anrede verzichten – das war ein besonderes Privileg, auf das er sehr stolz war.
Der funkelnde Nebel umwehte ihn, und dann fühlte er die körperliche Nähe seines Herrn. »Ist es getan?«, erklang die zischende, flüsternde Stimme hinter ihm, so hohl wie aus einem Grab, leise und doch weit tragend.
»Sie machen sich bereit für die Nacht«, antwortete er und berichtete zusammenfassend, was sich ereignet hatte, ließ dabei auch den Alten nicht aus.
»Wie sah der Greis aus?«, wollte Hatar Stygan wissen.
»Wie alte Zausel eben so aussehen – dürr, faltig, krumm. Meiner Einschätzung nach musste er mindestens hundert Jahre zählen. Er sah vorher schon so abgekratzt aus, wie er dann auch war.«
»Das war Großmeister Yesh«, krächzte sein Herr. »Was hat er zu dir gesagt?«
»Ach, das war nichts weiter.« Er winkte ab. »Gefasel eines Sterbenden. Ich habe nicht richtig zugehört. Es war jedenfalls nichts, was uns betraf.« Fast wäre er zusammengezuckt, als er eine Berührung an der Schulter spürte, eine spitze Kralle, die sich in die Kleidung bohrte.
Für einen kurzen Moment herrschte völlige Stille. Dann zog sich die Hand zurück.
»Soll ich die Universität erobern?«, fragte Hagan Tar.
»Nicht notwendig. Sammle deine Leute. Morgen früh bei Sonnenaufgang reitest du los und beginnst mit der Eroberung des Landes«, befahl Hatar Stygan.
»Dann soll ich heute noch die Universität einnehmen?«
»Ich wiederhole: Nein. Sie benötigen diese Zeit. Morgen sind sie mir nützlicher als heute.«
Hagan Tar hätte niemals gewagt, die Strategie seines Herrn abseits des Schlachtfeldes in Frage zu stellen. Dennoch hielt er es für einen Fehler zu warten. »Ich werde bei Sonnenaufgang aufbrechen. Was benötigst du in der Zwischenzeit? Was darf ich dir bringen?«
»Nichts. Geh jetzt. Denk an das Drachenauge, damit wir in Kontakt bleiben können.«
»Das werde ich.«
Die körperliche Präsenz schwand, der glitzernde Nebel zog sich in die Schatten zurück. Hagan Tar hörte ein rasselndes Keuchen und Pfeifen, dann kehrte die Stille wieder.
Er war froh, den Raum zu verlassen zu dürfen. Fast war es eine Flucht.
Tesfayé wollte aufatmen, doch seine Kehle war weiterhin wie zugeschnürt, während er aus einem Fenster im Hinterhof kletterte und die Gasse entlang bis zur nächsten Abzweigung rannte, um so schnell wie möglich Distanz zu gewinnen.
Nun kam er in den Trubel des Marktes hinein, wie er es geplant hatte – nur unter anderen Voraussetzungen. Er hatte keinerlei Blick für das fröhliche bunte Treiben, irrte verstört zwischen den kreuz und quer stehenden Ständen herum. In seiner Panik fand er den direkten Weg zur Universität nicht mehr, obwohl sie doch weithin sichtbar auf dem Hügel über der Stadt thronte, genau im Zentrum. Die größte zusammenhängende Ansammlung von Gebäuden mit mehr als einem Dutzend runder Türme mit Zwiebeldach. Auch die Häuser waren nicht in der üblichen praktischen eckigen Form aufgebaut, sondern oval, teils bauchig, mit verschnörkelten Abschlüssen und mehrstufigen Dächern, dazu viele Fenster ohne Scheiben, die mit fein ziseliertem Gitterwerk das kräftig einfallende Sonnenlicht aufhielten und die wenigen durchgelassenen Strahlen innen zu feinen Mustern in Licht und Schatten bildeten.
Jeder Turm besaß seine eigene Farbe für seine wissenschaftliche Fakultät, während die Zwischengebäude mit den Wohn-, Aufenthalts-, Dienst- und sonstigen Einrichtungen zumeist in warmen Orangetönen gehalten waren.
»Tesfayé? Was machst du denn hier?«
Er war so verstört, dass er sich nicht angesprochen fühlte und weiterstolperte, bis er mit dem Rufer beinahe zusammenstieß.
»He-he, nicht so stürmisch!« Es war Balan, ein Adept wie er, der ebenfalls nur noch auf die Urkunde wartete. Er hielt Tesfayé an den Schultern fest. »Was ist denn mit dir los?«
»Es ist furchtbar«, stammelte der junge Mann. »Hatar Stygan will uns erobern, und Meister Yesh ist tot …«
»Was redest du da? Hast du zu viel getrunken? Deine Fahne legt die Vermutung nahe.«
Balan hatte selbst ordentlich Wein und Schnaps zugesprochen, wie an seinem Atem zu merken war, und tatsächlich hielt er nicht Tesfayés Schultern fest, sondern sich an ihm.
»Nein, ich bin stocknüchtern … ich muss sofort zum Dekan und ihn warnen … sie wollen alle zwingen, etwas zu trinken, das den Willen nimmt …«
»Bah, nun bist du vollkommen durchgedreht.« Balan wollte sich abwenden, aber Tesfayé hielt ihn auf.
»Du musst mit mir kommen! Wir müssen uns sofort alle versammeln und einen magischen Verteidigungswall aufbauen!«
»Spinner.« Balan schlug seine Hand beiseite und torkelte auf einen Ausschank zu.
Tesfayé erkannte, dass es keinen Sinn hatte, ihn überreden zu wollen, und lief weiter. Alles in ihm schrie danach, die Leute zu warnen, sie dazu zu bewegen, Iskundar sofort zu verlassen und sich irgendwo zu verstecken. Doch selbst in seiner Angst war ihm bewusst, was die Leute davon halten würden, wenn ein junger Mann wie ein Unheilsprophet schreiend über den Markt rannte und den Untergang proklamierte. Der Tag war schön, die Geschäfte liefen gut, alle waren bestens gelaunt. Von überall her drangen Musik und Gesang, die Luft war geschwängert von all den Gewürzdüften, das Auge erfreute sich an den bunten Tüchern und Auslagen.