Ansichten eines Zweiflers - Ernst Günther Weber - E-Book

Ansichten eines Zweiflers E-Book

Ernst Günther Weber

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Beschreibung

Dieses Buch ist weder Ratgeber noch Wegweiser. Der Autor macht sich, als Agnostiker, Gedanken über seinen Glauben bzw. seine Glaubenszweifel, über Gott und die Religionen, insbesondere die monotheistischen Religionen Christentum, Judentum und Islam. Er nimmt dabei Philosophen, Soziologen und Dichter verschiedener Kulturen und Epochen zu Hilfe. Der Leser kann es als Anregung nehmen, auf seine eigene Art über sich selbst und seinen Glauben nachzudenken. Das Buch ist gegliedert in Kapitel wie: Das Wesen der Religion, die Gestalt Gottes, das Wesen Gottes, Leben nach dem Tod - Unsterblichkeit, Religion und Moral, Religion und Philosophie, Religion und Frauen. Es enthält eine lange Liste mit Literaturhinweisen, sowie ein Namen- und Sachregister.

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für Ursel und im Andenken an meine Großeltern Ernst und Lili Könenkamp

Der Zweifel ist der Weisheit Anfang

René Descartes

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Das Wesen der Religion

Die Gestalt Gottes

Das Wesen Gottes

Leben nach dem Tode – Unsterblichkeit

Religion und Moral

Religion und Philosophie

Religion und Frauen

Agnostizismus

Mein Fazit

Zweifel

Literaturhinweise

Namen- und Sachregister

Der Autor

Vorwort

Ich bin weder Theologe noch Philosoph. Ich bin Mensch, purer blanker Mensch1, und ich bemühe mich, so zu schreiben, dass pure blanke Menschen meinen Gedanken folgen können.

Die Gewissheit ist nicht so mein Ding, der Zweifel eine meiner besten Gaben. Mein Zweifel ist über jeden Zweifel erhaben. Daher so oft ich mit ihm ring.

Viele Menschen in unserer Weltgegend beschäftigen sich mit ihrer Religion nicht so intensiv, dass sie ihren eigenen Glauben in Zweifel ziehen. Sie sind in ihn hineingeboren worden. Es ist so, und es ist für sie richtig so. Religion spielt bei uns auch nicht so eine große Rolle. Vielleicht wäre es mir auch so gegangen, wenn ich nicht schon in jungen Jahren sehr eng in Berührung mit anderen Religionen gekommen wäre, und zwar in einer Weltgegend, in der Religion eine sehr viel wichtigere Rolle spielt als bei uns. Im Alter von zwanzig Jahren bin ich aus beruflichen Gründen nach Baghdad gegangen, habe zwei Jahre später eine arabische Christin katholischen Glaubens geheiratet und bin so in eine Gesellschaft hineingeraten und habe in ihr gelebt, in der jeder Mensch durch seine Religion definiert wird. Das warf mit der Zeit ganz natürlich die Frage auf, was das für mich, evangelisch getauft und konfirmiert, aber ansonsten der Religion keine große Bedeutung beimessend, bedeutet.

Schon davor, als Fünfzehn- oder Sechzehnjähriger, noch in Deutschland, hat aber die Lektüre eines Buches mich angeregt, über Religion und mein Verhältnis dazu nachzudenken. Zu der Zeit, Anfang der Fünfzigerjahre, war die Bibliothek des Amerikahauses in Bremen im Kapitelsaal des Domes an der Domsheide, und ich bin gelegentlich dorthin gegangen, um mir Bücher auszuleihen. Eines dieser Bücher, das mich in diesen jugendlichen Jahren ganz besonders beeindruckt hat, war „Zwei Sommer“ von Louis Bromfield, einem amerikanischen Bestsellerautor der damaligen Zeit, das ich mir zehn Jahre später noch einmal kaufte und nach Bagh-dad kommen ließ, und das ich jetzt ein drittes Mal gelesen habe, und das mich auch jetzt wieder – in ganz anderer Weise – bewegt und angerührt hat. Es ist ein Entwicklungsroman und handelt von zwei Sommern im Leben eines dreizehn bis vierzehn Jahre alten Jungen, dessen Eltern bei einem Schiffsunglück ertrunken waren, als der Junge zwei Jahre alt war, und für den der Großvater dann die Vaterstelle auf ganz ähnliche Weise eingenommen hat, wie es bei mir der Fall nach der Scheidung meiner Eltern war, und was ich bis heute als das größte Glück für die Entwicklung meines Lebens betrachte. Auch diese Parallele macht das Buch für mich zu etwas ganz Besonderem. Heute kann ich es aus der Sicht eines Großvaters und Urgroßvaters lesen. Den Aspekt, in dem Bromfield in dem Buch auf Religion eingeht, werde ich im Kapitel Religion und Moral behandeln.

