Der arbeitende Souverän - Axel Honneth - E-Book

Der arbeitende Souverän E-Book

Axel Honneth

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Beschreibung

»Es gehört zu den größten Mängeln fast aller Theorien der Demokratie, mit erstaunlicher Hartnäckigkeit immer wieder zu vergessen, dass die meisten Mitglieder des von ihnen lauthals beschworenen Souveräns stets auch arbeitende Subjekte sind.«


Welche Rolle spielt die Organisation von Arbeitsverhältnissen für die Bestandssicherung eines demokratischen Gemeinwesens? Das ist die Frage, der Axel Honneth in seiner neuen großen Monographie nachgeht, deren Schlüsselbegriffe »gesellschaftliche Arbeit« und »soziale Arbeitsteilung« sind. Seine zentrale These lautet, dass die Teilnahme an der demokratischen Willensbildung an die Voraussetzung einer transparent und fair geregelten Arbeitsteilung gebunden ist.

Honneth begründet zunächst, warum es gerechtfertigt ist, die Arbeitsverhältnisse auf ihre Demokratieverträglichkeit hin zu prüfen. Dann zeichnet er die Entwicklung der Arbeitsbedingungen seit dem Beginn des Kapitalismus im 19. Jahrhundert nach. Fluchtpunkt dieses mit eindrücklichen literarischen Zeugnissen illustrierten historischen Streifzugs, der unter anderem in die Welt der Landarbeiter, der – zumeist weiblichen – Dienstboten und der ersten Industriearbeiter führt, ist die Vermutung, dass die heutigen Arbeitsverhältnisse zunehmend die Chancen zur aktiven Teilnahme an der demokratischen Meinungs- und Willensbildung untergraben. Daher wird im letzten Teil des Buches umrissen, an welchen Scharnierstellen eine Politik der Arbeit heute anzusetzen hätte, um den sich abzeichnenden Missständen entgegenzuwirken und zu einer dringend benötigten Neubelebung demokratischer Partizipation beizutragen.

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Cover

Titel

3Axel Honneth

Der arbeitende Souverän

Eine normative Theorie der Arbeit

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2023

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-77572-1

www.suhrkamp.de

Widmung

7Georg Lohmann (1948-2021) und Lothar Fichte (1946-2022), den zu früh verstorbenen Freunden

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Vorbemerkung

I

. Normativer Auftakt: Die Arbeit in demokratischen Gesellschaften

1. Drei Quellen der Kritik

(a) Entfremdung

(b) Autonomie

(c) Demokratie

2. Eine verschüttete Tradition

3. Demokratie und faire Arbeitsteilung

Exkurs

I

: Zum Begriff der gesellschaftlichen Arbeit

II

. Historisches Zwischenspiel: Die Wirklichkeit der gesellschaftlichen Arbeit

4. Ein Schlaglicht auf das 19. Jahrhundert

5. Von 1900 bis an die Schwelle zur Gegenwart

6. Die kapitalistische Arbeitswelt der Gegenwart

Exkurs

II

: Zum Begriff der gesellschaftlichen Arbeitsteilung

III

. Politischer Ausblick: Der Kampf um die gesellschaftliche Arbeit

7. Politiken der Arbeit

8. Alternativen jenseits des Arbeitsmarktes

9. Perspektiven innerhalb des Arbeitsmarktes

Namenregister

Fußnoten

Informationen zum Buch

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9Vorbemerkung

Es gehört zu den größten Mängeln fast aller Theorien der Demokratie, mit großer Hartnäckigkeit immer wieder zu vergessen, dass die meisten Mitglieder des von ihnen lauthals beschworenen Souveräns stets auch arbeitende Subjekte sind.[1]  So gerne man sich auch vorstellt, die Bürgerinnen und Bürger seien vor allem damit beschäftigt, sich engagiert an politischen Auseinandersetzungen zu beteiligen: Die soziale Realität sieht anders aus. Tagtäglich und über viele Stunden hinweg gehen nämlich die meisten, von denen da die Rede ist, einer bezahlten oder unbezahlten Arbeit nach, was es ihnen aufgrund der damit verbundenen Unterordnung, Unterbezahlung oder Überforderung nahezu unmöglich macht, sich in die Rolle einer autonomen Teilnehmerin an der demokratischen Willensbildung auch nur hineinzuversetzen. Deshalb ist der blinde Fleck der Demokratietheorie dasjenige, was 10ihrem Gegenstand stets vorausliegt und ihn doch bis in seine feinsten Kapillaren hinein durchdringt: eine soziale Arbeitsteilung, die auf dem Boden des modernen Kapitalismus entstanden ist und aufgrund ihrer höchst unterschiedlich ausgestatteten Positionen darüber entscheidet, wer welche Einflussmöglichkeiten auf den Prozess der demokratischen Willensbildung besitzt. Die Vernachlässigung dieser gesamten Sphäre ist für eine Theorie der Demokratie umso fataler, weil ihr damit einer der ganz wenigen Hebel aus dem Blick gerät, mit dessen Hilfe der demokratische Rechtsstaat auf seine eigenen Bestandsvoraussetzungen einwirken kann; denn neben der schulischen Erziehung stellt nur noch die gesellschaftliche Arbeitswelt eine institutionelle Sphäre dar, in die die meisten Bürgerinnen und Bürger gemeinsam derart einbezogen sind, dass all das, was dort erlernt und erfahren wird, von entscheidender Bedeutung dafür ist, welche sozialmoralischen Haltungen und Einstellungen im politischen Gemeinwesen vorherrschen. Wie ansonsten nur durch seine Schulpolitik, so kann der demokratische Staat durch die Gestaltung der Arbeitsbedingungen darauf einwirken, ob ihm zuträgliche, das heißt kooperative oder ihm zuwiderlaufende, das heißt egozentrische Verhaltensmuster innerhalb seiner Grenzen die Oberhand gewinnen.[2] 

11Dieser Zusammenhang zwischen Demokratie und sozialer Arbeitsteilung ist das Thema dieses Buches. Die ersten Vorarbeiten dazu gehen zurück auf das akademische Jahr 2018/19, als ich als Gastprofessor an der School of Social Science des Institute for Advanced Study in Princeton tätig war, wo ich dank der Entlastung von Lehrverpflichtungen beginnen konnte, mich mit der ausufernden Literatur zum Thema vertraut zu machen; ich bin meinem Freund und Kollegen Didier Fassin überaus dankbar dafür, dass er mir durch seine Einladung an die damals von ihm allein geleitete School of Social Science des IAS die Möglichkeit gegeben hat, den Plan zu dem vorliegenden Buch in Angriff zu nehmen. Eine erste Fassung habe ich dann als Manuskriptvorlage für die Walter-Benjamin-Lectures verfasst, die ich im Juni 2021 – und coronabedingt unter freiem Himmel – an drei aufeinander folgenden Abenden in der Berliner Hasenheide vorgetragen habe. Mein Dank gilt der Direktorin und dem Direktor des Centre for Social Critique an der Berliner Humboldt-Universität, Rahel Jaeggi und Robin Celikates, die mich durch ihre Einladung zu diesen Vorlesungen überhaupt erst dazu bewogen haben, meine weit zurückreichenden Überlegungen zur Rolle der Arbeit in modernen Gesellschaften noch einmal zu überdenken und in einen neuen Theorierahmen einzubetten;[3]  die drei Abende in der Hasenheide 12werden mir nicht zuletzt aufgrund der großzügigen und herzlichen Gastfreundschaft von Rahel, Robin und ihrem Team (sowie des wundersam mitspielenden Wetters) in bester Erinnerung bleiben. Bei der schwierigen Aufgabe, das Vortragsmanuskript nachträglich in Buchform zu bringen, hat mir Eva Gilmer kaum zu überschätzende Hilfe geleistet; ihr feines Sprachgefühl und ihr Sinn für Textökonomie haben dazu beigetragen, dass die vorliegende Monographie gegenüber der ursprünglichen Fassung schlanker, prägnanter und übersichtlicher geworden ist. Dafür bin ich ihr einmal mehr zu allergrößtem Dank verpflichtet. Wertvolle Hinweise auf Schwächen und Lücken in meiner Argumentation habe ich zudem entweder bereits während der Zeit meiner Gastprofessur am Centre oder in den Monaten danach von Rüdiger Dannemann, Timo Jütten, Andrea Komlosy, Bernd Ladwig, Christoph Menke, Fred Neuhouser, Emmanuel Renault, Ruth Yeoman, Christine Wimbauer sowie von Rahel Jaeggi und Robin Celikates erhalten. Ihnen allen danke ich für ihre Ratschläge, Einwände und Mithilfe herzlich. Allerdings mag einigen von ihnen das, was sie nun lesen können, nicht radikal oder entschieden genug erscheinen. Die in dieser Vorsicht zum Ausdruck kommende Geisteshaltung mögen sie meinem neuen akademischen Umfeld am Department of Philosophy der Columbia University zur Last legen, an dem einst John Dewey, pragmatistischer Sozialreformer und »Meliorist« ersten Ranges, fast drei Jahrzehnte gelehrt hat.

