Angst vorm Fliegen - Erica Jong - E-Book

Angst vorm Fliegen E-Book

Erica Jong

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

» Fliegen bedeutet Kreativität, Sexualität, Autonomie.« Erica Jong Mit einem kritischen Nachwort zur Neuübersetzung von Lilian Peter Der internationale Bestseller Angst vorm Fliegen ist ein feministischer Klassiker und ein wahrlich unterhaltsames Buch über die Reise einer Frau zu sich selbst. Isadora Wing, eine jüdische Lyrikerin und Journalistin aus der Upper West Side von New York City, reist trotz ihrer Flugangst mit ihrem Mann nach Wien, um von der ersten Psychoanalytiker-Konferenz seit der Vertreibung der Analytiker während des Holocausts zu berichten. Doch als sie in Wien einen anderen Mann kennenlernt, wird es für sie auch zu einer sexuellen Reise. Damals lösten die sexuellen Phantasien der Protagonistin einen riesigen Skandal aus und machten den Roman zu einem Klassiker der weiblichen erotischen Literatur. Heute können wir das Buch radikal anders lesen: Neben dem autofiktionalen und sexuellen Aspekt begeistern der Blick auf die jüdische Diaspora in den USA sowie durch die sympathische Protagonistin und deren unverstellten wie humorvollen Blick auf die Ehe, auf Psychoanalyse und die sexuelle Frigidität der Gesellschaft der 70er-Jahre. Angst vorm Fliegen hat 50 Jahre nach seinem Erscheinen nicht an Durchschlagskraft verloren: Es geht um die Befreiung der Frau. » Unerschrocken und erfrischend. « John Updike, The New Yorker »Dieses Buch wird Literaturgeschichte schreiben.« Henry Miller

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 560

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Originalausgabe erschien 1973 unter dem Titel Fear of Flying bei Holt, Rinehart and Winston, New York.

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die großzügige Unterstützung der Arbeit an dieser Übersetzung.

www.eccoverlag.de

Copyright © 1973 by Erica Mann Jong

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe

Ecco Verlag in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von Magdalena Mau nach einem Gestaltungskonzept von Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung: Idelle Weber: Falling Figures, 1966. © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Autorinnenfoto von Mary Ann Halpin

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783753000961

Widmung

FÜR GRACE DARLING GRIFFIN UND FÜR MEINEN GROSSVATER, SAMUEL MIRSKEY

Dank

Ich danke meinen unerschrockenen Verlegern: Aaron Asher und Jennifer Josephy. Ich danke dem National Endowment for the Arts für die finanzielle Unterstützung, das Stipendium war hilfreich. Und ich danke Betty Anne Clark, Anita Gross, Ruth Sullivan, Mimi Bailin und Linda Bogin. Ein besonderer Dank gilt meiner Muse, mit der ich zusammenwohne und die mir von Anfang an ein eigenes Zimmer zugestand.

Motto

Des Weibes Liebe – wer hat’s nicht erfahren?

Ist wol ein süßes, doch ein schrecklich Ding;

Denn dies Gefühl birgt, was sie sind und waren,

Ist es dahin, dann schließt des Lebens Ring;

Dann bleibt nur Hohn aus den geschwund’nen Jahren

Und Rachedurst, in dem die Lieb’ verging,

Der wie ein Tiger schnell und tödtlich trifft.

Und wenn er trifft, sich selber wird zum Gift.

Sie haben Recht! der Mann ist oft dem Manne,

Doch immer falsch und ungerecht der Frau;

Ihr harrt Verrath nach kurzer Liebesspanne,

Es bricht ihr Herz, dies feste Lebenstau,

Ihr Ideal verfällt dem Fluch und Banne;

Ein Reicher kommt und freit sie, eh sie grau.

Was nun? Ein Mann, der niemals sie versteht,

Die Toilette, Kinder, das Gebet!

Dann greifen sie zum Schnaps und zum Galane,

Die Küche muß, das Schauspiel sie zerstreun,

Oft gehn sie durch in ihrem armen Wahne

Und haben es nur zu bald zu bereun;

Kein Wechsel bessert ihres Lebens Plane

Und das Verlorne läßt sich nicht erneun,

So ist man im Palast, im Schuppen dran,

Man wird fast toll, schreibt endlich ’nen Roman.

— Lord Byron (aus Don Juan) 1

1: Unterwegs zum Kongress der Träume oder: Nix-wie-Vögeln

1 /

UNTERWEGS ZUM KONGRESS DER TRÄUME ODER: NIX-WIE-VÖGELN

Bigamie heißt, dass man einen Mann zu viel hat.

Monogamie heißt dasselbe.

– Anonym (eine Frau)

In der Pan-Am-Maschine nach Wien saßen 117 Psychoanalytiker. Bei mindestens sechs von ihnen war ich in Behandlung gewesen. Einen siebten hatte ich geheiratet. Gott allein weiß, ob es an der Unfähigkeit der Analytiker lag oder an meiner eigenen grandiosen Nichtanalysierbarkeit, dass alles, was dreizehn Jahre Analyseabenteuer gebracht hatten (wenn sie überhaupt irgendetwas gebracht hatten), darin bestand, dass meine Flugangst schlimmer war denn je.

Als wir abhoben, hielt mein Mann, ganz Therapeut, mir die Hand.

»Gott, die ist ja eiskalt«, sagte er. Er musste die Symptome kennen, denn er hatte meine Hand schon auf zahllosen Flügen gehalten. Meine Finger (und Zehen) werden zu Eis, der Magen dreht sich mir um, die Temperatur meiner Nasenspitze gleicht sich derjenigen meiner Finger an, meine Brustwarzen stellen sich auf und grüßen die Innenseite meines BHs (oder in diesem Fall meines Kleides – ich trug keinen BH), und eine brüllende Minute lang, wenn wir wieder einmal zu beweisen suchen, dass die Gesetze der Aerodynamik nicht auf fadenscheinigem Aberglauben beruhen (im tiefsten Inneren weiß ich, dass sie es tun!), werden mein Herz und die Turbinen eins. Zum Teufel mit den Erklärungen, wie Tragflächen funktionieren, die Pan Am in seinen mehrsprachigen PASSAGIERINFORMATIONEN zum Besten gibt – ich bin eben überzeugt, dass ausschließlich meine eigene Konzentration (und die meiner Mutter, die stets zu erwarten scheint, dass ihre Kinder bei einem Flugzeugabsturz sterben werden) diesen Vogel in der Luft hält. Ich beglückwünsche mich zu jedem erfolgreichen Take-off, aber auch wieder nicht allzu enthusiastisch, denn in dem Moment, in dem man sich zu sicher fühlt und sich wirklich entspannt, stürzt das Flugzeug sofort ab, das sieht meine persönliche Religion so vor. Motto: konstante Wachsamkeit. Vorsichtiger Optimismus ist angesagt. In Wirklichkeit bin ich eher vorsichtig pessimistisch. O.k., sage ich mir, wir haben offenkundig abgehoben und durchbrechen jetzt die Wolkendecke, aber die Gefahr ist nicht gebannt. Tatsächlich ist genau hier der gefährlichste Flecken Luft. Genau hier, über Jamaica Bay, wo das Flugzeug abdreht und das Anschnallzeichen erlischt. Gut möglich, dass wir genau hier schreiend und in tausend flammenden Einzelteilen zu Boden gehen. Ich bleibe also höchst konzentriert und helfe so dem Piloten (einer Stimme namens Donnelly, die beruhigend nach Mittlerem Westen klingt), das Biest mit seinen 250 Passagieren in der Luft zu halten. Dem Himmel sei Dank für seine Igelfrisur und seinen Akzent aus dem Mittleren Westen. Einem Piloten mit New Yorker Akzent würde ich, New Yorkerin, die ich bin, niemals mein Vertrauen schenken.

Sobald das Anschnallzeichen erlischt und die Leute in der Kabine beginnen, sich zu bewegen, blicke ich nervös um mich, um zu sehen, wer alles mitfliegt. An Bord ist eine vollbusige Mama-Analytikerin namens Rose Schwamm-Lipkin, mit der ich kürzlich eine Sitzung hatte, um zu besprechen, ob ich meinen aktuellen Analytiker verlassen sollte oder nicht (der glücklicherweise nicht zu sehen ist). Da ist Dr. Thomas Frommer, der harsch-teutonische Experte in Anorexia nervosa und erste Analytiker meines Mannes. Da ist der freundlich-runde Dr. Arthur Feet jr., der dritte (und letzte) Analytiker meiner Freundin Pia. Dann der zwanghafte kleine Dr. Raymond Schrift, der eine blonde Stewardess (namens Nanci) herbeiwinkt, als wäre sie ein Taxi. (Zu Dr. Schrift ging ich mit vierzehn ein denkwürdiges Jahr lang, weil ich mich als Strafe dafür, dass ich auf der Wohnzimmercouch meiner Eltern masturbiert hatte, zu Tode hungern wollte. Er bestand darauf, dass das Pferd, von dem ich träumte, mein Vater sei und dass ich meine Periode wieder bekommen würde, wenn ich nur akzeptierte, eine Frau zu sein. »Ackzept being a vohman«, sagte er mit seinem deutschen Akzent.) Da ist der lächelnde Glatzkopf Dr. Harvey Smucker, den ich konsultierte, als mein erster Mann beschloss, er sei Jesus Christus, und über das Wasser des Sees im Central Park wandeln wollte. Da ist der geckenhafte, angeblich »brillante Theoretiker« Dr. Ernest Klumpner im maßgeschneiderten Anzug; sein letztes Buch ist eine psychoanalytische Studie über John Know. Dann Dr. Stanton Rappoport-Rosen mit dem schwarzen Bart; sein New Yorker Ruf ging kürzlich den Bach runter, als er nach Denver zog und sein Angebot um so etwas wie »Langlaufskigruppentherapie« erweiterte. Da ist Dr. Arnold Aaronson mit seiner neuen Frau, der Sängerin Judy Rose (bis zum vergangenen Jahr war sie noch seine Patientin gewesen), und einem magnetischen Reiseschachbrett, sie tun, als würden sie spielen. Dabei sehen sie sich die ganze Zeit verstohlen um, wer ihnen wohl zusieht – und einen Augenblick lang kreuzen sich meine und Judy Rose’ Blicke. Judy Rose war in den Fünfzigern mit satirischen Balladen über das pseudointellektuelle Leben in New York berühmt geworden. Mit weinerlicher und absichtlich unmusikalischer Stimme hatte sie die Geschichte einer jungen Jüdin besungen, die Seminare an der New School belegt, die Bibel aufgrund ihrer Literarizität liest, im Bett über Martin Buber diskutiert und sich in ihren Analytiker verliebt. Inzwischen ist sie selbst zu der einst von ihr erfundenen Figur geworden.