Geschehnisse, die mit der eigenen Entwicklung zusammenhängen, kommen einem immer wieder in den Sinn, bis ins hohe Alter und wahrscheinlich bis ans Lebensende.

Die Gewissheit, ob es Gott gibt oder nicht, habe ich zwar nicht, und dieser Mangel belastet mich nicht, aber dennoch mache ich mir Gedanken darüber, ob es ihn gibt, und wenn ja, welcher Gestalt und welchen Wesens er sein könnte. Diese Gedanken mache ich mir für mich, und da ich Missionieren ablehne, ist es nicht meine Absicht, Leser oder Leserinnen dieses Textes von der Logik meiner Gedanken zu überzeugen. Wenn meine Zeilen zum Denken anregen, betrachte ich es als Gewinn.

Ich möchte niemanden in seinen religiösen Gefühlen verletzen, am allerwenigsten meine eigenen leiblichen Nachkommen, die alle überzeugte und gläubige Christen sind. Wenn ich mir wünsche, dass auch sie diese Zeilen lesen, dann nur zu dem Zweck, ihren Vater, Großvater, Urgroßvater besser kennenzulernen. Falls sich dennoch jemand in seinen Gefühlen und Überzeugungen verletzt fühlen sollte, bitte ich schon vorab um Verzeihung.

Da ich nicht weiß, ob es Gott gibt, müsste ich bei jedem Gedanken über ihn hinzufügen, „falls es ihn gibt“. Diese Einschränkung werde ich der Einfachheit halber nicht machen oder nur dort, wo es unbedingt notwendig ist.

Um meine Gedanken und Überlegungen zu verdeutlichen, werde ich mir von Philosophen und Dichtern aus der Antike, dem Mittelalter und der Neuzeit, in deren Denken über Glauben und Gott ich meine Vorstellungen wiederfinde, helfen lassen und aus ihren Werken zitieren.

Der Islam wird in meinen Ausführungen viel Raum einnehmen, da ich mich einerseits in meinem Leben viel mit ihm beschäftigt habe und weil er andererseits in der augenblicklichen gesellschaftlichen Debatte oft eine wichtige Rolle spielt.

1 Ludwig Feuerbach bezeichnete sich so – in ironischer Bescheidenheit - , im Gegensatz zu Hegel, Professor der Philosophie, (Ludwig Winiger: Ludwig Feuerbach, Denker der Menschheit, S. 181)

Einleitung

Als Agnostiker weiß ich nicht, ob es Gott gibt oder nicht. Allerdings ist mir der Gedanke, dass es Gott gibt, sympathischer als der, dass es ihn nicht gibt. Wenn es ihn also - meinem Wunsche entsprechend - gäbe, wie wäre er dann, welcher Gestalt und welchen Wesens?

Diese Sure ist mir bei einer Andalusienreise wiederbegegnet. Auf dieser Rundfahrt besichtigten wir eine Kirche. Das Gebäude war in der Zeit der muslimischen Herrschaft Andalusiens eine Moschee und ist nach der Reconquista zu einem christlichen Gotteshaus umgebaut worden. In einem Vorraum der Kirche ist jedoch als Rest der Moschee noch ein Teil des Mihrāb, der nach Mekka gerichteten Gebetsnische, erhalten. Beim Lesen der in Stein gemeißelten Inschrift über dem Mihrāb, entdeckte ich, dass es der Text der 112. Sure des Korans ist. Ich wunderte mich darüber, dass dieser Text, der zentralen christlichen Glaubensinhalten widerspricht, hier erhalten geblieben ist. Die Erklärung kann nur sein, dass keiner der Priester oder Kirchenoberen diesen Text lesen konnte, denn sonst wäre er sicher schon vor langer Zeit entfernt worden. Eine Dame aus unserer Reisegruppe bat mich, ihr den Text zu übersetzen. Als ich ihrem Wunsch entsprach, sagte sie: „Ja, wenn es Gott gibt, könnte ich ihn mir so vorstellen.“ Das entspricht auch meiner eigenen Vorstellung.

