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Anerkennung steht im Zentrum von Axel Honneths einflussreicher Theorie des Sozialen; das Unvernehmen bildet die Grundlage von Jacques Rancières nicht minder wirkmächtiger Theorie der Politik. Für Honneth ist Rancières Konzeption des Politischen realitätsfern und zu stark auf Gleichheit fixiert; laut Rancière arbeitet Honneths Theorie der Anerkennung mit falschen Vorstellungen von Subjektivität und Identität. Gemeinsam überlegen sie, welche Gestalt eine kritische Theorie der Gesellschaft heute annehmen muss. Eine höchst produktive Debatte zwischen zwei gegensätzlichen Vertretern des europäischen postmarxistischen Denkens.
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Seitenzahl: 272
3Axel Honneth
Jacques Rancière
Anerkennung oder Unvernehmen?
Eine Debatte
Herausgegeben von Katia Genel und Jean-Philippe Deranty
Suhrkamp
Cover
Titel
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Inhalt
Jean-Philippe Deranty und Katia Genel
:
Zur Einführung: Die Kritische Theorie zwischen Anerkennung und Unvernehmen
Erster Teil Eine kritische Begegnung
Jacques Rancière
:
Kritische Fragen an die Anerkennungstheorie
Axel Honneth
:
Bemerkungen zum philosophischen Ansatz von Jacques Rancière
Axel Honneth und Jacques Rancière
:
Eine kritische Diskussion
Zweiter Teil Vorschläge zur Methode der kritischen Theorie
Jacques Rancière
:
Die Methode der Gleichheit. Poetik und Politik
Axel Honneth
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Zwei Deutungen sozialer Missachtung. Epistemische und moralische Anerkennung im Vergleich
Nachweise
Namenregister
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7Jean-Philippe Deranty und Katia Genel
Der berühmte deutsche Anerkennungstheoretiker Axel Honneth, der zu den Erben der Frankfurter Schule und vor allen Dingen zu den Schülern von Jürgen Habermas gehört, und der bedeutende französische Denker des Unvernehmens, Jacques Rancière, der mit der althusserianischen Tradition gebrochen hat, sind zwei zentrale Figuren der intellektuellen Landschaft der Gegenwart. Ihr Denken ist in zwei verschiedenen Traditionen angesiedelt, aber in beiden Fällen im weitesten Sinne auf den Marxismus bezogen, den sie mit kritischen Augen betrachten. Beide Denker hegen Interesse für spezifische Gebiete innerhalb und außerhalb der Philosophie. Gemeinsam ist beiden die Sorge um den Bereich des Politischen, aber Axel Honneth bewegt sich auf dem Gebiet der Sozial-, Moral- und Rechtsphilosophie und macht in hohem Maße und auf reflektierte Weise von den Sozialwissenschaften Gebrauch, während Jacques Rancière sich der Geschichtswissenschaft, Ästhetik und Literatur zugewandt hat. Auf den Gebieten der Sozialwissenschaften, der politischen Theorie und der kritischen Philosophie ist ihr Denken heute so einflussreich, dass sich eine Auseinandersetzung mit ihren beiden Modellen geradezu aufzudrängen scheint. Dabei geht es um die Frage, ob die Paradigmen, die sie anführen, um die Gesellschaft zu kritisieren und ihre Weiterentwicklung sowie die Transformationen zu ergründen, die sie gerechter bzw. freier machen sollen – das Paradigma der Anerkennung und das des Unvernehmens –, miteinander konkurrieren, sich wechselseitig ausschließen oder vereinbar sind.
Auch wenn eine solche Auseinandersetzung eine Aufgabe zu sein scheint, die in der gegenwärtigen Situation auf der Hand liegt, ist sie bis jetzt nicht wirklich in Angriff genommen worden.[1] Immer8hin fand im Juni 2009 eine Begegnung der beiden Denker im historischen Gebäude des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main statt. Hier haben Rancière und Honneth eine Diskussion über die Thesen ihrer jeweiligen Bücher Kampf um Anerkennung und Das Unvernehmen[2] geführt, die von dem deutschen Philosophen Christoph Menke moderiert wurde. Dabei haben beide zunächst die theoretische Position ihres Gesprächspartners auf der Basis der zentralen These von dessen Hauptwerk »rekonstruiert«. Dies hat zu einer Debatte über die Grundprinzipien geführt, auf die sich das Modell von »kritischer Theorie« stützt, das sie jeweils repräsentieren (und die in einem noch näher zu erläuternden Sinne zu verstehen ist, was zu den Aufgaben gehört, die sich dieses Buch vorgenommen hat), zu einer Klärung ihrer methodologischen Herangehensweisen an das Soziale und an das Politische und schließlich zu einer Erörterung der Möglichkeit der Überwindung von Ungerechtigkeit und der politischen Transformation der Gesellschaft. Das vorliegende Buch ist aus dieser kurzen, aber intensiven Begegnung der beiden Denker hervorgegangen. Hier finden sich die Texte veröffentlicht, die Honneth und Rancière vorgetragen haben, der theoretische Austausch, der zwischen ihnen stattgefunden hat, sowie jeweils ein Text von beiden, der zur Weiterführung der Diskussion die Kenntnis ihres Denkens, ihrer Methode und ihrer allgemeinen Ausrichtung vertiefen soll. Diese Dokumente erlauben es zwar, einige Einwände aus der Welt zu schaffen, sie enthüllen aber auch Divergenzen zwischen den beiden Autoren und den Besonderheiten ihrer jeweiligen Positionen. Unsere Einführung verfolgt die Absicht, einen Ausblick auf diesen Dialog zwischen Honneth und Rancière zu geben – und zwar sowohl auf den Dialog, den sie tatsächlich geführt haben, als auch auf den Dialog, der sich von außen rekonstruieren und extern fortsetzen lässt.
