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"Die Beschreibung der Unterwasserwelt der Nauraka ist so anschaulich und ausdrucksvoll gelungen, dass man glaubt, vor Ort zu sein. Diesen farbenfrohen und vielfältigen Kosmos vor Augen, taucht man im wahrsten Sinne des Wortes ab in die Geschichte um Eri und Luri, zwei Königskinder, die schwere Aufgaben zu bestehen haben, sich aus den Augen verlieren und doch durch ein unsichtbares Band für immer miteinander verbunden sind. Gekonnt lässt die Autorin ihre Leser in die Seele ihre Protagonisten blicken, sodass man ihnen sofort nah ist und bis zum Ende des Buches mit ihnen mitfiebern kann." (Lies-und-lausch.de) "Alles in allem ist "Nauraka - Volk der Tiefe" vollblütige Fantasy, die nicht nur eine spannende Handlung, sondern auch lebendige, facettenreiche Figuren und eine wirkliche überzeugend geschilderte exotische Kultur bietet." (fantasyguide.de) Tausend Jahre nach dem Krieg um das Tabernakel erinnert sich kaum jemand mehr an das uralte magische Volk der Nauraka, das nur noch in geringer Zahl verborgen in der Tiefe des Meeres lebt. Seit die Königssippe das Meer verlassen hat, herrscht ein Hochfürst über die weit verstreut lebenden Sippen, die nur selten Kontakt zueinander haben. Prinz Erenwin und seine Schwester Lurdèa entstammen dieser fürstlichen Sippe und wachsen unter strengen Regeln und Traditionen auf. Vor allem Erenwin leidet darunter, ist er doch der ungeliebte zweite Sohn und wird nie eine offizielle Funktion einnehmen. Er träumt davon, eines Tages an Land zu gehen - und ahnt nicht, dass sein Wunsch für ihn und seine Schwester auf tragische Weise wahr werden wird ...
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Seitenzahl: 710
Uschi Zietsch
Die Chroniken von Waldsee 4
Anhänge, Glossar und farbige Illustrationen finden sich in der Hardcoverausgabe.
Die Chroniken von Waldsee im Überblick:
Der Stern der Götter
Trilogie Gesamtausgabe: Dämonenblut/Nachtfeuer/Perlmond
Nauraka – Volk der Tiefe
Fyrgar – Volk des Feuers
Eine Kurzgeschichte aus Waldsee: Der wahre Schatz
Weitere Bände aus dem »Träumenden Universum«:
Sternwolke und Eiszauber
Die Presse:
»Die Beschreibung der Unterwasserwelt der Nauraka ist so anschaulich und ausdrucksvoll gelungen, dass man glaubt, vor Ort zu sein. Diesen farbenfrohen und vielfältigen Kosmos vor Augen, taucht man im wahrsten Sinne des Wortes ab in die Geschichte um Eri und Luri, zwei Königskinder, die schwere Aufgaben zu bestehen haben, sich aus den Augen verlieren und doch durch ein unsichtbares Band für immer miteinander verbunden sind.
Gekonnt lässt die Autorin ihre Leser in die Seele ihre Protagonisten blicken, sodass man ihnen sofort nah ist und bis zum Ende des Buches mit ihnen mitfiebern kann.« (Lies-und-lausch)
»Alles in allem ist ›Nauraka – Volk der Tiefe‹ vollblütige Fantasy, die nicht nur eine spannende Handlung, sondern auch lebendige, facettenreiche Figuren und eine wirkliche überzeugend geschilderte exotische Kultur bietet.« (fantasyguide)
Das Buch:
Tausend Jahre nach dem Krieg um das Tabernakel (Die Chroniken von Waldsee 1-3) erinnert sich kaum jemand mehr an das uralte magische Volk der Nauraka, das nur noch in geringer Zahl verborgen in der Tiefe des Meeres lebt. Seit die Königssippe das Meer verlassen hat, herrscht ein Hochfürst über die weit verstreut lebenden Sippen, die nur selten Kontakt zueinander haben.
Prinz Erenwin und seine Schwester Lurdèa entstammen dieser fürstlichen Sippe und wachsen unter strengen Regeln und Traditionen auf. Vor allem Erenwin leidet darunter, ist er doch der ungeliebte zweite Sohn und wird nie eine offizielle Funktion einnehmen. Er träumt davon, eines Tages an Land zu gehen - und ahnt nicht, dass sein Wunsch für ihn und seine Schwester auf tragische Weise wahr werden wird …
Bei einem Jagdunfall gerät Erenwin in die verbotene Tiefe und sinkt bis zum Meeresgrund hinab. Dort findet er eine große schwarze Perle, in deren Bann er umgehend gerät. Er nimmt sie mit und verbirgt sie. Langsam fängt er an, sich zu verändern.
Ohne es zu ahnen, erregt der Prinz, der mehr und mehr zu einem Ungeheuer mutiert, dadurch die Aufmerksamkeit des »Alten Feindes«, der danach trachtet, das Volk der Nauraka ein für alle Mal auszulöschen. Schon einmal ist es ihm beinahe gelungen, und nun will er sein Vorhaben vollenden.
Intrigen, Verrat, Gewalt und Gefangenschaft sind die Folge. Auf ihrer Flucht werden die Geschwister in einem magischen Sturm voneinander getrennt und müssen von nun an jeder seinem schicksalhaften Leidensweg an Land folgen.
Die letzte Auseinandersetzung findet jedoch im Meer statt, und ein Mythos aus alter Zeit erwacht – der Seedrache … und er will die schwarze Perle zurück …
Die Autorin: Uschi Zietsch wurde 1961 in München geboren. Sie lebt seit 20 Jahren als freie Schriftstellerin und Verlegerin mit ihrem Mann und vielen Tieren auf einem kleinen Hof im bayerischen Allgäu. Seit ihrer Erstveröffentlichung 1986 blickt sie auf über 200 Veröffentlichungen zurück.
Impressum:
© der eBook-Ausgabe by Fabylon – fabEbooks
Es gilt das Impressum der Hardcoverausgabe.
ISBN: 978-3-943570-08-9
ERSTER TEILDARYSTIS
Kapitel1: Der junge Prinz
Kapitel2: In der Stille
Kapitel3: Der Antrag
Kapitel4: Der Markt
Kapitel5: Das Versprechen
Kapitel6: Brauttanz
ZWEITER TEILVERRAT
Kapitel7: Nach Karund
Kapitel8: Neue Regeln
Kapitel9: Keine Aussicht
Kapitel 10: Nur noch ein Korn
Kapitel 11: Der Namenlose
Kapitel 12: Der Fluch
DRITTER TEILLANDGÄNGER
Kapitel 13: Die ersten Schritte
Kapitel 14: Auf See, nicht darunter
Kapitel 15: Die Traurige Festung
Kapitel 16: Mohnblüte
Kapitel 17: Die Wolkenfänger
Kapitel 18: Eislicht
VIERTER TEILHEIMKEHR
Kapitel 19: Der letzte Kampf
Kapitel 20: Das Letzte, was bleibt
Anhang: Waldsee
»Und in meiner Erinn’rung, wenn die Nacht ist klar,
spür ich die See, tauch ein in die Fluten und schwimm mit der Schar.
Oh! Kannst du sie sehn, die große Stadt aus Koralle und Stein?
Leuchtend und wiegend Blumentier, Anemon’, Diamantenstern,
so steh ich und sehn mich, ewig klagend, die See ist so fern,
darf niemals hoffen, je wieder dort zu sein.«
Gesang Perlmonds des Ersten in Ardig Hall
Mhurin lachte schallend, bekam Schluckauf, dann war er tot.
Damit hatten die Jungen nicht gerechnet, nicht in diesem Moment oder sonstwann. Der Tod war etwas sehr Fernes, niemals Greifbares, was man nur selten erlebte und worüber man noch weniger sprach. Der Tod war ein Buhmann, mit dem man ganz kleine Kinder erschreckte, die ungehorsam waren. Der Tod kam höchstens zu den Alten und denen, die sich aufgegeben hatten.
Doch Mhurin, so voller Leben und Jugend und Frohsinn, Mhurin war tot, plötzlich und unvorhergesehen.
Und schlimmer noch: Mhurin war zweigeteilt.
Die messerscharfen Zähne des Spitzmaulhechts hatten seinen Körper durchschnitten wie der Ulu einen Fisch beim Entgräten, und während sich das Wasser blutrot färbte, schwebten Mhurins Rumpf und Unterleib in entgegengesetzten Richtungen davon. Nicht lange, und das schwertlange Maul des Fisches schnappte zu, und noch einmal, und Mhurin war verschwunden. Sein Blut löste sich langsam in die See auf und wurde Teil von ihr.
Der Hecht kümmerte sich nicht um die ringsum schreienden Kinder. Seine Kiemen klappten befriedigt einmal kräftig auf und zu, dann verschwand er ebenso schnell, wie er gekommen war, ein silbrig blinkender Speer im Helldämmer. Und fort war er.
»Ich habe es nie vergessen«, schloss Eri seine Erzählung und schwebte bedächtig auf und ab. Das Wasser floss ruhig durch seine Kiemen. »Und es schaudert mich noch heute, vor allem nachts im Traum. Mhurin war schließlich mein bester Freund.«
Zugleich grimmig und vergnügt betrachtete der Prinz die Gesichter der kleinen Kinder, denen er die Geschichte vorgetragen hatte. Sie hatten ihn abgefangen, als er gerade auf dem Weg zum Tangwald war, und um eine kleine Mär gebeten. Eri hatte sich zur Wahrheit entschieden, die oftmals viel grausiger war als eine Schauergeschichte, und nun bereuten die Kleinen vermutlich, ihn nicht in Ruhe gelassen zu haben. Drei waren grün angelaufen, und zwei klapperten heftig mit den seitlich am Hals gelegenen Kiemen. Den anderen stand der Mund offen, und sie starrten ihn aus großen Augen an.
