Angst vorm Sterben - Erica Jong - E-Book

Angst vorm Sterben E-Book

Erica Jong

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Beschreibung

Erica Jongs neuer Roman ›Angst vorm Sterben‹ über die aufregendsten Themen des Lebens: Sex und Tod Ein Buch über das richtige Leben, die eigene Endlichkeit, Liebe und sexuelle Erfüllung: für alle Frauen zwischen 30 und 80 Jahren. ›Angst vorm Sterben‹ ist die große Sensation nach ›Angst vorm Fliegen‹. Die coole New Yorkerin Vanessa Wonderman trennen rund zwanzig Jahre von ihrem älteren Ehemann und ihrer vergangenen Schauspielkarriere. Das Alter macht sie zunehmend unsichtbar und irgendwie ist ihr die Leidenschaft ihrer Jugend abhandengekommen. Der Tod ihrer Eltern klopft schon leise an, ihr Ehemann Asher bricht zusammen und ihr Pudel Belinda stirbt. Während Vanessa sich um ihre Familie kümmert und von Krankenhaus zu Krankenhaus hetzt, wird ihr Hunger nach Leben größer. Sie sehnt sich nach Körperlichkeit und ist bereit, für ihre Phantasien einiges auszuprobieren. Um dem Alter und dem nahenden Tod, der sie umgibt, zu entfliehen, macht sie sich mutig auf die Suche nach einer Affäre. Ihre Sehnsucht nach Leben, Glück und Leidenschaft treibt sie in die skurrile Welt des New Yorker Datingjungles und eröffnet ihr tiefe Einsichten in die großen Fragen des Lebens. Die Ikone der sexuellen Befreiung der Frau, Erica Jong, die mit ihrem Roman ›Angst vorm Fliegen‹ weltberühmt wurde, packt schonungslos und unverblümt die großen Themen des Lebens an. Komisch, heiter, mutig – bei Erica Jong geht es um alles: das richtige Leben, Liebe, den Frieden mit der eigenen Endlichkeit – und wie sie davon erzählt, ist einzigartig.

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Seitenzahl: 345

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Erica Jong

Angst vorm Sterben

Roman

Aus dem Amerikanischen von Tanja Handels

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottoTeil I Herbst1 Frau, glücklich verheiratet – oder: Gibt es ein Sexleben nach dem Tod?2 Mein Vater (Junger Mann gesucht)3 Wildgewordene Wondermans4 HerzklopfenTeil II Winter5 Geld ist die Wurzel6 Ein Mensch7 Geliebter Knochenmann8 Trauer, Verlust, Exfrauen, Hunde9 Altersraserei10 Ein alter Hund11 Mehr, mehr, mehrTeil III Frühling12 Großmutterschaft13 Wurmloch14 Eine Sprache hinter der Sprache15 Für die Toten sorgenTeil IV Sommer16 Bollywood in GoaDanksagungZitatnachweis

Für Gerri, meine Herzensfreundin

&

für Ken, L’Ultimo Marito

Die Tage vergehen, die Jahre schwinden dahin, und wir wandern blind inmitten der Wunder einher. Herr, erfülle unsere Augen mit der Fähigkeit zu sehen und unseren Geist mit der Fähigkeit zu wissen; gib uns Momente, da Deine Gegenwart die Dunkelheit, durch die wir wandern, wie ein Blitz erhellt. Wohin wir auch blicken, hilf uns zu sehen, dass der Dornbusch brennt, ohne zu verbrennen. Und wir, die wir aus Lehm geformt und von Gott erweckt sind, recken uns dem Heiligen entgegen und rufen mit Staunen aus: »Wie voll des Erhabenen ist doch dieser Ort, und wir haben nichts davon gewusst!«

 

Aus dem Mishkan Tefilah, dem reformierten jüdischen Siddur (zugeschrieben)

Teil IHerbst

1Frau, glücklich verheiratet – oder: Gibt es ein Sexleben nach dem Tod?

Ich meide generell alle Versuchungen, bis auf die, denen ich nicht widerstehen kann.

Mae West (frei nach Oscar Wilde)

Ich habe immer die Macht genossen, die ich über Männer hatte. Einfach nur die Straße entlangzugehen und meinen mandolinenförmigen Hintern vor ihren Blicken zu wiegen und zu schwenken. Seltsam, dass mir diese Macht erst bewusst wurde, als ich sie verloren hatte – beziehungsweise als sie auf meine Tochter übergegangen war, die mit ihrem verführerischen, Nachwuchs verheißenden Mittzwanzigerinnen-Körper alle Männerblicke auf sich zog. Ich vermisste diese Macht. Was an ihre Stelle getreten war – Ehe, Mutterschaft, die Weisheit der reiferen Frau (puh, wie ich den Ausdruck hasse!) –, schien mir kaum der Mühe wert, die Kerze an beiden Enden anzuzünden. Ach, die Kerze! Wie stramm sie stand. Wie sie für mich brannte, voller Klang und Wut, und alles bedeutete. Ich weiß, eigentlich sollte ich brav dahinwelken, wie es sich für ein altes Mädchen gehört, und meiner Tochter die Peinlichkeiten meiner Leidenschaft ersparen, aber das schaffe ich so wenig, wie ich einfach im richtigen Moment sterben kann. Leben ist Leidenschaft. Inzwischen weiß ich allerdings, was Leidenschaft kostet, und bin deshalb nicht mehr ganz so unbeschwert.

Aber war ich denn jemals unbeschwert? War das überhaupt jemand? War die Liebe nicht immer schon eine Zigarre, die explodiert, wenn man sie ansteckt? Wie sagte Gypsy Rose Lee so schön? »Gott ist die Liebe, aber ich hätte es doch gern schriftlich.« Und wie sagte Fanny Brice? »Die Liebe ist wie ein Kartentrick: Sobald man weiß, wie’s geht, ist der ganze Spaß vorbei.« Die alten Schachteln wussten gut Bescheid. Aber haben sie deshalb aufgegeben? Nein!

Ich werde ganz bestimmt nicht verraten – zumindest vorläufig nicht –, wie alt ich bin und wie oft ich schon verheiratet war. (Ich habe nämlich beschlossen, niemals älter als fünfzig zu werden.) Mein Mann und ich lesen deutlich öfter zusammen die Todesanzeigen, als wir Sex haben. Nur so viel: Als mir die Sorgen um meine Eltern allmählich über den Kopf wuchsen und ich feststellte, dass meine Ehe mich auch nicht retten konnte, war ich irgendwann so weit neben der Spur, dass ich folgendes Inserat auf spontanfick.com stellte, eine Sex-Website im Internet:

Frau, glücklich verheiratet, mit überschüssiger erotischer Energie, sucht glücklich verheirateten Mann zum Teilen derselben. Lass uns einen Nachmittag pro Woche dem Eros huldigen. Verspielte, hübsche, attraktive, gescheite Frau garantiert Diskretion. Antwort per Mail mit aktuellem Foto. Großraum New York.