Honneth und Rancière entwickeln theoretische Werkzeuge, die auf das Verständnis und die Veränderung der gegenwärtigen Gesellschaften zielen. Damit reihen sie sich beide in eine im weiten Sinne verstandene »kritische Theorie« ein. Doch was wie ein gemeinsamer Anknüpfungspunkt aussieht, stellt auch ein Problem dar, mit dem jeder auf seine Weise umgeht. Bevor wir auf die Besonderheiten der jeweiligen Herangehensweisen eingehen, sollten wir präzisieren, was unter solch einer »kritischen« Tradition zu verstehen ist.
Dies lässt sich zunächst unter Bezugnahme auf Marx erhellen, insofern Kritik die Suche nach einer Verknüpfung von Theorie und Praxis bedeutet und auf den Versuch verweist, die für eine bestimmte soziale Lage verantwortlichen Illusionen zu zerstreuen, um emanzipatorisches Bewusstsein freizusetzen. Allgemeiner ausgedrückt, verweist die Kritik auf den Versuch, die Bedingungen freier Praxis gedanklich zu erfassen.[3] Genauer gesagt, und darauf nimmt Honneth an zentraler Stelle Bezug, verweist die kritische Theorie auf die Kritische Theorie, die Anfang des 20. Jahrhunderts von der Frankfurter Schule ausgearbeitet wurde, als die Revolution der Arbeiter scheiterte und der Aufstieg des Nationalsozialismus begann. Als solch eine Kritische Theorie im engeren Sinne des Wortes wird die marxistisch inspirierte, von Max Horkheimer in den 1930er Jahren neuformulierte Methode bezeichnet, in deren Umfeld die Mitglieder des Instituts für Sozialforschung sich versammelten. Im Jahr 1937 hat Horkheimer Kritische Theorie im Gegensatz zur traditionellen Theorie als selbstreflexive, sich der sozialen Bedingungen, unter denen sie sich entfaltet, bewusste und deren Veränderung mit dem Ziel der Emanzipation anstrebende Theorie definiert.[4] So verstanden, war die Kritische Theorie eigent10lich ein Name, der die Bezugnahme auf den Marxismus verschleiern sollte – auf einen mit Hegels Brille, gegen das positivistische Verständnis der politischen Parteien der Zeit gelesenen Marxismus. Es ging darum, eine Theorie zu benennen, welche die sozioökonomische Wirklichkeit nicht billigte, sondern durch das Fällen eines Gesamturteils über die Gesellschaft und über die Richtung in Frage stellte, in der sie sich entwickeln müsste, um die Emanzipation aller zu verwirklichen. Durch die Feststellung, dass nicht einmal mehr die auf dialektische Weise in eine Theorie gesellschaftlicher Entwicklung einbezogenen Wissenschaften noch Kritik gewährleisteten, hat die Frankfurter Theorie dann unter dem Namen »Dialektik der Aufklärung« eine von Horkheimer und Theodor W. Adorno erarbeitete, neue Form radikaler Vernunftkritik angenommen. Letzterer hat der Kritischen Theorie in der Folgezeit die Gestalt einer »negativen Dialektik« gegeben. Im Zuge der linguistischen Wende gelangte Jürgen Habermas zu der Ansicht, dass die von seinen Vorgängern entwickelte Rationalitätskritik einseitig geblieben war und keine Entfaltung einer konstruktiven Kritik gestattete, auf die sich die Veränderung der Gesellschaft gründen ließe. In dieses komplexe Vermächtnis zweier Generationen fügt Honneth sich ein: Er beruft sich auf das Erbe der ersten Generation und unterstreicht dabei zwar den pluralen Charakter der Kritischen Theorie, die diese entworfen hat,[5] greift aber seinerseits auch einen Teil der Kritik von Habermas wieder auf. Davon abgesehen, relativiert Honneth das Frankfurter Erbe auch dadurch, dass er sein Projekt als Aktualisierung von Hegels Philosophie ausweist.[6]
Parallel dazu hat sich in Frankreich eine kritische Tradition entwickelt, die in den Vereinigten Staaten eine Fortsetzung erfuhr, 11ohne dass eine Verbindung zwischen dieser französischen »Schule« und der deutschen Schule hergestellt wurde, es sei denn sehr spät und nur teilweise, wie Michel Foucaults Bemerkungen über seine Nähe zur Frankfurter Schule[7] oder auch die Tatsache belegen, dass Annäherungen erst nachträglich durch spätere Generationen (vor allem durch Honneth[8] ) erfolgten. Diese in der französischen Nachkriegsphilosophie Wirkung zeigende »kritische Theorie« ist in einem weiten Sinne zu verstehen, denn sie ist heterogen im Hinblick auf sowohl ihre wichtigsten Bezugsgrößen (auch wenn Heidegger ein gemeinsamer Bezugspunkt ist) als auch ihre Methoden. Was Foucault anbelangt, verfährt diese französische kritische Theorie zu weiten Teilen historiografisch, bei anderen Vertretern, wie etwa Deleuze, Derrida, Badiou oder Lyotard, ist sie