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Buchpaket 20 Romane ungekürzt in einem Bundle zum vergünstigten Preis statt 69,90 der einzelnen Ausgaben. Das Ende der Anderswelt naht! Es gibt die Unsterblichen wirklich: Elfen, Feen, Vampire, Götter, Fabeltiere … und sie leben gleich nebenan. Alle Mythen und Legenden der vielen Ethnien sind wahr. Seit Jahrhunderten sind die Grenzen zwischen den Welten geschlossen. Doch dann geschieht etwas, das unmöglich scheint: Die Zeit bricht in die Anderswelt ein, die Grenzen werden durchlässig. Die Suche nach dem Quell der Unsterblichkeit beginnt! Komm mit auf die Reise durch die Welt, besuche alle Kontinente, entdecke Geheimnisse an den ungewöhnlichsten Orten!
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Seitenzahl: 7985
Es gibt die Unsterblichen wirklich: Elfen, Feen, Vampire, Götter, Fabeltiere … und sie leben gleich nebenan.
Seit Jahrhunderten sind die Grenzen zwischen den Welten geschlossen.
Doch dann geschieht etwas, das unmöglich scheint: Die Zeit bricht in die Anderswelt ein, die Grenzen werden durchlässig. Die Suche nach dem Quell der Unsterblichkeit beginnt!
Alle Bücher sind auch einzeln als Printausgabe erhältlich.
Das Elfenzeit Logo ist ein eingetragenes Design.
© des Bundles2023 by Fabylon Verlagwww.fabylon.deeMail: [email protected]. Alle Rechte vorbehalten.eISBN: 978-3-946773-46-7
Es gibt die Unsterblichen wirklich: Elfen, Feen, Vampire, Götter, Fabeltiere … und sie leben gleich nebenan.
Seit Jahrhunderten sind die Grenzen zwischen den Welten geschlossen.
Doch dann geschieht etwas, das unmöglich scheint: Die Zeit bricht in die Anderswelt ein, die Grenzen werden durchlässig. Die Suche nach dem Quell der Unsterblichkeit beginnt!
Die erfolgreiche, leicht chaotische Journalistin Nadja Oreso freut sich auf die Modenschau in Paris. Sie traut ihren Augen nicht, wer da über den Catwalk tänzelt: Eine ätherische Frau, deren Füße den Boden nicht berühren und die ihren Schatten verliert!
Zusammen mit ihrem Kollegen und Freund Robert Waller wird Nadja in das außergewöhnlichste Abenteuer ihres Lebens hineingezogen, als sie heimlich der Elfe folgt und dabei einem finsteren Geschöpf, dem Mann ohne Schatten, in die Quere kommt.
Die Ereignisse spitzen sich dramatisch zu, denn unerklärliche Fälle plötzlicher Komazustände häufen sich, die immer tödlich enden. Als würde den Betroffenen das Leben ausgesaugt … oder die Seele.
Nadja und Robert ahnen, dass der Mann ohne Schatten dafür verantwortlich ist. Oder ist es das unheimliche Wesen, dessen fremde Augen aus Spiegeln blicken? Die Spur führt ins britische York, wo es während des Guy-Fawkes-Festivals zu weiteren unerklärlichen Todesfällen kommt – ein neuer Softdrink scheint dafür verantwortlich zu sein. Der Produzent ist ein Elf …
Zwei Romane in einer Ausgabe – Spannung pur!
Band 1 von 10 der größten Urban-Fantasy-Saga.
Uschi ZietschMichael Marcus Thurner
Band 1
Herbstfall
Uschi Zietsch publiziert seit 1986 erfolgreich in verschiedenen Genres und kann auf weit über zweihundert Veröffentlichungen zurückblicken.
www.uschizietsch.de
Michael Marcus Thurner veröffentlicht (Dark) Fantasy und Science Fiction und verfasst seit vielen Jahren Romane für Perry Rhodan.
www.mmthurner.at
Dieser Titel ist auch als Printausgabe erhältlich.
Das Elfenzeit Logo ist ein eingetragenes Design.
Die Karte schuf Dirk Schulz, AnimagicLektorat und Redaktion: Uschi ZietschHandlungsrahmen und Serienkonzept: Uschi Zietsch© dieser überarbeiteten und erweiterten Ausgabe2020 by Fabylon Verlagwww.fabylon.deeMail: [email protected]. Alle Rechte vorbehalten.eISBN: 978-3-946773-18-4
Karte
Einführung/Dramatis personae
1. Roman – Der Hauch der Anderswelt
Prolog – Es beginnt
1. Kapitel – Paris im Herbst
2. Kapitel – Unsichtbar
3. Kapitel – Das Baumschloss: Nach dem Erwachen
4. Kapitel – Boy X in Paris
5. Kapitel – Die Suche beginnt
6. Kapitel – Verschwindibus
7. Kapitel – In der neuen Welt
8. Kapitel – Die leeren Augen
9. Kapitel – Schattenland
10. Kapitel – Der verlorene Schatten
11. Kapitel – Elfen in Paris
12. Kapitel – Wie zu wenig Butter auf zu viel Brot
13. Kapitel – Der erste Stab
14. Kapitel – Recherchen
15. Kapitel – Die Warnung
16. Kapitel – Das Überschreiten der Grenze
17. Kapitel – Der Weg zum Quell
18. Kapitel – Abschied
2. Roman – Im Reich der Dunklen Frau
1. Kapitel – Gofannon: Ein unwiderstehliches Angebot
2. Kapitel – Ankunft
3. Kapitel – Gofannon: Täuschung und Tarnung
4. Kapitel – Die Oberen und die Unteren Zehntausend
5. Kapitel – Gofannon: Die Niederlage
6. Kapitel – Flucht durch die Stadt
7. Kapitel – Gofannon: Folter und Entscheidung
8. Kapitel – Die Einladung
9. Kapitel – Gofannon: Die neue Heimat
10. Kapitel – Eine Frau zum Verlieben?
11. Kapitel – Gofannon: Die Mühen der Ebene
12. Kapitel – Geschichte und Geschichten
13. Kapitel – Gofannon: Die Schatulle
14. Kapitel – Ein Feiertag in London
15. Kapitel – Gofannon: Der Rückmarsch
16. Kapitel – Im Schatten des Baums
17. Kapitel – Gofannon: In der Zitadelle
18. Kapitel – Trost und Rat
19. Kapitel – Gofannon: Ein neuer Auftrag
20. Kapitel – Ernüchterung
21. Kapitel – Gofannon: Fanmórs Fluch
22. Kapitel – Jede Menge Körperlichkeit
23. Kapitel – Gofannon: Die Geburt eines neuen Gottes
24. Kapitel – Erste Hilfe
25. Kapitel – Im Nebel der Zeit
26. Kapitel – Gofannon: Zeuge der Geschichte
27. Kapitel – Zusammenhänge
28. Kapitel – Seelenfraß
29. Kapitel – Aufräumarbeiten
Anhang: Über Elfen
Wie es weitergeht …
Feen, Fairys, Elfen, Götter, Vampire, Kobolde, Riesen, Fabeltiere und viele mehr – alle magischen, mächtigen und übernatürlichen, allesamt unsterblichen Wesen haben sich vor langer Zeit hinter die Grenzen der Anderswelt zurückgezogen. Einst waren alle neun Welten miteinander verbunden, die Menschen- und die Anderswelt der Elfen zudem freundschaftlich, sie waren praktisch wie eine Welt. Doch mit Ausbreitung der Menschen und zunehmendem Fortschritt zogen sich die Elfen immer mehr zurück. Nachdem die Menschen den Unsterblichen zudem immer mehr Misstrauen entgegenbrachten, da sie selbst nur kurzlebig waren, was schließlich in Kampf und Krieg mündete, wurde die endgültige Grenze zwischen den Welten gezogen.
Die nachkommenden Menschengenerationen bewahrten sich die Mythen, Sagen und Legenden, doch sie glaubten nicht mehr daran. Höchstens im Sinne des Aberglaubens.
Wir filtern heutzutage unsere Sicht und sind nicht mehr in der Lage, Magie zu erkennen. Obwohl manche magischen Wesen damals in unserer Menschenwelt blieben und noch heute mitten unter uns leben, werden sie nicht mehr als solche wahrgenommen.
Dennoch gibt es immer wieder Menschen, die – wissentlich oder nicht – eine Veranlagung als Grenzgänger besitzen und in der Lage sind, magische Wesen zu sehen oder die Anderswelt zu betreten. Auch gibt es Zauberer, Wahrsager und andere, deren Gesichtsfeld erweitert ist. Diese halten sich jedoch genauso verborgen wie die Elfen, um nicht als Spinner abgetan zu werden – oder sie kaschieren ihre Künste geschickt.
Die Grenzen sind keineswegs undurchlässig. Es gibt weltweit Portale und Tore zu den jeweiligen Anderswelten.
Bis zu dem Tag, an dem die Elfenzeit beginnt …
Nadja Oreso ist 25 Jahre alt, geborene Münchnerin mit italienischen Wurzeln. Als freiberufliche Journalistin genießt sie das ungebundene Leben und die ständigen Ortswechsel. Privat häufig chaotisch, ist sie im Beruf professionell. Ihr Appetit – ohne dabei zuzunehmen – ist legendär.
Robert Waller ist 45 Jahre alt, Münchner, und die meiste Zeit als Fotograf mit Nadja unterwegs. Ebenso wie sie ist er ungebunden, aber auf melancholische Weise. Er träumt seit langem von seinem großen Roman.
Rhiannon/Rian Bonet ist selbst als Elfe noch jung, sieht wie Anfang 20 in der Menschenwelt aus. Sie ist die Prinzessin der Sidhe Crain, deren Vater Fanmór über das Reich Earrach herrscht. Sie ist Dafydds Zwillingsschwester.