Ich sage nur: Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs! Es war Herbst in New York, die Zeit der sanften Nebelschleier, der jüdischen Feiertage und der Fünftausend-Dollar-pro-Platz-Benefizveranstaltungen für die Bekämpfung neumodischer Krankheiten. Die Zeit der Umkehr (Jom Kippur), des Neuanfangs (Rosch Haschana) und des Einlagerns von Früchten gegen die Kargheit des Winters (Sukkot, das Laubhüttenfest). Als ich das Inserat online stellte, hatte ich mich als mondäne Frau gesehen, die cool und gelassen potentielle Liebhaber sichtet. Jetzt geriet ich auf einmal in Panik. Ich malte mir aus, was eine solche Anzeige alles an Widerlingen, Losern, Schmocks, Erpressern und psychopathischen Mördern anlocken würde – und dann war ich plötzlich so mit Anrufen meiner gebrechlichen Eltern und meiner schwangeren Tochter beschäftigt, dass ich nicht mehr daran dachte.

Ein paar Minuten vergingen. Dann kullerten die Antworten plötzlich aus dem Internet wie Münzen aus einem Spielautomaten. Ich traute mich kaum, sie mir anzuschauen. Aber nach ein, zwei Zögersekunden konnte ich doch nicht widerstehen. Es war wie die Hoffnung auf den großen Lottogewinn. Die erste Antwort enthielt das eingescannte Polaroid eines erigierten Penis – ein bräunliches, unbeschnittenes Exemplar, an dessen Spitze ein Tautröpfchen bebte. Unter dem Foto stand, auf den weißen Rand gekritzelt: »Ohne Viagra!« Die begleitende E-Mail war knapp gehalten:

Ich mag Deine Art. Selbstbewusste Frauen machen mich immer geil. Schick mir ein Nacktfoto mit Deinen Maßen.

Die zweite begann wie folgt:

Liebe Suchende,

oft glauben wir, nach körperlicher Lust zu verlangen, obwohl wir uns doch eigentlich nach Jesus sehnen. Wenn wir ihm nur unser Herz öffnen und ihm Einlass gewähren, erleben wir Befriedigung in einer Form, wie wir sie uns nie erträumt hätten. Du glaubst vielleicht, Eros nachzufolgen, doch in Wahrheit folgst Du Thanatos. In Jesus liegt das Ewige Leben. Er ist der Liebhaber, der nie enttäuscht, der Freund, der ewig die Treue hält. Es wäre uns eine Ehre, Dich kennenzulernen und Dich zu beraten …

Auch eine Telefonnummer war dabei: 1–800–JESUS–4U.

Ich warf sämtliche Antworten in den virtuellen Papierkorb, löschte sie und schaltete den Rechner aus. War ich eigentlich verrückt geworden, meine echte E-Mail-Adresse anzugeben? Aber jetzt war Schluss damit, redete ich mir ein. Nur eine weitere Schnapsidee, die zu nichts führte. Wie ein Roboter wandte ich mich wieder meinem Ehefrauenleben zu. Ich war schon immer impulsiv gewesen, und impulsive Menschen wissen, wie sie ihre Impulse auf Abstand halten. Sex brachte Ärger – egal, wie alt man war. Aber mit sechzig – ups, jetzt ist es mir doch rausgerutscht – war das alles nur noch ein Witz. Mit sechzig hatte eine Frau nicht mehr leidenschaftlich zu sein. Wir hatten Großmütter zu werden und uns in die selige Sexlosigkeit zu fügen. Sex war etwas für Zwanzig-, Dreißig-, Vierzig-, sogar Fünfzigjährige. Mit sechzig war er nur noch peinlich. Selbst wenn man nach wie vor gut aussah, wusste man einfach zu viel. Man wusste, was alles schiefgehen konnte, man kannte sämtliche Tricks, auf die sich hereinfallen ließ, sämtliche Gefahren, die es barg, sich mit Fremden einzulassen. Man wusste, Diskretion war nur Wunschdenken. Und jetzt schwirrte meine Mail-Adresse da draußen herum, zwischen all den verrückten Phishern und Fritzen!

Außerdem liebte ich meinen Mann abgöttisch und wollte ihn keinesfalls verletzen. Ich hatte immer gewusst, dass ich durch die Ehe mit einem zwanzig Jahre älteren Mann auch das Risiko einging, einen sexfreien Lebensabend zu verbringen. Aber dafür hatte er mir so viel anderes gegeben. Wir hatten geheiratet, als ich fünfundvierzig war und er fünfundsechzig, und wir hatten es großartig miteinander getroffen. Er heilte all die alten Wunden aus meinen früheren Ehen. Er war meiner Tochter ein toller Stiefvater. Wie konnte ich es da wagen, mich über einen Mangel in meinem Leben zu beklagen? Wie konnte ich es wagen, um Eros zu werben?

Meine Eltern lagen im Sterben, und ich wurde unfassbarerweise immer älter, aber war das vielleicht ein Grund, nach dem zu suchen, was meine alte Freundin Isadora Wing immer den »Spontanfick« nannte? Na, aber so was von! Schließlich blieb mir nur das oder die geistige Glückseligkeit. Offenbar hatten sich die Macher von spontanfick.com bei Isadora bedient, ohne ihr auch nur einen Cent dafür zu zahlen. Die Firma, die ihr die Filmrechte abgekauft hatte, war an eine Firma verkauft worden, die die Verlagsrechte hielt und von einer Firma aufgekauft worden war, die digitale Rechte verwertete und ihrerseits an eine Firma gegangen war, die sich der Weiterverwertung bekannter Schlagwörter widmete. So ist das Schriftstellerleben – auch nicht weniger brutal als das Schauspielerleben.

Isadora und ich waren seit Ewigkeiten befreundet. Kennengelernt hatten wir uns über einen Film, der dann nie gedreht wurde. Wir waren sogar zusammen trocken geworden. Und ich konnte sie jederzeit anrufen, wenn ich ihre moralische Unterstützung brauchte. Sie war meine Herzensfreundin, mein zweites Ich. Und jetzt brauchte ich sie wirklich dringend.

 

Ich bin unterwegs zur Wohnung meiner Eltern und habe eine Heidenangst vor dem Besuch. In den letzten paar Monaten haben sie extrem abgebaut. Inzwischen verbringen sie beide den ganzen Tag im Bett und werden von Haushaltshilfen und Pflegerinnen umsorgt. Beide tragen Windeln – und das ist noch die gute Variante. Die ganze Wohnung riecht nach Urin, Kot und Medikamenten. Am schlimmsten ist der Kotgeruch. Es ist kein gesunder Kot, wie Babys ihn ausscheiden. Er riecht nach Krankheit. Sein Gestank hängt überall – in den Perserteppichen, den Bildern, den japanischen Wandschirmen. Man kann ihm nicht entkommen – nicht mal im Wohnzimmer.