Genau das hatte der Prinz damit erzielen wollen. Nicht nur, um ihre Aufmerksamkeit mit einer Gruselgeschichte zu fesseln. Sie sollten begreifen, wie gefährlich die Untiefen der See waren. Für Eri war es damals eine Lehre gewesen, stets wachsam zu bleiben. Trotz der überall postierten Wachen war der Hecht unbemerkt bis zur Stadt gelangt, inmitten des Tummelplatzes unter die Kinder gefahren, hatte sich sein Opfer geschnappt und war verschwunden, ehe auch nur ein einziger der schnell herbeigeeilten Erwachsenen einen Speer nach ihm werfen konnte. Sieben Korallenringe zählte der kleine Eri damals, und einen ganzen Korallenstab später, heute, fühlte er sich immer noch schuldig.
»Also, was macht ihr, um euren besten Freund nicht zu verlieren?« Eindringlich sah er sie der Reihe nach an.
»Wir passen auf ihn auf«, versprachen sie im Chor, und dann waren sie in einem Schwall Wasserblasen kichernd auf und davon. Mit heftig schlagenden Fußflossen witschten sie durch die engen Öffnungen des Korallengeflechts, hinaus in die Freiheit der See, die durch den Schutzring rund um den Spielplatz bewahrt wurde.
Eri wandte den Kopf, als eine leichte Druckwelle gegen ihn schwappte, und er vernahm dumpfes Händeklatschen. Lurion, natürlich – sein Bruder. Längst erwachsen, sogar um einen Korallenbaum älter als er, doch so benahm er sich kaum. Er frönte dem Glücksspiel und trank vergorenen Seegurkensaft in rauen Mengen.
»Du hörst dich genauso an wie Onkel Turéor, möchtest ihm wohl nacheifern?«
»Was willst du?«, fragte Eri unwirsch. »Dass du zu dieser frühen Stunde überhaupt schon wach bist …« Das war ein Scherz, denn die Hälfte von Helldämmer war bereits überschritten. Bald würde Mittlicht hereinbrechen, das ungewisse Zwielicht, die Zeit der Jagd.
»Ich gratuliere dir, lieber kleiner Bruder«, antwortete Lurion höhnisch. »Wie du die Aufmerksamkeit fesseln kannst! Oder scharst du dein kleines Volk um dich, um dir deinen eigenen Staat aufzubauen? Prinz Erenwin.« Er schwamm pfeilschnell auf Eri zu und packte ihn vorn an der Kragenstulpe. Wie alle Mitglieder der königlichen Familie trug Eri ein aufwendig gefälteltes, mit einer Schärpe versehenes, vielfach geschlungenes einteiliges Hosenkleid aus glänzender, in verschiedenen Farben schillernder Nixenkrautseide, und einen dunkelgrau glänzenden Schleierumhang aus feinsten Goldkelpfasern mit hohem Kragen. Lurion war dazu mit Armreifen behängt, trug kostbare Ringe an den Fingern, und seine wohlgeformten abgerundeten Ohren waren vielfach mit Korallenschmuck durchbohrt. Eris Bruder war sehr viel größer als er und trotz seiner Zechgelage und Ausschweifungen muskulös. Die Ringe drückten an Eris Kehle, als Lurion ihn festhielt.
»Vergiss eines nicht, kleiner Bruder«, zischte er, »ich bin der Erbprinz, und du nur eine wertlose Nachgeburt!«
»Du und dein Thron seid mir doch völlig egal«, erwiderte Eri und riss sich mit einem heftigen Ruck los. »Ich bin sowieso bald weg, und dann kannst du in Ruhe drei oder vier Korallenbäume warten, bis Vater endlich die Fürstenkrone an dich abgibt.«
»Meinen Segen hast du«, knurrte Lurion. »Ich werde dir sogar noch Golddrachen mitgeben, damit du auch ja nicht wieder zurückkommst!«
Eri fragte sich, woher sein Bruder so viel Geld nehmen wollte, er verspielte normalerweise alles und hatte hohe Schulden. Er hatte natürlich schon versucht, den Meister der Vulkanschmiede, wo das Gold gepresst wurde, zu bestechen, aber vergeblich. Das wäre selbst für den Hochfürsten unmöglich.
Lurion wandte sich ab und schwamm zum Quartier der Jäger hinüber, um sich auf die Jagd im Mittlicht vorzubereiten – seine zweitliebste Beschäftigung neben dem Glücksspiel.
Eri entschied sich, nicht mehr zum Tangwald zu schwimmen, und bewegte sich träge auf den außen gelegenen Bereich des Palastes zu, den er mit seiner Schwester Luri bewohnte. In unmittelbarer Nähe der Eltern durften die Nachkommen nicht leben.
Die Stadt war groß und alt, und nicht einmal Eri, der überall neugierig hindurchschlüpfte, kannte sie bis in den letzten Winkel. Ein Teil von ihr ruhte im Vulkangestein, Überhänge waren als Schutz genommen und mit verschiedenen Baumaterialien erweitert worden: natürlichen wie den Korallen, aber auch künstlichen, von Hand gefertigten, größtenteils mit geschmolzenem Quarzsand gemauerten und kunstvoll geformten Felsen. Etwa fünftausend Nauraka lebten hier, früher mochten es viel mehr gewesen sein. Somit war genügend Platz für die Familien vorhanden. Sie bewohnten oft sechs bis acht Kammern, die sich über mehrere Stockwerke erstreckten und über Galerien miteinander verbunden waren. Ein dichtes Netz aus Zugängen flocht sich durch die Stadt, bis tief in die Dunkelheit des Vater-Vulkans. Seine Ableiter verzweigten sich weit über den Meeresboden, Schlote, die heißes Wasser und schwarzen fettigen Qualm ausstießen, manchmal auch Feuerfontänen. Den großen, sehr alten Vulkan nannten alle »Vater«, denn er bescherte der Sippe ein reiches und sorgenfreies Leben. Und wie ein strenger Vater grummelte er ab und zu, dass alles bebte, oder zeigte sich gütig mit milder Wärme.
Innerhalb der Stadt gab es auch während des Dunkeldämmers immer Licht, denn leuchtend blaue Kristalladern zogen sich durch Felswände, und an den Korallengeflechten hingen bunt strahlende Blumentiere, ein prachtvoller Schmuck noch dazu.
Der Palast des Hochfürsten thronte über allem, ein prächtiges Gebilde, ganz mit Geschmeide ausgekleidet, das weithin in die See strahlte. Wie ein Stern, hatte ein Händler einmal zu Eri gesagt, und seine Augen hatten dabei geleuchtet.
Auch die Augen anderer Händler hatten bei dieser Pracht durchaus hin und wieder geleuchtet, aber in ihnen hatte Gier gelegen. Die Nauraka lehrten sie schnell Demut, und Unverbesserlichen gegenüber zeigten sie sich ebenso unnachgiebig.
In diesem Palast gab es viele Abschnitte, die nur über Hauptgänge miteinander verbunden waren und für sich abgeriegelt werden konnten. Das fürstliche Paar bewohnte natürlich den größten Bereich mit dem zentralen Versammlungsplatz, und den rundherum angeordneten weiten Fluchten an Gemächern, Schatzkammern und geheimnisvollen Höhlen im Berg, die Eri noch nie auskundschaften durfte.
Doch es gab auch so genug zu entdecken, also war Eri mit dem Abenteuer der See vor der Stadt zufrieden. Er wollte so viel wie möglich lernen und sich stählen, für sein großes Vorhaben.
Luri war gerade dabei, sich anzukleiden, als ihr Bruder durch den Bogengang hereinschwamm. Sie wohnten am äußeren Rand des Palastes in einem Korallengeflecht mit vielen Öffnungen, verspielten Labyrinthgängen und allem, was ein junges Herz begehrte. Hier war es unbeschwert, luftig und hell. Nach den wuchtigen königlichen Gemächern verlangte es die beiden gar nicht.
Draußen vor dem Eingang und neben den größeren Schlupflöchern waren Wachen postiert. Die Amme und die übrigen Bediensteten allerdings durften nur noch in der Früh vorbeisehen. Die Geschwister wünschten beide ihre Freiheit und keinerlei Beaufsichtigung mehr.
»Was machst du?«, fragte Eri und räkelte sich in ein Wiegenetz.