Neben den Analytikern, ihren Frauen, der Besatzung und wenigen bemitleidenswerten, zahlenmäßig unterlegenen Laien waren da noch ein paar Analytikersöhne, die spaßeshalber mitkamen. Sie waren großteils verdrießlich dreinblickende Halbwüchsige in Schlaghosen und mit schulterlangem Haar; ihr Zynismus und Spott ihren Eltern gegenüber war fast mit Händen zu greifen. Ich erinnerte mich daran, wie ich selbst als Teenager mit meinen Eltern verreist war und stets so getan hatte, als wäre ich allein unterwegs. Im Louvre hatte ich versucht, sie zu verlieren! In den Uffizien, ihnen aus dem Weg zu gehen! Sinnierend über einer Cola in einem Pariser Café sitzen und so tun, als wären die lauten Leute am Nebentisch nicht meine Eltern, auch wenn dem offensichtlicherweise so war. (Verstehen Sie – meine Eltern saßen einen Meter entfernt, und ich tat so, als wäre ich eine Exilantin der Verlorenen Generation.) Hier war ich also, zurückgeworfen in meine eigene Vergangenheit. Oder in einen Albtraum. Oder in einen schlechten Film: Analytiker und Analytikersohn. Ein Flugzeug voller Seelenklempner, Kümmerdocs, mittendrin ich, umgeben von meiner eigenen Pubertät. Gestrandet irgendwo in den Lüften über dem Atlantik mit 117 Analytikern, darunter viele, denen ich meine lange, traurige Geschichte erzählt hatte, und kein einziger, der sich daran erinnerte. Perfekter Auftakt für den Albtraum, der da kommen sollte.

Wir flogen nach Wien, der Anlass war geschichtsträchtig. Vor ein paar Jahrhunderten, vor ein paar Kriegen, im Jahr 1938, war Freud mit seiner Familie vor den Nazis geflüchtet und hatte seine berühmte Praxis in der Berggasse zurückgelassen. Im sogenannten Großdeutschen Reich durfte sein Name nicht erwähnt werden, Analytiker wurden vertrieben (wenn sie Glück hatten) oder vergast (wenn sie keins hatten). Jetzt lud Wien die Analytiker wieder ein und ließ sich dabei nicht lumpen. Man eröffnete sogar ein Freud-Museum in dessen alten Praxisräumen. Der Wiener Bürgermeister sollte bei einem Empfang im pseudogotischen Rathaus der Stadt eine Willkommensrede halten. Die Verheißung: kostenloses Essen, kostenloser Schnaps, Schifffahrten auf der Donau, Exkursionen in die Weinberge, Singen, Tanzen, Ausgelassenheit, eingeübte Vorträge und Reden und ein Trip nach Europa, steuerlich absetzbar. Allem voran würde es eine ordentliche Portion gute alte österreichische Gemütlichkeit geben. Die Leute, die den Schmalz (und die Krematorien) erfunden hatten, sollten alles daransetzen, den Analytikern zu zeigen, wie willkommen sie wieder waren.

Willkommen zurück! Willkommen zurück! Zumindest die von euch, die Auschwitz, Bergen-Belsen, die Angriffe der deutschen Luftwaffe auf London und Amerikas Kriegseintritt überlebt haben. Willkommen!Küss die Hand! Wenn es irgendetwas gibt, was Österreicher definitiv sind, dann galant.

Ob der Kongress in Wien stattfinden sollte, war jahrelang hitzig diskutiert worden, und viele der Analytiker waren nur widerwillig gekommen. Antisemitismus war ein Grund dafür, zudem war nicht auszuschließen, dass radikale Studentinnen und Studenten der Wiener Universität zu Protesten aufrufen würden. Bei Mitgliedern der Neuen Linken war die Psychoanalyse in Verruf geraten, sie galt als »zu individualistisch«. Sie trage nichts dazu bei, den »weltweiten kommunistischen Kampf« voranzubringen.

Ich war von einer neu gegründeten Zeitschrift gebeten worden, Spaß und Spiel des Kongresses aus der Nähe zu verfolgen und einen satirischen Artikel darüber zu verfassen. Meine Recherchen begann ich damit, dass ich Dr. Smucker ansprach, der sich gerade in der Nähe der Bordküche von einer Stewardess Kaffee einschenken ließ. Sein Blick verriet, dass er keinen blassen Schimmer hatte, dass ich einmal bei ihm in Behandlung gewesen war.

Ich legte meine charmanteste Interviewerinnen-Stimme auf und fragte: »Wie geht es Ihnen mit der Rückkehr der Psychoanalyse nach Wien?«

Dr. Smucker schien verdutzt ob der schockierenden Intimität der Frage. Lang und fragend sah er mich an.

»Ich schreibe einen Artikel für eine neu gegründete Zeitschrift namens Voyeur«, sagte ich. Ich setzte darauf, dass er zumindest über den Namen würde schmunzeln müssen.

»Na dann«, sagte Smucker, ohne eine Miene zu verziehen. »Wie geht es Ihnen denn damit?«

Er watschelte davon zu seiner Frau mit den blond gefärbten Haaren; ihr kleiner Körper steckte in einem blauen Strickkostüm, das oberhalb der rechten (blauen) Brust mit einem winzigen grünen Alligator verziert war.

Ich hätte es wissen müssen. Warum beantworten Analytiker eine Frage stets mit einer Gegenfrage? Und warum sollte diese Nacht anders sein als jede andere Nacht – abgesehen von der Tatsache, dass wir in einer 747 flogen und unkoscheres Essen aßen?

»Die jüdische Wissenschaft«, wie Antisemiten sagen. Kommt man dir mit einer Frage, lenk sie von dir weg und schieb sie der fragenden Person in den Arsch. Sämtliche Analytiker schienen Talmudisten zu sein, die noch im ersten Jahr von der Talmudschule geflogen waren. Einer der Lieblingswitze meines Großvaters kam mir in den Sinn:

A: »Warum beantwortet ein Jude eine Frage stets mit einer Gegenfrage?«

B: »Warum sollte ein Jude eine Frage nicht mit einer Gegenfrage beantworten?«

Was mir jedoch den Rest gab, war die Fantasielosigkeit der meisten Analytiker. O. k., der erste hatte mir wirklich geholfen – der Deutsche, der in Wien einen Vortrag halten würde –, aber er war ein seltener Vogel, geistreich, selbstironisch, unprätentiös. Er hatte nichts von der platten Einstellung, dass es für alles eine exakte Entsprechung gebe, die selbst noch die brillantesten Psychoanalytiker zu Wichtigtuern macht. Doch die anderen, zu denen ich gegangen war – sie hatten alles so unfassbar wörtlich genommen. Das Pferd, von dem du träumst, ist dein Vater. Der Herd, von dem du träumst, ist deine Mutter. Der Haufen Scheiße, von dem du träumst, ist dein Analytiker. Das nennt sich Übertragung. Nicht wahr?

Du träumst davon, dir beim Skifahren das Bein zu brechen. Tatsächlich hast du dir gerade beim Skifahren das Bein gebrochen und liegst auf der Couch mit einem fünf Kilo schweren Gips, der dich schon seit Wochen ans Haus fesselt, dir aber auch eine wunderbare neue Wertschätzung für deine Zehen und die Bürgerrechte Querschnittsgelähmter eingebracht hat. Aber das gebrochene Bein im Traum repräsentiert dein »kastriertes Geschlecht«. Du wolltest immer einen Penis haben, und jetzt fühlst du dich schuldig, dass du dir absichtlich das Bein gebrochen hast, damit du in den Genuss des Gipses kommst, stimmt’s?

Nein!

O. k., vergessen wir mal die Frage nach dem »kastrierten Geschlecht«. Damit ist nichts zu holen. Und vergiss das mit deiner Mutter, die der Herd sein soll, und das mit deinem Analytiker als Haufen Scheiße. Worauf können wir denn schließen außer auf den Geruch? Ich spreche nicht von den ersten Jahren Analyse, wenn es in erster Linie darum geht, deinem Wahnsinn auf die Schliche zu kommen, damit du arbeiten kannst und zumindest nicht dein ganzes Leben nur mit deinen Neurosen beschäftigt bist. Ich spreche von jenem Zeitpunkt, an dem du und dein Mann schon so lange in Analyse seid, dass du dich an die Zeit vorher schon fast nicht mehr erinnern kannst. Keine Entscheidung, wie klein sie auch sein mag, kann ohne das Entscheidungsgremium getroffen werden, das in einer Wolke über deinem Kopf sitzt und aus euren beiden Analytikern besteht. Du fühlst dich ein bisschen wie die trojanischen Krieger der Ilias, über deren Köpfen Zeus und Hera streiten. Ich spreche von jenem Zeitpunkt, an dem deine Ehe zu einer ménage à quatre geworden ist. Du, er, dein Analytiker, sein Analytiker. Vier in einem Bett. Dieser Film ist definitiv nicht jugendfrei.