13I. Normativer Auftakt: Die Arbeit in demokratischen Gesellschaften

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Im Liberalismus ist die Rede von Rechten, Freiheiten und Gemeinschaftlichkeit. Außerdem diskutieren wir über selbstbestimmte Formen der Subjektivität oder Handlungsmacht sowie über die Bandbreite der Verhandlungs-, Urteils-, Diskussions- und Handlungsfähigkeiten, die in der Praxis für die Ausübung von Rechten, Freiheiten und Gemeinschaftlichkeit erforderlich sind. Aber bei der Überprüfung unserer Arbeitspraktiken stellen wir fest, dass deren Organisationsweise und damit auch die Formen der Subjektivität und die Arten von Fähigkeiten, die sie begünstigt, genau jene Handlungsmacht und Fähigkeiten untergraben, die notwendig sind, um sich an den liberalen Rechts-, Freiheits- und Gemeinschaftspraktiken zu beteiligen. – James Tully[4] 

Im Laufe des 18. Jahrhunderts bildete sich in der westlichen Welt gemeinsam mit einem neuen Gesellschaftsverständnis zugleich auch eine vollkommen veränderte Vorstellung über den Wert der menschlichen Arbeit 16aus. Im Zuge der Aufklärung hatte man begonnen, Gesellschaften nicht mehr als hierarchische Ordnungen zu verstehen, in denen eine kleine Minderheit kraft einer festgefügten, vorgeblich gottgegebenen Standesordnung politische Herrschaft über die große Mehrheit ausübt; stattdessen ging man dazu über, sie als freiwillige Vereinigungen gleichberechtigter Bürger zu verstehen, in denen dem Prinzip nach allein die Mitgliedschaft schon ein Recht zur politischen Mitbestimmung verleiht. Mit dieser revolutionären Umdeutung der Legitimität gesellschaftlicher Ordnungen musste auch die Arbeit, die jemand zur Existenzsicherung verrichtet, anders und vollkommen neuartig begriffen werden. Sie konnte nun nicht mehr als pure Pflicht oder Bürde aufgefasst werden, die man den politischen Herrschern schuldet, sondern hatte als Ausweis der Bereitschaft zu gelten, durch aktive Tätigkeit zum gemeinsamen Wohl und Gedeih der politischen Gemeinschaft beizutragen. Hand in Hand mit der sich allmählich entfaltenden Idee der demokratischen Souveränität des Volkes war somit die bis heute leitende Vorstellung entstanden, die Gesellschaft stelle einen Kooperationszusammenhang dar, in dem jeder dazu angehalten ist, durch seine Arbeit so weit wie möglich zur Subsistenz aller anderen beizutragen und sich dadurch seiner Mitgliedschaft im politischen Verbund als würdig zu erweisen. Gedanklich war also nichts Geringeres geschehen, als dass zwischen politischer Demokratie und fairer Arbeitsteilung ein festes Band gestiftet worden war.[5] 

17Damit war die alte, bis auf die Antike zurückgehende Geringschätzung der Arbeit als Zeichen von individueller Not und politischer Unreife zumindest auf dem Papier endgültig überwunden: Galt vor der bürgerlichen Revolution die Arbeit der Einzelnen mehr oder weniger nur als Bürde, die standesmäßige Unselbstständigkeit, alltägliche Mühe und persönliche Abhängigkeit verriet, so wird sie jetzt, in der »neuen Zeit«, als Bedingung von freier Existenz und als Voraussetzung gesellschaftlicher Vollwertigkeit gedeutet; was zuvor purer Zwang zum Broterwerb war, ist nun plötzlich Ausweis sozialer Emanzipation und Freiheit. Kaum einer hat diesen Zusammenhang von politischer Gleichheit und sozialer Kooperation besser auf den Begriff gebracht als Hegel, der in seiner 1821 veröffentlichten Rechtsphilosophie der neuen Bedeutung der Arbeit als Bedingung der Mitgliedschaft im rechtsstaatlichen Verbund ein ganzes Kapitel gewidmet hat; darin heißt es, dass jedes (männliche) Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft durch »seine Tüchtigkeit« und »sein ordentliches Aus- und Fortkommen« »etwas ist«, also einen sozialen Status als vollwertiger Bürger besitzt, und in diesem anerkannten Dasein als Betreiber eines Gewerbes »seine Ehre« finden wird.[6] 

18Was Hegel in diesen Sätzen vollmundig behauptet, besaß allerdings in der sozialen Wirklichkeit des frühen Kapitalismus noch keinerlei Realität, wie wir wissen. Geprägt war der Arbeitsalltag des allergrößten Teils der Bevölkerung in den westeuropäischen Gesellschaften um 1800 entweder von beginnender, erdrückender, alles andere als frei bestimmter Fabrikarbeit, von abhängiger, der Willkür ausgesetzter Dienstleistung in den Häusern reicher Bürger- und Adelsfamilien oder von durch Not gezeichnetem Tagelöhnertum in der Landwirtschaft.[7]  Die Spannung zwischen dieser schäbigen Wirklichkeit und dem Hegelschen Versprechen, von nun an sei die Erwerbsarbeit frei von Zwang und im Gegenteil Ausweis sozialer Kooperationsbereitschaft und individueller Ehre, liegt ganz offen zu Tage: auf der einen Seite die Plackerei, die hemmungslose Ausbeutung, die Subordination und die aufgenötigten Arbeitsverträge, weshalb nicht nur Marx einige Jahrzehnte später von einer wiederauferstandenen »Sklaverei« sprechen wird;[8]  auf der anderen Seite das neue, moderne Ideal der »freien«, selbstbestimmten und einen gesicherten Status verbürgenden Arbeit. Es ist dieser Widerspruch zwischen sozialer Realität und normativer Idee, zwischen Faktizität 19und Geltung, der mich in diesem Buch beschäftigen wird. Konkret interessiert mich, wie das Ideal der freien, nicht mehr aufgenötigten Arbeit in normativer Hinsicht verstanden werden sollte, um uns heute als eine Richtschnur für politische Veränderungen dienen zu können (Teil I); wie es um die Arbeitsverhältnisse in der kapitalistischen Vergangenheit faktisch bestellt war und wie es heute um sie bestellt ist (Teil II); und es interessiert mich, was unter den gegebenen Umständen getan werden könnte, um die eklatante Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu verkleinern oder ganz zu beseitigen (Teil III). In zwei Exkursen werde ich darüber hinaus zwei Begriffe zu klären versuchen, die für die hier verfochtene These einer wechselseitigen Abhängigkeit von demokratischer Partizipation und hinreichend guten Arbeitsbedingungen von entscheidender Bedeutung sind: Im ersten Exkurs möchte ich klären, was unter gesellschaftlicher Arbeit verstanden werden muss, wenn damit alle Verrichtungen in einer Gesellschaft gemeint sein sollen, die als notwendig betrachtet werden und die daher einer öffentlich rechtfertigungsfähigen Regelung bedürfen; in einem zweiten Exkurs will ich darlegen, mit welcher Vorstellung über die Genese und die Funktionsweise der gesellschaftliche Arbeitsteilung wir operieren sollten, wenn wir diese als den primären Hebel verstehen wollen, an dem Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in Richtung einer breiteren Befähigung zur demokratischen Partizipation anzusetzen hätten.