»Ich treffe mich gleich mit meinen Freundinnen, um etwas zu unternehmen«, sagte Luri munter. Sie bemerkte seine Miene und wandte sich ihm zu. Sie war zwei Korallenringe jünger als er, und beide waren seit früher Kindheit eng miteinander verschworen. »Was ist mit dir los?«
»Ach, nichts«, meinte er leichthin. »Nur Lurion, das Übliche. Er hat Angst, dass ich ihm den Thron streitig machen will.«
»Dabei hat er ihn noch nicht mal, und bis dahin ist es lang«, spottete sie, neigte sich zu ihm und strich durch sein langes helles Haar. »Er ist ein Blödmann, das weißt du seit deiner Geburt. Wenn er nicht so viel Angst vor unseren Eltern hätte, hätte er dich wahrscheinlich in der Wiege erwürgt und mich einem Knochenhai zum Fraß vorgeworfen.«
Eri ergriff Luris Hände. »Deswegen musst du unbedingt mit mir kommen! Es dauert nicht mehr lange, schon in zehn oder zwanzig Dämmerungszyklen kommen die Händler, und dann gehen wir mit ihnen!«
»Ach, Eri, das ist doch Unsinn«, wehrte sie ab und entzog ihm die Hände. »Du lässt dich von Onkel Turéors Geschichten zu sehr beeinflussen. Und vom Garn der Händler! Diese Welt da draußen ist nichts für uns. Wir sind Nauraka, und hier in der Tiefe ist unser Platz.«
»Wir könnten Abenteuer erleben …«
»Eri, hast du im Unterricht denn nie aufgepasst? Da draußen warten Not und Elend auf uns! Alles ist äußerst gewöhnlich! Niemand, der annähernd unseren Rang hätte. Glaubst du, wir werden mit königlichen Ehren empfangen, haben Leibwächter und dergleichen? Wir müssten wie alle Primitiven für uns selbst sorgen, uns auf eigene Kosten ernähren und kleiden – und von alldem haben wir keine Ahnung. Außerdem müssten wir auf unseren Beinen gehen! Darauf verzichte ich! Und überhaupt: Wo bleibt da die Romantik?«
»Ich könnte bei Hallog arbeiten, das hat er mir schon angeboten, und mir macht das nichts aus«, murmelte Eri. »Ich bin ja nicht ganz dumm, Luri, ich weiß, dass es gefährlich ist. Aber wir wären frei! Und Romantik … da draußen gibt es mehr als genug davon!«
»Ich gebe mich aber nur einem Nauraka edlen Geblüts hin«, erwiderte Luri schnippisch. »Denkst du, ich paare mich mit jedem dahergelaufenen Schuppensammler? Onkel Turéor sagt nicht ohne Grund stets, dass unser Volk schwach wird und nur noch einen verweichlichten Abglanz der früheren Nauraka darstellt. Doch wir sind immerhin stolzer und mächtiger im Vergleich zu den anderen!«
Eri sagte verträumt: »Ja, Drachenzähmer nannte man uns …«
Luri winkte ab. »Das ist lange vergangen. Schon seit vielen Korallenbäumen hat keiner mehr den Seedrachen gesehen, und unser Volk ist klein geworden, es schrumpft immer weiter. Darum ist es meine Pflicht, nach einem edlen Prinzen zu suchen und mit ihm ein großes neues Reich zu gründen!«
»Pfff … Pfffflicht«, prustete Eri. »Du hörst dich an wie Mutter! Dabei wolltest du nie so werden wie sie, und jetzt folgst du einfach ihrer Vorstellung?«
»Um hier rauszukommen, weg von den Eltern? Natürlich!«, rief Luri. »Aber ich werde mich nicht verschwenden, und ich werde ganz sicher nicht die See verlassen, oder wo auch immer du hinwillst! Immerhin«, Luri strich ihr Kleid glatt, »fließt durch unsere Adern uraltes königliches Blut.«
»Ach, du träumst ja.«
»Und du etwa nicht?«
Wahrscheinlich hörten sie beide schon zu lange Onkel Turéors Geschichten zu, wie ihr Vater häufig kritisierte. Es missfiel dem Hochfürsten, dass sie so viel Zeit mit dem »alten Wirrkopf«, wie er ihn wenig respektvoll bezeichnete, verbrachten. Sogar ihre Mutter tadelte sie deswegen. »Turéor ist sehr, sehr alt und lebt in einer Vergangenheit, die es nie gegeben hat. Es sind nur Märchen, die er als Kind hörte, und die er nun für seine eigenen Erlebnisse hält.« Hochfürstin Ymde entstammte einer Seitenlinie des uralten Königsgeschlechts, dessen Hauptstamm ebenso wie der Königsthron schon lange nicht mehr existierte. Sie und Turéor waren der Ahnenforschung nach entfernt miteinander verwandt, und das schien glaubhaft, denn beide waren größer, schlanker und feingliedriger als die Sippe des Hochfürsten Ragdur, und ihre Haut von einem ganz besonderen Perlmuttglanz. Durch die Heirat mit Ymde war Ragdur zum Hochfürsten aufgestiegen, dem höchsten Stand im Reich der Nauraka. Die anderen Sippen ehrten die Darystis, sie waren unangefochten am reichsten und mächtigsten.
Auch den Nachkommen Ymdes sah man die Herkunft an, sie waren von besonders edlem Wuchs, der Bewunderung und Neid zugleich hervorrief. Eri hatte zudem die hellen Haare seiner Mutter geerbt, wohingegen Luris Haare vulkanschwarz wie die ihres Vaters waren. Doch ihre zumeist kunstvoll geflochtenen und hochgesteckten Haare trugen einen ungewöhnlichen Glanz. Erbprinz Lurion, der sich enorm viel auf seine Herkunft einbildete, konnte es kaum verwinden, dass er zwei spätgeborene Geschwister hatte, die seine Einzigartigkeit schmälerten. Was hatte Lurions Eltern, die nicht aus Liebe geheiratet hatten, nur dazu gebracht, nach Pflichterfüllung und Sicherung des Thronerben nach langer Zeit zuerst einen weiteren, und dann schon nach zwei Korallenringen noch einmal einen dritten Nachkommen zu zeugen? Selbst Onkel Turéor, der geduldete alte Mann, hatte sich überrascht gezeigt und die beiden Jungfischlein, wie die ganz kleinen Nauraka häufig genannt wurden, besonders gern unter seine Armhäute genommen.
»Du bist verrückt mit deinen Träumen, Eri, werde lieber erwachsen«, riet Luri, die jüngere Schwester. »Ich will auch hier weg, aber ich werde dabei nicht unvernünftig sein oder gar meinen hohen Stand aufgeben.« Sie schwamm auf und drehte sich um die eigene Achse. »Und, wie sehe ich aus?«
»Wunderschön, was sonst«, grummelte Eri. Manchmal fragte er sich, wer von ihnen beiden eigentlich das Sagen hatte. Dabei war er der ältere und der Mann. »Denk dran, o Vernünftige, nach Einbruch des Dunkeldämmers zurück zu sein, wir müssen heute mit Nura und Nàru, Mutter und Vater speisen.«
Sie streckte ihm ganz unerwachsen die Zunge heraus und schwamm hinaus.
Eri wusste nicht recht, was er mit der Zeit bis zum Essen anfangen sollte. Dann entschied er sich, Lurions Auftreten sozusagen zu strafen. Gewiss, Eri war erst neunzehn Korallenringe alt, aber es wurde Zeit, dem älteren Bruder die Grenzen zu zeigen. Er legte seinen Waffengürtel mit dem Jugendmesser an und paddelte eilig zur Jägergilde hinüber. Schon früh hatte der Prinz den Umgang mit Waffen erlernen müssen, und sein Vater sah es gern, wenn er sich an der Jagd beteiligte. Einer der wenigen Momente, da Ragdur den jüngeren Sohn überhaupt wahrnahm und ihn zudem nicht strafend oder verächtlich anblickte.
Lurions Blick allerdings war voller Dunkelheit, als er seinen Bruder eintreffen sah. Die Gesellschaft war bereits zur Jagd gerüstet und wartete auf das Signal, auch die Treiber mit ihren Netzen hatten sich versammelt. »Was willst du denn hier?«
»Ich komme mit«, erklärte Eri. »Urwig, gib mir eine Armbrust.« Zum Speerwerfen oder Lanzeführen war er noch nicht stark genug, dafür musste sein Körper erst ausgewachsen sein. Ebenso verhielt es sich mit dem Schwert, das ausschließlich im Nahkampf gegen einen großen Räuber eingesetzt wurde. Aber die Armbrust in der Hand eines Schützen, der gut zielen konnte, war eine tödliche, fast unschlagbare Waffe.
Als der Erbprinz merkte, dass die Jäger nichts gegen Eris Teilnahme unternehmen würden, fügte er sich notgedrungen. Natürlich wagte auch er es nicht, sich gegen ihren Vater aufzulehnen und seinem jüngeren Bruder die Jagd zu verweigern.
Darauf hatte Eri es angelegt; niemand ergriff für einen der Prinzen Partei, sie wurden genau gleich behandelt. Und er fühlte sich versöhnt, als Lurion ihm einen finsteren Blick zuwarf. Nun war der Ausgleich geschaffen, und der Spaß konnte beginnen.
Sie machten sich auf den Weg zu den Seeschwärmer-Gründen, am rechten Rand der Stadt gelegen, zum Vulkan hin. Die normalerweise sehr wilden Raubfische wurden von Hand aufgezogen und blieben dadurch dem Revier treu, in dem sie aufgewachsen waren. Sie ordneten sich den Nauraka unter und lebten miteinander im Verband. In Freiheit dagegen waren sie Einzelgänger, die von nahezu allen Meeresbewohnern gefürchtet wurden – mit Ausnahme derjenigen, die zu groß waren, um sich durch den Biss ihrer messerscharfen, dreigezackten Zähne auch nur gestört fühlen zu müssen.
Eri hatte als kleiner Junge davon geträumt, eines Tages derjenige zu sein, der die winzigen Fischchen aus dem Maul des Vaters stahl und in Sicherheit brachte, bevor er zerfetzt würde. Eine sehr gefährliche Aufgabe, die demjenigen, der sie erfolgreich bestand, hohe Ehren und Ansehen zuteil werden ließen. Kein Wunder, von zehn Mutigen kam höchstens einer mit dem Leben davon; vielleicht nicht in einem Stück, aber immerhin zum Triumphzug fähig.
Doch dann war die Sache mit Mhurin passiert, und Eris Vorstellung eines richtigen Helden hatte sich von Grund auf gewandelt. Wie schnell konnte es mit dem Leben vorbei sein! Und erst recht, wenn man es auch noch darauf anlegte. Darum hörte er zum ersten Mal auf seine Mutter und gab ihr das aufrichtige Versprechen, diesen Wahnsinn niemals zu versuchen. Eri wollte leben und so viel wie möglich von der Welt sehen. Er konnte seinen Mut anders unter Beweis stellen.