Als ich dort bin, merke ich zu meiner großen Erleichterung gleich, dass meine Mutter einen guten Tag hat. Sie ist so lebhaft wie eh und je. In ihrem fliederfarbenen Satin-Nachthemd liegt sie im Bett, lässt die Zehen mit den gelblichen Nägeln wackeln und kräht:

»Und wen heiratest du als Nächstes?«

»Ich bin mit Asher verheiratet«, sage ich. »Seit fünfzehn Jahren schon. Das weißt du doch.«

»Bist du glücklich?«, fragt meine Mutter und sieht mir tief in die Augen.

Ich sinniere über diese nicht zu beantwortende Frage. »Ja«, sage ich. »Ich bin glücklich.«

Meine Mutter mustert meine Ringe: den Jugendstilring mit der runden Goldplatte, den Siegelring aus Griechenland mit dem Karneol, den ziselierten viktorianischen Aquamarin aus Italien.

»Wenn du wieder heiratest, könntest du noch ein paar Ringe abstauben«, sagt sie und lacht lauthals.

Meine Mutter ist hoch in den Neunzigern, und ihre gutgelaunte Demenz ist mit messerscharfen Einsichten gespickt. Außerdem ist sie sehr viel netter, als sie in meiner Jugend war. Mit dem knittrigen Hals, den schlaffen Oberarmen und den Ballenzehen ist auch eine Liebenswürdigkeit gekommen, die sich mit Anflügen schonungsloser Wahrheitsliebe paart. Manchmal hält sie mich für ihre Schwester oder für ihre Mutter. In ihrem Kopf sind die Toten ebenso lebendig wie die Lebenden. Und doch sieht sie mich mit einer endlosen Liebe an, von der ich wünschte, ich hätte sie als Kind für selbstverständlich halten können. Dann wäre mein ganzes Leben anders verlaufen. Glaube ich zumindest. Tatsächlich hat sie mir aber oft Angst gemacht, als ich noch ein Kind war.

Menschen sollten nicht so alt werden. Manchmal glaube ich, das Greisenalter meiner Mutter raubt mir Jahre meines Lebens. Ich muss mich zwingen, sie überhaupt anzusehen. Ihre Wangen sind fahl und wie schraffiert von Millionen Fältchen. Sie hat wässrige Augen, buttrige Klümpchen sammeln sich darin. Die Füße sind knotig und verformt, die Zehennägel verhornt und rissig, schartig und senfgelb. Ihr Nachthemd springt immer wieder auf und legt die platten Brüste frei.

Ich denke daran, wie oft ich in den letzten paar Jahren in Krankenhäusern am Bett meiner Mutter saß. Erbittert bete ich darum, dass sie nicht stirbt. Aber bete ich nicht eigentlich für mich? Bete ich nicht eigentlich darum, nicht selbst als Letzte am Rand des Abgrunds zurückzubleiben? Bete ich nicht eigentlich darum, ihr nicht das Grab schaufeln und selbst hineinfallen zu müssen?

Wenn man älter wird, erreichen die Todesfälle ringsum erschreckende Ausmaße. Die Menschen in den Todesanzeigen kommen immer näher an das eigene Alter heran. Ältere Freunde und Verwandte sterben, und man bleibt fassungslos zurück. Konkurrentinnen sterben, und man bleibt triumphierend zurück. Liebhaber und Lehrer sterben, und man fühlt sich verlassen. Es wird immer schwieriger, den eigenen Tod zu verdrängen. Hängen wir wirklich so an unseren Eltern oder einfach nur an unserem Status als Kinder, die gegen den Tod immun sind? Ich glaube, dass wir uns zunehmend verzweifelt ans Kind-Sein klammern. Im Krankenhaus begegnet man anderen Kindern – fünfzig-, sechzig-, siebzigjährigen Kindern –, die sich an ihre achtzig-, neunzig- oder hundertjährigen Eltern klammern. Ist diese ganze Klammerei wirklich Liebe? Oder einfach nur das Bedürfnis, sich der eigenen Immunität gegen die Verseuchungen des Malach Hamoves zu versichern – des gefürchteten Todesengels? Insgeheim glauben wir doch alle, wir wären unsterblich. Wir können uns den Verlust des eigenen Bewusstseins nicht vorstellen, deswegen können wir uns auch den Tod beim besten Willen nicht ausmalen. Ich glaubte, ich wäre auf der Suche nach Liebe – dabei war ich in Wahrheit auf der Suche nach Wiedergeburt. Ich wollte die Zeit zurückdrehen und wieder jung werden – und zwar mit all dem Wissen, das ich jetzt habe.

»Was denkst du?«, fragt meine Mutter.

»Ach, nichts«, sage ich.

»Du denkst, dass du niemals so alt werden willst wie ich«, sagt sie. »Ich kenne dich doch.«

Mein Vater verschläft das alles. Sein ausgemergelter Körper nimmt erstaunlich wenig Platz unter der Bettdecke ein. Ohne sein Hörgerät kann er unserem Gespräch nicht folgen, und das möchte er auch gar nicht. Lieber verbringt er seine Tage schlafend. Noch vor einem halben Jahr, vor seiner Krebsoperation, war er ein völlig anderer Mensch. Morgens wurden meine Schwestern und ich immer von seinen Drohbriefen empfangen, häufig in Reimform.

Was soll man damit anfangen, wenn man morgens als Erstes die folgende, schwer leserlich hingekritzelte Tirade des eigenen dreiundneunzigjährigen Vaters vorfindet?

Ich fühle mich wie König Lear.

Drei Töchter hab ich

Und lieb sind sie mir,

Schön und schlau – ich bin entzückt.

Nur streiten tun sie wie verrückt.

Wer kriegt mehr?

Wer kriegt zu wenig?

Schwer ist das für einen König,

Den das Alter niederpresst.

Echter Senioren-Stress!

Soweit seine lyrischen Ergüsse. Ganz unten auf die Seite hatte er noch mit zittriger Hand geschrieben: »Das könnt ihr gar nicht oft genug lesen: Nicht streiten!«

Was hat meinen Vater bloß von Brownsville in Brooklyn zur Shakespeare-Tragödie geführt?

Seine Version lautet so: »Mein Vater hat mir immer nur gesagt: ›Geh arbeiten.‹ Ich wollte auf die Juilliard. Mein Vater meinte: ›Du verdienst doch schon Geld mit der Trommelei – wozu musst du da noch studieren?‹ Meinen Zulassungsbrief hat er einfach weggeschmissen. Deswegen wollte ich unbedingt, dass ihr alle drei studiert.«

Das sagte er im Zimmer meiner Mutter, das auf den Hudson hinausgeht. Sie thronte wie Königin Lear im Bett und nickte dazu. (Gibt es eigentlich eine Königin Lear?)