201. Drei Quellen der Kritik

In diesem einleitenden Kapitel werde ich mich zunächst der Frage zuwenden, welche Deutung der mit der modernen Gesellschaft entstandenen Idee der freien, statusverbürgenden Arbeit verliehen werden sollte, um sie als Maßstab einer Kritik an den gegenwärtigen Arbeitsverhältnissen verwenden zu können. Schon das ist allerdings keine leichte Aufgabe, weil seit langem eine ganze Reihe von konkurrierenden Vorstellungen darüber existiert, was unter normativen Gesichtspunkten als eine »gute« oder angemessene Organisation der gesellschaftlichen Arbeit zu gelten hat; so vielfältig die Möglichkeiten sind, in der Arbeit über ihren bedürfnisbefriedigenden und unterhaltssichernden Aspekt hinaus ein Gut für das Individuum oder die Gesellschaft zu sehen, so unterschiedlich sind auch die Traditionen, die mit Vorschlägen aufwarten, wie die gegebenen Arbeitsbedingungen verbessert, umgestaltet, ja revolutioniert werden könnten. Beginnen werde ich daher in diesem Kapitel mit dem Versuch, drei moderne Denkströmungen zu unterscheiden und dann vergleichend zu bewerten, in denen trotz ihrer gemeinsamen Kritik an den kapitalistischen Arbeitsbedingungen sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber entwickelt wurden, wie eine gute oder richtige Einrichtung der gesellschaftlichen Arbeit beschaffen sein sollte. In Kapitel 2 werde ich dann diejenige unter ihnen ein wenig genauer ins Auge fassen, die 21sich zuvor als die vielversprechendste und überzeugendste erwiesen hat. Damit will ich an ein Denkmotiv erinnern, das für einige Vertreter der modernen Gesellschaftstheorie einmal eine große Selbstverständlichkeit besessen hat, heute aber leider nahezu in Vergessenheit geraten ist. Im Anschluss daran werde ich in Kapitel 3 den systematischen Versuch unternehmen, den normativen Gesichtspunkt zu rechtfertigen, unter dem ich mich in meinen weiteren Ausführungen mit der Gegenwart und Zukunft der gesellschaftlichen Arbeit beschäftigen möchte; hier wird dann hoffentlich verständlich werden, warum sich meine gesamte Argumentation um das notwendige Ergänzungsverhältnis von fairer Arbeitsteilung und politischer Demokratie drehen wird.

Vor der großen Umbruchphase der Jahrzehnte zwischen 1750 und 1850 dürfte es Visionen gelingender Arbeitsverhältnisse nur in ganz geringem Umfang gegeben haben; man wird in den Schriften der vormodernen Klassiker kaum Betrachtungen darüber finden, wie die Qualität der täglich zu leistenden Verrichtungen im Handwerk, im Haushalt oder in der Landwirtschaft auch nur leicht verbessert werden könnte. Dieser Mangel an utopischer Vorstellungskraft mit Blick auf die Arbeit hing mit der bereits erwähnten Geringschätzung zusammen, die ihr entgegengebracht wurde: Von der Antike bis in die frühe Neuzeit wurden alle Tätigkeiten, die als Arbeit gelten konnten, gedanklich so stark mit schierer Notwendigkeit, demütigender Anstrengung und niedrigem sozialen Status verknüpft, dass eine Kritik daran ebenso überflüssig schien wie das Nachdenken über Möglichkeiten zu deren gezielter Verbesserung – ja, es gab, wie der Historiker Moses Finley berichtet hat, weder »im Griechischen noch im Lateinischen« auch nur »ein 22Wort«, »mit dem man die allgemeine Bedeutung von ›Arbeit‹ oder die Vorstellung von ›Arbeit‹ als einer anerkannten sozialen Funktion« hätte ausdrücken können.[9]  Als sich dann aber diese abwertende Haltung im Gefolge der protestantischen Arbeitsethik, der bürgerlichen Emanzipation und der rechtlichen Durchsetzung der »freien Arbeit« zu wandeln begann[10]  und der von Hegel artikulierten Idee wich, Arbeit sei ein Ausweis von individueller Selbstständigkeit, sozialer Geltung und ehrenhaftem Tun,[11]  entstanden in den Ländern des beginnenden Kapitalismus mit der Kritik an den existierenden Arbeitsverhältnissen alsbald auch Ideale einer vollkommen veränderten Arbeitswelt; erst jetzt, nachdem die 23Arbeit in dem Sinn »frei« geworden war, dass sie nicht länger als abhängig von persönlicher Bevormundung und standesbedingter Zuweisung galt,[12]  wurde sie auch »frei« dazu, mit Wünschen und Hoffnungen auf ein Besser und Angenehmer, auf ein Mehr an Gerechtigkeit oder ein unserer Natur stärker Entsprechendes, kurz: mit normativen Vorstellungen einer »befreiten« Arbeit, belegt zu werden. Angefeuert wurden solche Visionen einer besseren Zukunft der gesellschaftlichen Arbeit entweder von zeitbedingten Idealbildern bestimmter Tätigkeitsweisen, die als tatsächlich frei und selbstbestimmt galten, oder von der Erfahrung des Kontrasts zum Versprechen demokratischer Freiheiten: Die einen glaubten, die gesamte Arbeit ließe sich generell so kooperativ oder so erfüllend organisieren wie die Tätigkeit im Handwerk oder im künstlerischen Schaffen, die anderen waren der Überzeugung, auch die Arbeitsverhältnisse müssten nach dem Muster des inzwischen verkündeten Ideals der demokratischen Mitbestimmung eingerichtet werden. So ist dann die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Einsicht der Beschäftigten in das Elend der neuen, kapitalistischen Arbeitsbedingungen massiv zu wachsen begann, zugleich zu einer Epoche geworden, in der 24immer neue Ideale der befreiten oder menschengerecht organisierten Arbeit aus dem Boden schossen; ob in Frankreich, auf der britischen Insel, in den deutschen Ländern oder in Nordamerika, überall entstanden Arbeiterassoziationen und Handwerkervereinigungen, die ihre Kritik an den existierenden Arbeitsbedingungen mit Vorstellungen und Visionen besserer Arbeitsverhältnisse zu verknüpfen begannen. Um in diese Gemengelage von sozialer Empörung, moralischer Kritik und utopischen Entwürfen eine normative Ordnung zu bringen, bietet es sich an, zunächst danach zu fragen, was an der bestehenden Organisation der gesellschaftlichen Arbeit jeweils als vordringlich falsch, verwerflich oder unmoralisch empfunden wurde; im Ausgang von solchen negativen Bestandsaufnahmen lässt sich dann erschließen, welche normativen Begründungen den unterschiedlichen Forderungen nach einer Neuorganisation der gesellschaftlichen Arbeit letztlich zugrunde lagen. Drei Strömungen einer Kritik an den kapitalistischen Arbeitsverhältnissen kristallisieren sich auf diesem Wege heraus, und was diese jeweils an der gegebenen Organisation der Arbeit für falsch, unmoralisch oder ethisch bedenklich hielten, wird uns indirekt Auskunft darüber geben können, mit welchen Argumenten sie eine andere, bessere oder gerechtere Einrichtung der Arbeitssphäre einforderten. Mittels einer solchen historischen Rekonstruktion lassen sich dann die drei normativen Paradigmen identifizieren, die uns nach meinem Eindruck heute bei einer Kritik der gegenwärtigen Arbeitsverhältnisse im Prinzip zur Verfügung stehen.