Mindestens das letzte Jahr hatten wir so verbracht. Keine Entscheidungsfindung ohne den Kümmerdoc, ohne den Verkümmerungsprozess. Sollten wir in eine größere Wohnung ziehen? »Lieber erst mal anschauen, wo wir miteinander stehen.« (Bennetts Euphemismus für: zurück auf die Couch.) Sollten wir ein Kind bekommen? »Lieber erst mal an uns arbeiten.« Sollten wir einem neuen Tennisclub beitreten? »Lieber erst mal anschauen, wo wir miteinander stehen.« Sollten wir uns scheiden lassen? »Lieber erst mal herausarbeiten, was wir unbewusst mit ›Scheidung‹ meinen.«

Tatsache war, unsere Ehe war in jenem Stadium angelangt, in dem Entscheidungen anstehen (fünf Jahre, da beginnt die Bettwäsche, die man zur Hochzeit geschenkt bekommen hat, gerade zu verschleißen). Soll man neue Bettwäsche kaufen, soll man ein Kind bekommen, ist man bereit, den Wahnsinn des anderen bis ans Ende aller Tage zu ertragen? Oder gibt man die Idee der Ehe auf (wirft die Bettwäsche weg) und spielt »Bettchen, wechsel dich«?

Natürlich machte die Analyse die Entscheidungsfindung nur schwieriger. Dabei ist die Idee der Psychoanalyse ja eigentlich die, dass stetig alles besser wird (auch wenn jede verfügbare Evidenz auf das Gegenteil hindeutet). Der Refrain geht ungefähr so:

»Ach-was-war-ich-selbstdestruktiv-als-ich-dich-geheiratet-habe-Schatz-aber-jetzt-bin-ich-so-ho-ho-ho-viel-gesünder.«

(Womit du eigentlich sagen willst, dass du dir vielleicht doch jemand Besseren, Netteren, Attraktiveren, Klügeren und vielleicht sogar an der Börse Erfolgreicheren suchst.)

Worauf er möglicherweise antwortet:

»Ach-wie-habe-ich-alle-Frauen-gehasst-als-ich-mich-in-dich-verliebt-habe-Schatz-aber-jetzt-bin-ich-so-ho-ho-ho-viel-gesünder.«

(Womit er eigentlich sagen will, dass er vielleicht doch eine Nettere, Hübschere, Klügere findet, die besser kochen kann und eines Tages vielleicht sogar haufenweise Kohle von ihrem Vater erbt.)

»Mach dir eins klar, mein Lieber«, sagte ich dann (wann immer ich annahm, dass seine Gedanken in diese Richtung gingen), »deine nächste Frau wäre wahrscheinlich erst recht in der phallischen Phase steckengeblieben, sie wäre nur noch narzisstischer als ich, und deine Kastrationsangst würde sich ins Unermessliche steigern.« (Wichtigste Technik, wenn man mit einem Analytiker verheiratet ist: ihm in sorgfältig ausgewählten Momenten seinen eigenen Fachjargon unter die Nase reiben.)

Doch ich hatte selbst diese Gedanken, und wenn Bennett das wusste, so ließ er es sich nicht anmerken. Etwas in unserer Ehe schien entgleist zu sein. Unsere Leben liefen nebeneinanderher. Bennett verbrachte den Tag in seinem Büro, in seiner Klinik, bei seinem Analytiker, abends ging er wieder ins Büro und blieb in der Regel bis neun oder zehn. Ich unterrichtete ein paar Tage pro Woche, den Rest der Zeit schrieb ich. Mein Lehrpensum war nicht sehr umfangreich, das Schreiben war anstrengend, und wenn Bennett nach Hause kam, brauchte ich Luft und musste raus. Einsamkeit hatte ich bereits reichlich gehabt, reichliche Stunden allein mit meiner Schreibmaschine und meinen Fantasien. Und überall hatte ich Begegnungen mit Männern. Anscheinend war die Welt in einer Weise voll von verfügbaren, interessanten Männern, wie es nie der Fall gewesen war, bevor ich geheiratet hatte.

Was hatten die Leute überhaupt mit der Ehe? Selbst wenn du deinen Mann liebst, kommt zwangsläufig das Jahr, in dem euer Liebesleben so fad wird wie Velveeta-Käse: Es macht satt, sogar dick, aber die Geschmacksnerven pulsieren nicht, kein bittersüßer Kick, kein Risiko. Dabei hast du Verlangen nach einem überreifen Camembert, einem seltenen Ziegenkäse: köstlich, cremig, wild.

Ich war nicht gegen die Ehe. Ich glaubte sogar an sie. In einer feindlichen Welt brauchte man einen besten Freund, eine Person, der gegenüber man immer loyal war, die einem gegenüber immer loyal war, komme, was wolle. Doch was war mit all den anderen Sehnsüchten, die zu stillen sich die Ehe nach einer Weile kaum noch Mühe gab? Die Ruhelosigkeit, der Hunger, die Schmetterlinge im Bauch, die Schmetterlinge im Schoß, die Sehnsucht danach, ausgefüllt zu werden, in jedes Loch gevögelt zu werden, das Verlangen nach trockenem Champagner und feuchten Küssen, nach Pfingstrosenduft in einem Penthouse in einer Juninacht, nach dem Licht am gegenüberliegenden Steg im Großen Gatsby … Nicht konkret diese Dinge – denn du wusstest ja, dass die sehr Reichen dümmer waren als du und ich –, sondern was diese Dinge heraufbeschworen. Das sarkastische, bittersüße Vokabular von Cole-Porter-Lovesongs, die traurig-sentimentalen Songtexte von Rogers und Hart, all der romantische Unsinn, den du mit einer Herzhälfte herbeisehntest und über die du dich mit der anderen Hälfte bitterböse lustig machtest.

Als Frau aufwachsen in Amerika. Was für eine Zumutung! Die Ohren voll von Kosmetikwerbung, Lovesongs, Kummerkästen, Huroskopen, Hollywood-Klatsch und moralischen Fragestellungen auf dem Niveau von Fernsehseifenopern. Was berieselte dich die Werbung nicht mit Litaneien auf das gute Leben! Was für merkwürdige Katechismen!

»Drei Lagen für mehr Wohlbehagen!« »Erröten Sie, als wäre es Ihnen ernst!« »Wir machen mehr aus Ihrem Haar!« »Sie wollen einen schöneren Körper? Wir verschönern den, den Sie haben!« »Nicht Ihre Haut soll Sie glänzen lassen – er soll Sie glänzen lassen!« »Sie sind schon so weit gekommen, schöne Frau.« »Wie Sie jedes Sternzeichen um den Finger wickeln.« »Die Sterne und Ihr empfindsames Ich.« »Ein wahrer Mann trinkt Cutty Sark.« »Einmal Diamant, immer Diamant.« »Kleinod der Intimhygiene.« »Länge und Coolness sind zwei Seiten derselben Zigarette.« »Die reine weibliche Frische für den ganzen Tag.« »Cool bleiben, Lady!« »Alle Frauen lieben Chanel No. 5.« »Wie findet ein schüchternes Mädchen zur Liebe?« »Unübertroffene Reinheit und Güte.«

Wovon all die Werbung und all die Huroskope auszugehen schienen, war, dass du nur narzisstisch genug sein, dich nur genug um deine Gerüche, dein Haar, deine Brüste, deine Wimpern, deine Achselhöhlen, deinen Schritt, deine Sterne und deine Narben kümmern und sorgfältig wählen musstest, welchen Whiskey du in einer Bar trankst – und schon würdest du einen wunderbaren, mächtigen, potenten, reichen Mann kennenlernen, der jede deiner Sehnsüchte stillen, der jedes Loch ausfüllen, der dein Herz hüpfen (oder aussetzen) lassen würde, der dir Schmetterlinge im Bauch verschaffen und dich zum Mond fliegen würde (vorzugsweise mit hauchzarten Flügeln), wo du, alle deine Sehnsüchte gestillt, für immer leben würdest.

Und das Verrückte daran war – selbst wenn du schlau warst, selbst wenn du deine Jugend mit John-Donne- und Shaw-Lektüren verbrachtest, selbst wenn du Geschichte oder Zoologie oder Physik studiertest und antratst, eine strapaziöse und anspruchsvolle Karriere zu machen – selbst dann warst du angefüllt von all diesen schwammigen Sehnsüchten, von denen jedes Highschool-Mädchen überflutet wird. Verstehen Sie – es war egal, ob man einen IQ von 170 oder von 70 hatte, einer Gehirnwäsche wurde man in jedem Fall unterzogen. Nur oberflächlich betrachtet sahen die Fallstricke anders aus. Nur die Sprache hob sich ein bisschen ab. Aber auch wenn sie anspruchsvoller war – deine Sehnsucht, dich in einer Liebe aufzulösen, deine Sehnsucht, dass sie dir den Boden unter den Füßen wegzöge, dass dich ein gigantischer Schwanz ausfülle und Sperma, Seifenlauge, Samt und Seide und natürlich Geld aus sich herausschleudere, war genau gleich. Niemand machte sich die Mühe, dir zu erklären, was es in Wirklichkeit mit der Ehe auf sich hatte. Anders als europäischen Mädchen wurde dir nicht mal eine zynische Philosophie à la »es ist halt praktisch« mitgegeben. Du gingst davon aus, dass du, einmal verheiratet, andere Männer nicht mehr begehren würdest. Und davon, dass auch dein Mann keine anderen Frauen begehren würde. Dann kam es anders, und du ergingst dich in Panik und Selbsthass. Was für eine schlechte, bösartige Frau du doch warst! Wie konntest du dich nur ständig von fremden Männern angezogen fühlen? Wie konntest du nur so auf ihre prallen Hosen starren? Wie konntest du nur in einem Meeting sitzen und dir bei jedem einzelnen Mann vorstellen, wie er wohl im Bett wäre? Wie konntest du nur in einem Zug sitzen und vollkommen Fremde mit Blicken vögeln? Wie konntest du das deinem Mann antun? Hat dir je jemand erzählt, dass das vielleicht einfach rein gar nichts mit deinem Ehemann zu tun hat?