Die Schwestern Lear saßen am Bett ihrer Mutter. Sie hatte gerade eine Magen-OP hinter sich und nutzte das weidlich aus. Hin und wieder stöhnte sie.

»Eure Mutter leidet unter Morbus Crohn und der Koronaren Herzkrankheit, sie hat einen Wirbelbruch im Lendenbereich, zwei neue Hüft- und zwei neue Kniegelenke. Ich kann meine Tätigkeit als staatlich geprüfte männliche Krankenschwester« – so pflegt mein Vater in maßloser Übertreibung seine Stellung innerhalb der Familie zu bezeichnen – »nicht mehr länger ausüben. Wenn ihr drei euch von jetzt an nicht täglich hier blicken lasst, werde ich ein paar Änderungen an meinem Testament vornehmen.«

»Ich lasse mir doch von dir nicht drohen«, rief meine ältere Schwester Antonia. »Wo warst du denn bitte schön, als wir auf dem Höhepunkt des Nordirlandkonflikts in Belfast lebten« – Antonia hatte natürlich einen lyrisch veranlagten Iren geheiratet – »und das Klavier vor die Tür schieben mussten, damit die Paramilitärs nicht bei uns eindringen? Und frühmorgens immer ganz schnell Brot kaufen gehen, bevor es mit den Schusswechseln losging? Und die Möbel vor die Fenster stellen, damit deine Enkel nicht von Granatsplittern getroffen werden? Wir haben da einen Holocaust durchgemacht, und kein Mensch hat uns geholfen. Das verzeihe ich euch nie!«

Königin Lears Lebensgeister kehrten zurück. »Was soll denn das heißen? Wir haben euch doch Geld geschickt!«

»Mickrige Fünfundzwanzigtausend habt ihr uns geschickt! Was soll ich denn mit fünfundzwanzigtausend Dollar anfangen, bei vier Kindern und einem Krieg vor der Haustür?«

»Also, mir hat nie jemand fünfundzwanzigtausend Dollar geschickt«, warf meine jüngere Schwester Emilia ein.

»Nein, dein Mann hat ja auch gleich den ganzen Laden übernommen. Wozu brauchst du da noch fünfundzwanzigtausend?«, kreischte Toni.

»Dein Mann wollte den Laden doch gar nicht! Keiner wollte ihn! Und an uns ist er hängen geblieben! Ihr zwei seid in der Weltgeschichte herumgereist, während wir uns hier um alles gekümmert haben! Und dazu noch Bibliomania – so ein Laden führt sich auch nicht von selber! Als Großmama gestorben ist, war ich hier mutterseelenallein mit ihr! Die Eltern sind durch Europa getingelt. Und wo wart ihr? Ich bin überhaupt nie irgendwo gewesen!«

»Das stimmt ja nun auch wieder nicht«, sagte ich.

»Kinder, Kinder«, rief meine Mutter.

»Nie hat jemand Verständnis für mich!«, greinte Emmy. »Ich dachte immer, ich muss die gute Tochter sein und zu Hause bleiben. Sogar meinen armen, vertrottelten Mann habe ich dem Familien-Buchladen geopfert!«

»Dafür hat dein armer, vertrottelter Mann aber auch alles gekriegt! Und du genauso! Während wir mit leeren Händen dastehen!«, plärrte Toni. »Tolles Opfer! So ein Opfer hätte ich auch gern gebracht!«

»Von wegen! Du hättest das doch nie gemacht. Und dein Mann erst recht nicht!« Emmy konnte ebenso laut brüllen.

»Könnt ihr nicht mal versuchen, den Standpunkt der anderen zu sehen?«, fragte ich dazwischen.

»Nicht, wenn sie so eine verlogene Heuchlerin ist!«, schrie Toni.

»Mein Bluthochdruck – ich muss hier raus!« Emmy rannte zur Tür. Ich schoss ihr nach und beschwor sie zu bleiben.

»Und wozu? Das bringt mich noch um! Ich habe solches Herzklopfen!«

Mein Vater, der alte König Lear, hatte sich unterdessen ans Klavier gesetzt, spielte »Begin the Beguine« von Cole Porter und sang dazu, um das Geschrei aus dem Nebenzimmer zu übertönen.

Und ich war genau dort, wo ich immer war – das Stück Fleisch zwischen den beiden Sandwichhälften, die gewohnheitsmäßige Friedensstifterin, die Diplomatin, die Possenreißerin, das mittlere Kind.

Meine Schwestern verzogen sich in die Küche, um ihre Meinungsverschiedenheit ohne Vermittlerin fortzusetzen. Ich ging wieder ins Zimmer meiner Mutter und fand sie in die Kissen zurückgesunken. »Warum streiten sie denn bloß?«, ächzte sie.

»Das weißt du doch ganz genau«, sagte ich. »Weil Daddy es darauf angelegt hat.«

»Das würde euer Vater niemals tun«, erwiderte meine Mutter.

»Dann sorg mal dafür, dass er es wieder in Ordnung bringt.«

»Er hört doch nicht auf mich«, sagte sie. Dann fasste sie sich an die Brust. »Mir ist nicht gut«, sagte sie und ließ den Kopf zur Seite sinken. Sie stöhnte laut.

Sofort kamen meine Schwestern ins Zimmer gestürzt.

»Ruf den Krankenwagen!«, blaffte Emmy mich an.

»Ich brauche keinen Krankenwagen«, jammerte meine Mutter.

Meine Schwestern wechselten einen Blick. Wer wäre die Verantwortungslose, die sich am entscheidenden Tag weigerte, einen Krankenwagen zu rufen? Die Bürde wollte sich niemand aufladen.

»Ich glaube nicht, dass das nötig ist«, sagte ich, doch die Panik meiner Schwestern weckte auch in mir die alten Ängste. Was, wenn es diesmal doch kein falscher Alarm war?

Kurze Zeit später stand der Krankenwagen unten, und wir stiegen alle hinten ein und beugten uns über Königin Lear auf ihrer Trage. Unser Vater hatte vorn neben dem Fahrer Platz genommen, um mit seiner letzten Spendenquittung wedeln zu können, wenn wir am Krankenhaus waren. Wir bretterten um die Kurven, hielten mit quietschenden Reifen auf das Mount Sinai Hospital zu. Bei einer besonders scharfen Biegung verrutschte die Auflage der Rollbahre und prallte gegen den Sanitäter, der direkt hinter dem Fahrer saß.

»Ups«, sagte er.

»Passen Sie gefälligst auf!«, rief ich. »Das ist meine einzige Mutter.«

»Es ist auch meine Mutter!«, ereiferte sich Emmy – die bei jeder Gelegenheit zornig wurde, egal, worum es ging.

Während unsere Mutter im Krankenhaus lag, wich unser Vater nicht von ihrer Seite, und als sie wieder zu Hause war, drohte er erneut, uns zu enterben, wenn wir sie nicht jeden Tag besuchen kämen.