25(a) Entfremdung

Die erste der drei Strömungen, die hier unterschieden werden sollen, entsteht bereits zwei Jahrzehnte nach der Französischen Revolution und somit zeitgleich mit der ersten Veröffentlichung der Hegelschen »Rechtsphilosophie«. Schon damals beginnen einige Vertreter des Frühsozialismus damit, die Arbeitsbedingungen in den von kapitalistischen Privateigentümern betriebenen Fabriken nicht nur deswegen zu kritisieren, weil sie die Arbeitenden bis zur vollkommenen Erschöpfung ausnutzen, ihnen keinerlei Sicherheit bieten und sie der härtesten Disziplin unterwerfen; im Vordergrund steht vielmehr der Vorwurf, unter dem neuen Arbeitsregime der Lohnarbeit werde den Arbeitenden jede Möglichkeit genommen, das, was sie tun, noch als ihr Eigenes, als Ausfluss der ihnen gehörenden Persönlichkeit zu erfahren.[13]  Der junge Karl Marx greift dieses Motiv in seinen »Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten« auf,[14]  um es unter Aufnahme Hegelscher Gedanken in seiner Lehre von der entfremdeten Arbeit stilbildend zu verdichten; danach ist das eigentlich Skandalöse an den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, dass sie verlangen, die doch eigentlich gemeinschaftlich geleistete Arbeit in quantifizierbare Partikel zu zergliedern, welche dann als individuell zurechenbare Waren auf einem Markt ge26handelt werden können. In ein derartig warenförmiges Ding verwandelt, so ist Marx überzeugt, hat die Arbeit all die Eigenschaften verloren, die sie für uns wertvoll machen, weil es nicht länger möglich ist, sie als eine produktive Betätigung der eigenen, gattungsspezifischen Kräfte und Fähigkeiten zum Wohle der sozialen Gemeinschaft zu erleben. Allerdings enthält diese Idee der entfremdeten Arbeit, so wie sie von Marx in seinen Frühschriften entwickelt wird, noch eine Reihe von Unstimmigkeiten und fragwürdigen Voraussetzungen, die sie extrem interpretationsbedürftig und nur schwer anwendbar machen; unklar ist beispielsweise, ob er sagen wollte, die Arbeit erlaube in ihrer originären, noch unverstellten Form stets eine Vergegenständlichung eigener Absichten und Vermögen in einem wahrnehmbaren Produkt, was nicht nur eine höchst problematische Bindung allein an die Fertigung von materiellen Produkten, sondern wohl auch einige kaum haltbare idealistische Prämissen voraussetzten würde. Ebenso im Vagen bleibt bei Marx, ob die produktive, ja lustvolle Verausgabung gattungsspezifischer Fähigkeiten in der Arbeit nur im Kollektiv oder auch als einzelnes Subjekt möglich ist, so dass eine Auslegung sowohl in die Richtung eines Ideals der individuellen Selbstverwirklichung als auch in die eines Ideals der ungezwungenen Kooperation gleichermaßen vertretbar scheint.[15]  Ungeachtet all dieser internen 27Schwierigkeiten findet jedoch der Kern der von Marx umrissenen Idee, demzufolge die Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen deswegen entfremdet sei, weil sie nicht mehr als produktive Verausgabung von gattungsspezifischen Fähigkeiten erlebt werden könne, nicht nur in der sich formierenden Arbeiterbewegung schnell großen Anklang; auch in der britischen Arts-and-Crafts-Bewegung und anderen lebensreformerischen Strömungen nimmt man alsbald den Gedanken auf, man müsse gegen die herrschenden Produktionsbedingungen ankämpfen, um der Arbeitstätigkeit ihre ursprüngliche, in der handwerklichen Produktion noch sichtbare Gestalt der kooperativen beziehungsweise individuellen Ausübung spezifisch menschlicher Vermögen zurückzugeben.[16] 

28Auch wenn die philosophischen Hintergründe der Marxschen These auf diesem Weg allmählich verblassten, ist doch ihr intuitiv zugänglicher Kern, wonach die kapitalistische Wirtschaftsform die Arbeit »entfremde« und zu etwas den Arbeitenden Äußerliches und »Dingliches« mache, zu einem der einflussreichsten Paradigmen der Kritik an den existierenden Arbeitsverhältnissen geworden.[17]  Für falsch oder schlecht werden diese Bedingungen dabei vor allem deswegen gehalten, weil sie den Arbeitenden nicht die Möglichkeit geben, sich mit ihrer Tätigkeit zu identifizieren und sie als Ausdruck oder Ausübung von spezifisch menschlichen Fähigkeiten zu erfahren – etwas, was Marx in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten mit dem Hegelschen Begriff bezeichnet, der »Arbeiter« sei in seiner nun als Ware gehandelten Arbeit nicht mehr »zu Hause« und könne sie demnach nicht mehr als Selbstzweck, als produktives, vergegenständlichendes Tun um seiner selbst willen, sondern nur noch als »Mittel der physischen Subsistenz« erleben.[18]  Nicht unbedingt in Gestalt solcher Formulierungen, die sich der Gedankenwelt Hegels verdanken, sondern in einer vom damaligen Idealis29mus befreiten Sprache hat die Marxsche Diagnose bis heute überlebt; um die als unhaltbar empfundene Unterstellung einer feststehenden, im ungezwungenen, genüsslichen Arbeiten bestehenden Natur des Menschen zu vermeiden, spricht man inzwischen eher von der »Sinnlosigkeit« der unter den gegebenen Bedingungen zu verrichtenden Arbeit als von »Entfremdung«. Gemeint ist aber bei aller Herabstimmung des Tons und der Emphase in etwa dasselbe, was Marx mit der ihm eigenen Begrifflichkeit beschrieben hat: Ein Arbeiten, das in seinem Vollzug fremdbestimmt ist und als eine profitable Ware behandelt wird, kann nicht als erfüllend und sinnvoll erfahren werden, sondern stets nur als entfremdend. Aber was genau ist mit einem sinnerfüllten oder entfremdungslosen Arbeiten gemeint? Und wie wird die Forderung danach normativ begründet?

Die erste in diese Redeweise eingelassene These besagt, dass die Arbeit einen intrinsischen Wert besitzt, der nur ihr als einer Form des menschlichen Tuns zukommt. Demnach gilt die Arbeit nicht nur deswegen als prinzipiell wertvoll, weil sich durch sie einige ihr externe Güter erreichen lassen, seien es gesellschaftlich definierte Ziele oder soziale Anerkennung; dafür würde es nämlich genügen, ihr bestimmte, als sinnvoll erachtete Zwecke aufzuerlegen oder sie in höherem Maße durch bessere Bezahlung und größere Aufmerksamkeit zu würdigen, wohingegen es überflüssig wäre, ihren Vollzug selbst so zu gestalten, dass er als sinnvoll oder erfüllend beschrieben werden kann.[19]  Um dies zu gewährleisten 30und Forderungen danach zu rechtfertigen, muss davon ausgegangen werden, dass die Arbeit intrinsische Qualitäten besitzt, die nach angemessener Realisierung durch eine entsprechende Gestaltung der arbeitenden Tätigkeit verlangen. Ohne den Bezug auf solche intrinsischen Werte von Arbeit gäbe es keinerlei Kriterien, mittels deren sich entscheiden ließe, ob Bedingungen der Entfremdungslosigkeit oder Sinnerfüllung im Arbeitsprozess wirklich gegeben sind. Es reicht nämlich nicht aus, sich an dieser Stelle auf bloß subjektive Einstellungen zu berufen, weil dann der individuellen Willkür bei der Beurteilung der Sinnhaftigkeit von Arbeit Tür und Tor geöffnet wären.[20]  Die Rede von der entfremdeten oder sinnlosen Arbeit macht es also erforderlich, die der Arbeit objektiv zukommenden intrinsischen Qualitäten zu benennen, weil sich ansonsten gar nicht bestimmen ließe, ob beziehungsweise ab wann die gewünschten Bedingungen in der sozialen Realität tatsächlich vorliegen.[21] 

Es ist aber alles andere als leicht, in der Menge von Vorstellungen über die intrinsischen Werte der Arbeit diejenigen zu identifizieren, die sie objektiv, also unabhängig 31von persönlichen oder kollektiven Präferenzen, besitzen soll; die jüngere Geistesgeschichte kennt viele ethische Vorzüge, die der Arbeit als solche zugeschrieben wurden, angefangen von ihrer disziplinierenden Wirkung bis hin zu ihrer gemeinschaftsbildenden Funktion.[22]  Aber die auf Marx zurückgehende Tradition ist sich weitgehend einig darüber, wie dieser intrinsische Wert objektiv gefasst werden kann; er soll darin bestehen, uns Fähigkeiten und Vermögen ausüben zu lassen, die charakteristisch für uns Menschen sind und die wir auf keine andere Weise als durch die Arbeit realisieren können. Gewiss, Marx hat diese Bestimmung, wie wir gesehen haben, noch um einige weitere Elemente anreichern wollen. In seinen Anfängen ist er Hegel in der Auffassung gefolgt, wahres Arbeiten bedeute, seine Intentionen und Begabungen in einem Objekt zu vergegenständlichen, so dass man derer darin ansichtig werden kann.[23]  Sieht 32man jedoch von dieser Zusatzthese ab, die zudem in Marx' späterem Werk kaum mehr eine Rolle spielt, so lautet seine Auskunft ebenfalls, der intrinsische Wert der Arbeit läge objektiv darin, ungezwungen und im Miteinander Kräfte betätigen zu können, die nur der menschlichen Gattung eigentümlich sind. Auch in dem, was diese menschlichen »Kräfte« oder »Fähigkeiten« ausmacht, stimmen die Verfechter des ersten normativen Paradigmas weitgehend überein: Es sollen Vermögen wie das konstruktive Planen, die Gestaltungsgabe oder die kreative Zwecksetzung sein, die im Vollzug des Arbeitens – und nur darin – zur Verwirklichung gelangen können. Fragt man nun weiter, wie normativ begründet wird, warum die Arbeit stets eine gesellschaftliche Form annehmen soll, in der sich ihr intrinsischer Wert auch angemessen realisieren lässt, so weichen die Antworten allerdings voneinander ab: Marx argumentiert an dieser Stelle nahezu aristotelisch, indem er behauptet, es gehöre zum Wesen des Menschen und mache daher eine zentrale Voraussetzung des Gelingens seiner Lebensform aus, die eigene Fähigkeit zur zweckgerichteten und kreativen Bearbeitung der Natur in der Arbeit tatsächlich auch ausüben zu können; diejenigen hingegen, die heute von einem moralischen Gebot sprechen, die Arbeit sinnvoll zu gestalten oder sie mit Sinn zu füllen, operieren an dieser Stelle vorsichtiger, indem 33sie etwa darauf verweisen, der Mensch besitze ein tiefsitzendes Bedürfnis nach der Bedeutsamkeit seines Tuns, das auch in der Arbeitswelt befriedigt werden müsse.[24]  Ungeachtet solcher Differenzen lässt sich jedoch festhalten, dass die verschiedenen Varianten des ersten hier unterschiedenen Paradigmas einhellig davon ausgehen, die gesellschaftliche Arbeit sei erst dann richtig und gut eingerichtet, wenn alle Beschäftigten die Möglichkeit besitzen, in ihrer Tätigkeit solche nur uns Menschen zukommende Fähigkeiten wie das rationale Setzen von Zwecken, das kooperative Handeln und das kreative Gestalten zu realisieren.