Und was war mit all den anderen Sehnsüchten, die die Ehe abwürgte? Wie jene, ab und an zu verschwinden, um herauszufinden, ob du noch allein und in deinem eigenen Kopf leben kannst oder ob du in einer einsamen Hütte im Wald klarkommst, ohne durchzudrehen; kurz, um herauszufinden, ob du nach so vielen Jahren, in denen du die Hälfte von etwas warst (wie der hintere Teil eines Pferdekostüms imVarieté), noch intakt und ganz warst.

Nach fünf Jahren Ehe reizten mich all diese Dinge; Männer reizten mich, Einsamkeit reizte mich. Sex reizte mich, das Leben einer Einsiedlerin reizte mich. Ich wusste, dass meine Sehnsüchte widersprüchlich waren – und das machte alles nur schlimmer. Ich wusste, dass meine Sehnsüchte unamerikanisch waren – und das machte alles noch schlimmer. In Amerika ist jeder Lebensentwurf, der nicht beinhaltet, dass du die Hälfte eines Paars bildest, Ketzerei. Einsamkeit ist unamerikanisch. Bei einem Mann wird sie unter Umständen geduldet – insbesondere, wenn er ein Single ist, der sich mit Glamour umgibt und während einer kurzen Phase zwischen zwei Ehen Dates mit Berühmtheiten hat. Doch eine Frau, die allein ist, muss verlassen worden sein, undenkbar, dass sie es so gewollt haben könnte. Und so wird sie auch behandelt: als Aussätzige. Es gibt schlicht keine würdige Art und Weise für eine Frau, allein zu leben. Sicher, vielleicht kommt sie finanziell klar (wenn auch niemals so gut wie ein Mann), aber emotional wird sie keinesfalls in Ruhe gelassen. Freunde, Familie, Kolleginnen und Kollegen – niemand wird sie je vergessen lassen, dass die Tatsache, dass sie keinen Ehemann hat, keine Kinder – kurz, dass sie egoistisch ist –, eine Schande für den amerikanischen way of life ist.

Genauer noch: Die Frau kann sich selbst nie in Ruhe lassen (auch wenn sie weiß, dass ihre verheirateten Freundinnen unglücklich sind). Sie lebt, als wäre sie ständig kurz davor, irgendeine großartige Erfüllung zu finden. Als würde sie auf den Traumprinzen warten, der sie von »alldem« erlöst. Von was? Von der Einsamkeit des Lebens in ihrer eigenen Seele? Von der Gewissheit, dass sie sie selbst war und nicht die Hälfte von etwas anderem?

Meine Antwort auf all das war nicht (noch nicht), mir eine Affäre zu suchen, und auch nicht (noch nicht), mich auf und davon zu machen, sondern meine Fantasie vom Zipless Fuck, vom Nix-wie-Vögeln, weiterzuentwickeln. Nix-wie-Vögeln war mehr als Sex. Es war ein platonisches Ideal. »Nix-wie«, denn wenn man zusammenkam, ging alles schnell und wie von selbst, jedweder Verschluss ging auf wie eine Rosenblüte, Unterwäsche flog beim leisesten Anstupsen davon wie der Blütenstaub von einer Pusteblume. Zungen umschlangen und verflüssigten sich. Deine ganze Seele ergoss sich mit deiner Zunge in den Mund deines Lovers.

Voraussetzung für das wahre, ultimative Eins-mit-Stern-Nix-wie-Vögeln war, dass man den Mann nicht zu gut kennenlernen durfte. Ich hatte bemerkt, dass all meine Schwärmereien sich in Luft auflösten, sobald ich mich mit einem Mann wirklich anfreundete, mich mit seinen Problemen identifizierte, ihm zuhörte, wie er über seine Frau oder seine Ex-Frauen, seine Mutter, seine Kinder moserte. Danach war ich ihm zugetan, vielleicht war ich sogar verliebt – aber leidenschaftslos. Doch was ich wollte, war Leidenschaft. Auch hatte ich gelernt, dass ein sicherer Weg, sich eine Schwärmerei aus dem Kopf zu schlagen, darin bestand, über den Mann zu schreiben, seine Macken und Ticks zu beobachten, seine Persönlichkeit mit Worten zu sezieren. Das machte ihn zum Insekt, aufgespießt auf eine Nadel, zum Zeitungsausschnitt, eingeschweißt in Plastik. Gut möglich, dass ich dann immer noch gern mit ihm zusammen war, ihn bisweilen vielleicht sogar bewunderte, aber er übte nicht mehr die Macht aus, die mich mitten in der Nacht aufwachen und zittern ließ. Ich träumte nicht mehr von ihm. Er hatte ein Gesicht.

Eine andere Voraussetzung des Nix-wie-Vögelns war somit Kürze. Und Anonymität machte es sogar noch besser.

Als ich in Heidelberg lebte, fuhr ich viermal pro Woche nach Frankfurt zu meinem Analytiker. Die Fahrt dauerte jeweils eine Stunde, und Züge wurden zu einem wichtigen Bestandteil meines Fantasielebens. Regelmäßig sah ich im Zug schöne Männer, Männer, die kaum Englisch sprachen, Männer, an denen mir aufgrund meiner Sprachunkenntnis in Französisch, Italienisch, ja sogar Deutsch entging, was sie an Klischees und Hohlheiten auf sich versammelten. Es fällt mir wirklich schwer, das zuzugeben, aber in Deutschland gibt es nicht wenige schöne Männer.

Eines meiner Nix-wie-Vögeln-Szenarien war möglicherweise durch einen italienischen Film inspiriert, den ich Jahre zuvor gesehen hatte. Ich schmückte ihn mit der Zeit immer mehr aus, damit er in meine Welt passte. Während ich zwischen Heidelberg und Frankfurt hin- und herfuhr, lief er in Endlosschleife:

Ein schmuddeliger europäischer Zugwaggon (zweite Klasse). Harte, mit Kunstleder bezogene Sitze. Eine Schiebetür zum Gang. Draußen rauschen Olivenbäume vorbei. Auf der einen Seite sitzen zwei sizilianische Bauersfrauen, zwischen ihnen ein Kind. Es scheint sich um Mutter, Großmutter und Enkelin zu handeln. Die Frauen überbieten sich darin, dem Mädchen Essen in den Mund zu stopfen. Gegenüber (auf dem Fensterplatz) sitzt eine hübsche junge Witwe mit dickem schwarzem Schleier und engem schwarzem Kostüm, durch das sich ihre üppigen Rundungen abzeichnen. Sie schwitzt stark, ihre Augen sind geschwollen. Der Platz in der Mitte ist frei. Auf dem Platz am Gang sitzt eine extrem dicke Frau mit Oberlippenbart. Ihre riesigen Hüften belegen zusätzlich zu ihrem eigenen Platz auch beinah die Hälfte des Platzes in der Mitte. Sie liest eine Groschenheft-Schmonzette, die Figuren abfotografierte Models, die sich durch kleine Sprechblasen über ihren Köpfen miteinander unterhalten.

Dieser Fünfer ruckelt eine Zeit lang so vor sich hin. Die Witwe und die dicke Frau schweigen, die Mutter und die Großmutter unterhalten sich mit dem Kind und miteinander über das Essen. Dann quietschen die Bremsen des Zuges, und er hält in einem Städtchen namens Corleone (oder so). Ein großer, unbeteiligt wirkender Soldat, unrasiert, aber mit hinreißendem Wuschelkopf, Kinnspalte und verschmitzten, müden Augen betritt das Abteil, guckt sich forsch um, sieht den zur Hälfte freien Platz zwischen der dicken Frau und der Witwe und setzt sich hin, nicht ohne sich ausführlich und kokett zu entschuldigen. Er schwitzt und ist ungepflegt, im Prinzip ist er aber ein Prachtstück von einem Mann, nur durch die Hitze leicht angeranzt. Quietschend verlässt der Zug die Station.

Dann gibt es nur noch den ruckelnden Zug und das rhythmische Reiben der Oberschenkel des Soldaten an den Oberschenkeln der Witwe. Natürlich reibt er auch an den Hüften der dicken Frau – sie rückt von ihm weg, was eigentlich unnötig ist, da er ihre Hüften gar nicht bemerkt. Er betrachtet das große goldene Kreuz, das zwischen den Brüsten der Witwe in ihrem tiefen Ausschnitt hin und her hüpft. Bamm. Pause. Bamm. Es landet erst auf der einen feuchten Brust, dann auf der anderen. Dazwischen scheint es zu pausieren, als wäre es paralysiert zwischen zwei einander abstoßenden Magneten. Die Grube und das Pendel. Er ist hypnotisiert. Sie starrt aus dem Fenster und verfolgt Olivenbaum um Olivenbaum, als hätte sie noch nie welche gesehen. Ungeschickt steht er auf und macht eine halbe Verbeugung vor den Damen, während er versucht, das Fenster zu öffnen. Als er sich wieder hinsetzt, streift sein Arm versehentlich den Bauch der Witwe. Sie scheint es nicht zu merken. Er legt seine linke Hand auf den Sitz zwischen seinem und ihrem Schenkel und beginnt, seine geschmeidigen Finger über und unter das weiche Fleisch ihres Schenkels wandern zu lassen. Sie verfolgt weiterhin Olivenbaum um Olivenbaum, als wäre sie Gott, hätte soeben die Olivenbäume geschaffen und würde sich jetzt fragen, welchen Namen sie ihnen geben sollte.

Unterdessen packt die extrem dicke Frau ihre Groschenheft-Schmonzette in eine schillernd grüne Plastiktüte, in die geruchsintensiver Käse und angematschte Bananen gestopft sind. Die Großmutter wickelt Salami-Enden in schmieriges Zeitungspapier. Die Mutter zieht dem Mädchen seinen Pullover an und wischt ihm das Gesicht mit einem Taschentuch sauber, liebevoll angefeuchtet mit mütterlicher Spucke. Der Zug kommt in einem Städtchen namens Prizzi (oder so) quietschend zum Halt, und die dicke Frau, die Mutter, die Großmutter und das kleine Mädchen steigen aus. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Das goldene Kreuz beginnt, zwischen den feuchten Brüsten hin und her zu hüpfen, bamm, Pause, bamm, die Finger bahnen sich einen Weg unter die Hüfte der Witwe, die Witwe starrt weiterhin auf die Olivenbäume. Dann gleiten die Finger zwischen ihre Schenkel, drücken sie auseinander und bewegen sich in die fleischige Lücke zwischen ihren dicken schwarzen Strümpfen und ihren Strumpfhaltern und gleiten weiter in die feuchte, sliplose Gegend zwischen ihren Beinen.