Eris Kiemen spreizten sich weit, als der Fels unter ihm steil nach unten abfiel und den Blick auf ein weites, direkt am Vulkan gelegenes Gebiet freigab, aus dessen Tiefe die Blumentiere heraufleuchteten, über denen majestätisch riesige Fische schwebten. Der breite, flache Körper der Seeschwärmer war zwei Mannslängen lang, der über eine Halsbucht mit dem Rumpf verbundene, spitz zulaufende Kopf mit den großen blau glühenden Augen noch einmal eine halbe Mannslänge. Der dünn auslaufende, mit einem Zackenstachel versehene Schwanz maß drei Mannslängen, und die weit ausladenden Flossenschwingen insgesamt vier. Ihre dunkelgraue Haut trug überall verschieden große, schwarze Ringe mit leuchtend gelben, blauen und grünen Tupfen darin. Auf große Entfernung löste sich das strahlende Punktgewirr im Dämmerlicht auf, und diese allesfressenden Räuber konnten sich unbemerkt heranschleichen, das Flirren des Zwielichts ausnutzend, bis ihre Konturen sich erst kurz vor der Beute deutlich herausschälten. Und dann war es zu spät. Erkenne einen Seeschwärmer, und du bist tot.
Manch ein Händler, der sich um besonderes Vertrauen verdient gemacht hatte, durfte die Überreste toter Seeschwärmer erstehen und weiterverkaufen. Ein sehr lukratives Geschäft, vor allem für Landgänger, das nur wenigen zugestanden wurde.
Die Nauraka waren die Meister der Seeschwärmer, aber sie respektierten die Fische und vergaßen nie die nötige Vorsicht im Umgang mit ihnen walten zu lassen. Auch, wenn sie durch die Handaufzucht an ihre Herren gebunden waren, blieben sie unberechenbar. Wie alles im Reich der See. Wahre Sicherheit gab es nie.
Die Jäger verteilten sich am Rand der Gründe. Jeder besaß seinen eigenen Fisch und erkannte ihn an dem einzigartigen Muster der Farbringe. Die Fische wiederum konnten ihre Herren nicht verwechseln – jeder blies mit der Muschelflöte einen ganz bestimmten Ton, der unverkennbar war und von keinem anderen benutzt wurde. Eri zog nun seine gewundene kleine Flöte hervor, setzte die Fingerspitzen an die Öffnungen und pfiff. Viele Landbewohner glaubten, die See wäre stumm, und die mit Kiemen Behafteten könnten keine Laute hervorbringen. Sie wussten es schlicht nicht besser, da ihr Gehör nicht darauf eingestellt war, um nicht zu sagen taub für die Welt unter Wasser. Denn nahezu jedes Wesen hier unten besaß eine Stimme, selbst einige der Korallen. Es herrschte niemals absolute Stille. Nirgends.
Aus der Masse sich windender Leiber löste sich ein Seeschwärmer und schwebte mit langsamen Schlägen auf Eri zu. Er hieß Dullo, war drei Korallenringe jung und somit noch nicht ganz ausgewachsen, aber bereits jetzt schon fast so groß wie der Schwarmführer, sein Vater. Er entstammte einer zahmen Zucht. An der linken Kopfseite prangte ein auffälliger roter, unregelmäßiger Fleck, der ihm den Namen eingebracht hatte. Selbst für ungeübte Augen war er leicht auszumachen.
Eri ließ sich in der schmalen Halsgrube nieder; der Fisch wurde nur mit Schenkeln und Füßen gelenkt, was enormes Geschick abverlangte. Wer nicht früh genug damit anfing, lernte es womöglich nie richtig. Eine falsche Bewegung, und es konnte das Ende sein. Eri und Dullo waren jedoch gut aufeinander eingespielt. Der Prinz hatte sich fast jeden Tag um den Heranwachsenden gekümmert, seit er nicht mehr als eine Fingerspanne lang gewesen war, und ihn spielerisch herangeführt, seinen Befehlen zu gehorchen.
Sein Herz pochte aufgeregt. Der Moment, den er am meisten liebte, wenn es zur Jagd ging, war gekommen: Der Aufbruch. Alle waren in froher Erwartung, die Seeschwärmer angespannt, konnten kaum gehalten werden. Und doch verwandelten sie sich nicht in die gefürchteten reißenden Bestien, gegen die die Nauraka keinerlei Chance hätten. Innerhalb weniger Herzschläge könnten die Fische hier ein Blutbad anrichten, und kein einziger Nauraka würde entkommen. Doch man nannte das Volk der Tiefe nicht umsonst heute noch respektvoll »Drachenzähmer«.
»Es gibt niemanden, der besser ist als wir!«, jubelte Eri, schwang die Armbrust und stieg mit Dullo schnell auf.
»Nicht aus der Reihe tanzen!«, mahnte Geror, der Oberste Jäger. Er führte den Befehl über die gesamte Schar, einschließlich der Treiber, und unterstand nur dem Hochfürsten selbst. Selbst Lurion musste sich seinen Anweisungen fügen. Geror war bereits grau, sehr erfahren und besonnen. Stets musste er die Jüngeren tadeln. Eri wusste, dass er früher ein rechter Draufgänger gewesen war – und einer der Überlebenden, der eine eigene Seeschwärmer-Brut aus den wilden Weiten aufzog. Nur zwei Finger der linken Hand hatte ihn seinerzeit das waghalsige Abenteuer gekostet und ihn deshalb in jungen Jahren in dieses hohe Amt befördert.
»Schon gut!«, rief Eri fröhlich. Er konnte es kaum mehr erwarten, und Dullo auch nicht. Endlich wurde der Befehl gegeben, und der junge Seeschwärmer breitete die Flossenschwingen zu voller Größe aus und begann kraftvoll zu schlagen. Sein Leib schoss wie ein Pfeil durch das Wasser, wühlte es durch seine schiere Masse auf, und Eri sah Dutzende Schwarmfische, die aufgescheucht vor ihnen flohen. Acht Jäger, zwei Späher, fünfzehn Treiber und die beiden Prinzen nahmen nach und nach ihre zugeteilte Position im Schwarm ein, und in geordneter Formation ging es los, hinaus in die tiefblaue See.
Die Stadt wurde immer kleiner und war bald nur noch ein schimmernder Punkt in unendlicher Dämmerung. Sie schwammen in die Weite hinaus, wo es nichts mehr gab außer Lichtschichten und der sandige Grund weit nach unten abfiel. Jeder Reisende, der zu besseren Nahrungs- oder Laichgründen wollte, musste die Weite durchqueren. Sie war niemals wirklich leer, auch wenn es manchmal nicht einfach war, auf jemanden zu treffen. Es konnte vorkommen, dass man mehrere Dämmerungszyklen reiste, ohne dass es zu einer Begegnung kam. Doch legte man es auf Heimlichkeit an, würde man sicher sofort entdeckt.
Die Späher waren schon nicht mehr zu sehen, und Eri genoss die Freiheit des Ritts hier draußen. Alle Strenge und Ordnung der Stadt lag hinter ihm, hier konnte er aufatmen und die Erhabenheit der See auf sich einwirken lassen.
Mittlicht brach an, und immer wieder tauchten sie ins Zwielicht ein, verschwanden an der Grenze zwischen Licht und Dunkelheit. Nicht nur die Seeschwärmer waren bestens daran angepasst, auch die Nauraka mit ihrer sanft schimmernden Haut, die auf große Entfernung wie ein zartes Lichtspiel wirkte, ein leichtes Flirren, das sich rasch auflöste.
Der erste Späher kehrte zurück und wies den Treibern mit den Netzen die Richtung zu einem großen Schwarm Meringis, unterarmlange, silbrige Fische mit köstlichem rotem Fleisch. Jeder einzelne Stadtbewohner würde davon seinen Anteil erhalten, wenn die Treiber sich mit den Netzen geschickt anstellten, und die Seeschwärmer würden ordentlich zu schleppen haben.
Es war die Pflicht des Hochfürsten, seine Untertanen zu ernähren, und unter Ragdurs Herrschaft hatte noch nie jemand Not leiden müssen. Der Fürst sorgte stets für Überfluss und Abwechslung, und alle dreißig Dämmerungszyklen lud er das Volk in die große Versammlungshalle zum Festmahl, wo es besondere Leckereien gab, wie etwa in Vulkanglut gerösteter Schwertfisch. Wer keinen Platz mehr in der Halle fand, wurde draußen versorgt, niemand kam zu kurz. Das war eines der wenigen Dinge, wofür Eri seinen Vater respektierte.
Auch der zweite Späher traf nun ein und meldete: »Ein Urantereo, nicht weit von hier!«
Diese Nachricht löste Aufregung unter den jungen Jägern aus. Ein Urantereo oder Schlängelaal maß über zwanzig Mannslängen und war zwei Mannslängen im Durchmesser dick. In seinem runden Schädel saßen Zähne, die so dick und scharf wie gezackte Felsblöcke waren und so groß wie der Kopf eines Nauraka. Nicht einmal Seeschwärmer griffen diesen Riesen an.
»Wir suchen einen anderen Räuber«, sagte Geror, aber diesmal widersetzte Lurion sich.