Jetzt, nur wenige Monate später, ist er viel zu entkräftet, um uns noch zu drohen, und ich sehne mich nach seiner alten Streitlust zurück. Seit er wegen eines Dickdarmverschlusses operiert werden musste, ist er nur noch ein Schatten seiner selbst. Ich sitze auf dem Bettrand, sehe ihm beim Schlafen zu und denke an das Gespräch zurück, das wir im Krankenhaus geführt haben, am Abend vor der Operation, die ihm das Leben retten, es aber auch beenden sollte.

»Kannst du Spanisch?«, hatte mich mein Vater an jenem Abend gefragt.

Ich nickte. »Ein bisschen.«

»La vida es un sueño«, sagte er. »Das Leben ist nur ein Traum. Ich freue mich auf den Großen Schlaf.« Dann kam er unters Messer und kehrte nie mehr ganz zurück. Drei Tage nach der OP redete er nur noch Unsinn und griff hektisch ins Leere. Sechs Tage nach der OP lag er mit einem Schlauch im Hals auf der Intensivstation. Als eine Lungenentzündung diagnostiziert wurde, stand ich dort an seinem Bett, sang »I Gave My Love a Cherry« und sah seine Lider flattern. Wir hatten nicht daran geglaubt, dass er das Krankenhaus noch einmal verlassen würde. Trotzdem kam es so. Und nun verbringen meine Mutter und er ihre Tage schlafend, Seite an Seite in ihrer Wohnung, ohne sich je zu berühren oder ein Wort zu wechseln. Rund um die Uhr werden sie abwechselnd von Pflegerinnen und Töchtern versorgt. Und jeden Tag schlafen sie ein bisschen länger, sind sie ein bisschen weniger wach.

 

Die alten Griechen glaubten, dass Träume heilsam sind. Wenn man sich im Tempel des Äskulap schlafen legte, konnte man sich gesund träumen. Aber meine Eltern werden nicht mehr gesund. Bei ihnen ist das Sterben bereits im Gange. Und während ich sie sterben sehe, wird mir klar, wie wenig ich selbst auf den Tod vorbereitet bin.

Egal, wie alt sie sind: Auf den Verlust der Eltern ist man niemals vorbereitet.

Seit wir in diese letzte Phase eingetreten sind, machen sogar meine Schwestern vergebliche Versuche, miteinander Frieden zu schließen. Es gibt praktisch keine Veranstaltung mehr, bei der nicht irgendein betagter Bekannter auf einer Trage fortgebracht würde.

Kein Wunder also, dass ich um Eros warb. Damit warb ich schließlich um das Leben.

2Mein Vater (Junger Mann gesucht)

Dem Sterben wohnt eine Würde inne, die ihm kein Arzt zu nehmen wagen sollte.

Anonym

Nichts kann Berührungen ersetzen. Solange man lebt, verlangt man danach. Als ich am nächsten Tag zu meinen Eltern gehe, nehme ich mir vor, gar nicht erst zu versuchen, mit meinem Vater zu reden, sondern nur durch Berührungen mit ihm zu kommunizieren.

Ich klingele und werde von Veronica empfangen, die meistens tagsüber da ist. Sie ist Jamaikanerin, Mitte sechzig, hat eine melodische Stimme und eine Familiengeschichte, die einem schier das Herz bricht. Der Sohn ist tot. Die Tochter hat MS. Trotzdem macht sie tapfer weiter und pflegt die Sterbenden.

»Wie geht es meinem Vater?«

»Heute ganz gut«, sagt sie.

»Schläft er?«

»Er schläft nicht, und er ist nicht wach«, sagt sie. »Aber er ist auf dem Weg …«

Ich trete an sein Bett und fange an, ihm den Nacken zu massieren.

»Wer ist da?«, ruft meine Mutter. »Antonia? Emilia?«

»Ich bin’s, Vanessa«, sage ich. Und massiere meinem Vater weiter den Nacken, bis er sich schließlich regt.

»Ich spüre die Liebe in deinen Händen«, murmelt er. Das spornt mich an, so lange weiterzumachen, bis mir die Arme lahm werden. Während ich ihn massiere, muss ich plötzlich daran denken, wie er einmal an meinem Bett saß, als ich sechs Jahre alt war, und mir erklärte, dass er meine Mutter nie verlassen werde, weil es mich gab. Meine Eltern hatten sich fürchterlich gestritten, und ich hatte Angst, sie würden sich scheiden lassen. Mein Vater zerstreute meine Ängste.

»Ich würde dich niemals verlassen«, sagte er.

Meine Schwestern haben mir immer vorgeworfen, ich wäre seine Lieblingstochter. Aber was hat mir das schon gebracht? Eine eheliche Irrfahrt, auf der ich meinen Vater solange vergeblich in den falschen Männern suchte, bis ich endlich jemanden geheiratet habe, der ihn vielleicht ersetzen kann. Und jetzt sind wir alle alt, und auch unsere Geschichte ist nicht mehr neu.

Vor etwa einem Jahr, als mein Vater noch rüstig genug war, uns mit Enterbung zu drohen, traf ich ihn einmal allerbester Laune an.

»Habe ich dir eigentlich schon mal von meiner ersten Stelle erzählt?«, fragte er.

»Nein.«

»Tja, ich bin damals durchs Viertel gelaufen und habe geschaut, wo ein Schild im Schaufenster hing: ›Junger Mann gesucht‹. Und als ich eins gefunden hatte, bin ich einfach reingegangen und habe gesagt: ›Ich bin der junge Mann, den Sie suchen.‹ Schon damals wusste ich, dass man nur mit Begeisterung weiterkommt. Im Showbusiness war das auch nicht anders. Als ich bei Cole Porter für »Jubilee« vorgespielt habe, da habe ich das Engagement nur gekriegt, weil ich so viel Begeisterung gezeigt habe. Ich war bestimmt nicht der beste Musiker. Ich war einfach nur der mit der größten Begeisterung.«

»Vielleicht fand er dich ja süß«, warf meine Mutter ein. »Er hatte schließlich auch so ein Schild im Schaufenster hängen: ›Junger Mann gesucht‹. Das weiß doch jeder.«

»Du hast ja keine Ahnung, wovon du redest«, sagte mein Vater zu meiner Mutter. Und dann machte er, in einem Anfall von Wichtigtuerei, mitten im Schlafzimmer Hampelmänner, wie früher im Turnunterricht. Mindestens dreißig hintereinander.

»Sieh dir nur deinen Vater an«, sagte meine Mutter. »Er glaubt, wenn er nur genug Sport macht, wird er unsterblich.« So war es auch. Mein Vater trainierte, als hinge sein Leben davon ab. Noch mit weit über achtzig ging er jeden Tag zu Fuß zum Buchladen, kam dann nach Hause und absolvierte noch weitere acht Kilometer auf dem Laufband. Für unsere Mutter und ihre Stubenhockerei hatte er nur Verachtung übrig. Er hungerte sich praktisch zum Gerippe herunter.