Rest eines muslimischen Mihrābs, einer Gebetsnische, im Vorraum einer katholischen Kirche in Andalusien

Dabei ist mir der vierte Satz der Sure – und nicht ihm gleich ist einer – der Entscheidende. Dazu muss ich erwähnen, dass die Muslime, für die natürlich nur der arabische Wortlaut des Koran gilt, ihn anders - und aus ihrer Sicht richtiger - verstehen als ich. Der arabische Text lautet: (wa lem yakun lehu kafuan aad). Das Wort „kafu“ ist ein Vergleichen im Sinne von „sich messen mit“. Das bedeutet, dass für die Muslime gilt: keiner kann sich mit Gott an Macht und Größe messen. Ich verstehe den Satz für mich jedoch eigensinnigerweise so, dass keiner ihm in irgendeiner - und gleich welcher Weise - vergleichbar ist, also dass mangels Vergleichbarkeit daher auch keiner eine Vorstellung von seiner Gestalt oder seinem Wesen haben und niemand seinen Willen kennen kann. Natürlich müsste ich für diese Vorstellung keine Sure des Koran bemühen. Doch die Poesie und Prägnanz dieser Sure gefällt mir so gut, dass es mir ein Bedürfnis ist, sie für meinen Zweck zu missbrauchen.

Ähnlich dachte aber auch wohl im 13. Jahrhundert ein Muslim, der große Sufi-Mystiker Dschellaladdin Rumi. Er schrieb in seinem mystischen Lehrgedicht Mathnawi den Doppelvers:

Was du auch denkst, es wird vergänglich sein –

Was kein Gedanke fassen kann, ist Gott.3

Dieser „Missbrauch“ einer Koransure meinerseits und die Möglichkeit unterschiedlicher Interpretation macht aber erklärlich und deutlich, dass aus Sicht der Muslime verständlicherweise nur der Koran in der arabischen Sprache Koran ist. Übersetzungen sind nur Annäherungen und sind nicht der Koran.

Zum Thema „Lesen / Rezitation“ fällt mir etwas ein, was nicht zum Thema dieser Abhandlung gehört. Ich hoffe, man verzeiht mir mein Abschweifen. Im Arabischen schreien oder rufen die Singvögel, allerdings mit Ausnahme eines Vogels, der besonders hervorgehoben wird. Es ist die Nachtigall: sie liest oder rezitiert, vergleichbar dem Mu’ezzin, der die Gläubigen von der Höhe des Minaretts in gesungener Rezitation zum Gebet ruft.

Da ich nun schon mit dem Islam angefangen habe, füge ich gleich noch ein weiteres Zitat aus dem Koran an, in dem es um den Glauben geht. Der zitierte Satz ist auf jeden Glauben und jede Ideologie anwendbar.

Einer der Verse des Koran (2. Sure, Vers 256) beginnt mit dem Satz: „Es gibt keinen Zwang im Glauben“. Viele muslimische Theologen und viele Islamwissenschaftler haben über die Bedeutung dieses Satzes geforscht und geschrieben. Allgemein vorherrschend ist die These, dass niemand zum („rechten“) Glauben gezwungen werden dürfe, dass also der Satz als Imperativ zu verstehen sei, im Sinne von „es darf keinen Zwang geben.“ Manche Muslime glauben auch, diesen Satz als Ausdruck der Toleranz ihrer Religion hervorheben zu müssen.

Einige Wissenschaftler sind jedoch der Meinung, dass er mit der Bedeutung „es kann keinen Zwang geben“ zu verstehen ist, also in einer – aus Missionarssicht – resignativen Bedeutung.

Egal, wie man den Satz versteht, die zweite, die resignative Version ist immer logisch. Ganz gleich, für welche Religion oder Ideologie man missionieren will, mit Zwang kann man höchstens ein geheucheltes, aber keinesfalls ein echtes Bekenntnis zum Glauben oder zu den Dogmen einer Ideologie bewirken.

Der Philosoph Ludwig Feuerbach bringt seine Religionskritik auf die knappe Formel: „Der Glaube ist die Vorstellung des Nichtseienden, aber Sein-Sollenden als Seienden.“4 Dies ist die für Atheisten geltende Formel. Als zum Positiven neigender Agnostiker würde ich sie variieren und sagen: Der Glaube ist die Vorstellung des möglicherweise Seienden als Seienden.