(b) Autonomie

Das zweite normative Paradigma einer Kritik an den bestehenden Arbeitsverhältnissen, das historisch von großer Bedeutung war und bis heute verfochten wird, nimmt keinerlei Annahmen über den intrinsischen Wert der Arbeit in Anspruch; es interessiert sich nicht dafür, ob die Arbeit in Zukunft ohne Entfremdung von der Hand gehen wird oder als sinnvoll erlebt werden kann, sondern fragt, was zu tun sei, um das Arbeiten von jeglicher Bevormundung und willkürlicher Herrschaft zu befreien. Die soziale Bewegung, in der dieses Ziel zum ersten Mal zum Programm erhoben wird, entsteht etwa zeitgleich mit dem europäischen Frühsozialismus erstaunlicherweise an der Ostküste der Vereinigten Staaten – einem Staat also, von dem es bald und nicht ohne 34Herablassung in Europa heißen wird, eine organisierte, sozialistisch orientierte Arbeiterbewegung könne sich aus soziokulturellen Gründen dort gar nicht entwickeln.[25]  Die Handwerker, Arbeiter und kleinen Selbstständigen, die sich in Philadelphia, New York und Boston zusammentun, um gegen die neuen, kapitalistischen Beschäftigungsformen der Lohnarbeit aufzubegehren, zehren gedanklich von den normativen Versprechen des gerade in der Verfassung zur Staatsform erhobenen Republikanismus; hatte man nur wenige Jahrzehnte zuvor noch erfolgreich dafür gekämpft, dass der Staat keine Herrschaft mehr über die politische Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger ausüben dürfe, so beginnt man sich jetzt zu fragen, wie es um die erstrittenen Freiheiten in den Werkshallen und Fabriken bestellt war, die auch an der amerikanischen Ostküste im Zuge der Industrialisierung allmählich entstehen.[26]  Zwar lautet die offizielle Idee, dass die dort Beschäftigten insofern frei wären, als es ihnen freistünde, die ihnen vom Fabrikbesitzer angebotenen Verträge ohne jeglichen Zwang anzunehmen oder zurückzuweisen;[27]  aber die Lohnarbeiter:innen müssen schon bald erfahren, dass es mit dieser versprochenen Freiheit des Vertragsabschlusses nicht weit her ist, da sie in verschiedenen Hinsichten von den Unternehmern abhängig bleiben: Die Arbeitsverträge, 35die ihnen unterbreitet werden, kann man aufgrund von Alternativlosigkeit und mangelnder Rücklagen kaum ablehnen, nach Vertragsschluss besitzt der Fabrikherr ein nahezu unbegrenztes Recht, die Bedingungen und Abläufe der Arbeit festzulegen, und schließlich gibt es keinerlei Handhabe, um gegen aus beliebigen Gründen ausgesprochene Kündigungen Einspruch zu erheben. Für die Summe dieser Abhängigkeiten erfindet man in den Zirkeln der revoltierenden Gruppen schnell den Begriff der Lohnsklaverei und nimmt damit Marx vorweg, der ja später auch immer wieder die Lohnarbeit mit einer neuen Form der Sklaverei vergleichen wird.[28]  Nicht, dass man damals die eigenen Arbeitsbedingungen auf dieselbe Stufe mit denen der weiterhin bestehenden Sklaverei der afroamerikanischen Bevölkerung stellen will; man ist sich bewusst, dass der Sklavenhalter rechtlich über die gesamte Person des versklavten Individuums verfügen darf, während der Kapitalbesitzer de jure nur ein verbürgtes Anrecht am Arbeitsertrag des Lohnarbeiters besitzt. Aber all das, was de facto an realen Abhängigkeiten bestehen bleibt, angefangen vom aufoktroyierten Vertrag bis hin zur einseitigen Regelung der Arbeitsbedingungen, genügt den amerikanischen Arbeitervertretern in den 1820er und 1830er Jahren, um von einer neuen Gestalt der Sklaverei zu sprechen. Das Argument, mit dem man die Massen gewinnen will, lautet daher, dass eine demokratische Republik keinerlei Lohnarbeit dulden könne, weil diese die Beschäftigten in einer Weise der Willkür der Unternehmer ausliefere, die mit dem neuen Prinzip der in36dividuellen Unabhängigkeit und Freiheit unvereinbar sei.[29] 

Allerdings ist man sich unter den Repräsentanten der Bewegung wesentlich stärker darüber einig, was man nicht will, als darüber, was man will. Dass die Bedingungen der Lohnarbeit dem Grundsatz der Unabhängigkeit von willkürlicher Herrschaft widersprachen, ist mehr oder weniger Konsens. Anders sieht es mit Blick auf die möglichen Alternativen zum kapitalistischen Arbeitsmarkt aus. Den Plänen von Robert Owen, der in den 1820er Jahren die USA bereist, um für sein Programm der Gründung von ländlichen Kooperativen zu werben, steht man skeptisch gegenüber, weil die positiven Effekte für die Mehrheit der Lohnarbeiter zu gering und die Angewiesenheit auf philanthropisch gesinnte Mäzene zu groß scheinen.[30]  Demgegenüber schlagen einige Wortführer der Bewegung vor, das Eigentum an produktivem Kapital in der Bevölkerung breiter zu streuen, um dadurch den Lohnabhängigen ein stärkeres Mitspracherecht bei den Vertragsbedingungen und Arbeitsverhältnissen zu sichern; wiederum andere glauben, dem Übel der Lohnarbeit sei überhaupt nur dadurch beizukommen, dass die Fabriken vollständig in den Besitz der Beschäftigten übergehen und von ihnen in kooperativer Verantwortung gemeinsam betrieben werden.[31]  Aber keiner dieser Vorschläge reift zu einem klaren, die Mehrheit der Bevölkerung überzeugenden Programm heran; die Hoffnungen, schnelle Verbesserungen bewirken zu können, erlöschen endgültig, als mit dem Anfang des 37Bürgerkriegs die Frage nach der Legitimität der ursprünglichen Sklaverei alle öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen beginnt.

Kurz nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, also rund dreißig Jahre später, flammt der Kampf der amerikanischen Arbeiteraktivisten gegen die Bedingungen der Lohnarbeit noch einmal auf. Das Argument hat sich nicht verändert, weiterhin beharrt man darauf, dass die Abhängigkeit der Arbeiter:innen vom Gutdünken der Kapitalbesitzer mit dem republikanischen Freiheitsversprechen unvereinbar sei. Aber die Vorstellungen bezüglich der wirtschaftlichen Ordnung, die dieser Unfreiheit ein Ende bereiten könnte, haben inzwischen wesentlich schärfere Konturen angenommen. Die neue Losung lautet nun »Cooperative Commonwealth«, womit das Ziel bezeichnet werden soll, das gesamte System der industriellen Produktion in die Hände von Arbeiterkooperativen zu legen, die untereinander in friedlicher Konkurrenz um Gewinne auf dem Markt ringen würden.[32]  Über zwei Jahrzehnte hinweg finden solche radikalen Forderungen sogar einen gewissen Rückhalt in der organisierten Arbeiterschaft der USA; selbst politische Intellektuelle wie John Dewey lassen sich davon so beeindrucken, dass sie, wenn auch auf der Basis eines anderen Freiheitsbegriffs,[33]  das Projekt einer demokratischen Re38publik für unvollendet halten, solange es nicht um beherzte Maßnahmen zu einer Demokratisierung der Wirtschaft ergänzt ist. Allerdings erlahmen auch diese Impulse bald, als mit der Gründung einer nationalen Gewerkschaftsvereinigung in den USA im Jahr 1886 die radikaleren Flügel der Arbeiterbewegung massiv an Einfluss zu verlieren beginnen.