Der Zug fährt in einen Tunnel ein; den nichtmetaphorischen Rest erledigt das Halbdunkel.

Der Stiefel des Soldaten in der Luft, die dunklen Wände des Tunnels, das hypnotische Ruckeln des Zuges und der lange, helle Pfeifton, als er den Tunnel schließlich verlässt. Schweigend verlässt sie den Zug in einem Städtchen namens Bivona (oder so). Sie überquert die Gleise, vorsichtig setzt sie in ihren engen schwarzen Schuhen und den dicken schwarzen Strümpfen einen Fuß vor den anderen. Er starrt ihr hinterher, als wäre er Adam, der darüber nachdenkt, wie er sie nennen soll. Dann springt er auf und stürzt aus dem Zug, um ihr hinterherzulaufen. In genau diesem Moment fährt auf dem Nebengleis ein langer Güterzug ein, verstellt ihm die Sicht und blockiert seinen Weg. Fünfundzwanzig Frachtwaggons später ist sie verschwunden auf Nimmerwiedersehen.

Ein Szenario vom Nix-wie-Vögeln.

Verstehen Sie: Gleich, ob die Hosenställe der Männer mit Reißverschluss oder (wie meistens in Europa) mit Knöpfen verschlossen sind, gleich, wie attraktiv die Beteiligten sind – nix wie hin und nix wie weg, darum geht es! Die Begebenheit geht rasant und dicht vonstatten wie ein Traum und mit keinerlei schlechtem Gewissen oder Schuldgefühl einher, denn weder sprechen sie über ihren verstorbenen Ehemann noch über seine Verlobte; sie rationalisieren nichts; sie sprechen überhaupt gar nicht. Nix-wie-Vögeln ist vollkommen rein. Es gibt keine Hintergedanken, keine Machtspielchen. Weder »nimmt« der Mann, noch »gibt« die Frau. Weder sollen einem Ehemann Hörner aufgesetzt noch soll eine Ehefrau gedemütigt werden. Niemand versucht, irgendetwas zu beweisen oder jemanden zu übervorteilen. Nix-wie-Vögeln ist das Reinste, was es gibt. Und es ist seltener als ein Einhorn. Und ich habe so etwas noch nie erlebt. Wann immer ich nah dran zu sein schien, stellte sich heraus, dass ich es mit einem pappmachébehornten Pferd zu tun hatte oder mit zwei Clowns im Einhornkostüm. Alessandro, mein Freund in Florenz, kam der Idee nahe. Doch letztlich war er ein einzelner, einziger Clown im Einhornkostüm.

Voilà, meine Damen und Herren, am Beispiel dieses Bilderteppichs: mein Leben.

2: »Jede Frau bewundert einen Faschisten«

2 /

»JEDE FRAU BEWUNDERT EINEN FASCHISTEN«

Jede Frau bewundert einen Faschisten

Den Stiefel im Gesicht, das brutale

Verrohte Herz eines Scheusals, wie du eines bist

– Sylvia Plath2

Um sechs Uhr früh landeten wir am Frankfurter Flughafen und schlurften in eine Halle mit PVC-Boden, die mich, obwohl sie vor Neuheit nur so glänzte, an Konzentrationslager und Deportationen denken ließ. Wir warteten eine Stunde, während die 747 tankte. Steif saßen die Analytiker auf den Fiberglassitzen, die in unveränderlichen Reihen angeordnet waren: grau, gelb, grau, gelb, grau, gelb … Die Freudlosigkeit des Farbkonzepts ging nahtlos über in die Freudlosigkeit ihrer Mienen.

Die meisten hatten teure Kameras dabei, und obwohl sie ziemlich langes Haar, Dreitagebärte und Drahtgestellbrillen trugen (und Ehefrauen hatten, deren Kleidung ein Maß an Bürgerlichkeit aufbot, das für sie gerade noch durchging: Ledersandalen, mexikanische Schals, Schmuck vom örtlichen Silberschmied), strahlten sie Respektabilität aus. Fader Inbegriff von Spießigkeit. Wenn ich darüber nachdachte, war es das, was ich gegen die meisten Analytiker hatte. Sie nahmen die soziale Ordnung völlig kritiklos hin. Sicher, ihre politischen Ansichten tendierten leicht nach links, sie unterschrieben Friedenspetitionen und dekorierten ihre Praxisräume mit Drucken von Picassos Guernica. Aber das war nur Camouflage. Was die entscheidenden Themen betraf, Familie, die Stellung der Frau, den Geldfluss von Patientin zu Therapeut, waren sie Reaktionäre. Sie handelten so unbeirrbar im eigenen Interesse wie die Sozialdarwinisten des Viktorianischen Zeitalters.

»Aber hinter den Kulissen haben immer die Frauen die Fäden in der Hand«, behauptete mein letzter Analytiker, als ich versuchte, ihm zu erklären, wie unaufrichtig ich mich damit fühlte, dass ich stets meine Verführungskünste benutzte, um von Männern zu bekommen, was ich wollte. Nur wenige Wochen vor der Wien-Reise gerieten wir endgültig aneinander. Richtig vertraut hatte ich Kolner nie, trotzdem war ich weiterhin zu ihm gegangen, schließlich konnte das ja nur mein Problem sein.

»Verstehen Sie denn nicht«, rief ich von der Couch, »genau das ist doch das Problem! Frauen, die ihre Verführungskunst benutzen, um Männer zu manipulieren, dabei ihre Wut unterdrücken und nie offen und ehrlich sind …«

Aber Dr. Kolner sah in allem, was auch nur ansatzweise nach Emanzipation roch, lediglich ein neurotisches Problem. Jegliche Protesthaltung gegen konventionelles weibliches Verhalten war »phallisch« und »aggressiv«. Wir hatten uns, was diese Themen betraf, seit Langem in den Haaren, aber erst durch seinen Spruch mit den »Fäden hinter den Kulissen« verstand ich wirklich, wie er mich einordnete.

»Ich glaube etwas anderes als Sie«, rief ich, »und ich respektiere auch nicht, was Sie glauben, und ich respektiere Sie nicht, weil Sie glauben, was Sie glauben! Wenn Sie allen Ernstes so eine Behauptung über Fäden hinter Kulissen aufstellen können, dann haben Sie offensichtlich nicht den leisesten Hauch einer Ahnung von mir oder von dem, was mich beschäftigt! Ich will nicht in und mit der Weltordnung leben, in der Sie leben! Ich will so ein Leben nicht, und ich sehe auch nicht ein, warum ich mich von seinen Normen beurteilen lassen sollte! Und – ich glaube, Sie verstehen, was Frauen betrifft, rein gar nichts.«

»Vielleicht verstehen Sie selbst nicht, was es heißt, Frau zu sein«, konterte er.

»O mein Gott. Jetzt greifen Sie aber in die allerunterste Trickkiste. Verstehen Sie denn nicht, dass Männer Weiblichkeit immer auf eine Weise definiert haben, die Frauen auf Linie hielt? Warum sollte mich interessieren, was Ihrer Meinung nach Frausein bedeutet? Sind Sie eine Frau? Warum sollte ich denn nicht endlich mal auf mich selbst hören? Und auf andere Frauen? Ich spreche ja mit anderen Frauen! Sie erzählen mir von sich, und verdammt viele fühlen sich genau, wie ich mich fühle, auch wenn sie dafür nicht das Abzeichen für gute Haushaltsführung von den amerikanischen Psychoanalytikern bekommen.«

So ging es eine Weile hin und her, wir wurden beide laut. Ich hasste mich dafür, dass ich so fürchterlich nach Traktat klang und in eine von zwei Ecken gedrängt wurde, aus der heraus ich ebenfalls nur einfältig polarisieren konnte. Mir war bewusst, dass ich verallgemeinerte. Mir war bewusst, dass es andere Analytiker gab – meinen deutschen Analytiker zum Beispiel –, die nicht diese misogyne Schiene fuhren. Zugleich aber hasste ich Kolner für seine Engstirnigkeit, dafür, dass er meine Zeit und mein Geld mit einmal mehr aufgewärmten Klischees über den Platz der Frau vergeudete. Wer brauchte das? Jeder Glückskeksspruch konnte das bieten. Und der kostete keine vierzig Dollar für fünfzig Minuten.

»Wenn Sie sich so mit mir fühlen, dann weiß ich nicht, warum Sie nicht an genau dieser Stelle abbrechen«, platzte Kolner heraus. »Warum bleiben und sich diese Scheiße von mir anhören?«

Das war Kolner, wie er leibte und lebte. Wenn er sich attackiert fühlte, wurde er unwirsch und warf einen Kraftausdruck in den Raum, um zu zeigen, wie cool er war.

»Typisch Napoleon-Komplex«, murmelte ich.

»Wie bitte?«

»Ach nichts.«

»Na los, ich will’s hören. Ich halte das aus.« Großer braver Analytiker!

»Ich dachte nur gerade, Dr. Kolner, dass Sie an dem leiden, was in der psychologischen Literatur als ›Napoleon-Komplex‹ bekannt ist. Wenn jemand Sie darauf hinweist, dass Sie nicht Gott höchstpersönlich sind, werden Sie angriffslustig und werfen mit Kraftausdrücken um sich. Schon klar, es muss hart für Sie sein, dass Sie nur eins vierundsechzig groß sind – aber Sie haben ja eine Analyse hinter sich, also sollten Sie doch damit klarkommen.«

»Stock und Stein brechen mir’s Bein, nicht aber Worte allein«, knurrte Kolner. Er war zum Zweitklässler regrediert. Er hielt sich für furchtbar schlau.