Nach meiner Erfahrung lassen die meisten Menschen in unserem Lebensraum, in Mittel- und Nordeuropa, die Glaubensinhalte und Dogmen ihrer jeweiligen Religion erst einmal über sich ergehen und ignorieren sie dann weitgehend, kaufen dann, wenn sie irgendwann einmal getauft wurden - und einige auch ohne das – zu Weihnachten Geschenke für ihre Familienangehörigen und lassen im Übrigen „den lieben Gott einen guten Mann sein“. Sie sind sozusagen Karteileichen ihrer jeweiligen Religionsgemeinschaft. Ich war versucht zu sagen „Karteileichen Gottes“, bin aber davon abgekommen – obwohl es so viel prägnanter und provozierender klingt - , weil für mich selbst Gott, wenn überhaupt, nicht als ein persönlicher Gott existiert.

2 Der Koran, in der Übersetzung von Friedrich Rückert, Ergon Verlag, Würzburg 2001

3 Annemarie Schimmel, Rumi – Ich bin Wind und du bist Feuer, Köln, 1978, S. 87 (zitiert aus Mathnawi, II, 1307)

4 Josef Winiger: Ludwig Feuerbach, Denker der Menschheit, Aufbau Taschenbuch Verlag GmbH, Berlin 2004, S. 312

Das Wesen der Religion

Die Menschen erleben in ihrem Leben Ereignisse und Entwicklungen, die sie nicht beeinflussen können, und die sich ihrer Kontrolle entziehen. Sie vermuten dahinter eine unsichtbare Macht oder ein höheres Wesen, das das bewirkt und steuert.

Der religiöse Glaube ist Wunderglaube. Die Propheten vermittelten durch ihre „Gotteserfahrungen“, ihre Begegnungen und Gespräche mit Gott, den Menschen ihrer Umgebung, ihres Stammes oder Volkes, den Willen Gottes. Was sind das anderes als Wunder? Diese Wunder, da sie vom Volke geglaubt wurden, unabhängig davon, wie sie zustande kamen oder erklärt werden können, sind die Grundlage der Religionen. Ich konzentriere mich bei meinen Betrachtungen hauptsächlich auf die drei großen monotheistischen Religionen.

Judentum, Christentum und Islam haben dieselben Propheten. Alle lebten in derselben Region, und Religionsskeptiker oder –zweifler, wie ich, könnten vermuten, dass diese Wunder etwas mit dem entbehrungsreichen Charakter der Wüste zu tun haben und mit Halluzinationen erklärt werden könnten.

Der Islam hat drei Propheten mehr als die beiden anderen abrahamitischen Religionen. Der Erste ist der biblische Hiob, bei den Muslimen Ayoub. In der Bibel ist Hiob eine wichtige Gestalt, aber kein Prophet. Im Koran ist er auch Prophet. Bei den Arabern ist er die sprichwörtliche Personifizierung der Geduld und wird auch oft in Situationen genannt, in denen Geduld nötig ist. Wenn westliche Christen von einem Übel heimgesucht werden, beten sie und bitten Gott, sie davon zu befreien. Araber, egal ob Muslime oder Christen, beten und rufen: „Oh Gott, gib mir die Geduld Hiobs“.

Jesus ist für die Christen Gottes Sohn, für die Muslime ist er ein Prophet. Bei den Muslimen heißt er ‘Īssa, bei den christlichen Arabern, sowie bei den Aramäern und Chaldäern Yeschū‘.

Der größte und wichtigste Prophet der Muslime ist natürlich Mohammed, der „Gesandte Gottes“ (Rasūl Allāh) und „Siegel der Propheten“ (Khātim al-Anbiā‘), der Prophet, der in ihrem Glauben das vollständige und endgültige Buch Gottes gebracht hat und der letzte Prophet der Geschichte der Menschheit ist.

Die Berichte von Wundern, die diese Propheten und viele Heiligen erlebt haben sollen, lösen bei mir Skepsis, Zweifel und Unglauben aus. Doch das Leben und die Natur zeigen uns jeden Tag Wunder, wenn wir dafür aufmerksam und empfänglich sind: Das Schlüpfen eines Schmetterlings oder einer Libelle aus ihrer Puppe oder Larve, die frischen Blätter- oder Blütenknospen an Bäumen und Büschen im Frühjahr, die Geburt eines Kindes und sein Wachsen und Gedeihen, oder ein Regenbogen am Himmel. Solche Wunder kann jeder sehen. Es kommt nur darauf an, sie nicht zu missachten, oder zu glauben, nur trockenen Fußes ein Gewässer zu überqueren oder Tote zum Leben zu erwecken, seien Wunder.