Heute jedoch lebt dieses republikanische Paradigma einer Kritik der bestehenden Arbeitsverhältnisse wieder auf; mehrere Autorinnen und Autoren, darunter Elizabeth Anderson,[34]  berufen sich auf das Erbe der frühen »Labor Republicans« (Alex Gourevitch) in ihren Versuchen, Argumente gegen die privatkapitalistische Verfügung über die Arbeitskraft zu mobilisieren. Wie gesagt: Die Kritik zielt nicht auf die Qualität der Arbeit ab, ob sie sinnstiftend ist oder vielmehr entfremdend, und schon gar nicht auf irgendwelche intrinsischen Eigenschaften, die ihr potenziell zukommen. Vielmehr richtet sie sich allein auf den Umstand, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter der willkürlichen Herrschaft privater Unternehmer ausgeliefert sind, solange sie nicht über die Bedingungen ihres Arbeitsvertrages und ihrer Tätigkeiten autonom bestimmen oder jedenfalls mitbestimmen können. Die zuletzt genannte Alternative macht bereits deutlich, dass es verschieden radikale Versionen dieses republikanischen Arguments gibt: Einige Repräsentanten des Paradigmas sind überzeugt, dass eine effektive Befreiung von willkürlicher Herrschaft in der Sphäre gesellschaftlicher Arbeit nur möglich ist, wenn jegliche 39Lohnarbeit abgeschafft wäre und die Arbeitenden die Betriebe selbst vollständig verwalten könnten; andere wiederum glauben, dass dem Prinzip der republikanischen Freiheit schon Genüge getan wäre, wenn die Lohnabhängigen über verbürgte Rechte auf die Mitbestimmung ihrer Vertrags- und Arbeitsbedingungen verfügen.[35]  Die Differenzen zwischen den beiden Auffassungen ergeben sich offensichtlich aus unterschiedlichen Einschätzungen der wirtschaftlichen Effektivität von selbstverwalteten Betrieben; je nachdem, für wie überlebensfähig man eine Wirtschaft ohne private Investoren und ohne den Anreiz marktwirtschaftlicher Konkurrenz hält, wird man entweder der einen oder der anderen Seite der republikanischen Position zuneigen.

Hinsichtlich der Frage, wie die Forderung begründet werden soll, dass auch in der Sphäre der gesellschaftlichen Arbeit vollkommene Freiheit von willkürlicher Bevormundung und Herrschaft garantiert sein müsse, gibt es innerhalb dieses Paradigmas ebenfalls zwei Antworten. Eine solche Begründung ist erforderlich, weil von marktliberaler Seite leicht eingewendet werden kann, dass es aufgrund seines privaten Risikos allein im Ermessen des Unternehmers zu liegen habe, wie die Bedingungen der Arbeit geregelt und welche betrieblichen Ziele verfolgt werden. Das eine Gegenargument der republikanischen Seite lautet, dass das Recht eines jeden Menschen, frei von der Willkür einer anderen Person oder Instanz zu sein, nicht an der Stechuhr erlöschen 40darf; auch innerhalb eines Betriebes oder Dienstleistungsunternehmens muss gelten, dass man »keinem willkürlichen, rechenschaftsfreien Willen eines anderen unterworfen« ist,[36]  weil dies ein universelles Recht einer jeden Person darstellt – und weil es sich bei der »Ausübung von Autonomie«, wie Elizabeth Anderson diesem menschenrechtlichen Argument noch hinzufügt, um »ein elementares menschliches Bedürfnis« handelt.[37]  Das andere Gegenargument besitzt eher immanenten Charakter und besagt, dass es widersprüchlich sei, das innerhalb der politischen Sphäre längst etablierte Prinzip der Freiheit von Bevormundung und willkürlicher Herrschaft nicht auch im Bereich der gesellschaftlichen Arbeit wirksam werden zu lassen; ist eine solche Autonomie dort rechtlich garantiert, so kann es keine Rechtfertigung dafür geben, warum es sich hier anders verhalten soll. Aber ungeachtet solcher Unterschiede in der normativen Begründung lautet der normative Grundsatz des zweiten Paradigmas stets, dass die gesellschaftliche Arbeit erst dann gut, fair oder gerechtfertigt eingerichtet wäre, wenn die Beschäftigten nicht länger der willkürlichen Herrschaft von Unternehmern und Dienstherren ausgesetzt sind.

(c) Demokratie

Das dritte Paradigma der Kritik an den bestehenden Arbeitsverhältnissen, unterscheidet sich von den beiden anderen in jeweils einer entscheidenden Hinsicht. In 41Differenz zur republikanischen Tradition, in der kein Gedanken darauf verwendet wird, ob und gegebenenfalls inwiefern der gesellschaftlichen Arbeit ein ethischer Wert zukomme oder ob sie intrinsische Qualitäten besitze, nimmt man sie innerhalb der dritten Strömung durchaus als ein Gut von großer sozialer Bedeutung wahr; aber im Unterschied zum ersten, auf Marx zurückgehenden Paradigma wird dieses Gut hier nicht als selbstzweckhaft, als intrinsisch wertvoll begriffen, sondern gesellschaftliche Arbeit wird als etwas verstanden, das um eines anderen, höherrangingen Zweckes willen als wertvoll gelten muss. Die Eigenart des dritten Paradigmas besteht also darin, die Arbeit zwar als eine soziale Praxis zu begreifen, die wertvoll ist, aber nur um der Erlangung eines übergeordneten Gutes willen, so dass sie insgesamt als ein Gut von zuträglichem Wert für ein höherstufiges Gut aufgefasst wird. Wie im zweiten Paradigma wird hier nicht die Frage gestellt, ob der Arbeit irgendwelche intrinsischen Qualitäten innewohnen, im Unterschied zu diesem aber wird ihr durchaus ein Wert zugeschrieben, aber eben ein nur zuträglicher oder mittelbarer.

Als derjenige Zweck, um dessentwillen die Arbeit in unserem dritten Paradigma als ein solches instrumentelles Gut verstanden wird, gilt die politische Willensbildung aller Bürgerinnen und Bürger eines Gemeinwesens. Es ist das intrinsische Gut einer möglichst vollständigen und wirksamen Einbeziehung aller Gesellschaftsmitglieder in die Praktiken der demokratischen Selbstbestimmung, das die Beantwortung der Frage bestimmt, in welcher Weise die gesellschaftliche Arbeit organisiert sein soll. Die Arbeit gilt so lange als schlecht, falsch oder unangemessen eingerichtet, wie sie nicht dem Zweck för42derlich ist, allen Bürgerinnen und Bürgern die aktive Teilnahme an der politischen Willensbildung zu erlauben. Allerdings werden wir noch sehen, dass die gesellschaftliche Arbeitsteilung in dieser Tradition nicht nur als ein beliebiges Gut von instrumenteller Bedeutung für das Gelingen und Gedeihen der demokratischen Willensbildung angesehen wird; es gibt fraglos viele solche Bedingungen, die überhaupt erst die Einbeziehung aller Bürgerinnen und Bürger in die Prozesse der demokratischen Deliberation ermöglichen – man denke nur ganz elementar an ein allgemeines Wahlrecht oder auch an eine funktionierende Öffentlichkeit.[38]  Diese Voraussetzungen besitzen nicht bloß einen instrumentellen Wert für die Ermöglichung von demokratischer Partizipation und Mitbestimmung, sie sind vielmehr deren Lebensgrundlage und bilden daher eine wesentliche, konstitutive Bedingung für ihr Gelingen. Das Besondere des dritten normativen Paradigmas besteht nun darin, dasselbe auch für eine wohlorganisierte und fair eingerichtete Arbeitsteilung zu behaupten: Wie das allgemeine Wahlrecht oder eine intakte politische Öffentlichkeit gilt eine hinreichend gute Organisation der gesellschaftlichen Arbeit diesem Paradigma als eine konstitutive, nicht ersetzbare Voraussetzung für die Inklusion aller Staatsbürger:innen in die demokratische Willensbildung. Die gesellschaftliche Arbeit fair zu verteilen und gut einzurichten, ist ihm zufolge von konstitutivem, nicht bloß instrumentellem Wert für den demokratischen Prozess.[39] 