»Auf keinen Fall! Es kommt nur alle paar Korallenkronen vor, dass ein Urantereo sich so nah an unsere Grenze wagt. Ich werde mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen!«
»Und ich verbiete es«, widersprach der Oberste Jäger ungerührt, und die Erfahrenen stimmten ihm zu. »Wir ziehen hier nicht in eine Schlacht oder veranstalten eine tollkühne Mutprobe.«
»Das Urantereo-Fett kann uns lange Licht spenden, sein Fleisch in Vulkanglut gedörrt gibt der ganzen Stadt einen Korallenring lang Nahrung! Seine Haut kann zu Rüstungen und Waffenhalterungen verarbeitet werden. Und den Rest verkaufen wir an Hallog den Landhändler! Er macht uns reich!«
»Wir sind reich, königliche Hoheit.«
»Mein Vater ist reich, aber du nicht, und ich auch nicht! Mit dem Beuteanteil aber ändert sich das!« Der Erbprinz war so aufgebracht, dass er seine Hand unwillkürlich an den Waffengürtel legte.
Die übrigen Jäger erstarrten vor Schreck. Lurion war wegen seines aufbrausenden Temperaments gefürchtet. Aber niemand durfte ihn zur Rechenschaft ziehen, falls er Geror jetzt aus Wut tötete. Fürst Ragdur würde nur dann über ihn zu Gericht sitzen, falls der Prinz des Mordes bezichtigt würde – und das würde keiner wagen.
»Lass ihn uns wenigstens selbst in Augenschein nehmen, Meister Geror!«, rief Eri laut dazwischen. Er hoffte, dass sich sein Bruder durch die Ablenkung beruhigte. »Wir müssen abschätzen, welche Gefahr er darstellt – oder welche Beute.«
Zustimmendes Gemurmel seitens der jungen Jäger kam auf.
»Ich habe den Befehl, auf euch zu achten, und wenn ich euch wissentlich in Gefahr bringe, ist mein Leben verwirkt«, beharrte Geror. »Und zu Recht! Bei allem Respekt, verehrte Prinzen, aber ihr dürft euch nicht wie Heißsporne benehmen, dafür seid ihr von zu großer Bedeutung!«
»Ich schon, der bestimmt nicht«, sagte Lurion verächtlich und wies auf Eri. »Aber der Kleine hat recht. Gib den Weg frei, Geror. Du kannst meinem Vater sagen, dass du uns nicht aufzuhalten vermochtest.«
»Das wird ihn nicht interessieren, Herr.«
»Mich auch nicht, so oder so.«
Damit trieb der Erbprinz seinen Fisch an, und sämtliche jungen Jäger, einschließlich Eri, folgten ihm. Der Späher wies ihnen den Weg.
»Worauf wartet ihr?«, hörte Eri Geror hinter sich schimpfen. »Schützt die Prinzen mit eurem Leben, oder es ist früher verwirkt als meines!«
Geror und den restlichen Jägern blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen.
Bald sah Eri ein zunächst schmales dunkles Band in weiter Ferne, dem sie sich rasch näherten.
Der Urantereo ließ sich träge im Mittlicht dahintreiben. Eri musste unwillkürlich schlucken, als er den riesigen dicken Aal sah, der schon jetzt größer als alles war, was er in seinem bisherigen Leben erblickt hatte. Und dabei waren sie noch einige hundert Lichtbahnen entfernt! Der Leib wirkte grau und düster, ganz ohne Glanz, wie ein Eindringling, der nicht hierher gehörte.
»Bei allen Seedrachen …«, murmelte jemand.
Eri wäre am liebsten sofort umgekehrt, aber er wollte sich keine Blöße geben, erst recht nicht vor seinem Bruder.
Aber selbst Lurion, der seinen Fisch anhielt und verunsichert aussah, schien zu erkennen, dass Geror recht gehabt hatte – mit diesem Riesen legte man sich nicht an, auch nicht zu zehnt und mit Seeschwärmern als Verstärkung. Es war besser, nach anderer Beute zu suchen.
Doch es war bereits zu spät. Der Schlängelaal hatte sie gesehen, vielleicht auch gerochen. Plötzlich kam Leben in ihn … und er schwamm geradewegs auf sie zu. Sehr, sehr schnell.
»Also gut!«, rief Geror, der nie den Überblick verlor. Seine Stimme dämpfte augenblicklich die aufkommende Unruhe. »In Angriffsformation! Die Waffen bereit! Speer, Lanze und Armbrust angelegt!«
Lurion zog sein Schwert. Er benutzte nie eine andere Waffe auf der Jagd, war immer im Nahkampf, als befände er sich in einer Schlacht. Wenn der Erbprinz jemals Onkel Turéors Geschichten lauschte, dann nur jenen über Kampf und Krieg.
Er ist ein Idiot, dachte Eri panisch. Er wird sich umbringen. Und anschließend bringt Vater uns alle um. Der Erbprinz war Ragdurs Augapfel. Insofern der Fürst überhaupt für ein Wesen Empfindungen besaß, so war es dieses jüngere Abbild seiner selbst.
Automatisch lenkte der junge Prinz seinen Fisch an die rechte Flanke, nach außen und ein Stück nach hinten abgesetzt, damit er den Speerwerfern nicht im Weg war. Seine Armbrust reichte weiter. Mit sicheren Handgriffen spannte Eri die Sehne, legte einen Pfeil ein, schob den Arm in den Halteköcher und trieb Dullo an, während er die Ersatzpfeile in die Halterung an der rechten Seite setzte, um schnell Nachladen zu können. Eri war Rechtshänder, aber Zielen konnte er mit links besser.
Die Jägergruppe fiel scheinbar auseinander und bildete zwei Segmente, um den Urantereo zwischen sich in die Zange zu nehmen. Eris Kiemen spreizten sich weit, als das Untier viel zu schnell heranraste, bald so groß wie die Weite schien, die es vollständig ausfüllte. So etwas hatte er sich selbst in seinen kühnsten Träumen niemals auszumalen vermocht. Die vorderen Seeschwärmer waren nur noch winzige, auf- und abflirrende bunte Punkte. Eri verfluchte seinen törichten Bruder einmal mehr, und sich selbst, weil er mit auf die Jagd geschwommen war. Besser hätte er als Feigling dagestanden, wäre dann aber wenigstens noch am Leben. Sie hatten keine Chance gegen den Urantereo, der Kampf war aussichtslos und dumm. Das hatte nichts mehr mit Jagd oder Mut zu tun. Gewiss mochte diese Beute viel Lohn versprechen, aber den hatten sie doch gar nicht nötig. Jeder einzelne Darystis war wohlhabend. Onkel Turéor hatte immer vor solchen »Mutproben« gewarnt …
Geror gab seine Befehle schnell und prägnant, jeder wusste, was er zu tun hatte. Niemand achtete auf Lurion, der abseits auf die direkte Konfrontation wartete, da sowieso niemand in der Lage wäre, ihn aufzuhalten. Ihn unmittelbar zu schützen war nicht mehr möglich.
Und dann war der Urantereo heran. Eri dachte, es würde niemals ein Ende nehmen. Wie eine schwarze, eiskalte Flutmasse raste der Schlängelaal zwischen ihnen hindurch. Die Druckwelle brachte die Seeschwärmer zum Schwanken, und sie mussten heftig mit den Flossenschwingen schlagen, um die Position zu halten. Eri sah ein weit aufgerissenes Maul, in dem seine und Luris Gemächer Platz gehabt hätten, doch da war das Ungeheuer schon an ihm vorüber und schnappte an anderer Stelle zu. Einer der Jäger, der Schwierigkeiten hatte, seinen Fisch, der das Gleichgewicht verloren hatte, unter Kontrolle zu halten, verschwand in dem Maul. Die zuschnappenden Zähne rissen die Hälfte des Fischkörpers auseinander, der Rest sank in einem Schwall von Blut und erlöschenden Punkten nach unten.
Es gab keine Zeit für Entsetzen oder zum Innehalten. Gleichzeitig warfen die Jäger ihre Speere, die sich tief in den Aalleib bohrten, und dann rasten die Lanzenstecher nach vorn. Diese Lanzen waren nicht einfach nur Spieße: Die zusätzlich an der Spitze befestigten gewaltigen geschwungenen Sicheln mit Widerhaken machten aus ihnen furchtbare Waffen. Der Griff selbst war nur doppelt so lang wie ein Schwertgriff, danach begann schon die Klinge. Dementsprechend rammten die Jäger ihre Lanzen auch bis zum Heft in den gigantischen Leib des Urantereo, der jedoch keineswegs verlangsamte und sie mitriss, während sie sich an die Lanzen klammerten. Die nunmehr führerlosen Fische blieben nicht untätig. Sie wussten, was sie zu tun hatten, und griffen in geschlossener Formation an, schlugen die Zähne in die harte Haut und rissen in Blutwolken gewaltige Fleischfetzen heraus.
Dies alles war gleichzeitig geschehen, noch während des ersten Angriffs des Urantereo, während er durch die Jäger raste und erste Beute gemacht hatte. Die Formation war völlig aufgelöst. Die Lanzenträger befanden sich auf einem höllischen Ritt, die Seeschwärmer gerieten in Blutrausch, hingen zappelnd an dem Meeresriesen, und die Speerwerfer schickten die letzten Waffen auf die Reise.
Eri begann schon zu zweifeln, ob der Gigant überhaupt etwas spürte – obwohl der konzentrierte Angriff auf eine einzige Stelle furchtbare Wunden gerissen hatte –, als der Urantereo sich plötzlich krümmte und herumwarf. Mit unheimlicher Geschwindigkeit schwenkte er seinen Kopf hin und her, schnappte zu – und zwei weitere Jäger fielen ihm zum Opfer, die er mit gierigem Funkeln in den kopfgroßen, tiefroten Augen verschlang. Er stieß ein schrilles Pfeifen aus, das die Seeschwärmer vollends zur Raserei trieb. Sie vergaßen, dass sie zahm waren, kümmerten sich nicht länger um ihre Herren, die in ihren Nacken saßen, und stürzten sich in wilder Blutgier auf den Gegner.