»Schauen Sie – warum dürfen Sie mich mit ausgelutschten Klischees bewerfen, und ich soll dankbar für Ihre weise Einsicht sein und Sie sogar noch dafür bezahlen, aber wenn ich mit Ihnen dasselbe mache – was ganz sicher mein gutes Recht ist, schließlich lasse ich einen Haufen Geld bei Ihnen –, dann rasten Sie aus und werden zum gehässigen Siebenjährigen?«

»Ich habe nur gesagt, dass Sie abbrechen sollten, wenn Sie sich so mit mir fühlen. Gehen Sie. Na los. Knallen Sie die Tür. Schicken Sie mich zur Hölle.«

»Nur um mir eingestehen zu müssen, dass die letzten zwei Jahre und die Tausende von Dollar, die ich bei Ihnen gelassen habe, vollkommen für die Katz waren? Ich meine, vielleicht können Sie das für sich so verbuchen – ich habe hier mehr zu verlieren, ich muss mir ja vormachen, dass hier irgendetwas Positives passiert ist.«

»Das können Sie ja mit Ihrem nächsten Analytiker durcharbeiten«, sagte Kolner. »Da können Sie dann herausfinden, was aus Ihrer Sicht falsch gelaufen ist …«

»Meine Sicht! Sehen Sie nicht, warum so vielen Leuten die Psychoanalyse zum Hals heraushängt? Das liegt an euch dummen Analytikern! Ihr macht den Prozess zu einem Teufelskreis. Die Patientin kommt wieder und wieder und wieder und zahlt immer schön ihr Geld, und wann immer ihr zu beschränkt seid zu verstehen, was abgeht, oder wenn ihr realisiert, dass ihr der Patientin nicht helfen könnt, dann erhöht ihr einfach die Anzahl der Jahre, die sie noch weiter kommen soll, oder ihr sagt, sie solle zu einem anderen Analytiker gehen, um herauszufinden, was mit dem ersten Analytiker schiefgelaufen ist. Macht diese Absurdität Sie wirklich nicht baff?«

»Was mich ganz sicher baff macht, ist die Absurdität dessen, dass ich hier sitze und mir diese Tirade anhöre. Ich kann mich nur wiederholen: Wenn es Ihnen nicht gefällt, warum zur Hölle gehen Sie nicht einfach?«

Wie im Traum (ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich dazu in der Lage sein würde) stand ich von der Couch auf (wie viele Jahre hatte ich auf ihr gelegen?), nahm meine Handtasche und ging (nein, ich »schlenderte« nicht wirklich, auch wenn ich wünschte, ich hätte es getan) durch die Tür. Leise schloss ich sie. Kein Türzuschlagen à la Nora, das wäre zu erwartbar gewesen. Ciao, Kolner. Im Aufzug hätte ich eine Sekunde lang fast geheult.

Kaum hatte ich jedoch zwei Querstraßen der Madison Avenue hinter mir gelassen, frohlockte ich. Keine Acht-Uhr-Sitzungen mehr! Kein Bringt-es-überhaupt-irgendwas-Rätseln mehr beim Ausfüllen des gigantischen monatlichen Schecks! Nie wieder mit Kolner diskutieren, als wäre ich Anführerin einer Bewegung! Ich war frei! Und so viel Geld, das ich nicht ausgeben musste! Ich verdrückte mich in einen Schuhladen und gab erst mal vierzig Dollar für ein Paar weißer Sandalen mit Goldkettchen aus. Sie gaben mir ein besseres Gefühl, als fünfzig Minuten mit Kolner es jemals vermocht hatten. O. k., wirklich frei war ich also nicht (ich musste mich immer noch mit Shoppen trösten), aber zumindest war ich frei von Kolner. Das war ein Anfang.

Die Sandalen trug ich auf dem Flug nach Wien. Als wir im Gänsemarsch wieder ins Flugzeug stiegen, unterzog ich sie eingehenden Blicken. Musste ich die Maschine zuerst mit dem rechten oder mit dem linken Fuß betreten, um sie am Absturz zu hindern? Wie konnte ich die Maschine am Absturz hindern, wenn mir nicht einmal das einfiel? »Mutter«, murmelte ich. Ich murmele immer »Mutter«, wenn ich Angst habe. Das Komische ist, ich nenne meine Mutter gar nicht »Mutter«, habe es nie getan. Sie gab mir den Namen Isadora Zelda, aber das »Zelda« verwende ich möglichst nicht. (Soweit ich weiß, stand auch Olympia zur Debatte, wegen Griechenland, und Justine, wegen de Sade.) Im Gegenzug für diese lebenslange Namenshaft nenne ich sie Judy. Eigentlich heißt sie Judith. Niemand außer meiner jüngsten Schwester nennt sie je Mommy.

Wien. Schon der Name ist wie ein Walzer. Den Ort jedoch konnte ich nie ausstehen. Er schien mir tot. Einbalsamiert.

Wir landeten um neun Uhr morgens, der Flughafen öffnete gerade erst. WILLKOMMENINWIEN, stand da. Müde nach einer schlaflosen Nacht schlurften wir mit unseren Koffern durch den Zoll.

Der Flughafen wirkte wie geschrubbt und gebohnert. Ich dachte daran, wie sehr Leute aus New York Unordnung, Schmutz und Chaos gewohnt waren. Die Rückkehr nach Europa war immer eine Art Schock. Unnatürlich saubere Straßen. Parks, deren Bänke, Wasserspiele und Rosenbüsche unnatürlich wenig durch Vandalismus beschädigt waren. Unnatürlich ordentliche öffentliche Blumenanlagen. Selbst die Telefone in Telefonzellen funktionierten.

Die Zollbeamten warfen nur einen flüchtigen Blick auf unsere Koffer, und es dauerte keine zwanzig Minuten, da stiegen wir in einen Bus, der von der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung für uns bestellt worden war. Wir hatten die naive Hoffnung, innerhalb weniger Minuten in unserem Hotel zu sein und schlafen gehen zu können. Wir wussten nicht, dass der Bus sich im Schneckentempo durch die Straßen Wiens bewegen und an sieben anderen Hotels halten würde, bis er schließlich, drei Stunden später, auch an unserem hielt.

Der Weg zum Hotel war wie einer dieser Träume, in denen man irgendwo hinmuss, bevor irgendetwas Schlimmes passiert, doch unerklärlicherweise bleibt das Auto immer wieder liegen oder fährt rückwärts. Ich fühlte mich jedenfalls nicht auf der Höhe, war genervt, und alles an jenem Morgen war dazu angetan, mich aus dem Konzept zu bringen.

Das lag auch an der Panik, die mich jedes Mal überfiel, wenn ich den Boden des ehemaligen »Großdeutschland« betrat. In Heidelberg hatte ich länger gelebt als in jeder anderen Stadt, abgesehen von New York, und Deutschland (Österreich ebenfalls) war wie eine zweite Heimat für mich. Die Sprache beherrschte ich passabel – passabler als alle Sprachen, die ich in der Schule und an der Uni gelernt und studiert hatte –, und ich kannte das Essen, die Weine, die Markennamen, die Ladenschließzeiten, die Klamotten, die Schlager, die umgangssprachlichen Ausdrücke, die Eigenarten … Als hätte ich meine Kindheit in Deutschland verbracht oder als wären meine Eltern deutsch. Dabei war ich 1942 geboren, und wären meine Eltern deutsche Juden gewesen – nicht amerikanische –, dann wäre ich in einem Konzentrationslager zur Welt gekommen und vermutlich auch gestorben, trotz meiner blonden Haare, blauen Augen und polnischen Bäuerinnennase. Auch das konnte ich nie vergessen. Deutschland war wie eine Stiefmutter: ausgesprochen vertraut, ausgesprochen verhasst. Genau genommen eher verhasst, eben weil so vertraut.

Durchs Busfenster betrachtete ich die rotbackigen älteren Damen in ihren beigen Bequemschuhen und robusten Tirolerhüten. Ich betrachtete ihre robusten Beine und ihre robusten Hinterteile. Ich hasste sie. Ich betrachtete ein Werbeplakat, auf dem stand,

SEIGUTZUDEINEMMAGEN

und hasste die Deutschen dafür, dass sie ständig über ihren Magen nachdachten, über ihre Gesundheit – als hätten sie Gesundheit, Hygiene und Hypochondrie erfunden. Ich hasste, dass sie so fanatisch von Reinheit besessen waren oder von dem, was sie für Reinheit hielten. Denn, verstehen Sie, die Deutschen – die Österreicher sind für mich auch Deutsche, Großdeutsche eben – sind wirklich nicht reinlich. Die weißen Spitzenvorhänge, die Bettdecken, die sie zum Lüften aus den Fenstern hängen, die Hausfrauen, die die Gehwege vor ihren Häusern schrubben, und die Ladenbesitzer, die ihre Schaufenster putzen – sie alle sind Teil einer sorgfältig aufrechterhaltenen Fassade, um Fremde mit Deutschlands aggressiver Mustergültigkeit einzuschüchtern. Dabei muss man nur auf irgendeine deutsche Toilette gehen, um ein Einrichtungsstück vorzufinden, das sonst nirgends auf der Welt existiert. Es hat ein niedliches kleines Porzellanpodest, auf dem die Scheiße landet, damit man sie inspizieren kann, bevor sie im mit Wasser gefüllten Abgrund davonrauscht, und in der Toilette befindet sich kein Wasser, solange man nicht spült. Dementsprechend riecht es in deutschen Toiletten logischerweise so stark nach Scheiße wie nirgendwo sonst. (Ich sage das als gestandene Weltreisende.) Dann der versiffte Lappen von einem öffentlichen Handtuch neben einem winzigen Waschbecken, aus dessen Hahn nur kaltes Wasser kommt (mit dem Sie dann Ihre rechte Hand, oder welche auch immer Sie verwenden, betröpfeln lassen können).