43Schon bei Adam Smith finden sich überraschenderweise erste Bedenken dahingehend, dass die fortschreitende Mechanisierung und Zerstückelung der Arbeit dem politischen Klima in einem Gemeinwesen abträglich sein könnten. In seinem Buch An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations äußert Smith ganz am Rande die Befürchtung, dass die mit der wachsenden Arbeitsteilung einhergehende Vereinseitigung und Sinnentleerung der individuellen Verrichtungen zu einer seelischen und geistigen Verarmung der Werktätigen derart führen könnte, dass sie zu einer hinreichend informierten Teilnahme am politischen Leben nicht mehr in der Lage sein würden.[40]  Diese periphere Beobachtung von Smith wird knapp fünfzig Jahre später zum Schlüssel von Hegels Analyse der modernen Marktwirtschaft. Hegel geht in dem der Arbeit gewidmeten Kapitel seiner »Rechtsphilosophie« davon aus, dass die arbeitenden Stände nur dann zu einem »allgemeinen Leben« und damit einer aktiven Teilnahme am »vernünftigen Ganzen« der Gesellschaft imstande sein würden, wenn ihre beruflichen Tätigkeiten hinreichend komplex, genügend abgesichert und zudem in branchenspezifischen, das jeweilige Berufsethos zelebrierenden Korporationen aufgehoben seien.[41]  Damit ist das Leitmotiv des dritten Paradigmas einer Kritik der Arbeitsverhältnisse gesetzt: Die arbeitsteilig aufeinander bezogenen Verrichtungen der Masse der Bevölkerung müssen der normativen Auflage genügen, alle Beschäf44tigten mit dem Maß an Selbstvertrauen, Wissen und Ehrgefühl auszustatten, das erforderlich ist, um ohne Scham und Angst an der gesamtgesellschaftlichen Meinungsbildung teilnehmen zu können. Nach Hegel wird die damit umrissene Vorstellung zum Grundstein einer ganzen, allerdings eher untergründig wirkenden Tradition; in Frankreich wird sie durch Emile Durkheims Solidarismus und dessen Anhänger begründet, auf der britischen Insel durch den Zunftsozialismus eines George Douglas Howard Cole, der von Oxford aus Einfluss auf die englische Arbeiterbewegung nimmt.[42]  Beide Flügel eint der Gedanke, dass eine lebendige Demokratie an die Voraussetzung einer fairen, inklusiven und ständig bewusst gehaltenen Arbeitsteilung gebunden ist; gerade dass mittels verschiedener Vorkehrungen ein gemeinsames Bewusstsein für die wechselseitigen Abhängigkeiten in der Arbeitsteilung wachgehalten wird, ist beiden Strängen der Bewegung besonders wichtig, weil nur dadurch ein Geist des demokratischen Miteinanders kultiviert werden kann. Das normative Argument, mit dem in dieser Tradition das notwendige Ergänzungsverhältnis von Demokratie und fairer Arbeitsteilung gerechtfertigt wird, findet sich der Sache nach bereits bei Hegel: Nur wer über einen anerkennungswürdigen und sozial auch tatsächlich anerkannten Beruf verfügt, kann die kognitiven Fähigkeiten und das psychische Selbstvertrauen besitzen, sich an der gesellschaftlichen Wil45lensbildung so wirksam zu beteiligen, wie es die Idee der aktiven Bürgerschaft verlangt. Als angemessen oder »gut« genug organisiert gelten hier die gesellschaftlich geforderten Arbeiten nur dann, wenn sie es jedem Beschäftigten ermöglichen, ungezwungen am demokratischen Leben der Gesellschaft mitzuwirken. Was das im Einzelnen heißt, wie also die gesellschaftliche Arbeit in der Fülle ihrer Verrichtungen konkret einzurichten ist, ergibt sich natürlich jeweils aus empirischen Annahmen darüber, was an den existierenden Arbeitsbedingungen als besonders abträglich hinsichtlich der Fähigkeit zur Teilnahme an der politischen Willensbildung angesehen wird. Daher geben die Repräsentanten dieser dritten Position nicht selten ganz unterschiedliche Handlungsempfehlungen zur Veränderung der Situation. Einig ist man sich jedoch in der Kritik, die gegen die herrschenden Arbeitsverhältnisse vorgebracht wird: Jedes Mal gilt sie Zuständen, die es aufgrund von physischer und/oder psychischer Überbelastung, von zu starker Arbeitszergliederung, von mangelnder Anerkennung oder von fehlender Verankerung in der sozialen Arbeitsteilung der arbeitenden Mehrheit der Bevölkerung nicht erlauben, vollumfänglich am deliberativen Austausch innerhalb von demokratischen Gesellschaften teilzunehmen.

Damit sind die drei wichtigsten Varianten einer normativen Kritik an den Arbeitsverhältnissen im Kapitalismus umrissen. Je nachdem, welcher normative Standpunkt eingenommen wird, kritisiert man an den existierenden Arbeitsverhältnissen entweder, dass sie die arbeitenden Menschen zu sinnlosen, objektiv unbefriedigenden Tätigkeiten zwingen, dass sie sie der willkürlichen Herr46schaft von privaten Akteuren aussetzen oder ihnen nicht die zur gleichberechtigten Mitwirkung an der demokratischen Willensbildung erforderlichen Fähigkeiten und Voraussetzungen vermitteln. Um den Weg zur normativen Beschäftigung mit den heute herrschenden Arbeitsbedingungen zu bahnen, werde ich nun die drei Varianten einem kritischen Vergleich unterziehen. Ich beginne erneut mit dem auf Marx zurückgehenden und im Folgenden als »Entfremdungskritik« bezeichneten Paradigma, wonach wir uns nur dann nichtentfremdet auf unsere arbeitende Tätigkeit beziehen können, wenn wir in der Lage sind, sie als Ausdruck oder Abbild unserer eigenen gattungsspezifischen Anlagen und Fähigkeiten zu verstehen.

Die offensichtliche Stärke dieses ersten Paradigmas, die suggestive Plausibilität und Anschaulichkeit, die es ausstrahlt, ist zugleich seine empfindlichste Schwäche. Lassen wir die metaphysischen Konnotationen beiseite, die der Entfremdungskritik bei Marx gelegentlich noch anhaften,[43]  so besticht die Vorstellung, alles Arbeiten solle in Zukunft spezifisch menschliche Fähigkeiten und Potenziale zum Ausdruck bringen können, zunächst durch ihre nicht von der Hand zu weisende Anziehungskraft. Jede Tätigkeit, in der es gelingt, sich als selbstwirksam in der gegenständlichen Umwelt zu erfahren, indem man in ihr eigene Absichten gestaltend verwirklicht, mag als Inbegriff eines selbstzweckhaften, in sich befriedigenden Handelns angesehen werden; und selbst wenn man die Voraussetzungen für ein solches nichtentfremdetes Tun ein wenig herabmildert und die Bedingung der Umgestaltung eines Gegenstandes fallenlässt, so 47dass nur die tätige Ausübung von spezifisch menschlichen Vermögen übrig bleibt, verliert dieses Paradigma zunächst nicht viel von seiner anfänglichen Attraktivität; auch ein Arbeiten, das nicht gegenstandsformierend ist, wie etwa das Zustellen von Postsendungen, das Unterrichten von jungen oder das Betreuen von älteren Menschen, wird einer damit befassten Person wohl umso attraktiver und zufriedenstellender erscheinen, je stärker sie dabei ihre eigenen Fähigkeiten und Talente ungezwungen zum Ausdruck bringen kann.