stärker philosophisch ausgerichtet. Mit Rancière eröffnet diese Art des kritischen Denkens noch nicht erschlossene Wege an die Ränder der etablierten disziplinären Diskurse. Auf jeden Fall setzt es jedoch Begriffe und Methoden ein, die den Zusammenhang zwischen Wissen bzw. Diskurs und Machtbeziehungen in Frage stellen. Die Gender Studies, Subaltern oder Postcolonial Studies, das ökologische Denken, der Feminismus und der Neomarxismus der Gegenwart haben weitreichende Anregungen aus diesem französischen Nachkriegsdenken bezogen, wie die einschlägigen Werke etwa von Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Judith Butler, Gayatri Chakravorty Spivak oder Donna Haraway anschaulich machen. Man hat es hierbei mit einem uneinheitlichen, aus dem Niedergang des Marxismus geborenen und dessen Erneuerung anstrebenden kritischen Gedankengut zu tun, das die herrschenden, mit den gesellschaftlichen Veränderungen der Gegenwart einhergehenden Diskurse und Praktiken analysiert und zurückweist. Für einen großen Teil dieser im Fahrwasser französischer Philosophie eine kritische Theorie entwickelnden Autoren ist Foucaults Definition von Kritik paradigmatisch: 12dass nämlich Kritik eher als Gegenwartsdiagnose und praktisches Engagement verstanden werden müsse und nicht im strengen Sinne in den Bereich der Theorie falle.[9]
Honneths und Rancières Denken ist auf je eigene Weise mehr oder weniger ausdrücklich auf diesem weiten und heterogenen Feld »kritischer Theorie« angesiedelt. Honneth setzt insofern die Frankfurter Tradition fort, als diese von »sozialen Pathologien der Vernunft«, von einem Zustand »sozialer Negativität« ausgeht,[10] auf dessen Grundlage die Gesellschaftstheorie die sozialen »Bedingungen guten oder gelingenden Lebens« konkretisiert. Seiner Ansicht nach macht die »Vermittlung von Theorie und Geschichte in einem Begriff der sozial wirksamen Vernunft«[11] die theoretische Identität der Frankfurter Tradition aus. Eine solche Vermittlung zwischen Theorie und Geschichte lege den Charakter der geübten Kritik fest: Die Gesellschaftskritik »muß […] die Kritik sozialer Mißstände mit einer Erklärung der Prozesse verknüpfen, die zu deren allgemeiner Verschleierung beigetragen haben«. Die »normative Kritik« soll also durch eine historische Erklärung (den historischen Verformungsprozess der Vernunft) vervollständigt werden.[12] Honneth analysiert die Mechanismen, die zur Neutralisierung von Gerechtigkeitsansprüchen, zur Ausblendung der normativen Erwartungen der Bürger*innen und zum Auftreten von Situationen sozialer Ungerechtigkeit führen, als handele es sich dabei um unproblematische Tatsachen. Die von ihm entworfene Kritik soll weder abstrakt oder formal sein noch darf sie »das normative Motiv eines vernünftigen Allgemeinen, die Idee einer sozialen Pathologie der Vernunft und das Konzept eines emanzipatorischen Interesses« preisgeben.[13]
13Diese Verankerung der Gesellschaftskritik in den Anforderungen einer »geschichtlich wirksamen Vernunft« ist nun aber etwas, das Honneth von der ersten Generation der Kritischen Theorie geerbt bzw. übernommen hat, und gleichzeitig etwas, das ihm zufolge an dieser Generation problematisch ist. Er ist der Ansicht, dass die normativen Kriterien der Kritik in dieser Tradition zu implizit geblieben sind und der Begriff »gesellschaftlicher Rationalität« nicht klar genug herausgearbeitet wurde. Die Aufgabe einer solchen Klarstellung geht Honneth unter Rückgriff auf den intersubjektiven, kommunikativen Blickwinkel von Habermas an. Sein Ansatz ist insofern habermasianisch, als er auf der Absicht beruht, die normativen Grundlagen der Kritik zu klären, um einen zu einseitigen Rationalitätsbegriff zu vermeiden, den er als Manko der ersten Generation der Kritischen Theorie betrachtet, insbesondere in Adornos und Horkheimers berühmtem Buch Dialektik der Aufklärung und in Adornos soziologischen Schriften. Honneth zufolge reduzieren seine Vorgänger die Vernunft auf ihre instrumentelle Bedeutung und setzen sie mit Herrschaft gleich, was eine sowohl auf theoretischer Ebene als auch für die soziologische Diagnose abträgliche Verwirrung stifte und faktisch einer bestimmten Form von Funktionalismus gleichkomme. Stattdessen müsse der von Habermas so genannten »Lebenswelt« wieder der ihr gebührende Platz zugebilligt werden. Sie stelle eine normative Ressource dar, die sowohl Widerstand gegen Herrschaft erlaube als auch Verständigung möglich mache.