»Du musst lernen, hungrig schlafen zu gehen«, erklärte er mir. »Je dünner du bist, desto länger lebst du. Das ist erwiesen.« Er aß sparsam, prasste dafür aber bei den Vitaminen. Auf dem Esstisch türmten sich die Algenextrakte und Wachstumshormone neben allen möglichen anderen angesagten Nahrungsergänzungsmitteln. Und trotzdem kam der Tag, an dem er vor lauter Schmerzen keinen Bissen mehr herunterbrachte.

Meine Schwestern und ich begleiteten ihn zur CT, zum Ultraschall und zum Röntgen. Fröstelnd saß er in Boxershorts und T-Shirt in dem winzigen Umkleideraum des Radiologen. Er wirkte so klein, so verängstigt, so machtlos. Auf den Bildern war nichts zu sehen. Schließlich kam er zu einer Darmspiegelung ins Krankenhaus, und dabei wurde das Geschwür entdeckt.

Er konnte die Operation kaum abwarten. »Schneidet es weg. Raus mit dem Mistding«, sagte er. Er glaubte, wenn sie den Krebs erst einmal beseitigt hätten, wäre er komplett wiederhergestellt.

Wie oft habe ich eine solche Gier nach dem Messer schon erlebt? »Raus damit«, heißt es, als wäre die Sterblichkeit nichts als ein Krebsgeschwür. Doch wenn der Tod nicht durch die Haustür einmarschieren kann, schleicht er sich eben durch die Hintertür. Man schnitt ihm den Krebs aus den Eingeweiden, doch die Narkose ergriff von seinem Gehirn Besitz.

Am Tag nach der Operation war er wirr, aber wohlauf. Wie in den alten Zeiten, bei unseren Familienausflügen mit dem Wagen, sangen wir uns durch das ganze Alphabet, von »All Through the Night« bis »Zip-a-Dee-Doo-Dah«. Doch schon am nächsten Morgen hielt er die »New York Times« verkehrt herum in der Hand und erfand wilde Geschichten, um die Schlagzeilen zu erklären. Wenig später standen zwei bullige Sicherheitsmänner in seinem Zimmer, weil er die Krankenschwester gebissen hatte. Ich redete ihm gut zu, streichelte ihm die Hand, bis er schließlich einschlief. Aber am nächsten Tag war er noch unruhiger. Erst glaubte man, es liege an den Medikamenten, am Klonopin oder am Haldol oder an der Narkose, aber schließlich kam der Große Ärzte-Rat zu dem Schluss, es müsse doch »etwas Körperliches« sein, das ihn so zittern, zetern, beben und ins Leere greifen ließ. Er wurde intubiert, bekam einen Katheter gelegt, wurde erst auf die Überwachungs- und dann auf die Intensivstation gebracht. Während er dort war, betete ich, er möge wiederkommen, und bis zu einem gewissen Grad tat er das ja auch. Inzwischen frage ich mich aber, was solche Gebete eigentlich nützen. Das Leben, das weiß ich jetzt, ist intensiver als jede Intensivstation. Nur der Tod kann die Unruhe des Lebens heilen. Und in dem Fall ist das Heilmittel – wie man so sagt – schlimmer als die Krankheit.

»Hör auf«, sagt er jetzt, »du tust mir weh.« Ob er meine Gedanken hören kann? Fast glaube ich es.

»Veronica!«, ruft er. »Ich muss aufs Klo.« Und Veronica kommt ihn holen. Als er wiederkommt, wirkt er erschöpft und rollt sich zusammen wie ein Embryo.

»Schläft er den ganzen Tag?«, will ich später von Veronica wissen. Sie fühlt sich sofort in ihrer Berufsehre gekränkt.

»Ich habe Ihnen das schon oft gesagt, und ich sage es auch noch einmal. Er will nicht wach sein, weil er depressiv ist, und schlafen will er auch nicht, weil er Angst hat, im Schlaf zu sterben. Wenn er also merkt, dass er einnickt, glaubt er, er muss auf die Toilette. Passiert auch kaum fünfzig Mal am Tag. Er kann nicht bleiben, aber er kann auch nicht gehen. Das habe ich Ihren Schwestern schon erklärt. Also, warum fragen Sie immer wieder?«

»Weil wir ihn lieben«, sage ich.

»Weiß ich ja«, sagt Veronica. »Aber dann lassen Sie ihn doch einfach in Frieden.«

»Wir wollen ihm aber helfen.«

»Wie wollen Sie ihm denn beim Sterben helfen?«

Ja, wie? Wenn ich ihm den letzten Schluck schmerzfreien Gifts verabreichen könnte, ich würde es tun. Oder? Als mein Großvater mit sechsundneunzig nach Schlaftabletten verlangte, hatte ich nicht den Mumm, ihm welche zu besorgen. Diese Feigheit bereue ich bis heute.

Wie hilft man jemandem beim Sterben? Mit Staunen lese ich Geschichten von Menschen, die in einem bestimmten Stadium einer Krankheit oder des Alterns einfach beschließen, dass es Zeit zum Sterben ist. Das scheint mir der Gipfel von Mut und Grausamkeit. Mutig ist es, weil es eben großen Mut braucht, etwas zu tun, was jedem Instinkt derart zuwiderläuft. Und grausam ist es, weil es die Kinder mit der Frage zurücklässt, was sie bloß falsch gemacht haben. Es gibt keine Tat, die nicht andere in Mitleidenschaft zöge. Wir sind alle miteinander verflochten. Selbst der kühlst durchdachte Selbstmord ist noch für irgendwen ein schwerer Schlag.

»Vanessa!«, ruft meine Mutter. »Wo bist du denn?«

Ich gehe zu ihr hinein. Mein Vater liegt zusammengerollt neben ihr und rührt sich kaum.

»Er redet nicht mehr mit mir.« Mit ihrer knochigen Hand deutet sie auf meinen Vater. »All die Jahre war er mir der vertrauteste Mensch auf Erden, und jetzt redet er nicht mal mehr mit mir. Was soll man da machen?«

Vor seiner Operation hat mein Vater sich immer beklagt, meine Mutter würde senil, doch jetzt wirkt sie, von kurzen Gedächtnisaussetzern abgesehen, sehr viel zurechnungsfähiger als er. Den ganzen Tag liegt sie neben ihm und muss diese furchtbare Zurückweisung ertragen. Ein Glück, dass sie sich nicht ständig darauf konzentrieren kann.

Mein Vater richtet sich unvermittelt auf. »Veronica!«, ruft er. Veronica eilt herbei und bringt ihn wieder zur Toilette.

Meine Mutter sieht mich an. »Ich glaube ja, er muss eigentlich gar nicht«, sagt sie. »Ich glaube, er will einfach nur mit dieser Frau im Bad allein sein.«

»Sie ist seine Pflegerin«, sage ich.