Geror brüllte unbeirrt weiterhin Befehle: Sie sollten sich sammeln und gemeinsam auf eine ganz bestimmte Stelle einhacken, bis sie endlich auf das Rückgrat träfen. Nur so, wenn sie die Nervenbahnen durchtrennten, hatten sie überhaupt eine Chance.
Eri und der zweite Armbrustschütze mussten ihre Position halten, da ihre Pfeile an den riesigen Leib verschwendet wären. Augen, Nasenloch, Stirn, das waren ihre Ziele. Alles andere würde ihn kaum kitzeln.
Die vordere Hälfte des Urantereo war inzwischen mit Speeren und Lanzen gespickt. Gewaltige weiß schimmernde Löcher, aus denen das Blut nur so strömte, waren in seinen Körper gerissen, doch das hinderte ihn bisher nicht in seinen Bewegungen. Mittlerweile hatte er mehrere Seeschwärmer in Stücke gerissen, und die Nauraka hielten sich so dicht wie möglich an ihm, klammerten sich an den im Fischleib steckenden Speeren und Lanzen fest und hackten mit großen Dreiecksmessern auf ihn ein.
Lurion verlor die Geduld. Es ging ihm alles zu langsam, und er wollte endlich kämpfen. Geror schrie ihm zu abzuwarten, doch der Erbprinz hörte nicht auf ihn. Er lenkte seinen Fisch näher zum Kopf des sich windenden Riesen, dessen Bewegungen nun doch allmählich langsamer wurden, und reckte ihm das Schwert entgegen. Eri blieb vor Schreck das Herz beinahe stehen. Er hörte, wie Lurion etwas rief, verstand die Worte jedoch nicht.
»Erenwin!«, brüllte der Oberste Jäger verzweifelt. »Du bist am Nächsten dran, versuch es zu verhindern!«
Der junge Prinz zuckte erschrocken zusammen, dann war er augenblicklich bei der Sache. Er presste die Beine an den Fischhals, lenkte Dullo herum, auf den monströsen Kopf zu, und seinem Bruder hinterher.
Doch der Schlängelaal richtete seine Aufmerksamkeit bereits auf den Erbprinzen, der in rasender Geschwindigkeit auf ihn zuhielt, das Schwert auf die Stirn gerichtet, zum Stoß bereit. Ein tiefes Brummen ertönte, brachte die See zum Beben und ließ Dullo schlingern, als der Urantereo sich seinem Feind stellte, langsam das grausige Maul öffnete und die riesigen Kiemen, durch die ein Nauraka mühelos hindurchschwimmen könnte, weit öffnete. Alles schien sich zu verlangsamen.
Eri hörte sich aus weiter Ferne schreien, während Dullo mit gewaltigen Auf- und Abwärtsbewegungen seiner Flossen durchs Wasser tauchte, so schnell er konnte. Seine Kiemen stießen das Wasser in kräftigen Schüben aus, was sie zusätzlich vorantrieb. Anheben – einatmen, senken – Stoß.
Eri verließ sich auf seinen Fisch, hob die Armbrust und legte an, nahm als Stütze noch die rechte Hand zu Hilfe, da ihm nur Zeit für einen einzigen Schuss blieb. Er würde bei dieser direkten Konfrontation nicht mehr nachladen können.
Er schloss das schwächere Auge und fixierte sein Ziel: das linke Auge des Riesen. Noch hatte der ihn nicht bemerkt, und noch attackierte er Lurion nicht, der sich über ihm hielt und weiterhin auf die Stirn zielte.
Nur zwei Herzschläge, dann würde er Eris Bruder schnappen, und es war vorbei.
Aber Eri durfte sich dennoch nicht hetzen. Er hatte nur diesen einen Schuss, und dafür musste er so nah wie möglich heran, auch wenn das Auge riesengroß war. Der Pfeil musste ganz tief hinein, am besten bis ins Gehirn.
Lurion winkelte den Arm zum Schlag, jeden Moment war es so weit. Die Kiemen des Aals waren zum Ausstoß bereit.
Das linke Auge lag nun direkt vor Eri, der Urantereo bemerkte ihn jedoch nicht.
Ein Gedanke schoss ihm blitzschnell durch den Kopf: Das wird er mir nie verzeihen.
»Lurion, weg da!«, brüllte er. Dann löste er die Sehne.
Der Pfeil war schneller als jede andere Bewegung. Er prallte genau auf die Mitte des Auges und bohrte sich hinein, immer tiefer, bis er darin verschwand.
Der Kopf des Urantereo wurde von der Wucht des Einschlags zurückgeschleudert, sein Auge zerplatzte, und augenblicklich setzte der Schmerz ein. Das Wasser flimmerte unruhig, als er schrill aufschrie, seinen Körper krümmte, sich zusammenringelte und wieder öffnete, und sich erneut wand.
Lurion stieß einen wütenden Schrei aus, als er von der Druckwelle des Untiers zurückgeschleudert und mit seinem Fisch unkontrolliert durchs Wasser gewirbelt wurde. Die Jäger machten, dass sie von dem Riesen wegkamen, und versuchten die überlebenden Seeschwärmer einzufangen, um dem Kampf ein Ende zu bereiten.
Noch war es nicht so weit.
Dullo erkannte es schneller als Eri. Plötzlich warf er sich herum, so abrupt, dass der junge Prinz beinahe den Halt verloren hätte, und sauste in die Tiefe. Eri versuchte einzugreifen, ihn zu halten, aber vergeblich. Kein Wunder. Der Urantereo war bereits hinter ihnen her, rasend vor Schmerz und Wut. Er hatte nur noch ein Ziel: denjenigen zu zerfetzen, der ihm das angetan hatte. Schrill schreiend nahm er die Verfolgung auf, doch der Pfeil musste ihn schwer verletzt haben, er war deutlich langsamer als zuvor, und immer wieder krümmte er sich zusammen.
Eri hatte sich inzwischen im Nacken umgedreht. Er verkeilte sich mit den Knien, spannte die Armbrust erneut und legte den nächsten Pfeil ein. Er konnte Dullo sowieso nicht lenken, also war es wohl besser, einen zweiten Versuch zu wagen, der vielleicht noch erfolgreicher war.
Allerdings sollte er sich beeilen, denn der Seeschwärmer tauchte unablässig immer tiefer ab. Hier unten war Mittlicht bereits vorüber und Dunkeldämmer setzte ein, die Sicht wurde also rasch schlechter. Aber Eri konnte durch die heftigen Schwimmbewegungen kaum zielen. Dullo war schnell genug, den verletzten Urantereo auf Abstand zu halten, konnte ihm jedoch nicht entkommen. Eri erkannte am Geschmack des Wassers, dass sie sich auf vertrautes Gebiet begaben, und geriet in Panik, weil Dullo zu den Gründen wollte und damit den Meeresriesen in die Stadt lockte. Nicht auszudenken! Er spürte mehr, als dass er es sah, dass die Flanke des Vulkans aus dem Dämmer auftauchte, es konnte also nicht mehr weit sein.
Nicht versagen, nur nicht versagen, dachte er mit klappernden Zähnen, sonst wird die ganze Stadt vernichtet, und es ist alles meine Schuld.
Der Urantereo schrie, riss das Maul auf und blähte die Kiemen, nahm seine Kräfte ein letztes Mal zusammen, um den Feind, der ihm diese schrecklichen Schmerzen zugefügt hatte, einzuholen.
Eri bemühte sich seine Angst zu unterdrücken, versuchte die zitternden Hände ruhig zu halten und zu zielen, während Dullo in wilden Schwüngen dahinraste. Der Prinz war ganz allein, Geror konnte ihn nicht mehr anleiten, alles lag nun an ihm. Niemand, der ihm helfen würde. Niemand, der verhindern konnte, was jetzt geschah.
Ein Schuss hatte gesessen, weil Eri blind den Anweisungen folgte, alles ausgeschaltet und sich nur auf das Ziel konzentriert hatte. Er hatte gar nicht so recht begriffen, was vor sich ging. Doch jetzt …
Jetzt musste er sich zusammenreißen.
Es war gar nicht anders als vorhin, um keinen Deut.
… bis auf den Umstand, dass der Abstand noch viel zu groß war, die Sicht dabei immer schlechter wurde und die Heimat bald erreicht war.
Vorhin musste er nur seinen Bruder retten. Jetzt die ganze Stadt. Also … im Grunde dasselbe, oder?
Mit einem wilden Schrei zielte Eri auf das rechte Auge des Riesen und löste die Sehne.
Ein heftiger Sturm brach aus, als auch dieser Pfeil sein Ziel traf und das zweite Auge zerplatzte. Der Todeskampf des Urantereo wühlte die See auf, brachte selbst die Lichtschichten durcheinander, und flirrende Glutlichter breiteten sich aus. Eri und Dullo wurden davongewirbelt. Sie drehten sich um ihre eigene Achse, während der schwarze Fels des Vulkans rasend schnell näher kam. Schließlich konnte der Prinz sich nicht mehr halten und wurde in dem Moment aus dem Nacken des sich verzweifelt drehenden und bockenden Seeschwärmers geschleudert, als sie den Vulkan erreichten.
Eris Kiemen wurden zusammengepresst, als er rücklings gegen den harten Fels prallte und mit dem Kopf aufschlug. Brennender Schmerz flammte in seinem Schädel auf, vor seinen Augen flimmerte es und zugleich wurde es dunkler. Er versuchte zu schwimmen, konnte jedoch die Arme nicht mehr bewegen. Dullo schlug einen Haken, wendete und schwamm flossenschlagend davon.