Honneths Verständnis von Kritik ist trotzdem nicht im strengen Sinne habermasianisch. Erstens hat er sich immer darum bemüht, einige Bestandteile des Foucault’schen Denkens in den habermasianischen Rahmen einzubeziehen, vor allem die große Bedeutung, die dem Kampf gegen die Macht eingeräumt wird.[14] Zweitens stellt er Habermas’ Unterscheidungsweise von System und Lebenswelt in Frage. Er betrachtet die soziale Reproduktion im Hinblick darauf, was in ihr die sozial akzeptierten Werte und Ideale aufrechterhält; die »normative Rekonstruktion«, die er vornimmt, fasst diese gerechtfertigten Werte und Ideale als immanente Kriterien zur Beurteilung des empirischen Materials auf, das die Gesellschaftsana14lyse liefert. Die Institutionen und Praktiken werden also »auf ihre normativen Leistungen hin« interpretiert, das heißt gemäß ihrem Beitrag zur Stabilisierung und Umsetzung dieser Werte.[15]
Gleichzeitig bleibt Honneth der ersten Generation der Frankfurter Schule (und insbesondere dem Programm von Horkheimer) in seiner Absicht treu, wieder eine Verbindung zwischen Philosophie und Sozialwissenschaften herzustellen, um eine Kritik der Gesamtgesellschaft vornehmen zu können. Das von Honneth um den Anerkennungsbegriff herum entwickelte Modell veranschaulicht diese Auffassung von Gesellschaftskritik, die Sozialphilosophie mit den Beiträgen der Einzelwissenschaften verknüpft: Die Theorie, der zufolge die Bildung eines autonomen Subjekts nur möglich ist, wenn auf affektiver, rechtlicher und sozialer Ebene intersubjektive Anerkennungsbeziehungen gewährleistet sind, wurzelt in Forschungen auf den Gebieten der Psychologie und Psychoanalyse, der Soziologie, der Rechtstheorie, ja sogar der Psychodynamik der Arbeit und wird zugleich auf diesen Gebieten weitergeführt.
Im Rahmen der Ausarbeitung seiner Anerkennungstheorie kritisiert Honneth überdies ein bestimmtes französisches Verständnis von Anerkennung, das er als negativ bezeichnet – und damit einen Marxismus, den er für falsch und übertrieben hält. Er betrachtet vor allem Althussers Anerkennungstheorie als eine Ideologie, welche die Bildung von Subjektivität am Beispiel des Polizisten[16] auf die Anrufung des Subjekts gründe, und deshalb als eine Herangehensweise, die dem von ihm selbst vorgelegten Ansatz idealtypisch entgegensteht. In Honneths Augen darf Anerkennung genauso wenig ausschließlich ideologisch sein, wie sie vollständig »unterwerfen« [subjectiver] sollte; Anerkennung sei nur insofern von Interesse, als das Bedürfnis nach Anerkennung, wenn es mit Füßen getreten werde, die normativen Erwartungen der Subjekte enthüllen könne. Sie liefert also einen Interpretationsrahmen für soziale Konflikte. Wie Rancière zeigt auch Honneth sich in Bezug auf diesen Punkt skeptisch gegenüber jedem Anspruch, einen wissenschaftlichen Standpunkt einzunehmen, der sich vor Ideologie sicher wähnt, und gegenüber allen paternalistischen Formen von Kritik.
15Auch die Herangehensweise von Rancière in seinen späteren Schriften steht der marxistischen Tradition weitgehend kritisch gegenüber,[17] weil diese zu Unrecht einen Trennstrich zwischen Philosophen und gewöhnlichen Menschen ziehe. In seinen ersten Texten hatte Rancière noch einen radikalmarxistischen Ansatz verfolgt; und in einem legendären Buch hat er gemeinsam mit Louis Althusser, Étienne Balibar, Roger Establet und Pierre Macherey Das Kapital von Marx kommentiert.[18] In der Folgezeit hat er mit dieser Sichtweise gebrochen, weil er ihr die Einführung eines »epistemologischen Schnitts« vorwarf. Zur Umschiffung dieser Klippe wandte Rancière sich den Archiven der Arbeiterklasse zu (in dem Band La parole ouvrière, in dem die Arbeiter selbst das Wort ergreifen), um jene sozialen und politischen Diskurse und Praktiken zu rekonstruieren, die eine Rekonfiguration des politischen Raums möglich machen könnten. Diese Diskurse und Praktiken sind eben gerade deshalb politisch, weil sie den durch die »Aufteilung des Sinnlichen« etablierten Konsens aufkündigen; sie stellen die Verbindung zwischen der sozialen Position und den dieser Position zugeschriebenen Fähigkeiten in Frage – die Fähigkeit zu sehen, zu sagen und festzulegen, was für die betreffende Position angemessen ist. Da er einer bestimmten Form von Marxismus so entschieden den Rücken kehrt, interessiert Rancière sich nicht für die Massen und ihre Praktiken, sondern widmet sich im Jahr 1981 in Die Nacht der Proletarier den »Diskursen und Träumereien« einiger »›nicht repräsentativer‹ Individuen«.