Dafydd/David Bonet sieht ebenfalls wie Anfang 20 aus, seiner Zwillingsschwester sehr ähnlich. Als Erbprinz soll er eines Tages die Nachfolge des Vaters antreten. Kein leichtes Unterfangen bei Unsterblichen.
Uschi Zietsch
Dafydd erwachte, als etwas seine Wange streifte. Er hielt den Atem an und verharrte still.
Ein Blatt. Ich bin sicher, es war ein Blatt. Flüchtiger als die zarte Hand einer Frau, jedoch raukantig und leise raschelnd.Ein Blatt, wie ich es erst einmal erlebte, als der Zorn meines Vaters den Herbst über mich brachte. Damals bin ich noch ein Kind gewesen …
Der Elfenprinz schüttelte den Schlaf endgültig ab und schlug die Augen auf. Das Entsetzen traf ihn unvorbereitet, wie ein heimtückischer Schwerthieb durch den Rücken ins Herz.
Der Baum starb.
Die Rinde war rissig und braun geworden, die stolze Krone stellenweise kahl. Überall rieselten welke, vertrocknete Blätter herab, sammelten sich zwischen den Wurzeln in raschelnden Haufen.
Dafydds veilchenfarbene Augen füllten sich mit Tränen, sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Er fühlte das qualvolle Sterben des Baumes, als wäre es sein eigener Tod. Große Furcht ergriff ihn, denn nichts konnte auf diese Weise in der Anderswelt sterben – indem es einfach verging. Die Welt der Elfen war keinen Jahreszeiten unterworfen, keinem Wechsel zwischen Frühlingserwachen und Froststarre. Es gab keine Zeit, nur den Verlauf von Tagen und das Heranwachsen der Kinder.
Ein Baum konnte sterben, indem er mit der Axt gefällt oder verbrannt wurde. Fiel aber nur ein einziges Samenkorn von ihm in weiche Erde, wuchs rasch ein neuer Stamm empor, mindestens genau so stolz und stark. Auch Elfen starben, etwa in ruhmreicher Schlacht, doch trug der Graue Nebel die Gefallenen fort nach Annuyn, dem Reich der Schatten jenseits des Grenzflusses. Manch Edler und Mächtiger durfte zurückkehren ins Sonnenreich, wenn er drei Aufgaben des Grauen Mannes bewältigte.
Doch nichts verging auf diese Weise. Nichts, was erwachsen war, veränderte sich, weder im Reich der Sidhe Crain noch sonstwo in der Anderswelt.
»Es ist unmöglich«, flüsterte der Prinz. Die Tränen rannen seine Wangen hinunter. Halb blind vor Kummer starrte er über sich in den leeren Himmel, der nurmehr von fahlem Licht erhellt wurde. Die Sonne war hinter dichten Schleiern völlig verschwunden. Und das Land ringsum … das Gras war braun und verdorrt, die Büsche standen kahl, die Bäche führten kein Wasser mehr.
Dafydd konnte es nicht mehr ertragen. Er verließ seine geflochtene hängende Baummatte, behaglicher Ruheplatz hoch oben im Wipfel, sprang auf den darunterliegenden knorrigen Ast und lief leichtfüßig zur Hängebrücke. Diese führte zu einer Plattform, die behutsam an dem mächtigen, viele Armlängen dicken Stamm angepasst und befestigt war. Von dort führte eine schmale gewendelte Hängetreppe hinunter zu den ausladenden, fast selbst wie Bäume so starken Mittel-Ästen, die das Dach des mehrstöckigen, fast bis zum Boden reichenden Baumschlosses bildeten. In geduldiger Arbeit waren Äste und Zweige auf gewaltigen Plattformen zu Wänden verbunden worden, kunstvoll verziert mit Strohblumen, süß duftenden Orchideen und glitzernden Juwelen.
Die zarten Blüten waren ebenfalls braun und welk. Nur die edlen Kristalle funkelten unverändert in kaltem Glanz.
Von düsterer Vorahnung ergriffen stürmte Dafydd ins Baumschloss. Was, wenn er der Letzte wäre, der noch lebte? Wenn die ganze Sippe längst verschwunden war, dahingerafft von einem grausamen Zauber, der den Prinzen nur deswegen verschonte, weil der heimtückische Angreifer ihn übersehen hatte? Die Angst schnürte ihm die Kehle zu; er wollte nach Rhiannon rufen, seiner Schwester, aber kein Laut drang über seine trockenen Lippen. Kurz darauf fand er sie auf der Liege in ihrem einst lichten, duftenden Blütengemach, bleich und mit geschlossenen Augen. Mit klopfendem Herzen kniete sich Dafydd neben die Liege und legte eine Hand an Rhiannons Hals.
Fast schluchzend stieß er einen erleichterten Seufzer aus. Rhiannons Haut war warm, und sie atmete. »Wach auf«, flüsterte er. »Schwester, komm zu dir, etwas Furchtbares ist geschehen.«
Weitere Blätter fielen, bis Rhiannon erwacht war, bis sie begriff, was Dafydd ihr erzählte und sie das Sterben um sich herum gesehen und sich gefasst hatte. Ihr zartes Gesicht war überschattet von Kummer. Schließlich sagte sie leise: »Wir müssen Vater wecken.«
Dafydd nickte, aber sein Gesicht war wächsern. »Das sollten wir, aber ich wage es nicht«, murmelte er. »Du weißt, wie er ist …«
Die Prinzessin schluckte. »Ich werde es tun.«
Dafydd bewunderte seine Zwillingsschwester für ihren Mut und begleitete sie zum Gemach des Vaters. Der Torhüter schlief in sich zusammengeringelt davor, scheinbar friedlich und harmlos wie ein treuer Hund. Der Prinz ging neben ihm in die Hocke, jederzeit bereit zur Flucht, schob eine Hand unter das schuppige Kinn und kitzelte es sacht, leise Koseworte murmelnd. Der Drache grunzte, die Augen weiterhin geschlossen, und schmatzte. Aus seinen Nüstern quollen kleine Dampfwölkchen. Dafydd setzte das Kraulen fort und daraufhin öffnete der Torhüter gähnend den Rachen.
Dies war das Signal; gleichzeitig sprang der Riegel zur Tür auf, die Flügel schwangen auf und gaben den Blick frei ins Innere. Selbst hier drin lagen überall welke Blätter, das hereinfallende Licht war krank und fahl. Ein tiefer Atem erfüllte den Raum. Auf der königlichen Ruhestätte lag Fanmór, König der Sidhe Crain, des Volks vom Baum. Der Älteste von Earrach – und ein Riese, wie es heute nur noch wenige gab. Selbst im Schlaf wirkte er einschüchternd auf die Zwillinge, die ihn ebenso fürchteten wie jeder andere der Sippe, obwohl sie seine Kinder waren. Bebend näherten sie sich dem Vater, Hand in Hand, gegenseitig Schutz suchend.
Dafydd blickte durch das astverschlungene Fenster auf das siechende Land. »Vielleicht sollten wir einen anderen bitten«, sagte er zögernd.
»Es ist unsere Pflicht, Bruder«, erwiderte Rhiannon. »Und ich habe keine Angst. Ich weiß, er liebt meinen Gesang.« Sie begann zart zu flöten und zu trällern wie die Nachtigall. Mit heller Stimme sang sie das Morgenlied; dessen erste Strophe kurz vor der Dämmerung einsetzte, wenn die Sterne verblassten und der Silberstreif am Horizont erschien.
Obwohl keine messbare Zeit in der Anderswelt verstrich, gab es den Verlauf von Tag und Nacht, denn die Elfen schätzten ausgelassene Feste mit Musik und Tanz bei Mondenschein, flackernden Fackeln und taumelnden Glühwürmchenlichtern. Für Liebe hatten Elfen nicht viel übrig, aber Romantik besaß einen hohen Stellenwert.
Nach einer Weile stimmte Dafydd harmonisch in Rhiannons Gesang ein. Sie waren bereits bei der Strophe des Vormittagszeremoniells angekommen, bis Fanmór sich endlich regte.
Er drehte sich um und fing an zu schnarchen, dass der ganze Baum bebte, und der Laubfall beschleunigte sich. Den Geschwistern wollte schon der Mut sinken, als ein herabrieselndes Blatt die hohe königliche Stirn streifte. Der Riese erwachte augenblicklich.
Die Zwillinge verstummten, hielten sich fester an den Händen und wichen unwillkürlich jeder einen Schritt zurück Richtung Tür, doch inzwischen war auch der Drache vollends erwacht und hockte mit funkelnden Augen und leise zischend vor dem Eingang. Er schien nicht darüber erbaut, überlistet worden zu sein.
Zitternd beobachteten Prinz und Prinzessin den Vater, als er sich langsam aufrichtete. Trockenes Laub fiel von seinen breiten Schultern raschelnd zu Boden. Selbst im Sitzen auf der niedrigen Liege überragte Fanmór seine Kinder um Haupteslänge. Er beachtete Sohn und Tochter zunächst nicht, sondern blickte fassungslos auf die Verwüstung um sich. Er wurde nicht zornig über die unerlaubte Störung. Was er sah, war viel zu ernst und selbst für ihn erschreckend.
Schließlich richtete der König langsam seinen Blick, glutschwarz wie ein glimmendes Kohlebecken, auf seine Nachkommen.
Dafydd schluckte und streckte nervös den Zeigefinger aus, richtete ihn auf die mehr als meterlange Flut schwarzbraunen Haares, das über Fanmórs Brust fiel. »V-Vater«, stieß er blass hervor. »Euer Haar … es ist eine weiße Strähne darin …«
Als Nadja Oreso zum ersten Mal den huschenden Schemen sah, dachte sie sich nichts dabei. Der September war in Paris angekommen, da wurden die Schatten länger und die romantischen Impressionen intensiver. Die Sonne färbte das Laub der Stadtbäume bunt: Gingko, Ahorn, Birke und Buche, und ließ den staubigen Dreck des vergangenen Touristensommers vergessen, ebenso die mörderische Hitze, die in den engen Straßen monatelang gefangen gewesen war.
