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Der Begriff Vivisektionen bezeichnet Eingriffe an lebenden Organismen, die dem Zweck dienen, mehr über ihre Funktionsweise herauszufinden. In gewisser Weise wenden ein solches Verfahren auch die Theoretiker an, die Axel Honneth hier porträtiert: Sie greifen mit ihren Entwürfen in den Fluss der Ereignisse ein, um ihm Erkenntnisse abzuringen, die sie für ihre Theorien fruchtbar machen können. Ob nun Franz Rosenzweig zu Beginn des Jahrhunderts, Siegfried Kracauer während der Weimarer Republik oder Judith Shklar im Schatten des Holocaust, sie alle ziehen aus ihren Vivisektionen der Gegenwart Rückschlüsse auf einen angemessenen Begriff der Geschichte, der Gesellschaft oder der Politik.
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Seitenzahl: 377
Der Begriff Vivisektionen bezeichnet Eingriffe an lebenden Organismen, die dem Zweck dienen, mehr über ihre Funktionsweise herauszufinden. In gewisser Weise wenden ein solches Verfahren auch die Theoretiker an, die Axel Honneth hier porträtiert: Sie greifen mit ihren Entwürfen in den Fluß der Ereignisse ein, um ihm Erkenntnisse abzuringen, die sie für ihre Theorien fruchtbar machen können. Ob nun Franz Rosenzweig zu Beginn des Jahrhunderts, Siegfried Kracauer während der Weimarer Republik oder Judith Shklar im Schatten des Holocaust, sie alle ziehen aus ihren Vivisektionen der Gegenwart Rückschlüsse auf einen angemessenen Begriff der Geschichte, der Gesellschaft oder der Politik.
Axel Honneth, geboren 1949, lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt und an der Columbia University in New York. Außerdem leitet er das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt
Axel Honneth
Vivisektionen eines Zeitalters
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2678.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Originalausgabe
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Vorwort
1. Das ambivalente Erbe Hegels
Franz Rosenzweig zu Beginn des Jahrhunderts
2. Logik des Fanatismus
John Deweys Archäologie der deutschen Mentalität
3. Phänomenologie des Bösen
Das vergessene Werk von Aurel Kolnai
4. Der destruktive Realist
Zum sozialphilosophischen Erbe Siegfried Kracauers
5. Dispositive unseres Denkens
Die verkannte Leistung Robin G. Collingwoods
6. Versuchungen eines Liberalen
Helmuth Plessner vor dem Nationalsozialismus
7. Die Gefährdungen des Wir
Sozialistische Tendenzen im Werk von Amitai Etzioni
8. Die Grenzen des »homo oeconomicus«
Zum intellektuellen Vermächtnis Albert O. Hirschmans
9. Die Historizität von Furcht und Verletzung
Sozialdemokratische Züge im Denken von Judith Shklar
10. Geschichtsschreibung als Befreiung
Quentin Skinners Revolutionierung der Ideengeschichte
Dieser kleine Band versammelt intellektuelle Porträts, die zu sehr verschiedenen Anlässen verfaßt worden sind. Die Personen, deren Werk darin vergegenwärtigt wird, teilen jedoch mehr an Gemeinsamkeiten, als die Disparatheit der Anlässe vermuten ließe. Schon in dem ganz äußerlichen Sinn gehören die elf hier behandelten Autorinnen und Autoren zusammen, daß sie die Anstöße zu ihrem theoretischen Schaffen dem historischen Erfahrungsraum des 20. Jahrhunderts verdanken. Zwar sind John Dewey, Franz Rosenzweig, Siegfried Kracauer, Robin G. Collingwood und Helmuth Plessner noch in der letzten Hälfte des vorangegangenen Jahrhunderts geboren; doch ihre theorieprägenden Erlebnisse und Erfahrungen fallen in das »Zeitalter der Extreme«, wie Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert im Rückblick genannt hat. Darüber hinaus eint die hier versammelten Theoretiker, daß sie sich ihr Leben lang geweigert haben, die eigene Arbeit abgehoben von den politisch-geschichtlichen Ereignissen zu begreifen; selbst für einen scheinbar so weltentrückten, der Vergangenheit zugewandten Denker wie Robin G. Collingwood gilt noch, daß er die Herausforderungen seiner Zeit als etwas ansah, auf das mit Hilfe philosophischer Theorien eine Antwort gefunden werden mußte. Die meisten der behandelten Autorinnen und Autoren aber sind gar nicht aus freien Stücken zu Intellektuellen geworden; das Exil und die politische Heimatlosigkeit zwangen sie vielmehr dazu, den historischen Zeitläuften in ihren theoretischen Arbeiten immer auf den Fersen zu bleiben, weil sie nur so ihr Überleben sichern konnten. Insofern dokumentiert der Band auch, wie recht Tony Judt mit seiner Behauptung hatte, daß das 20. Jahrhundert den neuen Intellektuellentypus des »heimatlosen Weltbürgers« hervorgebracht hat.[1]