[19] Darin nimmt Rancière sich »die Worte, die Erklärungen und Träume« einer Reihe von Personen 16vor, »[e]inige Dutzend, einige Hundert Proletarier, die um 1830 zwanzig Jahre alt waren, und die in dieser Zeit jeder für sich entschieden haben, das Unerträgliche nicht weiter zu ertragen«.[20] Die »Nacht«, von der die Rede ist, wurde »der normalen Abfolge von Arbeit und Erholung entrissen«, sie unterbricht den normalen Lauf der Dinge, ist eine Nacht, »in der das Unmögliche sich vorbereitet, träumt, bereits lebt: die Aufhebung der überlieferten Hierarchie der Unterordnung der Handarbeiter unter diejenigen, die das Privileg des Denkens besitzen«.[21] Rancières Ansicht nach bildet sich die Arbeiteridentität paradoxerweise genau an dieser Stelle: In dem Moment, wo sie versuchen, die proletarische Lebensweise hinter sich zu lassen, erschließt sich das, was er als einen für die Ordnung der Dinge grundlegenden Punkt des Nicht-Einverständnisses bezeichnet, allerdings vermittelt durch die Zwänge des proletarischen Lebens. Dieser Blickwinkel einer von einem Klassenbewusstsein oder irgendeiner Form von Arbeitermythologie weit entfernten Wiedererlangung der Stimme der Arbeiterschaft ist Rancière zufolge wirksamer für die Kritik einer Aufteilung, die »jeden an seinem Platz belässt«.[22]
Was hier zum Ausdruck kommt und sich überall in Rancières Werk bemerkbar macht, ist eine Methode der Gleichheit. Dafür findet sich ein schlagendes Beispiel in seinem Buch Der unwissende Lehrmeister, in dem er im Ausgang von der Figur Jacotots, der seinen Unterricht auf die Gleichheit der Intelligenzen stützte, eine völlige Neudefinition dessen vorschlägt, was Unterrichten bedeutet: Der Unwissende unterrichtet und ruft emanzipatorische politische Wirkungen hervor, weil er Gleichheit voraussetzt.[23] Schon in Die Nacht der Proletarier hatte Rancière darauf hingewiesen, dass man »von der Scharfsinnigkeit derjenigen lernen« müsse, die 17keine Berufsdenker seien, »und uns durch die Durchbrechung des Tag-und-Nacht-Kreislaufs trotzdem beigebracht haben, die Selbstverständlichkeit des Verhältnisses zwischen Wörtern und Dingen, Vorher und Nachher, Möglichem und Unmöglichem, Einverständnis und Weigerung in Frage zu stellen«.[24] Es geht hier gewissermaßen darum, von der Scharfsinnigkeit der Schüler*innen zu lernen.
Mit der Methode der Gleichheit gibt Rancière der Kritik die neue Form einer politischen Subversion der sozialen Ordnung: Die soziale Ordnung wird durch jeden Akt zurückgewiesen, der die Gleichheit jedes Beliebigen mit jedem Beliebigen voraussetzt und verifiziert. Kritik ist also die Bestrebung, eine auf Ungleichheit beruhende soziale Organisationsform zu durchschauen, indem die vorgegebenen Plätze über den Haufen geworfen werden und die Aufteilung, auf der die Ungleichheit beruht, dadurch zurückgewiesen wird, dass der nicht zählende Anteil in Erscheinung tritt: der Anteil der Anteilslosen, um es in den Worten von Das Unvernehmen auszudrücken. Dadurch wird der Begriff des Sozialen neu definiert. Das Soziale ist weder bloß Gegenstand einer »Sorge der Macht« noch reine Machtproduktion (wie es aus Foucault’scher Perspektive der Fall wäre[25] ), und es macht auch nicht die Wahrheit der Politik aus. Rancière interessiert sich für die Verschränkung dieser verschiedenen Bedeutungen des Sozialen. Mit dem Sozialen steht eine Aufteilung auf dem Spiel, die »polizeilich« im Sinne der frühen wissenschaftlichen Studien zur Staatsführung [gouvernement] vorgeht, das heißt eine funktionale Zuweisung von Plätzen vornimmt, die sich stets auf materielle und symbolische Hierarchien stützt. Nach Rancières Meinung ist Politik eine Möglichkeit, diese Art der Zuweisung im Namen der Gleichheit zurückzuweisen.