Nadja liebte die leicht morbide Stimmung dieser Stadt, wenn der Sommer noch nicht ganz vergangen war, das allmähliche Dahinsiechen des Jahres sich aber schon deutlich bemerkbar machte. Die hektischen Touristenströme waren aus dem von der Péripherique umgebenen Stadtzentrum hinausgeschwappt, und die Pariser kehrten aus der Übersommerung in der Provence, der Bretagne oder an der Côte d’Azur wieder zurück. Die geschäftigen Turbogänge wurden deutlich zurückgeschaltet, das vertraute Flair kehrte ein, und man besann sich auf den gewohnten Rhythmus und die länger werdenden Nächte an der Seine.
Es war warm, die Straßencafés gefüllt, aber im Stimmengeschwirr überwog französisch, und viele Tische, so wie Nadjas, waren nur einzeln besetzt. Die Garçons hatten wieder Zeit, einen guten Café au Lait zuzubereiten, dazu ein Gläschen Wasser auf das Tablett zu stellen und es formvollendet zu servieren, mit einem freundlichen Lächeln und ohne sofortiges Kassieren. Vielleicht gab es noch ein kleines Schwätzchen dazu, über das Wetter und die Liebe.
Nadja ließ sich die milde Brise um die Nase wehen, seufzte und fühlte sich wohl.
In diesem Augenblick flitzte ein Schemen vorbei, wo keiner sein durfte, denn der Passantenstrom war kurzzeitig abgerissen und in den wenigen Sekunden niemand in der Nähe. Am Nebentisch quietschte eine Frau auf, als ihr Pernodglas umkippte und der milchweiße Inhalt sich über ihren Begleiter ergoss. Der Mann, der einen maßgeschneiderten Anzug trug, sprang auf und beschwerte sich erbost über die Ungeschicklichkeit. Die peinlich berührte Frau versuchte mit einer Serviette, seine Hose zu trocknen, aber er war unversöhnlich, warf dem Kellner das Geld hin und verließ das Café. Nach einer Weile folgte ihm die Frau, weiterhin Entschuldigungen stammelnd.
Nadja schüttelte den Kopf. Sie würde dem ungehobelten Kerl ganz andere Sachen erzählen als sich zu entschuldigen. Der Frau hätte sie diesbezüglich gern einen Ratschlag erteilt. Da aber solche Hilfestellungen selten auf Gegenliebe stießen, dankte sie sich lieber im Stillen, frei und ungebunden zu sein.
Die junge Frau trank aus, ordnete in einer unbewussten Geste das glänzende dunkelbraune Haar und legte das Geld auf das Tischchen. Zu dieser Jahreszeit musste sie keine Sorge tragen, dass jemand die paar Münzen klaute, und sie machte sich beschwingt auf den Weg.
Überall waren Straßenreinigungsmaschinen unterwegs, die man den ganzen Sommer über nicht gesehen hatte. Grund genug für Touristen, sich über Staub und Abfall zu beschweren, aber nicht ausreichend, um wegzubleiben. Sicherlich, die Massen von Hundehäufchen waren noch eine Weile störend, bis die Reinigungsdienste den Dreck bewältigt hatten, aber irgendwann fanden die Füße von selbst einen sicheren Weg, ohne dass man dazu Augen oder Verstand einsetzen musste. Meistens jedenfalls.
Nadja stutzte kurz, als sie einen kühlen Wind spürte und erneut diesen huschenden, vor der Sonne fliehenden Schemen sah, der gleich darauf versteckt hinter der Ecke kicherte. Doch dann zuckte sie mit den Achseln und ging weiter. Obwohl sie sich durch ihre oft wochenlangen Aufenthalte nicht mehr als Touristin empfand, war Nadja noch lange keine »Pariserin«. In ihrem Personalausweis stand »München« als Wohnadresse, dort war sie geboren und hatte eine andere Sicht der Dinge erlernt. Pariser aber pflegten weiterhin unpragmatisch die kleinen Wunder des Tages zu sehen, zu akzeptieren oder sogar zu nutzen. Nadja erkannte solche, wenn überhaupt, meist zu spät oder nur am Rande, denn obwohl sie mittlerweile mit der französischen Gangart vertraut war, konnte sie ihre Herkunft nicht verleugnen.
Mit halbem Ohr, stets ihrem journalistischen Instinkt folgend, belauschte Nadja ein junges Paar, das hinter ihr eine kurze, lebhafte Debatte führte: »Ein rotes Mützchen, sage ich dir!«, beharrte der junge Mann. Die junge Frau spottete: »Klar doch. Ein Igel mit Kopfbedeckung und dazu rot.«
Er widersprach: »Aber du hast es doch auch gesehen!« Und sie: »Natürlich, mein Schatz. Alles, was du willst.« Dann tauschten sie, dem kurzen schmatzenden Geräusch nach zu urteilen, einen Kuss.
Nadja eilte weiter, für derlei öffentliche Vertraulichkeiten hatte sie nicht viel übrig. Aber ein Schatten, ein Kichern, ein Igel und ein rotes Mützchen: Das musste sie Robert erzählen. Solche Dinge gefielen seiner Dichterseele.
Robert Waller wartete bereits vor der Madeleine, ein purer Affront zu dem hinter ihm aufragenden kirchlichen Prachtbau im römischen Stil. Die erhabenen Säulen, zeitlos elegant, luden zum Verweilen in Andacht ein. Der Mann aber trug dieselbe abgetragene Jeans wie immer, die wahrscheinlich schon mit seiner Haut verwachsen war, ein verschlissenes gestreiftes Hemd, die unvermeidliche karierte Krawatte, die er als »typisch schottisch« bezeichnete, und darüber eine ausgeleierte dunkelbraune Lederjacke. Nadja hätte ihn sofort in jeder großen Menschenmenge erkannt. Der ewig mürrische Gesichtsausdruck mit dem misstrauischen Blick, der Dreitagebart, das kurze, widerspenstig gelockte Haar, dazu der bleichgraue Teint eines Kettenrauchers, der die Sonne meidet: Der Fotograf und Beinahe-Schriftsteller bot das typische Bild des einsamen Mittvierzigers, der die ganze Welt für seinen Kummer verantwortlich machte. Manchmal, wenn Robert sich gar zu sehr wie ein deprimierter Greis verhielt, betonte Nadja scherzhaft, dass sie »schon ein Vierteljahrhundert« zähle, wohingegen er nur »irgendwo in den Vierzigern« herumhängen würde.
»Du siehst furchtbar aus«, begrüßte Nadja ihren Kollegen. Das war keinesfalls uncharmant, denn sie wusste, dass es seinem Selbstmitleid schmeicheln würde.
Prompt brummte er: »Kein Wunder. Der Zug ist schweineteuer, und man fährt als Jugendlicher los, kommt aber als Rentner an. Als ob Paris auf der anderen Seite der Welt läge.«
»Irgendwie tut es das auch«, verteidigte Nadja ihre Lieblingsstadt. »Warum hast du keinen Flug gebucht?«
Er bedachte sie mit einem fast mitleidigen Blick. »Du willst meine Freundin sein?«, erwiderte er vorwurfsvoll. »Du weißt, dass ich das Fliegen noch mehr hasse.«
»Du hast bloß Schiss, das ist alles.« Sie lächelte versöhnlich, mit diesem feurigen Strahlen in den bernsteinfarbenen Augen, dem keiner widerstehen konnte, nicht einmal Robert. Ein sehr positives Erbe der väterlichen italienischen Wurzeln. Ohne weitere Umstände hakte sie sich bei dem Fotografen unter, der normalerweise mindestens zwei Meter Distanz zu sich verlangte, und zog ihn zur Metro.
Sie fuhren mit der 12 bis zur Porte de Versailles, an der Grenze zum Zentrum, direkt an der Périphérique. Vor der Halle 7 der Paris Expo herrschte reger Andrang der Journalisten aus der ganzen Welt. Nadja machte jedes Mal bei solchen Gelegenheiten deutlich, dass sie derartige Ansammlungen liebte, dann konnte man sich nämlich mühelos hindurch nach vorne drängeln und so tun, als hätte man am längsten von allen angestanden. Ein Sportvergnügen für sie. Nadja wurde dabei glatt und beweglich wie ein Aal, sie eckte nirgends an, schlängelte sich so sanft, aber flink hindurch, dass die wenigsten schnell genug begriffen, was da geschah. Robert hatte es längst aufgegeben, sich dessen zu schämen, denn er hatte den Vorteil eingesehen: Sie vergeudeten keine Zeit mit Schlangestehen. Etwas, das er noch mehr hasste als das Fliegen, weil ihm diese dicht gedrängte Nähe fast Hautausschlag bescherte.
Nadja führte sie beide auf dem kürzesten Weg durch die Schlange, ohne angepöbelt, aufgehalten oder beschimpft zu werden. Robert hatte bis heute keine Ahnung, wie sie in dem unaufhörlichen Gewimmel die Öffnungen ausmachte, durch die man hindurchschlüpfen konnte.
»Das ist wie bei der Chaostheorie«, hatte sie einst mit erhobenem Zeigefinger weise doziert, als sie an der Hotelbar die Whiskysorten durchprobiert hatten. »Was vor schwingt, schwingt auch wieder zurück, man muss nur der Wellenbewegung folgen und sich anpassen.«
»Das einzige Mal, dass dir das gelingt«, hatte Robert damals genuschelt, den Mund voller gesalzener Erdnüsse, die er zu seinen Hauptnahrungsmitteln zählte. »Ansonsten bist du ein noch größerer, scharfkantiger Eckstein als ich.«
Nadja wedelte jetzt mit der Hand. »Hallo, Roger, hier bin ich!«
Robert kannte auch diesen Trick. Irgendeiner weiteren geheimnisvollen Chaostheorie zufolge, die sich auf Namen anwenden ließ, hieß einer der Türsteher immer Roger. Und tatsächlich reagierte einer der grimmig aussehenden Kontrolleure, indem er leicht den Kopf wandte und fragend in Nadjas Richtung blickte.