Allerdings rechtfertigen all diese Gemeinsamkeiten gewiß noch nicht den Titel, den ich meiner Essaysammlung gegeben habe. Auf den Begriff der »Vivisektionen« bin ich bei der Arbeit an dem Aufsatz über Siegfried Kracauer gestoßen. Dieser hatte eine seiner vielzähligen Literaturrezensionen mit dem Titel »Vivisektion der Zeit« überschrieben, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß der besprochene Roman von Erik Reger tatsächlich das Innenleben der eigenen Epoche zu verstehen helfe, insofern darin die dem Blick entzogenen Funktionsabläufe wie mit dem Seziermesser am Gesellschaftskörper freigelegt würden.[2] In einer zweifachen Weise sollen auch die hier versammelten Essays solche »Vivisektionen« liefern: Einerseits beschäftigen sie sich mit Intellektuellen, die selbst ein Verfahren des Eingriffs in den lebendigen Organismus der Gesellschaft praktizieren, indem sie deren Funktionsweisen zu analysieren versuchen, um daraus Rückschlüsse auf einen angemessenen Begriff der Geschichte, der Gesellschaft oder der Politik ziehen zu können. Andererseits aber bilden die Essays zusammengenommen die »Vivisektion« eines ganzen Zeitalters, weil sie an ausgewählten Theorien des 20. Jahrhunderts deutlich machen sollen, welche untergründigen Erfahrungen von Leid, Katastrophe und Vertreibung bei ihrer Erstellung am Werk waren. Eine solche Zusammenstellung kann eine politische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts sicherlich nicht ersetzen; aber sie kann ein erster Schritt bei dem längst überfälligen Versuch sein, die intellektuelle Geschichte dieser Epoche als einen Prozeß zu verstehen, in dem aus der Verarbeitung schmerzlichster Erlebnisse bedeutende Einsichten und unersetzbare Lehren gewonnen wurden.
Frankfurt am Main im März 2014
Axel Honneth
[1] Tony Judt, Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, München 2010, S. 22ff.
[2] Siegfried Kracauer, »Vivisektion der Zeit« [1932], in: ders., Werke, herausgegeben von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, Bd. 5.4, Berlin 2011, S. 250-256.
Franz Rosenzweig, der aufgrund einer schweren Erkrankung nur dreiundvierzig Jahre alt wurde, gilt heute als einer der bedeutendsten Vertreter jüdischen Denkens im 20. Jahrhundert. Sein Buch Der Stern der Erlösung ist inzwischen ein klassisches Werk der Religionsphilosophie, dessen Einfluß diesseits und jenseits des Atlantiks immer weiter zu wachsen scheint;[1] bekannt ist auch die Tatsache, daß er gemeinsam mit Martin Buber eine bahnbrechende Neuübersetzung von Teilen der Bibel verfertigte, die von Beginn an die Geister entzweite;[2] und ebenso unvergessen ist schließlich die herausragende Rolle, die er 1920 in Frankfurt am Main bei der Gründung des Freien Jüdischen Lehrhauses spielte, welches in den frühen Jahren der Weimarer Republik unter seiner Leitung zur vorrangigen Wirkungsstätte einer namhaften Reihe von jüdischen Intellektuellen wurde.[3] In der Geschichte des jüdisch-philosophischen Denkens im 20. Jahrhundert nimmt Franz Rosenzweig daher heute neben Martin Buber, Gershom Scholem und Emmanuel Levinas einen der vordersten, wenn nicht sogar den allerersten Platz ein. Gänzlich in Vergessenheit zu geraten droht demgegenüber, daß sich derselbe Franz Rosenzweig noch vor seiner entschiedenen Wende zum Judentum darangemacht hatte, das Erbe des Deutschen Idealismus ins neue Jahrhundert hinüberzuretten; dieser frühen Phase seines Wirkens und Schaffens verdanken wir die Studie Hegel und der Staat,[4] die eine der lebendigsten, umsichtigsten und genauesten Untersuchungen der Entwicklung des politischen Denkens Hegels darstellt. Weitgehend fertiggestellt schon vor dem Ersten Weltkrieg, aufgrund der politischen Wirren aber erst im Jahr 1920 veröffentlicht, hat das Buch bis heute nichts von seinem ursprünglichen Glanz verloren; noch immer nehmen einen der meisterliche Stil, die Kraft der historischen Verlebendigung und die kunstvoll entwickelte Gesamtdeutung schnell gefangen.
Daß trotz all dieser großen Vorzüge die Studie Rosenzweigs heute nur noch einem kleinen Kreis von Fachgelehrten bekannt ist, hat neben der inzwischen stark beschleunigten Verkümmerung des Bewußtseins wirkungsgeschichtlicher Zusammenhänge eine Reihe von weiteren Gründen. An vorderster Stelle ist hier sicherlich der schlichte Umstand zu nennen, daß die zweibändige Originalausgabe des Buches in Sütterlinschrift gehalten war, die sich naturgemäß dann auch in den 1962 und 1982 erstellten fotomechanischen Nachdrucken wiederfand;[5] die erschwerte Lesbarkeit dieser Schriftform dürfte viele potentiell interessierte Leserinnen und Leser davon abgehalten haben, sich dem Werk überhaupt nur zuzuwenden. Ein zweiter, mindestens ebenso wichtiger Grund muß wohl darin gesehen werden, daß Rosenzweig seine Studie noch vor dem historischen Zeitpunkt vollendet hat, als sich mit dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs und der Etablie
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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