»Dullo!«, versuchte Eri seinem Tiergefährten nachzurufen, aber nur ein unartikuliertes Blubbern kam hervor. »Dullo …«
Dann verlor er das Bewusstsein.
Davon erwachte Eri: Es war zu still. Er erschrak so sehr darüber, dass er mit einem Ruck wieder bei sich war und sich panisch umsah. Sein Schädel brummte, doch dieses Geräusch reichte nicht aus, um ihn zu beruhigen.
Ich sinke, dachte er. Oder schwebte er? Nein, es ging nach unten, er konnte es am zunehmenden Druck auf seine Ohren spüren. Und es wurde immer dunkler. So tief unten war Eri noch nie gewesen, und es war zudem auch streng verboten. Es gab Orte, an die durfte nicht einmal ein Nauraka gelangen, das hatte schon sehr lange Tradition. Gerade der Hochfürst wahrte sie, und er achtete daher streng auf Einhaltung des Tabus. Selbst Eri hatte noch nie gewagt, dagegen zu verstoßen, denn Onkel Turéor warnte ihn besonders davor, allzu leichtsinnig zu sein:
»In den Tiefen lauern Gefahren, die vor allem junge Heißsporne meiden müssen. Hör auf mich, Eri, nur dieses eine Mal: Wenn du je Abenteuer erleben willst, so übertrete andere Verbote und schau dich überall um – aber überschwimme niemals die Grenze des Zwielichts. Was dort unten im Abgrund lauert, ist der Tod für alle Nauraka.«
Es gab genügend andere Dinge, die erforscht werden wollten, deswegen fiel Eri es leicht, das Tabu zu respektieren. Er begnügte sich damit, manchmal an den Rand des Abgrunds zu schwimmen, wo die dunkle Seite des Vulkans steil abfiel in die Finsternis, ohne dass man je den Grund sehen konnte. So erpicht darauf, herauszufinden, was in der Schwärze lauerte, war der Knabe nicht, und auch kein anderer Draufgänger seiner Altersgruppe. Natürlich kamen sie immer wieder gern hierher, um einen grusligen Schauder zu spüren, sich gegenseitig zu necken und mit Vermutungen, was dort unten lauerte, Angst einzujagen.
Dass er eines Tages die Grenze über den Graben unfreiwillig übertreten würde, hätte er nie gedacht. Wieder mal typisch – er hätte ja auf dem sicheren Sand landen können. Aber nein, er war nach dem Unfall auch noch in den Graben gesunken, und bestimmt hatte es niemand bemerkt. Sicher würden alle glauben, dass der Urantereo ihn vor seinem Tod noch gefressen hatte. Ob der Hochfürst öffentliche Trauer anordnen würde? Wahrscheinlich nicht. »Dein Vater wollte aus politischen Gründen unbedingt noch ein Mädchen«, hatte seine Mutter einmal zu ihm gesagt. »Wäre Lurdèa vor dir geboren worden, hätte es dich nie gegeben.« Das war also die Wahrheit. Eri hatte nie mit jemand anderem darüber gesprochen. Aber er verstand seither, weswegen sein Vater ihn nicht beachtete.
Eri versuchte erneut, seine Arme und Beine zu bewegen, doch es gelang ihm nicht. Seine Gliedmaßen waren von dem Aufprall immer noch wie taub, erst ganz langsam kehrte ein kribbelndes Gefühl zurück, doch er war noch nicht in der Lage, die Muskeln anzuspannen.
Das war also der Grund, weswegen kein Nauraka die Grenze überschreiten sollte. Es war so dunkel hier unten, dass selbst Eris scharfe Augen, denen normalerweise ein schwacher Lichtpunkt zur Sicht genügte, nichts mehr erkennen konnten. Schwärzer als der Vulkan, so kam es ihm vor, denn er konnte nicht einmal mehr dessen Umrisse ausmachen; und stiller als der Tod. Pures Grauen erfasste den jungen Mann. Selbst bei Mhurins Tod damals hatte er sich nicht so gefühlt. Bin ich taub? Blind?, fragte er sich panisch und überlegte, zaghaft hinauszurufen … aber wer wusste schon, was er damit anlockte! Hier unten mussten die Ungeheuer leben, von denen die Alten immer Schauermärchen erzählten, um die Kinder zu erschrecken. Lautlos, finster und tödlicher als alles andere. Es gab viele Geschichten von kühnen Helden, die für immer hier unten verschwanden.
Nein, Eri war nicht taub und blind, dessen war er nun sicher. Wenn er die Augen schloss, war es eine andere Finsternis als jene, sobald er die Lider und Nickhäute öffnete. Und er hörte das Blut in seinen Adern pochen, das seinen geschundenen Kopf wie eine Gasblase aufblies.
Es ging abwärts, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Der Druck nahm zu, er hatte Mühe, zu atmen. Das Rauschen in seinem Kopf wurde stärker. Eri geriet mehr und mehr in Panik, doch er war ein Gefangener seines nach wie vor von der Wucht des Aufpralls gelähmten Körpers. Erneut verlor er das Bewusstsein.
Dann war er wieder da. Wie lange er bewusstlos gewesen war, konnte Eri nicht einmal ahnen. Doch etwas hatte sich verändert. Der Druck war plötzlich fort, auch der Schmerz in seinem Kopf.
Jetzt war es wirklich still.
Lautlos.
Es war beängstigend und faszinierend zugleich. Eri hätte nie geglaubt, dass so etwas Absolutes möglich war. Mehr noch als die Finsternis, die ihn umgab. War dies noch das Meer, das er kannte?
Das Wasser war kalt und hatte einen seltsamen Geschmack. Alt, irgendwie, und doch auch … sehr frisch, sehr rein. Das Atmen fiel auf einmal leichter … so sehr, dass Eri sich halbwegs berauscht fühlte, fast so wie damals, als er zum ersten Mal vergorenen Sandkürbis verkostet hatte. Dabei war das harmlos im Vergleich zur ausgepressten, verkochten, durch lange Lagerung vergorenen Seegurke. Lurion mochte das Gesöff lieben, Eri ekelte sich davor. Er hatte nichts gegen frisch filetierte Seegurke, aber so zubereitet …
Pah, jetzt wäre mir das egal, dachte Eri vergnügt und kämpfte mit einem Schluckauf. Ssso wass Gutes wie hier habbich noch nnnie geschmeckt …
Dieses Wasser bot alles an Nahrung und Annehmlichkeiten, was man sich nur wünschen konnte, so schien es Eri. Da war auch die Finsternis nicht mehr gar so erschreckend, auch wenn er sich immer noch ziemlich beengt fühlte. Und er hätte schon gern gewusst, wo er sich befand, und ob es aufwärts, seitwärts oder abwärts ging. Er konnte es nicht mehr feststellen.
Immerhin gehorchten ihm Arme und Beine endlich wieder. Die Koordination klappte zwar noch nicht so recht, vor allem, weil es unangenehm kalt war, aber das spielte momentan keine besondere Rolle – er hatte sowieso völlig die Orientierung verloren.
Das lauerte also in der Tiefe: Kälte und Rausch. Der möglicherweise nie ein Ende fand. Kein Wunder, dass einstmals das Tabu gesetzt wurde! Nur, wer hatte es als Erster ausgerufen, und woher wusste derjenige, dass es keine Rückkehr mehr gab?
Mit diesen Fragen konnte Eri sich jedenfalls die nächsten Korallenstäbe über beschäftigen, während er hier einsam durch die stille Leere trieb. Sterben würde er wohl nicht so schnell, er fühlte sich jetzt bedeutend kräftiger als vorher, spürte die Nachwirkungen des Aufpralls gar nicht mehr. Nauraka waren außerdem sehr zäh, sie konnten lange ohne Nahrung auskommen, indem sie ihre Lebensfunktionen verlangsamten.
Plötzlich spürte Eri eine Erschütterung, als eine Welle gegen ihn schlug. Hier lebte also doch etwas! Schlagartig war er wieder nüchtern und wachsam. Sein Herzschlag dröhnte in der Stille. Was immer dort draußen in der Finsternis war, konnte ihn jetzt hören. Wahrscheinlich sah es den jungen Nauraka bei jedem Pochen wie einen Lichtpunkt aufglühen und wieder erlöschen.
Eri versuchte, sich unter Kontrolle zu bekommen, doch er war zu verwirrt, und alles wirbelte in seinem Kopf durcheinander. Hektisch drehte er sich, versuchte durch die Dunkelheit zu spähen. Er konnte nicht einmal sein eigenes Schimmern erkennen, wenn er den Arm vor sich hielt, es wurde von der Schwärze verschluckt.
Die nächste Welle drückte ihn beiseite. Und dann spürte Eri es deutlich. Die Anwesenheit eines anderen Geschöpfes, das … groß war. Viel, viel größer als der Urantereo. Es bewegte sich langsam an ihm vorbei, Welle um Welle. Eri zählte in Gedanken mit, wie viele Wellen er empfing, und wie lange es seinem Gespür nach dauerte, bis der Gigant vorbei war.
Ein Sandkorn. Zwei Sandkörner. Drei …
Zehn Sandkörner maßen etwa … nein. Nein, das war unmöglich. Und es hörte immer noch nicht auf. Bewegte sich träge seitwärts, wie ein Fisch, nicht wie ein Nauraka oder Seeschwärmer auf und ab. Welle, Sog. Welle, Sog. Es nahm kein Ende.