Ich habe ziemlich viel über Toiletten nachgedacht, als ich in Europa lebte. (So verrückt hat mich Deutschland gemacht.) Einmal habe ich sogar versucht, Länder in Toilettenkategorien einzuordnen.

»Weltgeschichte durch die Toilettenbrille« (schrieb ich optimistischerweise oben auf eine weiße Seite in meinem Notizheft), »ein episches Gedicht???«

Britisch:

Britisches Toilettenpapier. Eine Lebensform. Imprägniert. Saugt nichts auf, bleibt stets hart, gibt nicht nach (steife Oberlippe). Häufig in Staatsbesitz. Im ultimativen Wohlfahrtsstaat wird sogar aufs Tp. Propaganda gedruckt.

Das britische Klosett als letztes Refugium des Kolonialismus. Wasser rauscht von weit oben herab wie die Victoriafälle, & du bist die Abenteurerin. Spritzer ins Gesicht. Einen kurzen Moment lang (wenn du spülst) beherrscht Britannien wieder die Wogen.

Die Spülkette ist elegant. Klingelschnur in vornehmem Hause (mit Empfangszeit am Sonntag, gegen geringe Gabe).

Deutsch:

Deutsche Toiletten folgen Klassenunterschieden. In Dritte-Klasse-Waggons: raues braunes Papier. In der ersten Klasse: weißes Papier. Genannt »Spezial Krepp«. (Übersetzung nicht nötig.) Die deutsche Toilette ist einzigartig aufgrund der kleinen Bühne (»die ganze Welt ist eine«), auf die die Scheiße fällt. So kann man sie ausführlich betrachten, Politiker und Politikerinnen danach auswählen und sich überlegen, was man seinem Analytiker sagen will.

Auch geeignet für Diamantenjäger, die Juwelen im Darm schmuggeln wollen. Deutsche Toiletten sind wirklich der Schlüssel zum Horror des »Dritten Reichs«. Menschen, die solche Toiletten bauen, sind zu allem fähig.

Italienisch:

Manchmal kann man Teile vom Corriere della Sera lesen, bevor man sich mit den Nachrichten den Hintern abwischt. Im Allgemeinen jedoch spülen die Toiletten hier schnell, und die Scheiße verschwindet, lange bevor man aufspringen und sich umdrehen kann, um sie zu bewundern. Daher auch die italienische Kunst. Die Deutschen bewundern ihre eigene Scheiße. Die Italiener nicht. Deswegen kreieren sie Skulpturen und Gemälde.

Französisch:

Die alten Pariser Hotels mit zwei gigantischen eisernen Fußabdrücken, dazwischen ein stinkendes Loch. In Versailles Orangenbäume, um den Kloakengeruch zu überdecken. Il est défendu de faire pipi dans la chambre du Roi. Das Licht in Pariser Toiletten, das nur angeht, wenn man die Tür verschließt.

Irgendwie werde ich aus französischer Philosophie & Literatur nicht schlau, wenn ich zugleich an die französische Herangehensweise an merde denke. Die Franzosen sind sehr abstrakte Denker, haben aber auch einen Dichter des Partikularen hervorgebracht wie Ponge, der ein episches Gedicht über Seife schrieb. Wie hängt das mit französischen Toiletten zusammen?

Japanisch:

In die Hocke gehen als eine grundlegende Gegebenheit des Lebens im Fernen Osten. In den Boden eingelassene Toilettenschüssel. Dahinter ein Blumenarrangement. Das hat irgendetwas mit Zen zu tun. (Vgl. Suzuki.)

Als wir endlich beim Hotel ankamen, war es nach zwölf. Uns wurde ein winziges Zimmer im obersten Stock zugewiesen. Ich wollte protestieren, doch Bennett wollte vor allem schlafen. Also zogen wir die Jalousien herunter, um die Mittagssonne draußen zu halten, legten unsere Kleider ab und ließen uns aufs Bett fallen, ohne die Koffer auch nur anzurühren. Bennett störte sich nicht weiter daran, dass hier alles seltsam war, und schlief sofort ein. Ich warf mich hin und her und kämpfte mit der Daunendecke, bis ich in einen unruhigen Dämmerschlaf fiel, gespickt mit Träumen von Nazis und Flugzeugabstürzen. Immer wieder wachte ich auf, mit pochendem Herzen und klappernden Zähnen. Es war die übliche Panik, die mich immer am ersten Tag fern von zu Hause befiel, plus die Tatsache, dass wir im ehemaligen »Großdeutschland« waren. Schon wünschte ich, wir wären nie zurückgekehrt.

Gegen 15.30 Uhr wachten wir auf und schliefen gelangweilt in einem der beiden Einzelbetten miteinander. Ich fühlte mich immer noch wie im Traum und stellte mir vor, dass Bennett jemand anderes wäre. Doch wer? Ich konnte kein klares Bild gewinnen. Nie konnte ich das. Wer war dieses Phantom von einem Mann, das mich verfolgte? Mein Vater? Mein deutscher Analytiker? Der Typ zum Nix-wie-Vögeln? Warum blieb sein Gesicht stets verschwommen?

Um vier waren wir in der Straßenbahn, um zur Wiener Universität zu fahren und uns für die Tagung anzumelden. Es war ein strahlend schöner Tag mit blauem Himmel und absurd fluffigen weißen Wolken. Ich humpelte in meinen Absatzsandalen die Straßen entlang, ich hasste die Deutschen, und ich hasste Bennett dafür, dass er kein Fremder in einem Zug war, dass er nicht lächelte, dass er so ein hervorragender Liebhaber war, mich aber nie küsste, dass er mir Kümmerdoc- und PAP-Abstrich-Termine und elektronische Geräte von IBM besorgte, aber nie Blumen mitbrachte. Und nicht mit mir sprach. Und mich nie mehr am Hintern packte. Und es mir nie auf Französisch machte, NIE. Was konnte man auch noch erwarten nach fünf Jahren Ehe? Kichern im Dunkeln? Hinterngrapschen? Mösenlutschen? Na ja, vielleicht wenigstens gelegentlich. Was wollt ihr Frauen denn? Freud rätselte herum und fand nicht viel heraus. Wie wollt ihr Frauen, dass man es euch macht? Einen Mann, der euch französisch liebt, während ihr eure Tage habt? Einen Mann, der euch morgens, bevor ihr euch die Zähne putzt, küsst und nicht Iiihh sagt? Einen Mann, der mit euch lacht, wenn das Licht ausgeht?

Einen steifen Dödel, sagte Freud, in der Annahme, dass Frauen das wollten, weil Männer es wollten. Einen großen Dödel, sagte Freud, in der Annahme, dass ihre Obsession auch unsere Obsession sein musste.

Irgendwer nannte Freud einmal phallozentrisch. Er dachte, die Sonne umkreise den Penis. Und die Tochter ebenfalls.

Und wer hätte schon protestieren können? Bis Frauen anfingen, Bücher zu schreiben, kannte man nur die eine Hälfte der Geschichte. Und in dieser sind Bücher mit Sperma geschrieben worden, nicht mit Menstruationsblut. Bis ich einundzwanzig wurde, verglich ich meine Orgasmen mit denen von Lady Chatterley und fragte mich, was mit mir nicht stimmte. Kam es mir je in den Sinn, dass Lady Chatterley in Wirklichkeit ein Mann war? Dass sie in Wirklichkeit D. H. Lawrence war?

Phallozentrisch. Das ist das Problem mit den Männern und auch das Problem mit den Frauen. Eine Freundin fand kürzlich diesen Spruch in einem Glückskeks:

DASPROBLEMMITDENMÄNNERNSINDMÄNNER

DASPROBLEMMITDENFRAUENSINDMÄNNER

Einmal erzählte ich Bennett von der Initiationszeremonie der Hell’s Angels, nur um ihn zu schockieren. Den Teil, in dem der zu Initiierende es seiner Frau auf Französisch machen muss, während sie ihre Tage hat und die anderen Typen zuschauen.

Bennett sagte nichts.

»Also, ist das nicht interessant?«, bohrte ich nach. »Ist das nicht ein Knaller?«

Immer noch nichts.

Ich bohrte weiter.

»Warum kaufst du dir nicht einen kleinen Hund«, sagte er schließlich, »und trainierst ihn?«

»Ich sollte dich beim Psychoanalytiker-Verband anzeigen«, entgegnete ich.

Das Gebäude der Medizinischen Universität in Wien ist bestückt mit Säulen, es ist kalt und höhlenartig. Wir schleppten uns eine lange Treppe hoch. Oben wuselten Dutzende Kümmerdocs um die Anmeldetheke herum.

Eine übereifrige junge Österreicherin mit Butterfly-Brille und rotem Dirndl scheuchte alle auf, die richtige Legitimation für ihre Anmeldung vorzulegen. Sie sprach sehr bemühtes Schulenglisch. Ich war mir ganz sicher, dass sie die Frau von einem der österreichischen Kongressteilnehmer war. Sie konnte kaum älter als fünfundzwanzig sein, setzte aber ein Lächeln auf, das die ganze Selbstgefälligkeit einer Frau Doktor aufbot.

Ich zeigte ihr meinen Brief vom Voyeur, doch ich durfte mich nicht anmelden.

»Warum nicht?«

»Wir dürfen keine Presse reinlassen«, feixte sie. »Es tut mir so leid.«

»Sicher.«

Ich fühlte Ärger in mir hochsteigen wie Dampf in einem Schnellkochtopf. Nazischlampe, dachte ich, dummes Kraut!

Bennett warf mir einen Blick zu, der sagte: Reg dich ab. Er hasst es, wenn ich mich in der Öffentlichkeit mit Leuten anlege. Aber sein Versuch, mich davon abzuhalten, machte mich nur noch wütender.

»Schauen Sie, wenn Sie mich nicht reinlassen, werde ich auch darüber schreiben.«

Ich wusste, dass ich, sobald es wirklich losging, wahrscheinlich ohne jeden Ausweis einfach hineinlaufen konnte, es war also wirklich egal. Außerdem interessierte mich der Artikel, den ich schreiben sollte, auch gar nicht besonders. Ich war eine Spionin aus der Außenwelt. Eine Spionin im Haus der Psychoanalyse.