Sie setzte ihr gewinnendes Lächeln auf, lief auf ihn zu und küsste ihn auf beide Wangen, wobei sie einen Schwall an Worten über ihn ausgoss, der ihn überrascht wie nach einem überfallartigen Platzregen dreinschauen ließ. Wie sehr sie sich freuen würde, ihn wiederzusehen, sie habe die Nacht in der Disco nie vergessen, und so weiter.
Roger, der keinen blassen Schimmer hatte, wovon sie sprach, sich aber keine Blöße geben wollte, falls er sie wirklich kannte, begrüßte sie: »Ich freue mich ebenso, was für ein Zufall …«
»Nadja, Nadja Oreso, weißt du nicht mehr?«, setzte Nadja den Wortfluss fort. »Du hast immer gedacht, es würde Orneso heißen, und dann hast du mich sogar Ornella genannt, wie Ornella Ferrara, was haben wir gelacht …«
»Ach ja, jetzt erinnere ich mich wieder! Und wie geht es dir?«
»Oh, bestens! Ich hatte schon erwartet, dich hier zu treffen, nachdem ich dir ausführlich von meiner Arbeit als Journalistin erzählt habe, und der großen Chance, für ein deutsches Frauenmagazin von der Prêt-à-Porter berichten zu dürfen …«
»Ah … ja. Natürlich, du warst sehr aufgeregt. Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe, aber ich habe so viel zu tun …«
»Ich doch auch, mein Lieber, ich doch auch!« Nadja winkte lachend ab. »Nun, ich glaube, wir sollten nicht so ausdauernd plaudern, hinten werden die Leute allmählich ungeduldig, und das kann ich verstehen, wenn man so lange warten muss … wir stehen schon seit zwei Stunden an! Stell dir das vor! Immer drängelt sich jemand vor, der sich für was Besseres hält. Keine Ahnung von französischer Lebensart, n’est-ce pas?« Sie zwinkerte schelmisch, und dann kramte sie gefühlte fünf Minuten lang in ihrer Handtasche nach der persönlichen Einladung und dem Presseausweis.
Robert, stets akkurat in solchen Dingen, hatte seinen Ausweis längst gezückt und die beiden Kameras deutlich sichtbar vor der Brust baumeln. Wenn er zwei Dinge auf der Welt liebte, dann waren es seine teuren Kameras (nein, mit einer war es nicht getan, aber es würde zu weit führen, näher auf ihre Unterschiede einzugehen und darauf, dass die Bilder eines guten Smartphones heutzutage ebenso Anwendung in manchen Zeitungen fanden), deshalb hatte er vor jeder Sicherheitskontrolle eine teuflische Angst und achtete darauf, von vornherein Ehrlichkeit und Professionalität zu demonstrieren.
Roger ignorierte ihn und ebenso alle anderen Wartenden, die die ersten Beschwerden losließen und deutlich nachfragten, wieso sich jemand vordrängeln würde, der seine Sachen nicht einmal parat hätte.
Solche Dinge kümmerten Nadja überhaupt nicht. Mit ihrem fast akzentfreien Französisch plapperte sie unentwegt auf Roger ein und kehrte ihre Handtasche nach außen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie die Unterlagen vergessen hätte – aber diesmal hatte sie sie dabei. Sie hielt Roger Ausweis und Einladung vor die Nase, packte Robert am Jackenärmel und wollte ihn mit sich ziehen, als Roger die Hand hob.
»So kommt der nicht rein«, sagte er.
»Wieso?«, fragte Nadja verdutzt. »Sein Ausweis ist in Ordnung, und in meiner Einladung steht, dass ich einen Fotografen mitbringen darf. Nun, das ist mein Fotograf.«
»Nicht in dem Aufzug.«
»Was soll das bitte heißen?«
»Dass er so angezogen nicht reinkommt.« Roger betrachtete Robert ersichtlich mitleidig. Sie beide trennten zwei Konsonanten und fünfzehn Jahre unbeschwerte Jugendlichkeit samt Bodybuilding und erfreulichem Geschmack fürs Outfit.
»Was gefällt dir an meinem Aufzug nicht?«, fragte Nadja und stellte sich in Positur. Sie trug einen schlichten zweireihigen dunkelblauen Anzug mit lilablassblauem Seidenshirt darunter, auf Taille geschnitten, was ihre schmale Figur betonte, und schwarze Stiefeletten mit halbhohem Absatz.
»Dein Styling ist in Ordnung«, antwortete Roger, »du siehst top aus. Er aber nicht.«
Nadja betrachtete Robert, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Robert seinerseits tat so, als wäre er nur eine Statue, die sich von selbst bewegen konnte, aber nichts hörte, nichts sah und keine Sprechveranlagung besaß. »Er trägt eine Krawatte.«
»Darum geht es nicht.«
»Er trägt Hose, Hemd, Krawatte und Jacke. Seine Schuhe sind aus italienischem Leder. Ich habe sie ihm selbst ausgesucht und geschenkt.«
»Die Sachen sind …«
»Ah, verstehe!« Nadja runzelte gereizt die Stirn. »Wer zu so einer Veranstaltung geht, muss demnach Geld haben und das deutlich sichtbar spazieren führen. Aber du missverstehst da was, Roger: Wir beide sind hier, um zu arbeiten, genauso wie du. Wir kriegen unsere Arbeitsklamotten nicht gestellt, im Gegensatz zu dir. Und Robert ist von zwei Ehefrauen geschieden, die inzwischen gemeinsame Sache machen und ihn bis aufs Hemd ausziehen, sodass er zwei bis drei Jobs gleichzeitig erledigen muss, um überhaupt über die Runden zu kommen. Und das willst du ihm zum Vorwurf machen?«
Roger machte ein verlegenes Gesicht. »Natürlich nicht«, murmelte er.
»Hier geht es nicht um Haute Couture und Einzelstücke, sondern um Präsentation von Kleidung, die jeder tragen und kaufen kann, sprich – von der Stange. Robert ist Fotograf, er nimmt die Sachen auf, er führt sie nicht vor. Niemand sieht ihn, weil er hinter dem Rampenlicht steht. Er trägt eine Krawatte und anständige Schuhe. Und jetzt gehen wir rein, Roger, bevor ich böse werde und mich bei Jean über dich beschweren muss und die Organisation nicht lobend erwähnen kann in meinem Bericht.« Diesmal packte sie Robert mit festem Griff und zog ihn an Roger vorbei zu den Sicherheitskontrollen.
»Ein Glück für dich, dass du nicht Pinocchio heißt!«, bemerkte Robert, denn kein Wort von der Geschichte über ihn entsprach der Wahrheit. »Wie hast du …«, fuhr er flüsternd fort, und Nadja hielt lachend die linke Hand hoch.
»Der Typ ist frisch geschieden, man sieht den Abdruck des Eherings. Er hat keine Neue, oder die hat ihn schon wieder verlassen, denn er trägt die Socken links, und er bekam einen Blick wie ein geprügelter Hund, als eines der wasserstoffblonden Mädchen hinter uns versucht hat, ihn auf sich aufmerksam zu machen.«
Robert war beeindruckt, obwohl er es inzwischen besser wissen sollte. »Und die Beschwerde?«
»Irgendeiner vom Wasserkopf heißt immer Jean.« Nadja zuckte die Achseln.
»Verstehe. Chaostheorie der Namen.« Robert schüttelte den Kopf, ein seltenes kurzes Grinsen huschte über sein Gesicht, und er vergaß beinahe seine Angst vor der Kontrolle.
Obwohl die Prêt-à-Porter zweimal im Jahr stattfand und stets nach demselben Muster ablief, war die gesamte Räumlichkeit vom Lampenfieber aufgeheizt. Jeder war nervös, egal ob Modemacher, Model, Reporter oder Gast. Es war eine Erregung, die kurz vor der Hysterie stand, gleichzeitig aber euphorische Adrenalinschübe bescherte, die jedermann zu Champagnerglas und Kanapees einlud, sich dazu dekorativ hinzustellen und zähnebleckend in die Runde zu lächeln und zu giggeln.
Nadja flanierte mit ihrem Glas, an dem sie höchstens nippte, durch die bunte, sich wichtig nehmende Menge, und beobachtete unauffällig. Robert, der sich schon lange nach einem oder zwei Gläsern hartem Zeugs sehnte, folgte ihr unscheinbar wie ein Schatten, stets wachsam. Wenn Nadja einen kurzen Wink gab, musste er sofort in Anschlag gehen und schießen; sie ging selten fehl bei Schnappschüssen, mit denen sich unter Umständen ein gutes Zusatzgeld verdienen ließ. Robert hatte noch nie gesehen, dass die junge Frau jemals Notizen gemacht hätte oder Pressemappen und sonstige Informationen samt Bestechungsgeschenken einsammelte und gewichtig mit sich herumtrug. Sie setzte sich nicht in Szene, hatte keine intellektuelle Brille auf oder hielt allzu deutlich Ausschau nach »wichtigen Personen«. Und trotzdem entging ihr nichts und ihre Reportagen strotzten nur so vor Einzelheiten, die andere trotz aller Notizen vergaßen.
Was Robert am meisten an ihr bewunderte, war Nadjas Vielfalt. Sie verfasste ebenso Reisereportagen über Vergnügungskreuzfahrten und die angesagtesten Discos Lissabons, wie eindrucksvolle Interviews mit krebskranken Frauen oder Kindern, die mit Aids oder alkoholkrank auf die Welt kamen. Nadja machte keine halben Sachen, egal wie abgedroschen oder langweilig ein Auftrag sein mochte, stets setzte sie sich mit allen Kräften daran und versuchte das Beste daraus zu machen.