Eri war vor Entsetzen einer erneuten Ohnmacht nahe. Er war zwar sicher, dass dieses riesige Wesen nicht an ihm interessiert war, ihn vermutlich nicht einmal bemerkt hatte. Für dieses Geschöpf war er nicht größer als ein Sandfloh. Doch ihn verstörte die Unfassbarkeit eines solchen Ungetüms, das offensichtlich die Ausmaße eines Berges hatte. Wenn er sich nicht verrechnet hatte, war er bereits bei fünfzig Mannslängen angelangt.
Einundfünfzig …
Endlich, bei fünfundfünfzig, war Schluss. Eri spürte nur noch eine leichte Welle, und dann entfernte sich das, was ihn wie eine schwere Last bedrückt hatte, und war schließlich verschwunden.
Der Prinz schlotterte am ganzen Leib. Er war sicher, dass diese Art Begegnung nicht die letzte sein würde – und dass er vermutlich noch gar nicht auf den größten Bewohner dieser Tiefe getroffen war.
Ich-ich-ich will zurück, dachte er panisch. Nach Hause, sofort, hier kann ich nicht bleiben. Ich kann zwar durch die Leere treiben, aber nicht durch … das hier. Lautlosigkeit, jedoch nicht leer. Das ertrage ich nicht …
Als hätte ihn jemand gehört, sah er auf einmal kleine Lichtpunkte.
Sie waren winzig, kamen aber rasch näher – und da sausten sie auch schon an ihm vorbei, flirrende, bunte Lichter mit heftigen Flossenschlägen, die der Spur des Giganten folgten. Sie besaßen riesige Augen, die gut ein Viertel ihrer Körpergröße ausmachten, ein weiteres Viertel nahm das weit geöffnete Maul mit langen, spitzen Zähnen in Anspruch, aber insgesamt waren sie nicht größer als eine geballte Faust. Immer mehr tauchten auf, formierten sich zu einer regelrechten Lichterwolke, die Eri in die Mitte nahmen und ohne langsamer zu werden links und rechts an ihm vorbeischwirrten. Kurz darauf wurden die Pünktchen schon wieder von der Finsternis verschluckt, und Eri war erneut allein. Aber er hatte sich gemerkt, wie die kleinen Fische geschwommen waren, wusste nun endlich die Richtung und entschloss sich jetzt, bis zum Ende zu tauchen. Irgendwo dort unten musste der Grund sein. Es gab keinen endlosen Abgrund. Entweder, er kam auf der anderen Seite der Welt wieder heraus, oder er stieß auf den Boden. Eri war tiefer geschwommen als jeder Nauraka, den er kannte, nicht einmal Onkel Turéor hatte hierüber eine Geschichte gewusst. Also würde er jetzt nicht mittendrin umdrehen, so weit würde er nie wieder kommen.
Eri stieß hinab.
Sein Körper gehorchte ihm wieder vollends, und er tauchte zügig abwärts. Eri hoffte, dass er nicht versehentlich mit jemandem zusammenstieß, denn seine Sinne waren hier unten weitgehend stumpf. Er konnte den Geschmack des Wassers nicht einordnen, und die Anwesenheit des Giganten oder der Fische hatte nicht das übliche rechtzeitig warnende Kribbeln auf seiner Haut verursacht. Erst sehr spät hatte er sie bemerkt. In dieser Tiefe war er mit nichts verbunden, als wäre er abgeschnürt, ja … auf dem Trockenen? So mochte es sein, nach allem, was der Prinz von den Händlern gehört hatte. Die Landbewohner waren einander bei weitem nicht so eng vertraut wie die im Wasser Lebenden. Alle Höhen und Tiefen waren hier gleich, man schwebte leicht hindurch, konnte sich auch einfach dahintreiben lassen. Das alles war an Land anscheinend nicht möglich, dort spürte man sein eigenes Gewicht, war an den Boden gefesselt, wenn man nicht gerade Flügel besaß … und trotzdem, das würde Eri gern einmal kennenlernen. Onkel Turéor hatte von der Sippe erzählt, die einst das Meer verließ und nie zurückkehrte. Ein letzter Nachfahre sollte heute König sein in einem fernen Land. Durch ihn, so hieß es, sei Waldsee gewandelt worden und stünde jetzt unter dem Schutz des Siebensterns, sicher vor allen Angriffen. Eri begriff das alles nicht so recht, aber er wollte gern wissen, ob dieser König, der nunmehr als Landbewohner lebte, noch wie ein Verwandter war, ob sie einander verstanden oder sich fremd waren.
Überhaupt: Sterne. Und Monde. Himmel. Auch das wollte Eri einmal sehen. Ein paar Mal war er schon nahe dran gewesen, an die Oberfläche des Wassers zu schwimmen. Als Nauraka war er schließlich dazu in der Lage, das Wasser zu verlassen, genau wie seine Vorfahren, denn er besaß Lungen und konnte auch an Land atmen. Er vermochte sogar aufrecht zu gehen, sobald er sich an die Schwere gewöhnt hätte. Aber bisher war es ihm nicht gelungen, so weit hinaufzukommen. Der Hochfürst ließ die Schicht, wo das Sonnenlicht begann, streng bewachen, keiner durfte aus dem Zwielicht darüber hinwegschwimmen. Gefahren lauerten dort, denen die Nauraka nicht begegnen konnten, hieß es – und niemand sollte wissen, dass es sie noch gab, und wo sie lebten. Da war Onkel Turéor ausnahmsweise derselben Meinung: »Wir sind ein heimliches Volk, Eri. Einmal schon waren wir dem Untergang nahe. Unser ganzes Volk wäre damals untergegangen, wenn die königliche Sippe das Meer nicht verlassen hätte. Doch der Alte Feind ist nicht vernichtet. Er ist noch immer dort draußen und sucht nach uns.«
Eri verstand nicht viel von dem Geschwafel (so empfand er es, auch wenn er sich ein bisschen dafür schämte), immer diese Warnungen, Hinweise auf alte Mythen, verdreht und kryptisch. Manchmal hielt selbst er den alten Mann, den er sonst sehr respektierte, für einen verwirrten Knurrhahn. Tatsache aber war, dass Eri bisher an den Wachen nicht vorbeigekommen war, egal welche Tricks er auch versuchte.
Nun gut. Dann schwamm er jetzt eben genau in die andere Richtung – hinab in die unbekannte Tiefe, und niemand hinderte ihn daran.
Ab und zu fragte sich Eri, wie lange er wohl schon hier unten war. Er hatte keinerlei Zeitgefühl mehr, und seltsamerweise empfand er keine Müdigkeit, obwohl er unentwegt tauchte. Die Bewegung half zudem gegen die Kälte, die ihm immer mehr zusetzte. Ihm war nichts mehr begegnet, und er sehnte sich auch nicht danach. Er war sicher, dass die Richtung immer noch stimmte, dass er nicht versehentlich in die Waagrechte abgedriftet war und nun bis ans Ende der Umschließenden See in Dunkelheit schwamm …
Doch dann änderte sich tatsächlich etwas. Und er wusste, er hatte es geschafft. Unter ihm milderte sich die Finsternis allmählich ab, wurde … grau. Durchlässiger. Bald konnte der Prinz sein eigenes Schimmern sehen, und es wurde zusehends heller. Eris Herz pochte wild; er hatte nicht gewusst, was er erwarten sollte, und natürlich vom Licht geträumt. Dass es nun tatsächlich geschah …
Zielstrebig schwamm er weiter, dem Licht entgegen. Bald hatte er die Schwelle des Zwielichts durchquert, und er sah eine mattdämmrige, hellgraue Weite um sich. Und von unten herauf strömte es noch heller, spielte mit den Wellen und schaukelte sanft. Licht. In dieser absoluten Tiefe! Eri musste zuerst die Nickhaut schließen und dann mehrmals blinzeln, bis seine empfindlichen Augen sich wieder daran gewöhnt hatten.
Und da sah er den Grund unter sich. Eris Kiemen blähten sich weit vor Aufregung, und er sog das kalte, jetzt würzige Wasser tief ein.
Ein leuchtender Algenteppich erstreckte sich, so weit Eri blicken konnte. Die Grundfarbe mochte Purpur sein, mit vielen gelben, blauen und roten Flecken dazwischen, und aus dem Teppich heraus wuchsen grüne, sich vielfach verzweigende Tangschlingen. Polypen erstreckten sich wie Bäume aus dem Sandboden, mit feinen Ästen und Zweigen, die sich sacht in der Strömung wiegten. An vielen Stellen stiegen Luftblasen wie Vorhänge auf, die sich hoch oben in der Finsternis verloren. Zwischen den Polypen schwammen leuchtend bunte Fische durch den Algenteppich. Riesige Scherenstelzer, mehr als doppelt so groß wie Eri, stolzierten über den Teppich, stocherten darin herum. Die Vielfalt an Leben war kaum zu überschauen, und der junge Nauraka konnte nur so staunen. In einiger Entfernung erkannte er eine schwarze Felswand – der Vater-Vulkan! Also hatte es ihn nicht einmal weit abgetrieben, stellte Eri glücklich und aufgeregt fest. Er hatte einen Anhaltspunkt, der ihm die Richtung nach Hause wies.
Aus dem Algenteppich ragten brodelnde Kamine des Vulkans, und Schlünde, aus denen glühendes Licht strömte, das sich wallend mit dem kalten Wasser mischte. Kein Wunder, dass es hier unten wärmer und vor allem hell war – es gab nichts, das kein Licht abgab. Bis auf die schwarzen Schlote vielleicht, doch auch sie spien ab und zu Funken.
Und das also war tabu? Der Tod der Nauraka? Eri verstand es nicht. Sicher, die Reise hierher war alles andere als ungefährlich, lange und ermüdend, und lohnte sich vermutlich auch nicht. Aber warum durfte niemand sehen, dass es ganz unten in der Tiefe so viel Leben gab?