Wenn sie aktiv von Individuen in Angriff genommen wird, bringt die innerhalb der sozialen Ordnung auftretende Gleichheit Formen der »Subjektivierung« hervor. Dies widerspricht der Vorstellung, dass die Bildung von Subjektivität die Verwirklichung von Identität ist, und sei es in Form persönlicher Integrität wie bei Honneth. Kritik wurzelt auch nicht in ursprünglicher, lebendiger Subjektivität (wie es in bestimmten marxistischen Lesarten oder sogar bei Foucault der Fall ist). Die theoretische Grundlegung der politischen Subjektivierung, die einer Des-Identifizierung mit der sozialen Zuweisung entspricht, kommt weitgehend ohne die Sozialwissenschaften aus und widerspricht der Vorstellung einer Bildung von Autonomie aus bereits bestehenden Formen von Heteronomie. Aus diesem Blickwinkel hat die kritische Theorie nicht die Aufgabe, einer sozialen Stellung oder Situation wissenschaftlich Rechnung zu tragen. Rancière lehnt die methodologischen Voraussetzungen der kritischen Ansätze (von marxistischen Theorien wie der Frankfurter Schule oder Althusser bis zur kritischen Soziologie Bourdieu’scher Prägung sowie der Sozialgeschichte und der Kultursoziologie) ab, die soziale Ungleichheiten zum Ausgangspunkt nehmen und sich auf einen Prozess der Überführung gegenwärtiger Ungleichheit in eine zukünftig erreichbare Gleichheit berufen. Faktisch leisten solche Wissenschaften Rancière zufolge einer Methode der Ungleichheit Vorschub. Dass Passivität in einer unbestimmten Zukunft in Aktivität übergehen soll, setzt nämlich seinerseits Asymmetrie und Ungleichheit voraus. Die Erklärung, dass Herrschaft und Ausbeutung aus der Unkenntnis der sozialen Beziehungsmechanismen hervorgegangen sind, führt also in einen Zirkel, den die Arten von kritischer Theorie, die Rancière verwirft, zur Rechtfertigung ihrer eigenen Geltung heranziehen: Die Individuen seien unwissend, weil sie beherrscht werden, und würden beherrscht, weil sie unwissend sind. Doch wenn die Individuen beherrscht werden, weil sie die Gesetze von Herrschaft nicht kennen, wissen sie nichts davon, dass sie beherrscht werden. Rancières Methode, die im Gegensatz dazu direkte Wirkung zeigen soll, beruht also nicht auf der Kritik von Ideologie und Illusion und widersetzt sich den philosophischen und soziologischen Methoden, die Platons Gleichsetzung von sozialer Hierarchie und Hierarchie der Seelen übernehmen und die Korrelation zwischen sozialer Aktivität und geistigen Fähigkeiten »wissenschaftlich« begründen. Vielmehr beruht sie auf der Zurückweisung des mit der Verteilung der sozialen Positionen der Subjekte verbundenen Konsenses. Auf diese Weise verzichtet Rancière nicht nur auf soziologische Analysen, er 19stellt sogar die Epistemologie in Frage, die sie voraussetzen – und dieser Punkt steht in radikalem Gegensatz zur Frankfurter Tradition.
Die »kurze Begegnung« zwischen Honneth und Rancière bildet mithin den Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung, bei der viele Dinge auf dem Spiel stehen, die es zu entfalten gilt: Sie bietet einen Einblick in die Fruchtbarkeit eines Vergleichs dieser beiden Weisen, Kritik zu üben. Sie ist folglich Teil der fortgesetzten, ganz verschiedenartigen Dialoge, die bereits innerhalb der pluralen und spannungsdurchzogenen kritischen Tradition stattgefunden haben. Von solchen Dialogen ist zum Beispiel die Generationenabfolge der Frankfurter Schule geprägt, die durch Übernahmen und Brüche, durch Wiederaneignungen oder Aktualisierungen eines Erbes gekennzeichnet ist, dessen ursprüngliche Form durch sie verändert wurde; das Gleiche gilt für die Leser von Foucault oder Derrida. In anderen Dialogen wurden die deutsche und die französische Tradition einander gegenübergestellt, und in manchen Fällen haben die Divergenzen sich als produktiv erwiesen, man denke etwa an den Dialog, der zwischen Habermas und Derrida stattgefunden hat[26] – ein echter Dialog, an den sich eine externe Auseinandersetzung anschloss[27] –, aber auch an den Dialog zwischen Habermas und den Feministinnen.[28] Es hat aber auch Auseinandersetzungen gegeben, die in höherem Maße von Missverständnissen und Unstimmigkeiten geprägt waren, zum Beispiel, als Habermas sich gegen die französische Kritiktradition und vor allem gegen Foucault gestellt hat, dessen Kryptonormativismus er ablehnte. Diese verpasste Diskussion zwischen Habermas und Foucault ist schließlich extern in wichtigen Büchern nachgeholt worden, zum Beispiel in David Couzens Hoys und Thomas McCarthys Critical Theory, in dem sich zwei Interpretationen des »sueños der Vernunft« – gleichzeitig ihr Schlaf und ihr Traum (der laut Goya Ungeheuer gebiert) –, zwei Bilder des kritischen Paradigmas gegenüberstehen: auf der einen Seite das von McCarthy verkörperte habermasianische (in 20Gestalt des »Wandels in der Kontinuität des Kantischen Vernunftverständnisses«) und auf der anderen das von Hoy, der für die von Gadamer oder Foucault vorgelegten Alternativen Partei ergreift, die »die Zufälligkeit dessen, was als rational verstanden wird«, ins Feld führen.[29] In Kritik der Macht hat auch Honneth selbst eine solche Auseinandersetzung mit Habermas und Foucault geführt,[30] und zur selben Zeit hat er Adornos und Foucaults Unterfangen als zwei Versuche miteinander verglichen, die europäische Vernunft und die Ausweitung von Herrschaft zu entlarven, die mit ihrer Entwicklung einhergeht.[31] Außerdem hat Honneth sich an Diskussionen mit seinen Zeitgenossen beteiligt. Sein Dialog mit Nancy Fraser über die Paradigmen von Anerkennung und Umverteilung, der neu über soziale Gerechtigkeit nachdenkt, ist sicherlich am bekanntesten,[32] es haben aber auch andere Diskussionen stattgefunden – zum Beispiel mit der »kritischen Soziologie« von Luc Boltanski[33] oder mit 21Christophe Desjours’ Psychodynamik der Arbeit. Zu diesen Gesprächen, welche die kritische Tradition strukturiert haben, ließen sich noch der Dialog von Ernesto Laclau, Judith Butler und Slavoj Žižek sowie der Dialog hinzufügen, zu dem Judith Butler und Catherine Malabou zusammengekommen sind.[34]
Unser »kritischer Dialog« ist Teil dieser doppelten Blickrichtung: zum einen auf die Dialoge, die stattgefunden haben, zum anderen auf die nachträglich rekonstruierten oder imaginierten Auseinandersetzungen. Er umfasst einen anlässlich einer persönlichen Begegnung tatsächlich geführten Dialog, versteht sich aber auch als Ausgangspunkt weiterer Entwicklungen und anderer Dialogmöglichkeiten. Zu diesem Zweck müssen Divergenzen und Gemeinsamkeiten ausgelotet werden.