Genau dasselbe verlangte sie von Robert. Sie hatte viel Verständnis für ihn, aber keine Geduld, was Nachlässigkeit bei der Arbeit betraf. Und exakt das war es, was er nötig hatte: Sie war sein Halt. Er brauchte sie, genauso wie seine Miesepetrigkeit, die Zigaretten und die kleinen Gläschen voller Nervensaft.
Allerdings brauchte Nadja Robert nicht weniger, da sollte sie sich gar nichts vormachen. Sie vertraute ihm rückhaltlos und glaubte an ihn, weil sie im Grunde genommen nur ihn hatte. Er vermittelte ihr das Gefühl von Nützlichkeit. Obwohl sie ihr Singledasein genoss, wollte sie sich auch gern um jemanden kümmern. Es durfte nur keine zu große Nähe bestehen.
Wir sind beide beziehungsunfähig und daher ein perfektes Team.
Schließlich war es soweit, der erste Beifall rauschte durch den Saal, der Conférencier gab die Einleitung zum Besten, und der Laufsteg wurde eröffnet. Als die ersten Models auftraten, wurden Namen geflüstert, wurde beobachtet, wohin die TV-Kameras gerichtet waren und auf wen das meiste Blitzlicht fiel, und nebenbei ein wenig auf die neue Mode geachtet. Man diskutierte das Label, das Auftreten der Schöpfer, im gedämpften Licht und voller Musik.
Nadja sah zufrieden, dass Robert ganz bei der Sache war. Er hatte einen routinierten und talentierten Blick. Natürlich konnte man am Computer alles nachbearbeiten und perfekt abstimmen. Trotzdem brauchte es den richtigen Aufnahmewinkel, den exakten Moment, das passende Licht und die Tiefenschärfe, um einen talentierten Profi von einem Massenproduzenten und Laien zu unterscheiden.
Der Laufsteg war Roberts Aufgabenbereich; für Nadja Gelegenheit, sich in Ruhe umzusehen und die Stimmung in sich aufzunehmen. Es war vor allem interessant, die Models einmal praktisch hautnah zu sehen. Festzustellen, wie hochgewachsen und dünn sie in der Realität waren, und zu erraten, wie das echte Gesicht hinter der Make-up-Maske aussehen mochte.
Irgendwie, dachte Nadja, wirken sie alle wie nicht ganz von dieser Welt. Ätherisch, abgehoben … aber nicht wie Engel, sondern … feenhaft, ja. Eine Idealform des Menschen, die es nicht wirklich gibt. Es übte einen besonderen Reiz auf sie aus, hier zu sein. Ein Stück Kino, aber mitten darin. Besser als jede virtual Reality.
Allerdings dauerte die Show reichlich lange und es wurde allmählich anstrengend. Um nicht zu sagen, langweilig. Nadja sehnte sich bald nach einem Stückchen Himmel oder Kerzenlicht, irgendetwas Natürliches eben. Dieser schöne Schein mochte Motten anziehen, die sich nie mehr davon lösen konnten, bis sie verbrannten. Aber Nadja ließ sich nicht nachhaltig beeindrucken, dafür steckte zu viel von ihrem Vater in ihr.
Sie gähnte und blinzelte, ihre Augen fühlten sich trocken und rau an. Dann blinzelte sie noch einmal. Dort auf dem Laufsteg … nein, das konnte nicht sein. Sie hatte doch kaum etwas getrunken, und sich ganz bestimmt keine Linie in die Nase gezogen, wie vermutlich neunzig Prozent der übrigen Anwesenden. Wieso halluzinierte sie trotzdem?
Dort auf dem Laufsteg, zwischen all den langbeinigen Feengeschöpfen, kaum höher als die zierlichen Fesseln der in immens hochhackigen Schuhen steckenden Füße, tanzte in aufrechter Haltung ein Igel mit spitzem, pfiffig grinsendem Gesicht und roter Mütze!
»Sei mir nicht böse, Nadja«, prustete Robert heraus, »aber das ist die tollste Geschichte, die du mir je aufgetischt hast!«
»Freut mich, dass es mir endlich gelungen ist, deine Laune zu bessern«, gab Nadja zurück.
Sie schlenderten die Rue de Vaugirard entlang, die Frische der Nachtluft genießend. Es ging inzwischen auf drei Uhr morgens zu, und der Verkehr auf den Straßen war weitgehend zur Ruhe gekommen. Ein angenehmer Ausklang, nur ein paar entspannende Schritte und dann mit der 12 zurück zum Montparnasse auf einen Absacker.
»Wirst du heute noch arbeiten?« Es war eine rhetorische Frage. Robert wusste, während aus seinem Absacker drei bis fünf wurden, arbeitete Nadjas Verstand auf Hochtouren und sie würde nach einem Kurzen abhauen. Dann würde sie bis etwa sechs Uhr morgens an ihrem Notebook hocken und die Gedanken sprudeln lassen, den halben Tag verschlafen, gegen zwei Uhr ein pompöses Mittagessen zu sich nehmen und anschließend der Reportage den letzten Schliff geben. Da die beiden nicht für eine Tageszeitung, sondern für ein Monatsmagazin arbeiteten, das zwölf Seiten für das Thema reserviert hatte, konnten sie sich entsprechend Zeit lassen und austoben. Robert freute sich schon auf die Auswertung seiner Bilder, allerdings würde er damit erst morgen Nachmittag anfangen, nachdem er sich ausreichend »akklimatisiert« hatte.
Nadja schwang die Handtasche, wie immer, wenn sie überdreht war. »Warum weichst du mir aus? Ich weiß, was ich gesehen habe.«
»Nadja, ein Rotkäppchen-Igel auf einer Modenschau, den nur du gesehen hast, klingt für mich kaum glaubhaft.« Robert sprach behutsam, obwohl er wusste, dass er sich in Gefahr begab, wenn er so weitermachte.
»Ich habe dir doch von dem jungen Paar erzählt …«
»Siehst du. Bevor du ihre Unterhaltung belauscht hast, hast du nur einen unbedeutenden Schatten gesehen. Danach war es dieses … skurrile Fantasiewesen. Herr Freud wäre bestimmt daran interessiert.«
Nadja blieb stehen. »So, du denkst also, ich bin sexuell frustriert, oder was willst du damit andeuten? Dass ich stachlig wie ein Igel bin und deswegen niemanden finde, der –«
»Hey!« Er drehte sich zu ihr und ergriff ihre Schultern. »Komm wieder runter. Es ist drei Uhr morgens, in deinem Kopf rotiert eine Reportage, und wir sind in Paris. Lass uns noch mal darüber reden, wenn wir ausgeschlafen sind, in Ordnung? Ich verspreche dir, ich werde dir zuhören.«
Sie gingen schweigend weiter.
Dann fing Nadja wieder an: »Eines der Models hatte ziemlich lange und spitze Ohren.«
»Ja, Aliens sind der letzte Schrei. Speziell die Vulkanier und die Romulaner. Ich habe offen gestanden nicht einen einzigen Menschen auf dem Laufsteg gesehen.«
»So meine ich das nicht. Es sah nicht wie eine Maske aus. Das Model war nicht besonders auffällig geschminkt, gerade das hob es schon hervor. Sie hatte eine Art, sich zu bewegen, so als ob sie ein paar Zentimeter über dem Boden schweben würde. Und sie schien von innen heraus zu leuchten. Ihre Augen … ich habe noch nie solche Augen gesehen, erst recht nicht bei einem so jungen Menschen. Auf den ersten Blick habe ich sie auf höchstens achtzehn geschätzt, aber sie muss viel älter sein.«
»Welche Farbe hatten die Augen?«, fragte Robert.
»Du willst mich aufs Glatteis führen, weil du genau weißt, dass man das bei Kunstlicht nie erkennen kann«, meinte Nadja, aber sie schien darüber nicht böse. »Die Farbe könnte violett gewesen sein, die Augen waren groß. Aber … da war kein Weiß drin zu sehen. Die Iris füllte das ganze Auge aus. Bizarr.«
Robert nickte. »Das stimmt. Und jetzt sollten wir wirklich damit aufhören, Nadja. Schlaf erst mal drüber und reflektiere bei Tageslicht, was du gesehen hast.«
»Du glaubst, ich bin überreizt!«
»Ich glaube momentan gar nichts, meine Liebe, außer an die hirnvernebelnde Kraft des Whiskys und den lungenzerstörerischen Sog meiner Gitanes. Mehr interessiert mich für diese Nacht nicht mehr.«
Nadja sagte nichts dazu, aber sie war verärgert. Sie fuhren den restlichen Weg mit der Metro und trennten sich dann schweigend. Robert suchte nach einer Bar, die noch offen hatte, und Nadja ging ohne Gute-Nacht-Gruß nach Hause.
Die Wohnung gehörte einer befreundeten Pariser Kollegin, die meistens am Hollywood Jet-Set unterwegs und höchstens dreimal im Jahr zwei oder drei Wochen in Paris war. Ein geräumiger Altbau mit sechs Zimmern, genug Platz für mindestens zwei Personen.