»Das glaubst du doch wohl selber nicht«, sagt meine Mutter. »Sie tut nur so, als wäre sie Pflegerin, damit sie ihn ausziehen kann. Ich durchschaue ihre Tricks. Ich bin ja schließlich nicht von gestern. Aber ich tue so, als würde ich nichts merken. Und irgendwann demnächst schmeiße ich sie raus.«

Es wäre nicht das erste Mal. Letztes Jahr, als meine Mutter noch nicht ganz so hinfällig war, hat sie eine Pflegekraft nach der anderen gefeuert. »Raus aus meiner Wohnung, du fette Kuh!«, schrie sie dann, und manchmal auch: »Du fette schwarze Kuh!« – meine Mutter, die nie rassistisch war. Ich redete mir ein, sie wäre wieder zur Vernunft gekommen, dabei war sie einfach nur zu schwach. Sie sparte ihre Kräfte. Doch irgendwann demnächst würde sie aufstehen und losbrüllen, wie sie es früher getan hatte, und all diese Fremden vor die Tür setzen.

»Und wer kümmert sich dann um sie, wenn ich von der Obersten Engel-Riege abberufen werde?«, schimpfte mein Vater immer, früher, als er noch die Kraft dazu hatte. Diese »Oberste Engel-Riege« faszinierte mich. Wen mochte er damit meinen? Den Engel des Todes? Oder rang er vielleicht im Schlaf mit Engeln, so wie Jakob?

Und wenn meine Mutter von diesen geheimnisvollen Engeln hörte, kreischte sie los: »Um mich muss sich keiner kümmern! Ich überlebe euch noch alle!« Manchmal glaube ich, sie weiß mehr, als sie uns verrät.

»Ich habe ja schon viele Leute sterben sehen«, erzählt mir Veronica später, »aber Ihr Vater ist wirklich ein zäher Knochen. Der wird kämpfen wie der Teufel, bevor er aus diesem Leben scheidet. Und Ihre Mutter auch. Sie lässt mich keine Sekunde aus den Augen. Wissen Sie noch, als sie damals aus dem Bett gefallen ist und ins Krankenhaus musste? Da hat sie gedacht, ich würde irgendwas mit Ihrem Vater anstellen. Glauben Sie bloß nicht, dass sie nichts mehr mitbekommt. Die ist klarer im Kopf, als es scheint.«

»Wie halten Sie diese Arbeit bloß aus?«

»Wer soll’s denn machen, wenn nicht ich? Sie und Ihre Schwestern vielleicht? Wollen Sie die Scheiße abputzen, die den beiden an den Beinen runterläuft?«

Ich gehe wieder zurück zu meiner Mutter.

»Seit wann bist du denn hier?«, fragt sie, als hätten wir uns ewig nicht gesehen, als hätten wir nicht eben noch miteinander geredet.

Ich setze mich auf ihre Seite des Bettes. Mein Vater ist da und doch nicht da, halb schlafend, halb wach dämmert er im Dazwischen dahin.

»Weißt du, wenn man alt wird, dann stellt man fest, dass im Grunde alles nur ein Witz ist. All die Dinge, von denen man so besessen war, haben eigentlich gar keine Bedeutung. Man hat sich nur die Zeit damit vertrieben. Früher war es mir immer so wichtig, besser zu tanzen als alle anderen, aber jetzt wird mir klar, dass ich mir nur etwas vorgemacht habe. Ich habe nur die Zeit totgeschlagen.«

»Das stimmt doch sicher nicht.«

»Doch. Selbst wenn man berühmt ist, was spielt das für eine Rolle? Man wird trotzdem alt und stirbt. Die Leute sehen einen ins Restaurant kommen und sagen: ›Ist das nicht Soundso?‹ Aber was bringt einem das? Oder auch den Leuten, wenn man’s genau nimmt. Das ist alles nur ein Witz.«

»Aber trotzdem willst du weiterleben, oder?«

»Ehrlich gesagt ist mir nur noch langweilig. Alles langweilt mich. Selbst die Dinge, die mir früher so viel bedeutet haben, Blumen zum Beispiel – die langweilen mich jetzt. Nur meine Kinder nicht. Am Ende ist doch das Einzige, was zählt, dass man Kinder auf der Welt zurücklässt, die den eigenen Platz einnehmen, wenn man stirbt. Was guckst du denn so traurig? Was ist los?«

»Das weißt du ganz genau. Ich mag es nicht, wenn du sagst, dass dich das Leben langweilt.«

»Soll ich dich lieber anlügen?«

Ehrlich gesagt ja, denke ich. Bitte sag mir, dass das Leben lebenswert ist. Bitte sag mir, dass es den ganzen Aufwand lohnt, jeden Tag aufzustehen, sich anzuziehen. Ich will nicht glauben müssen, dass das Leben bloß ein Witz ist. So etwas sollten Eltern ihrem Kind nicht sagen. Komisch, dass ich sie immer noch als Eltern betrachte.

»Du siehst noch so jung aus«, sagt meine Mutter.

»Das hat Gründe«, sage ich.

»Gute Gene«, meint meine Mutter.

»Gute Gene und gutes Lifting.«

»Du hast dich doch nicht liften lassen! Das glaube ich dir nicht«, sagt meine Mutter.

»Glaub doch, was du willst«, sage ich.

 

Bis ich damit anfangen musste, meinen Eltern beim Dahinwelken zuzusehen, war das erschreckendste Erlebnis meines Lebens die Schönheitsoperation gewesen. Ein weiblicher Ritus, fast wie ein Kind zu gebären. Er fügt sich nahtlos in die Reihe all der anderen weiblichen Riten: Genitalverstümmelung, Füßebinden, Fischbeinkorsetts, Spanx. Ich weiß, dass sich inzwischen auch Männer solchen Eingriffen unterziehen, und zwar freiwillig – aber für Männer ist es trotzdem anders. Als Frau glaubt man, keine andere Wahl zu haben. Für eine Frau ist Altwerden immer noch gleich Verlassenwerden. Ein Mann kann aussehen wie ein Hundertjähriger, er kann impotent und nachtblind sein und findet trotzdem noch eine jüngere Frau, die sich nach ihrem Papa sehnt. Eine Frau kann von Glück sagen, wenn sie eine andere alte Schachtel findet, mit der sie ins Kino oder zum Bingo gehen kann. Für mich war die Schönheits-OP genauso zwingend wie die Beinenthaarung.

Zunächst schickte ich dem Arzt einen Scheck über eine so irrwitzig hohe Summe, dass ich keinen Rückzieher machen konnte. Dann verbrachte ich die nächsten fünf Monate in Todesangst. (Der letzte Monat war der schlimmste.) Und schließlich stieg ich ins Flugzeug und flog nach Los Angeles.