»Ganz sicher wollen Sie nicht, dass ich über die Angst der Analytiker schreibe, Journalistinnen bei ihren Treffen zuzulassen, oder?«

»Es tut mir so leid«, wiederholte die blöde Motte. »But I really haff not got za ausority to admit you …« – »Ich darf Sie wirklich nicht reinlassen …«

»Immer schön Befehle ausführen, nicht wahr?«

»Ich muss Anweisungen befolgen«, sagte sie.

»Sie und Eichmann.«

»Bitte?« Sie hatte mich nicht gehört.

Jemand anderes aber sehr wohl. Ich drehte mich um und sah diesen wuscheligen Blondschopf von einem Engländer. Eine Pfeife hing ihm aus dem Mundwinkel.

»Wenn Sie Ihre Paranoia für einen Moment vergessen und es stattdessen mit Charme versuchen, kann Ihnen sicher niemand widerstehen«, sagte er.

Er lächelte mich an, wie ein Mann lächelt, wenn er noch auf dir liegt, direkt nach einem ganz besonders guten intimen Intermezzo.

»Sie müssen Analytiker sein«, sagte ich, »niemand sonst würde so großzügig mit dem Wort ›Paranoia‹ um sich werfen.«

Er grinste.

Er trug eine indische Kurta aus so dünner weißer Baumwolle, dass ich sein rotblondes Brusthaar durchschimmern sah.

»Freches Ding«, sagte er. Dann packte er meinen Hintern und kniff spielerisch und ausgiebig hinein.

»Sie haben einen tollen Hintern«, sagte er. »Kommen Sie, ich sorge dafür, dass Sie auf die Tagung dürfen.«

Natürlich hatte er in der Angelegenheit überhaupt keine Autorität, doch das stellte sich erst später heraus. Er tat so geschäftig, dass man hätte meinen können, er sei der Manager der gesamten Tagung. Er saß einer der Kommissionen vor, das ja, aber was Presse betraf, hatte er absolut nichts zu sagen. Wer scherte sich eigentlich überhaupt um Presse? Alles, was ich wollte, war, dass er mich noch mal in den Hintern kniff. Ich wäre ihm überallhin gefolgt. Dachau, Auschwitz, überallhin. Auf der anderen Seite der Anmeldetheke sah ich Bennett, wie er sich ernst mit einem anderen New Yorker Analytiker unterhielt.

Der Engländer hatte es durch die Menge hindurchgeschafft und nahm die junge Frau von der Anmeldung für mich in die Mangel. Dann kam er zu mir zurück.

»Also, sie sagt, Sie sollen warten und mit Rodney Lehmann sprechen. Er ist ein Freund von mir aus London und müsste jeden Moment hier sein. Wir könnten rübergehen zum Café, ein Bier trinken und nach ihm Ausschau halten …«

»Ich sage nur kurz meinem Mann Bescheid«, sagte ich. Dieser Satz sollte in den nächsten Tagen zu einer Art Refrain werden.

Er schien froh zu sein, dass ich einen Mann hatte. Jedenfalls erweckte er nicht den Eindruck, als fände er es bedauerlich.

Ich fragte Bennett, ob er dann später ins Café auf der anderen Straßenseite dazustoßen wolle (und hoffte natürlich, dass er es nicht so bald täte), er winkte ab. Er war in ein Gespräch über Gegenübertragung verwickelt.

Ich folgte dem Rauch der Pfeife des Engländers die Treppe hinunter und auf die andere Straßenseite. Er paffte vor sich hin wie eine Dampflok, die Pfeife schien ihn anzutreiben. Ich war glücklich mit meiner Rolle als Begleitwagen.

Wir setzten uns ins Café, ich trank ein Viertel Weißwein und er ein Bier. Er trug indische Sandalen und hatte schmutzige Zehennägel. Er sah überhaupt nicht wie ein Analytiker aus.

»Woher kommen Sie?«

»New York.«

»Ich meine Ihre Vorfahren.«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Warum weichen Sie meiner Frage aus?«

»Ich muss Ihre Frage nicht beantworten.«

»Ich weiß.« Er zog an seiner Pfeife und ließ den Blick schweifen. In seinen Augenwinkeln bildeten sich ungefähr hundert winzige Fältchen, und sein Mund verzog sich zu einer Art Lächeln, selbst wenn er gar nicht lächelte. Ich wusste, dass meine Antwort Ja wäre, was immer er vorschlagen mochte. Meine Sorge war nur, dass er es möglicherweise nicht besonders eilig hatte, etwas vorzuschlagen.

»Polnische Juden auf der einen Seite, russische auf der anderen.«

»Dachte ich mir. Sie sehen jüdisch aus.«

»Und Sie sehen wie ein englischer Antisemit aus.«

»Ach, kommen Sie! Ich mag Juden …«

»Einige Ihrer besten Freunde …«

»Jüdinnen sind so verdammt gut im Bett.«

Mir fiel absolut nichts Cleveres ein, was ich hätte erwidern können. O mein Gott, dachte ich, hier ist es. Das echte, das wahre N.-w.-V. – das Nix-wie-Vögeln par excellence. Worauf um Himmels willen warteten wir? Sicher nicht auf Rodney Lehmann.

»Die Chinesen mag ich auch«, sagte er. »Ihr Mann ist sehr attraktiv.«

»Vielleicht sollte ich Sie mit ihm verkuppeln. Schließlich sind Sie beide Analytiker. Sie hätten viel gemeinsam. Sie könnten einander unter einem Freud-Porträt in den Hintern vögeln.«

»Miststück«, sagte er. »Eigentlich bevorzuge ich Chinesinnen – aber Jüdinnen aus New York, die einen richtigen Streit zu schätzen wissen, finde ich auch wahnsinnig sexy. Jede Frau, die einen Aufstand veranstalten kann wie Sie vorhin an der Anmeldung, scheint mir ziemlich vielversprechend.«

»Danke.« Zumindest kann ich ein Kompliment annehmen, wenn ich eins kriege. Meine Unterhose war nass genug, um die Straßen Wiens zu wischen.

»Sie sind die einzige Person, die ich je getroffen habe, die findet, dass ich jüdisch aussehe«, sagte ich im Versuch, die Unterhaltung wieder auf etwas neutraleres Terrain zu lenken. (Genug von Sex. Kehren wir zurück zur Borniertheit.) Tatsächlich fand ich es aufregend, dass ich seiner Meinung nach jüdisch aussah. Warum auch immer.

»Schauen Sie, ich bin kein Antisemit, Sie sind Antisemitin. Warum glauben Sie denn, dass Sie nicht jüdisch aussehen?«

»Weil die Leute immer denken, ich sei Deutsche – und ich habe mein halbes Leben damit verbracht, mir antisemitische Geschichten von Leuten anzuhören, die davon ausgingen, ich sei nicht jüdisch.«

»Das hasse ich an Juden«, sagte er. »Sie sind die Einzigen, die antisemitische Witze erzählen dürfen. Es ist einfach unfair. Warum sollte ich nicht in den Genuss masochistischen jüdischen Humors kommen dürfen, nur weil ich ein Goi bin?«

Die Art, wie er Goi sagte, klang komplett nach einem Goi.

»Sie sprechen es nicht richtig aus.«

»Was? Goi?«

»Ach, das ist o. k., aber masochistisch. (Er sagte ›mace-ochistic‹, wie ein Engländer eben.) Sie müssen auf Ihre Aussprache jiddischer Wörter wie masochistisch achten«, sagte ich. »Wir Juden und Jüdinnen sind da empfindlich.«

Wir bestellten noch etwas zu trinken. Er tat weiterhin so, als halte er Ausschau nach Rodney Lehmann, und ich machte ein höchst professionelles Geseire von dem Artikel, den ich schreiben sollte. Fast wäre ich selbst wieder zu der Überzeugung gelangt, dass er geschrieben werden musste.Das ist eins meiner größten Probleme. Wenn ich andere Leute überzeugen will, gelingt mir das nicht immer, aber mich selbst überzeuge ich immer. Als Wichtigtuerin bin ich eine komplette Pfeife.

»Sie haben wirklich einen amerikanischen Akzent«, sagte er und lächelte sein Post-Koitus-Lächeln.

»Ich habe keinen Akzent. Sie haben einen.«

»Äck-sent«, sagte er, um mich zu ärgern.

»Leck mich.«

»Gar keine schlechte Idee.«

»Wie war noch mal Ihr Name?« (Vielleicht erinnern Sie sich: Das ist die Zeile, die den Höhepunkt von Strindbergs Fräulein Julie markiert.)

»Adrian Goodlove«, sagte er. Dabei drehte er sich abrupt um und verschüttete sein ganzes Bier über mir.

»Tut mir wirklich leid«, sagte er immer wieder und wischte den Tisch mit seinem schmutzigen Taschentuch, seiner Hand und schließlich auch seinem indischen Hemd ab – das er auszog, zusammenrollte und mir reichte, damit ich mein Kleid damit abrubbeln konnte. So ritterlich! Doch ich saß nur da, betrachtete das krause blonde Haar auf seiner Brust und spürte, wie das Bier zwischen meinen Beinen hinabrann.

»Wirklich nicht schlimm«, sagte ich. Es stimmte nicht, dass ich es nicht schlimm fand. Ich fand es großartig.

Goodlove, Goodall, Goodbar, Goodbody, Goodchild, Goodeve, Goodfellow, Goodford, Goodfleisch, Goodfriend, Goodgame, Goodhart, Goodhue, Gooding, Goodlet, Goodson, Goodridge, Goodspeed, Goodtree, Goodwine.

Es ist unmöglich, Isadora White Wing zu heißen (geborene Weiss – mein Vater bleichte »Weiss« kurz nach meiner Geburt zu »White«) und nicht sehr viel Zeit damit zu verbringen, über Namen nachzudenken.