»Nadja. Nadja! Wach auf!«
Nadja knurrte wütend und öffnete blinzelnd die Augen. Der Tag war gerade angebrochen und Robert hatte sie aus einem zunehmend erotischer werdenden Traum gerissen, worüber sie äußerst erbost war. »Spinnst du?«, fuhr sie ihn an. »Seit wann bist du …« Dann erkannte sie endlich deutlicher seinen Zustand und setzte sich auf. »Warst du überhaupt schon im Bett?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, und ich bin nicht einmal betrunken. Unser Streit vergangene Nacht hat mir keine Ruhe gelassen. Ich weiß, dass man sich bei dir vor allem auf eines verlassen kann: auf deine Instinkte. Ich habe deinen Gesichtsausdruck gesehen, den du jedes Mal aufsetzt, wenn du die Witterung einer bedeutenden Spur aufgenommen hast.«
»Nun mach aber halblang.« Nadja rieb sich die Augen und gähnte. »Du hast Recht gehabt, ich war überreizt und habe mal wieder den Bogen überspannt. Tut mir leid, wenn ich dir damit den Ausklang verdorben habe, aber ein gemeinsamer Absacker hätte es nicht besser gemacht. Ich hätte keine Ruhe gegeben …«
»Nadja, hör mir doch endlich einmal zu!«, unterbrach er sie ungehalten. »Ich habe mir die Bilder angeschaut. Es funktioniert sowieso nur digital, verstehst du?«
»Kein Wort.« Nadja zog die Knie an und stützte schläfrig den Kopf auf die Hand.
»Diese … besonderen Aufnahmen«, setzte Robert zu einer Erklärung an und rüttelte sie leicht an der Schulter. »He, nicht wieder einschlafen, es geht hier um ernste Dinge!«
Sie grinste versöhnlich. »Ist ja schon gut. Weiter im Text.«
Robert zeigte ihr einen Abzug, den er mit dem Fotoprinter selbst ausgedruckt hatte. »Ist sie das? Die mit den spitzen Ohren?«
Nadja betrachtete das Bild grübelnd. »Glaube schon«, antwortete sie. Dann nickte sie. »Ja, das ist sie, wenngleich verschwommen. Da hat es dir wohl ein bisschen die Optik verschoben, denn der Hintergrund ist gestochen scharf.«
»Ich denke nicht, dass es an der fehlerhaften Einstellung liegt.« Roberts Stimme hatte einen eindringlichen Klang. »Normalerweise fotografiere ich im manuellen Modus, aber gestern hat mich irgendwie der Spieltrieb gepackt, und ich habe verschiedene Effekte voreingestellt und ausprobiert.« Robert redete sich immer mehr in Fahrt, und die Müdigkeit der schlaflosen Nacht schien ihn zusehends zu verlassen. »Einer davon ist eine Falschfarbenaufnahme, also etwa so in der Art, wie eine Biene sieht, wie im Infrarot-Bereich. Und da … aber sieh selbst.«
Er hielt Nadja einen Stapel Fotopapiere hin.
»Iihh«, machte Nadja. »Das können wir kaum anbieten. Als ob ich eine Runde LSD eingeworfen hätte. Und auf Pink und Lila stehe ich eher nicht.«
Robert riss ihr die Bilder aus der Hand, breitete sie nebeneinander auf der Bettdecke aus und deutete auf das erste Bild. »Sieh genau hin. Das ist sie auch, oder?«
»Hmm … ja. Wow, wenn man sich erst mal an die Farben gewöhnt hat, ist das ein toller Effekt. Wie eine Aura aus Licht, und mit Weichzeichner. Sehr attraktiv. Wie funktioniert das?«
»Gar nicht, das ist es ja!« Der Fotograf zeigte zum Vergleich einige andere Bilder, auf denen die übrigen Models dunkel wirkten, fast wie ein Schattenriss. Auch die Zuschauer hatten keine Aura. Alle Bilder mit Ausnahme des ersten waren im Falschfarbenmodus scharf.
»Und jetzt sieh hier«, setzte Robert fort und deutete auf das dritte Bild, »und hier«, auf das fünfte Bild der Reihe. Neben beide Bilder legte er Vergrößerungen eines Ausschnitts.
Tiefes Schweigen trat ein und breitete sich im ganzen Raum aus, schien selbst die langsam hereintastende Sonne auszusperren. Nadjas Miene wurde ernst, ihre Stirn legte sich in Falten, und ihre Augen wurden groß und größer.
Auf Bild Nummer Drei war das leuchtende Model zu sehen, wie es anmutig über dem Laufsteg schwebte. Wortwörtlich. Denn die Vergrößerung zeigte deutlich, dass beide Füße, vielmehr die Sohlen und Absätze der Schuhe, etwa drei Zentimeter über dem Steg schwebten und ihn nicht berührten. Das könnte man vielleicht noch damit erklären, dass die junge Frau gerade einen kleinen Sprung machte. Dagegen sprachen allerdings die Haltung und Fußabfolge: Das Model war im Begriff zu einer Drehung aus dem Stand.
Die Vergrößerung von Bild Fünf zeigte wiederum die schönen schlanken Beine der Frau.
Und zwischen den leicht gespreizten Beinen war die tanzende Bewegung eines aufrecht gehenden Igels eingefroren. Mit einer zierlichen Hand oder Pfote berührte er sacht den Unterschenkel, als wolle er die Aufmerksamkeit des Models erregen. Die Schnauze des Igels war geöffnet, als ob er lachte – und er winkte mit der anderen Pfote genau in die Kameralinse.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Robert zum wiederholten Mal, während er Wasser in seinen zweiten Pernod schüttete.
Nadja probierte die Belastbarkeit des Bodens der Espressotasse durch konstantes Rühren aus. »Ich habe keine Ahnung.« Sie klang gedankenverloren, ihre Augen waren nach innen gerichtet.
Robert kannte diese scheinbare geistige Abwesenheit bei seiner befreundeten Kollegin. Einerseits völlig übernächtigt, rotierten andererseits ununterbrochen ihre Gedanken. Sie antwortete stereotyp, ohne genau zuzuhören. Vielleicht sollte ihm zur Abwechslung mal ein anderer Text einfallen? »Am besten vergessen wir das Ganze.«
»Ja, machen wir.«
Also doch. Sie war immer noch halbwegs bei der Sache.
Außer ihnen beiden waren nur zwei weitere Gäste anwesend, die jeder für sich an verschiedenen Tischen in Le Monde lasen. Der schwarz gelockte Pierre, der Nadja und Robert mindestens einmal täglich in dem kleinen Straßencafé bediente, lehnte entspannt am Türrahmen und beobachtete die Welt. Plötzlich aber stieß er sich ab, steuerte mit festen Schritten auf ihren Tisch zu, zog Nadja die Kaffeetasse unter dem Löffel weg und transportierte sie kopfschüttelnd und leise vor sich hinmurmelnd davon.
Sie merkte es kaum und sah erst auf, als Pierre eine Minute später mit einem frisch dampfenden Espresso zurückkehrte und behutsam abstellte. Er riss die beigefügte Zuckertüte auf und streute eine im Kopf exakt abgemessene Menge in die schwarze Brühe. Dann legte er das Tütchen beiseite, nahm Nadja den Löffel aus der Hand, rührte zweimal behutsam in mittlerem Tempo um, ohne die perfekte Crema zu zerstören, knurrte leise »Voilá«, und zog erhobenen Hauptes mit dem Löffel davon, den er wie ein Häufchen Dreck mit ausgestrecktem Arm und gespreizten Fingern vor sich her trug.
»Du hast seinen Stolz verletzt«, stellte Robert fest.
»Kaffee hat keinen Stolz«, erwiderte Nadja. Dann bemerkte sie Pierres lauernden Blick aus der Ferne und nippte hastig am Espresso. Ein impulsives Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Aber er schmeckt guuut«, fügte sie zufrieden hinzu.
Pierre nickte gnädig, warf sich das Serviertuch über die Schulter und verschwand im Inneren des Cafés.
Robert trank sein Glas zur Hälfte leer und wollte zum Thema zurückkehren, doch Nadja kam ihm zuvor: »Wir müssen herauskriegen, bei welcher Agentur das Model engagiert ist. Versuchen wir, mit ihr zu sprechen. Dann finden wir schnell heraus, was an dieser Geschichte dran ist.«
»Einverstanden.«
»Aber wahrscheinlich ist gar nichts dran, und wir verplempern unnütz unsere Zeit.«
»Sehr wahrscheinlich. Die Fotos gelten nicht als Beweis.«
»Vor allem weiß ich nicht, was ich das Mädel fragen soll. Und was genau wir eigentlich von ihr wollen.« Nadja lehnte sich zurück und winkte ab. »Du hast Recht. Wir sollten es einfach vergessen.«
Robert schwieg und fixierte sie aus wolkenlosen blauen Augen. Tatsächlich wurde sie kurz darauf unruhig.
»Diesen Blick kenne ich.« Sie wich ihm aus und konzentrierte sich auf ihren Kaffee.
»Was ist es denn für ein Blick?«, fragte er lauernd.
»Dein ›das ist Stoff für meinen Roman‹-Blick. Dein Gesicht wird weich wie Grießbrei. Gleich kriegst du deine romantischen Momente, und davor möge Gott uns alle bewahren. Dann bist du noch unausstehlicher als sonst.«
»Und du hast den ›ich glaube, es könnte interessant werden‹-Blick drauf.« Robert hob die Hände. »Machen wir uns nichts vor. Es lässt uns nicht los. Wir sind beide keine Spinner. Geschweige denn auf dem Esoterik-Trip. Was auf den Fotos ist, ist real. Wir haben eine Welt neben unserer berührt, wahrscheinlich sogar versehentlich ein Tor geöffnet, und jetzt müssen wir zumindest einen Blick hindurchwerfen. Das können wir nicht einfach unter der Rubrik ›ungelöster Mystery-Moment‹ verbuchen und abhaken.«
Nadja seufzte und leckte genießerisch mit der Zungenspitze den letzten Kaffeetropfen vom Tassenrand.