Ankunft inmitten von Schlammlawinen und Unwettern. (Es war der vorletzte Winter vor der Jahrtausendwende.) Ein Hotelzimmer in einem Wolkenkratzer, umhüllt von Nebelschwaden. Im schlingernden fünfzigsten Stock. (Vielleicht würde mich ja ein Erdbeben davor bewahren, die Sache durchziehen zu müssen.) Früh am nächsten Morgen, nach den nötigen antiseptischen Waschungen, ließ ich mich ungefrühstückt in die Klinik fahren. Meine geliebte Freundin Isadora Wing war zur moralischen Unterstützung mitgekommen. Sie erwartete mich schon.

Die Praxis des Arztes war in Pastelltönen gehalten, und alle Arzthelferinnen hatten ein perfektes, von ihm gestaltetes Mona-Lisa-Gesicht. Sie lächelten ihr Halbmond-Lächeln. Sie beruhigten mich.

Ich wurde in einen rosaroten Raum gebracht, wo ich mich ausziehen musste, und bekam Gummistrümpfe, Papier-Pantoffeln, ein grashüpfergrünes Gewand, eine grüne Haube. Ich hatte mich schon entsprechend vorbereitet und Körper, Haare, sogar meinen Schatten, mit den ärztlich verordneten Wundermitteln gesäubert. Ich legte die rituellen Gewänder an und nahm auf einem Liegesessel Platz, einer Art Flugzeugsitz für Zeitreisende. Der Anästhesist und der Chirurg kamen herein, auch sie in Grashüpfergrün.

Ich weiß noch, wie ich dem Anästhesisten in die sanften braunen Augen blickte und mir überlegte, ob er wohl drogenabhängig sei … Wir unterhielten uns über die verschiedenen Methoden, mit denen sich das Bewusstsein verlieren ließ. Er kannte offenbar eine ganze Menge. Fast unmerklich wurde eine Nadel in eine der Venen eingeführt, die sich über meinen Handrücken spannten. Die farblose Flüssigkeit spülte mich davon wie einen eingeschläferten Hund.

Ich hatte mich für diesen Arzt entschieden, weil ich gesehen hatte, wie er arbeitete – oder besser gesagt, weil ich es eben nicht sah. Die meisten Schönheitschirurgen in New York haben sich auf einen Look spezialisiert, der aussieht, als wehte ein starker Wind – ich nenne es das Vom-Winde-verweht-Lifting. In der eisigen Steppe der Upper East Side kann man sie beobachten: spindeldürre Frauen, denen die Haut an den Wangenknochen klebt wie auffallend gut erhaltenen Mumien. Mein Arzt, ein gebürtiger Brasilianer mit einem vornehmen deutschen Namen (mein Mann witzelte immer, dass sein Vater sicher Zahnarzt in Auschwitz gewesen sei und sich irgendwann auf die Südhalbkugel abgesetzt habe, die Taschen voll eingeschmolzener Goldzähne), war für seine hauchfeinen, unsichtbaren Nähte bekannt. Er war kein Handwerker, sondern ein Künstler. Er sah sich die schlaffe Haut rund um die Augen an und wusste genau, wie viel er wegschneiden konnte, ohne dass es zu viel war. Er konnte winzige, kaum wahrnehmbare Wangenstraffungen vornehmen, die Sorgen- und Altersfältchen verschwinden ließen. Er gab einem die Stirn einer Zwanzigjährigen zurück. Und er lächelte so charmant, wie nur jemand lächeln kann, der einem gewaltigen Honorar entgegensieht. Für ihn war es ein ganz normaler Arbeitstag mit drei Eingriffen zu je hunderttausend Dollar. Ich verschwand im Land der Schatten.

Die Zeit stand still und starb. Ich nicht. (Und wenn doch, hätte ich es ja gar nicht mitbekommen!) Ich erwachte in einem Hinterzimmer der Klinik, wo eine Arzthelferin von mir wissen wollte, wie ich mich fühlte. Ausgedörrt. Gestopft wie eine Weihnachtsgans. Mit rasenden Kopfschmerzen. Im ganzen Kopf.

»Möchten Sie vielleicht auf die Toilette?«

»Darf ich denn?«

»Es spricht nichts dagegen.« Sie nahm mich am Arm.

Ich humpelte ins Bad, ging auf die Toilette, vermied aber den Blick in den Spiegel. Ich fühlte mich, als wäre ich tot und einbalsamiert worden. Jetzt fühlte also ich mich wie eine Mumie: als hätte man mir das Gehirn durch die Nasenlöcher gezogen, als hätten die Balsamierer mir zugleich die Seele herausgeschabt. Ich schlurfte zurück zum Bett. Beziehungsweise zu der Liege, die mir als Bett diente.

»Wie sehe ich aus?«

»Den Umständen entsprechend gar nicht schlecht«, sagte die Arzthelferin. »Sind Sie hungrig?«

»Ich glaube schon.«

»Das ist ein gutes Zeichen.«

Noch nie hatte mir ein Frühstück so gut geschmeckt wie dieses lauwarme Instant-Porridge.

Ich dachte bei mir: Ich esse. Ich muss am Leben sein.

Die nächsten Tage waren hart: Eisbeutel, Bewegungslosigkeit, ein Gefühl von unterdrückten Lebensgeistern. Die Narkose wirkte nach wie ein böser Traum. Drinnen hielt ich es nicht aus. Nach draußen konnte ich nicht. Lesen konnte ich auch nicht. Ich konnte nichts weiter tun, als mir die Olympischen Winterspiele im Fernsehen anzuschauen. Ich bin überzeugt davon, dass stundenlanges Fernsehen den IQ senkt. Beim Fernsehen geht es nicht um den Inhalt. Es geht nur um das flackernde Licht, das einem im leeren Zimmer Gesellschaft leistet.

Begleitet von Doppel-Axel und Dreifach-Lutz erholte ich mich langsam. Ich fühlte mich, als liefen die Eiskunstläufer ihre Kür auf meinem Gesicht. Mir blieb nichts übrig, als auf den Bildschirm zu glotzen und regelmäßig den Eisbeutel zu wechseln. Vom Zimmerservice ließ ich mir Consommé und Eiscreme bringen. Im Traum sah ich, wie mir die Haut (samt Muskeln und Blutgefäßen) vom Schädel gezogen wurde. Eines Nachts wurde ich vom Feueralarm des Hotels geweckt, und eine Tonbandstimme verkündete: »Der Feueralarm wurde ausgelöst. Bitte warten Sie auf weitere Anweisungen.« Das wurde zwei Stunden lang alle sieben Minuten wiederholt, während ich wie verrückt versuchte, die Rezeption zu erreichen, deren Nummer ständig besetzt war. Als ich schließlich durchkam, erklärte mir der Portier, es handele sich um einen Fehlalarm. Gelohnt hat es sich trotzdem. Als schließlich alles verheilt war, konnte ich einen sprunghaften Anstieg in der Zahl der Annäherungsversuche verzeichnen.

Aber wenn das Leben ein einziger Witz ist, wozu habe ich mich dann einer Schönheits-OP unterzogen?