Schon bevor die Begegnung überhaupt stattgefunden hatte, waren die Divergenzen zwischen unseren mitten im Zentrum dieser gemeinsamen und komplexen kritischen Tradition angesiedelten zwei Autoren mit Händen zu greifen, so dass zu befürchten war, dass die Voraussetzungen der beiden Ansätze unvereinbar seien.
Zunächst einmal haben unsere Autoren nicht dieselbe Vorstellung von Dialog, Kommunikation und letzten Endes Gemeinschaft. Rancière lehnt ein auf die Möglichkeit idealer Verständigung [entente] gegründetes Verständnis von politischer Gemeinschaft Habermas’scher Prägung ab und konzentriert sich auf die Elemente des »Unvernehmens« [mésentente], die jeglichen Dialog zwischen Gleichen verhindern. In seinen Augen beginnt das Problem der Politik »dort, wo die Stellung des Subjekts auf dem Spiel steht, das 22fähig ist, sich mit der Gemeinschaft zu beschäftigen«.[35] Um zu ermitteln, was eine politische Gemeinschaft sei, müsse man auf den Augenblick der gesellschaftlichen Entscheidung darüber zurückgehen, wessen Stimmen als bloße Ausdrucksformen fehlender Rationalität, das heißt als Lärm, gelten und wem die Fähigkeit zuerkannt [reconnu] wird, tatsächlich zu Wort zu kommen. Seiner Analyse zufolge wird jede Gemeinschaft anfangs auf diese Weise aufgeteilt. Im dritten Kapitel von Das Unvernehmen siedelt Rancière sein Verständnis des Politischen eindeutig außerhalb der – in seinen Augen falschen – Alternative zwischen aufklärerischer, kommunikativer Rationalität auf der einen Seite und der Finsternis ursprünglicher Gewalt oder irreduzibler Differenz auf der anderen Seite an bzw. jenseits der Alternative zwischen einem Austausch von Partnern, die ihre Interessen oder Normen zur Diskussion stellen, und der Gewalt des Unvernünftigen.[36] Die Gleichsetzung von politischer Rationalität und Sprecherposition bildet die Voraussetzung dessen, was nach Rancières Meinung in den politischen Kämpfen gerade in Frage gestellt werden sollte. Als Beispiel führt er die Äußerung »Ihr habt mich verstanden« an, die er Habermas’ Vorstellung entgegensetzt, dass das Postulat einer der Vernunft innewohnenden Herrschaft einen performativen Selbstwiderspruch darstellt. Diese Äußerung schließe zwar ein geteiltes Verständigungsideal ein, beim zweiten Lesen aber auch eine Gegenüberstellung derjenigen, die Probleme verstehen, und derjenigen, die Befehle verstehen müssen. Sie mache anschaulich, dass im Inneren des Logos eine Kluft zwischen der Sprache der Probleme und der Sprache der Befehle bestehe.[37] Anstatt aus einer habermasianischen Perspektive das Verfahren zu analysieren, das auf Seiten der in der Kommunikationssituation prinzipiell gleichgestellten Bürger*innen das Erreichen eines Konsenses möglich macht, wäre also die Zusammensetzung der politischen Gemeinschaft selbst zu untersuchen und in der Folge die Möglichkeit von Kommunikation, indem man auf der von Grund auf asymmetrischen Dimension des rationalen Austausches besteht. Man müsse nicht nur die Uneinigkeit berücksichtigen, sondern auch das Unvernehmen.
23Wenn es in der Politik um die Aufteilung geht zwischen dem, was sozial sichtbar ist, und dem, was unsichtbar bleibt, zwischen wirklichem Sprechen und den Stimmen, die nur Lärm sind, ist die politische Perspektive von Anfang an mit dem Ästhetischen verknüpft, das Rancière ebenfalls neu definiert. In Die Aufteilung des Sinnlichen stellt er klar, dass er die Absicht verfolgt, den Sinn dessen herauszuarbeiten, was unter Ästhetik verstanden wird: »Ästhetik ist weder eine allgemeine Kunsttheorie noch eine Theorie, die die Kunst durch ihre Wirkungen auf die Sinne definiert, sondern eine spezifische Ordnung des Identifizierens und Denkens von Kunst. Ästhetik ist eine Weise, in der sich die Tätigkeitsformen, die Modi, in denen diese sichtbar werden, und die Arten, wie sich die Beziehung zwischen beiden denken lässt, artikulieren, was eine bestimmte Vorstellung von der Wirksamkeit des Denkens impliziert.«[38] Diese ästhetische Perspektive hat in der zweiten Generation der Frankfurter Schule ein sehr viel geringeres Gewicht.