Das konnte nicht einmal Robert, der ihr sonst ausschließlich väterliche Gefühle entgegenbrachte, unberührt lassen. Manchmal fragte er sich, wie es möglich war, dass Nadja bei aller Schärfe des Blicks und hervorragender Beobachtungsgabe so unfähig war, bei sich selbst zu erkennen, was für eine erotische Wirkung sie auf andere hatte. War ihr das wirklich so unwichtig? Oder traute sie es sich nicht zu? Nadja war schön, stets gepflegt und vorteilhaft gekleidet und – selbstbewusst. So schien es. Trotzdem wäre sie jetzt erstaunt gewesen, wenn Robert ihr eröffnet hätte, wie diese aus ihrer Sicht unschuldige Verhaltensweise von anderen gesehen wurde. Vielleicht machte gerade das ihren besonderen Reiz aus, diese in manchen Belangen seltsam kindliche Unschuld, die sie sich bewahrt hatte. Und vielleicht war es gerade das, was Robert an sie fesselte.
Offensichtlich ohne Roberts kurzzeitig verschleierten Blick und das hektische Hüpfen seines Adamsapfels zu bemerken, sagte Nadja: »Ich fürchte nur, wir lassen uns da auf eine finstere Sache ein, aus der wir so schnell nicht wieder herauskommen. Es wird unser ganzes zufriedenes Leben, das wir uns in den letzten zwei Jahren so schön bequem eingerichtet haben, auf den Kopf stellen.«
»Schon möglich«, stimmte Robert zu. Er war erleichtert, dem peinlichen Moment entgangen zu sein. Vielleicht war er Nadja einfach zu nah, dass sie bei ihm nicht auf solche Dinge achtete. Einen Fremden, der sie auf dieselbe Weise angegafft hätte, hätte sie vermutlich ohne gnädige Narkose gleich hier auf dem Tisch seziert. »Ja, sehr wahrscheinlich sogar. Aber was mich beschäftigt, Nadja: Warum haben wir das gesehen? Und nur wir?«
»Du meinst, es ist zu spät, sich herauszuhalten?«
»Wir sind schon mittendrin. Ich bin sicher, selbst wenn wir die Fotos wegwerfen, wird uns diese Geschichte wieder einholen. Früher oder später.«
»Ich hab’s gewusst! Er ist frei. Schnell, einen Dompteur! Der Romantiker muss wieder in Ketten gelegt werden, sonst überwältigt er den Griesgram!« Nadja lachte.
Robert verteidigte sich: »Was vorschwingt, schwingt auch wieder zurück, das hast du selbst gesagt. Die Chaostheorie, erinnerst du dich?«
Sie musterte ihn neugierig. »Du spekulierst wirklich auf deinen Roman, nicht wahr? Weil du genau weißt, dass ich so eine Geschichte niemals als Reportage bringen kann. Deshalb sollte ich von vornherein alles dir überlassen, um mich nicht unglücklich zu machen. Aber du brauchst einen Aufpasser.«
»Wenn schon, dann Bodyguard. Darauf bestehe ich.« Er musste ablenken, bevor sie tiefer bohrte.
»Du mit deinem Schmerbauch und deinen Muskeln aus Wackelpudding? Träum weiter.«
Da war er schon, der kleine Stich. Und natürlich saß er gezielt im weichen Fleisch. Sie ließ nie locker, war unbarmherzig in ihrem Freundschaftsdienst. Er rauchte zu viel, trank zu viel, vernachlässigte seinen Körper und suhlte sich im Selbstmitleid. Das alles wusste Robert selbst, aber Nadja erinnerte ihn immer wieder daran, damit es keine vertraute und dadurch legitimisierte Gewohnheit wurde. Oder Resignation. Oder, schlimmer noch – Gleichgültigkeit.
Warum tat sie das? Warum schätzte sie seine Freundschaft? Weil sie beide einsam waren? Weil er nie »mehr« wollte, keine besonderen Ansprüche hatte? Weil sie …
»Aufwachen, Träumer!« Nadja stand auf. »Wir haben noch bis morgen Zeit für unsere Reportage über die Modenschau. Ich werde aber schon mal anfragen, ob wir für einen zweiten Auftrag hierbleiben können. Da wird sich bestimmt was ergeben, im September ist in Paris einiges los. Zwischenzeitlich spielen wir Detektiv und versuchen, das Mädchen und den Igel zu finden.« Wiederum lachend, schüttelte sie den Kopf. »Ein Igel mit roter Mütze, ist das zu fassen! So was passiert einem auch nur in Paris.«
Nadja fand schnell heraus, welche Agenturen Models zur Modenschau geschickt hatten. Es waren nur drei, also sollten sie bald fündig werden. Mit einem der Fotos bewaffnet, das nicht verräterisch war, klapperten sie die Agenturen ab und hatten bei der zweiten Glück. Sie war in der Nähe der Galeries Lafayette Shopping-Mall zu finden, in einem vollständig umgebauten, ehemals barocken Komplex, in dem zwei Werbeagenturen, eine Filmproduktionsfirma, ein Verlag und besagte Modelagentur mit dem sinnigen Namen »Jolie Femme« residierten.
Das Mädchen am Empfang erkannte das Model auf dem Foto sofort. »Ja, das ist Rian. Sie wird gern gebucht. Aber sie nimmt nur Aufträge in Paris an.«
»Très bien! Dann habe ich ja Glück und kann ein Interview mit ihr führen?«, meinte Nadja lächelnd. »Mein Magazin möchte ein wenig hinter die Kulissen blicken und die Models zu Wort kommen lassen, die die Mode vorführen.«
Das Mädchen zog die hübsche, leicht sommersprossige Nase kraus. Es hatte kurze blonde Wuschelhaare und sah nicht älter aus als Achtzehn. Es war blass und dünn, aber zu klein für eine Modelkarriere. Also blieb für sie nur der Empfang. »Rian ist schwer zu erreichen. Normalerweise kommt sie nur selten her, um Post abzuholen und nach Aufträgen zu fragen.«
»Aber sie hat doch bestimmt ein Handy?«, vermutete Nadja.
Die Rezeptionistin schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat Angst vor der Strahlung.«
»So schwer erreichbar, und da wird sie von euch engagiert? Und auch noch gebucht?«, fragte Robert ungläubig.
Das Mädchen hob die Schultern und fing an, geräuschvoll auf dem zuvor in die Wange geschobenen Kaugummi zu kauen. Sie hielt die beiden Journalisten wohl nicht mehr für so bedeutend, um weiterhin der Repräsentationspflicht nachkommen zu müssen.
Nadja zeigte sich geduldig. »Wie können wir denn zu ihr Kontakt aufnehmen?«
»Indem Sie eine Nachricht hinterlassen.«
»Also gut. Und was schreibe ich auf den Umschlag?«
»Was Sie wollen. Rian genügt.«
»Tut mir leid, das ist mir zu vertraulich. Ich brauche wenigstens den Nachnamen.«
Das Mädchen ignorierte das Telefon, das einen Anrufer meldete. »Na schön, Rian Bonet. Aber mehr darf ich Ihnen wirklich nicht sagen.«
»Das ist doch schon prima«, freute sich Nadja. »Falls Sie sie sehen, richten Sie ihr bitte aus, dass ich sie unbedingt sprechen muss. Das könnte entscheidend für ihre Karriere sein. Werden Sie ihr den Gefallen erweisen?«
»Klar«, sagte die Rezeptionistin, was ein Synonym für Nein darstellte. Wahrscheinlich hatte sie die Bitte schon ab dem Moment vergessen, sobald Nadja aus der Tür war.
Das Telefon läutete immer noch. Das Mädchen nahm das schnurlose Gerät auf, betätigte eine Taste und gleichzeitig eine andere. Es wurde still.
»Könnte ich bitte Papier und einen Umschlag bekommen?«, bat Nadja mit zuckersüßem Lächeln. »Dann sind Sie mich auch schon umgehend los.«
Das Mädchen verzog geschmerzt die Lippen, kam aber der Bitte nach. Nadja verkrümelte sich in einen cremefarbenen Ledersessel im Wartebereich, zückte einen Stift und begann zu schreiben.
Robert sah sich mit anerkennender Miene um. Die Lobby war großzügig wie eine kleine Hotelhalle gestaltet, mit Oberlichtern, hellen Teppichen, hellem Empfangstresen aus echtem Ahornholz, Palmen und teurer Sofagruppe. An der Wand hinter dem Tresen war in Riesengröße das Logo der Agentur angebracht, und darunter hing ein nicht minder opulentes, nach dem Design von Warhol gestaltete Porträt eines Models. »Schöner Arbeitsplatz«, bemerkte er.
Das Telefon läutete wieder. Das Mädchen drückte umgehend die beiden Tasten.
»Und so ruhig«, fügte er hinzu.
»Ist ganz okay«, stimmte sie zu. Sie zückte einen Taschenspiegel und prüfte Frisur und Make-up.
»Lange Arbeitszeiten?«
»Mhmm. Hier ist vor zehn selten was los. Die Mädels holen die Post meistens gegen Mittag.«
»Jeden Tag?«
»Klar. Die Betreuung ist uns sehr wichtig. Manchmal kommen die Kunden auch her. Wir machen außerdem viele Shootings bei uns.« Nun lag doch etwas Stolz in ihrer Stimme. »Wir haben drei Studios!«
Nadja kam mit dem verschlossenen Umschlag zurück und überreichte ihn mit einem 10-Euro-Schein. »Vielen Dank für die Mühe. Ich hoffe, Rian bekommt meine Nachricht bald.«
»Ich leg sie in ihr Fach, dann kann sie sie jederzeit abholen, falls ich nicht am Platz sein sollte.« Die Rezeptionistin zeigte auf drei hohe Stapel Ablagefächer, auf denen Namen aufgeklebt waren. Der Umschlag landete in dem Fach »Rian«. Der Schein verschwand irgendwo anders.
»Herzlichen Dank. Wir melden uns wieder.« Nadja setzte ihr strahlendstes Lächeln auf, das sie sich von einer Reklame für Raucherzahnweiß abgeschaut hatte. Es war beliebt in Medienkreisen, wie sie festgestellt hatte.