Allerdings muss man berücksichtigen, dass hier nicht von subjektiven Empfindungen oder Eindrücken, der sogenannten Arbeitszufriedenheit, die Rede sein soll, sondern von der Erfüllung eines »objektiven« Standards. Es genügt nicht, die eigene Tätigkeit als sinnerfüllt in der Bedeutung der Verausgabung von spezifisch menschlichen Fähigkeiten zu erleben, vielmehr muss eine solche Aktivität tatsächlich – oder »objektiv« – eine oder mehrere dieser Fähigkeiten verwirklichen können.[44]  Man erkennt dann aber sofort, dass es extrem schwierig ist, ein derartiges Kriterium auf konkrete Fälle aus 48der riesigen Menge unterschiedlichster Arbeitsverrichtungen anzuwenden; nahezu alles hängt hier nämlich davon ab, was im engeren Sinn als eine spezifisch menschliche Fähigkeit begriffen wird. Ist etwa das Beherrschen der vier Grundrechenarten bereits ein solches spezifisches Vermögen, so dass die monotone sowie physisch und psychisch belastende Tätigkeit an der Supermarktkasse bereits als ein entfremdungsloses Arbeiten verstanden werden kann? Da hier Beliebigkeit droht, bedarf es einer möglichst genauen Einkreisung der Fähigkeiten, die als spezifisch »menschlich« gelten dürfen oder die, um Marx zu paraphrasieren, unsere besonderen »Gattungskräfte« repräsentieren könnten. Je enger nun aber dieser Kreis gezogen wird, je geringer also die Zahl der Fähigkeiten ausfällt, die man im eminenten Sinn als typisch menschlich begreift, desto kleiner wird der Bereich der Arbeitstätigkeiten, die überhaupt noch als potenzielle Kandidaten für ein entfremdungsloses Arbeiten angesehen werden dürfen. Am Ende läuft die Einengung auf nur wenige humanspezifische Fähigkeiten, die man in der entfremdungslosen Arbeit realisiert sehen möchte, Gefahr, in einen ethischen Perfektionismus zu schlittern, der die normativen Ansprüche so hochgeschraubt hat, dass sie auf die Mehrzahl der auch in Zukunft zu verrichtenden Tätigkeiten keine Anwendung mehr finden können. Es spielt dann überhaupt keine Rolle mehr, ob die Arbeit einer Baustoffprüferin, eines Fahrzeuglackierers oder einer Textilreinigerin fair bezahlt ist, ob ihre Arbeitsplätze sicher eingerichtet sind oder ob sie das, was sie tun, subjektiv als befriedigend erfahren: Ihre Tätigkeiten müssen unabhängig davon so lange als entfremdet gelten, wie sie nicht dem Kriterium genügen, die wenigen menschlichen Potenziale zu ver49wirklichen, die uns wahrlich als Menschen auszeichnen sollen: das Schmieden komplexer Pläne, die Gestaltungsgabe, die kreative Zwecksetzung, die Fähigkeit zu kooperativem Handeln. Die Entfremdungskritik scheint also insofern in einer Falle zu stecken, als sie die Ansprüche an ein entfremdungsloses Arbeiten entweder zu niedrig oder zu hoch veranschlagen muss. Setzt sie diese zu niedrig an, muss nahezu jede Arbeitsverrichtung als nichtentfremdet gelten, weil dabei stets trivialerweise irgendwelche rudimentär menschlichen Fähigkeiten ausgeübt werden; setzt sie sie zu hoch an, können nur noch die wenigsten Verrichtungen als potenziell entfremdungslos gelten, weil nur sie dem hohen Anspruch der Realisierung wahrlich menschlicher Fähigkeiten genügen. Dieses zweite, perfektionistische Extrem, bei der die normativen Bedingungen für ein sinnvolles oder nichtentfremdetes Arbeiten derart hochgeschraubt werden, dass sie kaum mehr Anwendung sowohl auf die gegenwärtigen als auch auf die in der Zukunft erforderlichen Tätigkeiten finden können, lässt sich auch anders formulieren: Man neigt dazu, die Plastizität und Veränderbarkeit der gesellschaftlich erforderlichen Arbeitstätigkeiten massiv zu überschätzen, wenn man von ihnen für alle Zeiten verlangt, in dem Sinn um ihrer selbst willen verrichtet zu werden, dass sie »objektiv« unsere höchsten Fähigkeiten zum Ausdruck bringen können.[45] 

Die Zwickmühle einer entweder zu trivialen oder zu perfektionistischen Vorstellung davon, was ein nichtentfremdetes oder ein sinnerfülltes Arbeiten beinhalten 50soll, ist nicht die einzige Schwierigkeit, die mit der Entfremdungskritik einhergeht. Schon beim jungen Marx ist nicht ganz klar, ob er seine Bestimmungen der nichtentfremdeten Arbeit allein auf die Verrichtungen eines einzelnen Subjekts oder auf die gemeinsamen Tätigkeiten einer sozialen Gruppe bezieht. Die entsprechenden Passagen aus den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten handeln mal von der Tätigkeit eines individuellen Subjekts, mal vom Zusammenarbeiten in der Gruppe, ohne dass so recht deutlich wird, ob vom zukünftigen Wohlergehen des Einzelnen oder einer ganzen Gemeinschaft als Resultat eines entfremdungslosen Arbeitens die Rede ist.[46]  Diese Unentschiedenheit ist nach meiner Überzeugung charakteristisch für das gesamte Paradigma der Entfremdungskritik; man lässt es im Allgemeinen offen, ob die geforderte Transformation der Arbeitswelt in Richtung von Sinnerfüllung und Entfremdungslosigkeit eher dem guten Leben des individuellen Subjekts oder dem der Gemeinschaft als ganzer zugutekommen soll. Für die erste Alternative spricht, dass wenig Mühe darauf verwendet wird, einen soliden Zusammenhang zwischen der nichtentfremdeten Arbeit des Einzelnen und dem Wohlergehen der sozialen Gemeinschaft herzustellen; gewiss, solche Effekte mag es umso eher geben, je deutlicher hervorgehoben wird, dass Sinnhaftigkeit und Entfremdungslosigkeit nur kraft 51Kooperation möglich sein sollen, aber diese These wird nur selten ausdrücklich vertreten und spielt meistens eine nur sehr untergeordnete Rolle. Die zweite Schwierigkeit, die dem Paradigma der Entfremdungskritik anhaftet, ist daher die Tendenz, einem ethischen Individualismus das Wort zu reden: Die primäre Aufmerksamkeit gilt der Frage, welche Form des Arbeitens dem Wohlergehen des Einzelnen zukünftig dienlich sein kann, während der Bedeutung guter oder gerechter Arbeitsverhältnisse für das gesamtgesellschaftliche Wohl nur wenig Beachtung geschenkt wird. Ob die herrschenden Arbeitsbedingungen auch deswegen kritisierbar sein könnten, weil sie das Familienleben, das bürgerschaftliche Engagement oder die Teilnahme am öffentlichen Meinungsaustausch bedrohen, scheint hier so gut wie keine Rolle zu spielen. Die unvermeidliche Falle, entweder für ein zu schwaches oder für ein zu starkes, perfektionistisches Kriterium votieren zu müssen, sowie das Kleben am individuellen Wohlergehen lassen das Paradigma der Entfremdungskritik als ungeeignet erscheinen, um daran heute mit Blick auf die Verbesserung unserer Arbeitsverhältnisse anzuknüpfen.

Auch das zweite, das republikanische Paradigma weist einige Probleme auf, die aber sehr anders gelagert sind. Hier droht nicht die Gefahr, die Erwartungen an die Umgestaltbarkeit von Arbeitsverrichtungen perfektionistisch zu überspannen, weil dem Gehalt, dem Umfang und dem Aufwand der einzelnen Tätigkeiten nur ein äußerst geringes Interesse entgegengebracht wird. Die Kritik gilt, wie oben dargestellt, in diesem Paradigma fast ausschließlich dem Umstand, dass den Beschäftigten unter Bedingungen von privater Unternehmenskontrolle und Lohnarbeit innerhalb der Arbeitssphäre nicht 52dieselbe Freiheit von willkürlicher Herrschaft garantiert wird, die ihnen im politischen Raum demokratischer Gesellschaften mit großer Selbstverständlichkeit zuerkannt wird. Man mag gegen diese normative Forderung von republikanischer Freiheit in allen wirtschaftlichen Unternehmungen direkt einwenden, dass es einer zusätzlichen Begründung dafür bedürfe, warum im ökonomischen Bereich der Güterversorgung und der Dienstleistungen dieselben moralischen Prinzipien herrschen sollten wie in der Sphäre politisch-demokratischen Handelns; zumindest müsste man sich stärker gegen den Einwand wappnen, dass für wirtschaftlichen Wohlstand und Effizienz der Preis zu zahlen sei, die Kontrolle von betrieblichen Abläufen und Investitionen privaten Akteuren zu überlassen, weil diese aufgrund ihrer finanziellen Einlagen ein natürliches Interesse an der Gewinnmaximierung und damit am Gedeihen ihres Unternehmens haben.[47]  Natürlich ließe sich gegen diese These – ein Bollwerk der Marktliberalismus – eine Reihe von überzeugenden Einwänden vorbringen; aber eine solche Widerlegung der Auffassung, wonach die politische und die wirtschaftliche Sphäre zwei gänzlich getrennte, funktional auf unterschiedliche Regeln angewiesene Subsysteme bilden, müsste eben erst geliefert werden, bevor man darangeht, die Prinzipien der republikanischen Freiheit normativ vom politischen Raum auf den Produktions- und Dienstleistungssektor zu übertragen.

Schwerer wiegt aber ein anderer Einwand gegen das republikanische Paradigma, der schon kurz Erwähnung 53