Honneths Anerkennungstheorie führt dagegen Habermas’ Kommunikationsparadigma fort und bearbeitet es von innen. Wie Habermas setzt Honneth bei einer innerweltlichen Instanz an: nicht bei der Kommunikationsausübung, aus der sich die Voraussetzungen idealer Verständigung ableiten, sondern bei einer Art von sozialer Interaktion, die in seinen Augen noch grundlegender ist. Denn Honneth erweitert und korrigiert den Habermas’schen Rahmen dadurch, dass er von den negativen Erfahrungen ausgeht, die ein Individuum machen kann, wenn ihm die Anerkennung verwehrt wird, um die normativen Erwartungen auf der affektiven, rechtlichen und sozialen Ebene freizulegen, die durch bestimmte soziale Beziehungskonfigurationen verletzt werden.[39] Damit die Theorie die Probleme der Betroffenen aufgreifen kann, wie Habermas es beabsichtigt,[40] müsse man bei Erfahrungen verwehrter oder 24verzerrter Anerkennung ansetzen oder auch bei Erfahrungen von Ungerechtigkeit, welche die Beherrschten machen (und die nach Honneths Einschätzung nicht unbedingt ein Kommunikationshindernis darstellen), und bei der Sprache, in der sie diese zum Ausdruck bringen bzw. sie nicht zum Ausdruck zu bringen vermögen. Honneth zufolge lässt sich Kommunikation nicht auf sprachlichen Austausch reduzieren, weil sie eine körperliche Dimension besitzt, die eine Analyse der Anzeichen von sozialer Missachtung oder sozialer Unsichtbarkeit nötig macht. Honneth steht also in Kontinuität mit Habermas’ kommunikativer Wende, beabsichtigt aber, die Unzulänglichkeiten der Kommunikationstheorie zu beheben.[41] Er möchte »die abstrakten Umrisse der kommunikativen Vernunft dadurch in stärkerem Maße soziologisch begreifen, dass versucht wird, sie als Prinzip wechselseitiger Anerkennung direkt in der gesellschaftlichen Reproduktion zu verankern«.[42] Wenn sie einer in sozialen Kämpfen explizit zum Ausdruck kommenden praktischen und diskursiven Ebene entnommen werden, enthalten die normativen Erwartungen von Anerkennung ein kritisches Potenzial, das eine Dynamik gesellschaftlichen Wandels in Gang zu setzen vermag.
Honneth stellt also, und darin besteht ein weiterer bedeutender Unterschied zu Rancière, normative Erwartungen und moralische Erfahrung ins Zentrum seiner Theorie. Rancière wiederum kritisiert eine ethische Wende in Politik und Ästhetik, die er im Zuge seiner Analyse von Kunstwerken – anhand von Filmen oder zeitgenössischen Kunstinstallationen – diagnostiziert hat.[43] Eine solche Wende führe zur Ununterscheidbarkeit von Sein und Sein-Sollen und zur Auflösung des Normativen im Faktischen. Für Rancière bedeutet die ethische Wende nicht die tugendhafte Rückkehr zu moralischen Normen, sondern die Aufhebung der Unterteilung, die das Wort »Moral« selbst impliziert, nämlich der Unterteilung 25von Rechtlichem und Faktischem – die Verwandlung der politischen Gemeinschaft in eine ethische Gemeinschaft eines einzigen Volks, in der angeblich jeder zählt.[44] Moralische Erwägungen bieten keinen Zugang zu sozialer Normativität: Beide Autoren siedeln ihr kritisches Denken anscheinend auf verschiedenen Ebenen an. Doch auch wenn der eine Sittlichkeit und Gesellschaft verknüpft, während der andere Moral und Politik trennt, werden wir sehen, dass Rancières politische Position gleichwohl normative Äußerungen und Gerechtigkeitsansprüche voraussetzt, obwohl sie nicht explizit als solche bezeichnet werden.
Wie kann sich auf der Grundlage von zwei divergierenden Auffassungen von Gemeinschaft und Verständigung [entente] ein Dialog entspinnen? Trotz starker theoretischer Differenzen – die während des Austausches nicht ausgespart wurden – hat die Diskussion zwischen den beiden Denkern stattgefunden und von der zentralen Frage der Transformation der bestehenden Ordnung ihren Ausgang genommen. Rührt der Impuls, mit dieser Ordnung zu brechen, vom Bedürfnis nach Anerkennung oder eher vom Verlangen nach Gleichheit her? Die vorgeschlagenen Lösungen gehen im Hinblick darauf auseinander, was als Antriebskraft des historischen Wandels ausgemacht wird.
Während der Diskussion haben beide Philosophen im Ansatz ihres Gesprächspartners Elemente aufgespürt, die dem kritischen Projekt einer Transformation der Gesellschaft zu widersprechen scheinen, das dieser gleichwohl zu vertreten behauptet. Rancières Beitrag gründet in der Kritik an dem spezifischen Verständnis des Subjekts und von dessen Identität, das die Anerkennungstheorie seines Erachtens voraussetzt. Er vertritt die Ansicht, dass diese Theorie Gefahr laufe, das Moment der Unstimmigkeit oder des Unvernehmens zu vergessen. Honneths Theorie der Anerkennung stütze sich auf einen polemischen Anerkennungsbegriff, hinter dem sowohl eine Identifizierungsstruktur als auch der Gedanke eines Konflikts um diese Identifizierung stecke. Obwohl Honneth 26