Robert schüttelte es, als sie anschließend wieder auf der Straße standen, und er musste sich umgehend eine Zigarette anstecken. »Schauerlich! Dieses Getue! Diese Oberflächlichkeit! Ich könnte nicht in so was arbeiten.«
»Rian Bonet.« Nadja ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. Sie hatte schon vor einem Jahr aufgehört, auf Roberts kritisches Gejammer zu achten. »Jetzt wissen wir etwas mehr.«
»Namen sind Schall und Rauch«, meinte Robert leichthin. »Das nützt uns gar nichts. Es wird ein Künstlername sein, und im Telefonbuch wird sie gewiss nicht stehen. So einfach ist es nämlich nie.«
Sie setzten sich ins Internet-Café gegenüber; durch den Sitzplatz an der großen Scheibe konnten sie die Agentur gut beobachten, deren gläserne Eingangstüren im Erdgeschoss lagen. Und tatsächlich, eine Menge Models strömten plötzlich hinein, und es wurde lebhaft. Alle möglichen Menschen gingen permanent ein und aus. Nadja und Robert veranstalteten ein Beruferaten um die Wette und kamen der Wahrheit vermutlich häufig nah: Fotografen, Models, Journalisten, Agenturmitarbeiter, Kunden, Akquisiteure. Nicht zu vergessen den Pizzadienst und einen Sandwichboten. Zwei Stunden lang tummelten sich etwa hundert Menschen, dann wurde es wieder ruhiger. Rian tauchte nicht auf.
Nadjas Konzentration ließ nach, sie gähnte und starrte aus schläfrigen Augen nach gegenüber. Die herbstliche Sonne stand trotz der Mittagsstunde schräg und warf längliche, tiefschwarze Schatten auf die hellen Bodenplatten. Manchmal schien es, als liefen die Schatten um die Wette, wenn jemand nach Osten ging, folgten dem Besitzer nach, überholten ihn und sausten dann voraus. Dabei kreuzten sie sich mit anderen, bildeten neue Schattenfiguren, die ihre eigene Art hatten, sich zu bewegen.
Nadja verließ sich darauf, dass Robert aufpassen würde und ließ ihrer Fantasie freien Lauf, indem sie sich Figuren ausdachte, die die Schatten darstellten, und eine Geschichte dazu.
Da lief ein Mensch ohne Schatten.
Nadja übersah ihn fast; normalerweise achtete sie nicht auf solche Dinge. Und zunächst konnte sie sich auch nicht erklären, was sie ausgerechnet in diesem Moment innehalten und stutzen ließ. Etwas war anders, als es sein sollte. Dann erst sickerte Begreifen in ihre Gehirnwindungen, und ihre Synapsen schossen ein Feuerwerk an Energieblitzen ab, um sie aufzurütteln.
Da lief ein Mensch ohne Schatten!
Nadja konzentrierte sich, schaute genau hin, versuchte sich selbst deutlich zu machen, dass sie nicht träumte, keiner Illusion aufsaß, keiner optischen Täuschung. Denn dieser Mensch bewegte sich mitten unter den anderen, rings um ihn bewegten sich jede Menge Schatten. Nur er hatte keinen. Weder vor, noch hinter, noch unter sich.
Kein Schatten.
Ihre Hand tastete nach Robert, stieß ihn an. »Robert, schnell, schau! Da ist ein Mann ohne Schatten.«
»Was?«, fragte er geistesabwesend.
Für einen Augenblick richtete sie die Aufmerksamkeit auf Robert, schoss einen Blitz aus den bernsteinfarbenen Augen ab, der besagte: Keine Fragen – schauen!
Das hatte gewiss nicht länger als eine Sekunde gedauert. Nadja richtete den Blick sofort wieder zu dem Mann ohne Schatten. Doch er war fort.
»Was soll ich sehen?«, wiederholte Robert ratlos, sein Blick irrte die Straße entlang, blieb kurz an einer jungen Frau im Minirock hängen, und glitt dann weiter.
»Er ist fort«, sagte Nadja frustriert. »Ich habe einen Mann ohne Schatten gesehen.«
»Ohne Schatten.«
»Ja, verdammt! Das ist doch ein wenig unnatürlich, oder?«
»Wie sah der Mann aus?«
»Er … ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht genau angesehen, weil ich so irritiert war, dass er keinen Schatten hatte. Es war nicht viel von ihm zu erkennen, nur sein Rücken, und er trug einen langen Mantel, glaube ich. Er war groß, aber nicht besonders auffällig. Wie jemand, den man gern übersieht. So beigegrau, verstehst du?«
Robert schwieg.
Nadja drehte sich zu ihm und gab sich Mühe, ruhig zu sprechen. »Robert, ich weiß, das klingt verrückt. Aber … ich schwöre dir, ich habe genau hingesehen, es war kein Irrtum.«
»Nadja.« Robert nahm ihre rechte Hand zwischen seine beiden großen, warmen Hände. Die sensiblen Hände eines Fotografen, die selbst dann nicht zitterten, wenn er zu viel getrunken hatte. »Vielleicht nimmt es dich doch zu sehr mit. Es kann nicht sein, dass wir plötzlich überall seltsamen Gestalten begegnen, das grenzt ja schon fast an Paranoia.«
»Wir sehen sie deshalb«, sagte Nadja leise, »weil wir sie sehen wollen. Unser Blick ist geschärft und darauf konzentriert. Wir haben eine Grenze übertreten, ob du willst oder nicht. All diese Dinge fallen sonst nur deswegen nicht auf, weil wir nicht auf sie achten. Wir schalten sie aus unserem Bewusstsein aus, weil wir zu wissen glauben, dass es sie nicht gibt. Also filtert unser Gehirn automatisch. Doch wir haben den Beweis auf deinen Fotos, nicht nur unsere Augen. Nun gestatte ich meinem Verstand, Dinge wahrzunehmen, die scheinbar widernatürlich sind, und …«
Robert ließ ihre Hand los, rieb sich den Dreitagebart und blickte aus dem Fenster. »Du bist bodenständig und du flüchtest dich nie in Hysterie. Manchmal bist du sogar zu verstandesbewusst und zu wenig emotional.« Er wandte sich ihr wieder zu. »Ja. Ich glaube dir. Wir sind da in eine Sache hineingeraten, die immer größer zu werden scheint. Umso dringlicher ist es, dass wir Rian Bonet finden. Konzentrieren wir uns darauf. Der Mann ohne Schatten wird nicht zufällig hier gewesen sein, vielleicht will er dasselbe wie wir: sie ausfindig machen. Aber er ist nicht unser Ziel, unser Fokus liegt auf Rian und dem Igel. Wenn wir die beiden haben, wird der Schattenlose von allein wieder auftauchen.«
Nadjas Unterlippe zitterte leicht. »Ich habe Angst, dass etwas mit mir geschieht, Robert«, wisperte sie. »Irgendetwas in mir verändert sich. Jedes Mal, wenn so was Seltsames passiert …«
»Denk nicht darüber nach. Schau, da kommt wieder ein Schwung Models, vielleicht haben wir endlich Glück.«
Aber Rian Bonet war nicht dabei.
Auch am nächsten Tag nicht, geschweige denn am übernächsten.
Nadja wurde unruhig und fing an, das Interesse zu verlieren. Die Reportage war abgeschickt, die Anfrage nach einem anderen Auftrag gestartet. »Hat doch keinen Zweck«, sagte sie zu Robert. »Entweder wir verpassen sie jedes Mal, oder sie hat Urlaub. Ich will meine Zeit hier nicht unnütz verplempern.« Ganz so unnütz war es natürlich nicht gewesen, denn in dem Café hatten sie beide ihren Auftrag fertig gestellt und dazu ein paar Internet-Anfragen erledigt. Genau so, wie sie es in dem Café in ihrer Wohnnähe getan hätten.
Robert war allerdings selbst nah daran, aufzugeben. Sie hatten mindestens einmal täglich angerufen, weitere Nachrichten hinterlassen, sogar ein persönliches Gespräch mit dem Chef geführt, doch ohne Ergebnis. Abgesehen davon, dass der von Kopf bis Fuß durchgestylte und manikürte, etwa dreißigjährige Geschäftsführer unbedingt ein Interview über seine Agentur geben wollte, mit Foto und allem, und es nicht einfach war, ihn loszuwerden. »Also schön, ich geh nochmal rein, und wenn es wieder nichts ist, dann vergessen wir das Ganze.«
»Ich geb dir fünf Minuten.« Nadja wartete draußen, mit verschränkten Armen und ungeduldig zuckender Fußspitze. Passanten eilten an ihr vorüber, der eine oder andere Mann drehte sich nach ihr um. Sie versuchte, die Neuigkeit aus Roberts Gesicht abzulesen, als er zurückkam, aber den Gefallen tat er ihr nicht.
»Sie sind weg«, berichtete er. »Rian hat die Nachrichten irgendwann geholt. Am Empfang sitzt ein junger Mann, der keine Ahnung von irgendetwas hat. Wahrscheinlich kann er nicht mal seinen eigenen Namen richtig schreiben. Aber er ist gepflegt und hübsch und zuvorkommend. Ich hab seine Telefonnummer. Er meinte, wir könnten mal zusammen einen Kaffee trinken und ein Shooting machen.« Robert betrachtete den Zettel ein wenig verträumt und lachte, als Nadja ihn in die Seite stieß.
»Willst du mir weismachen, der wäre ernsthaft an dir interessiert?«
»Ich sagte, ich sei Fotograf, der für die Vogue ein neues Unterwäschemodel sucht.«
»Hast du wenigstens irgendwelche Informationen dafür bekommen?«
»Nein, leider nicht. Was meinst du, soll ich die Nummer aufheben?«
»Bewirb dich damit bei einem Gay-Sex-Filmer, und ihr seid beide im Geschäft.«