Der islamische (islamisch zumindest anfangs) Theologe und Religionskritiker Ibn ar-Rāwandī (mit vollem Namen Abū’l usayn Amed b. Yayā b. Isāq ar-Rāwandī), der im neunten Jahrhundert lebte, hat in seinem Buch des Smaragds (Kitāb az-Zumurrud) alle religiösen Offenbarungen und Dogmen als erfunden und nicht vereinbar mit der uns von Gott gegebenen Vernunft und alle Propheten, einschließlich Mohammed, als vergleichbar mit Hexern und Magiern erklärt. Mehrere darauf folgende Generationen muslimischer Theologen haben seine Thesen verurteilt und ihn des Ketzertums beschuldigt.5

Ähnlich argumentiert auch ein paar Jahrzehnte später der Philosoph und als Arzt berühmt gewordene Abū Bakr ar-Rāzī (865 – 925), im Westen bekannt unter dem latinisierten Namen Rhazes. Er ist „überzeugt, dass der barmherzige und gerechte Gott allen Menschen die Fähigkeit zur Erkenntnis geschenkt hat. Aus diesem Grund hält er es für ausgeschlossen, dass einzelnen Personen zusätzlich ein exklusives Offenbarungswissen zuteil werde. Es gibt demnach (...) keine Propheten. (....) Wer für sich in Anspruch nimmt, die Gabe der Prophetie zu besitzen (Mose, Jesus, Muhammad usw.), kann nur ein Betrüger sein. Er täuscht eine Eingebung vor, die er gar nicht erhielt, und schart hinter sich eine angeblich privilegierte Gemeinde. Sie aber hat nichts besseres zu tun, als mit anderen Gemeinden, die sich ebenfalls im Besitz einer geoffenbarten Wahrheit wähnen, Kriege zu führen.“6

Gefragt, ob ein Philosoph Anhänger einer Offenbarungsreligion sein könne, erwiderte ar-Rāzī: „Wie kann jemand philosophisch denken, wenn er solche Altweibermärchen glaubt, die auf Widersprüchen, halsstarriger Unwissenheit und Dogmatismus gegründet sind?“7

Der Ägyptologe Jan Assmann macht in seinem Buch Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus die monotheistischen Religionen - in für mich gut nachvollziehbarer Argumentation - für die Entstehung von religiösem Dogmatismus, Fundamentalismus und Fanatismus verantwortlich. Als mosaische Unterscheidung bezeichnet er die Wandlung des ägyptischen Mose in den hebräischen Moses nach dem Auszug der Juden aus Ägypten unter seiner Führung und damit die Abwendung vom Polytheismus der Ägypter und hin zum monotheistischen Glauben. „Die Mosaische Unterscheidung führt einen neuen Typus von Wahrheit ein: die absolute, geoffenbarte, metaphysische Glaubenswahrheit.“8

Dabei ist für Assmann nicht die Unterscheidung zwischen dem Einen Gott und den vielen Göttern das Entscheidende, sondern die Unterscheidung zwischen wahr und falsch in der Religion.9 Dieser Monotheismus ist eine Ausgrenzung. Die Juden schotten sich nach innen ab, sie missionieren nicht, assimilieren sich aber auch nicht. „Indem Gott Israel als sein Volk erwählt, hebt er es aus dem Kreis der Völker heraus und verbietet die Assimilation an die Gebräuche der Umwelt. Indem Gott umgekehrt den Christen und Muslimen gebietet, die Wahrheit über den Erdkreis zu verbreiten, werden alle diejenigen ausgegrenzt, die sich dieser Wahrheit verschließen. Erst in dieser Form wird das dem Monotheismus innewohnende Ausgrenzungspotential gewalttätig.“10 Diese Entwicklung tritt also erst zu dem Zeitpunkt ein, als der römische Kaiser Konstantin sich zu Anfang des vierten Jahrhunderts (n.Chr.) zum Christentum bekannte, also als das Christentum von einer verfolgten zu einer sich von da an schnell verbreitenden Religion wurde.

In einer anderen Veröffentlichung schreibt Jan Assmann: „Warum sollte die Unterscheidung zwischen wahr und falsch gewalttätig sein? Die Sprache der Gewalt entstammt dem politischen Druck, aus dem der Monotheismus gerade befreien will. Sie gehört in die revolutionäre Rhetorik der Konversion, der radikalen Wende und Abkehr, des kulturellen Sprungs aus dem Alten ins Neue. Über diese Schwelle sind wir längst geschritten, sie bedarf keiner eifernden Einschärfung mehr. Das semantische Dynamit, das in den heiligen Texten der monotheistischen Religionen steckt, zündet in den Händen nicht der Gläubigen, sondern der Fundamentalisten, denen es um politische Macht geht und die sich der religiösen Gewaltmotive bedienen, um die Massen hinter sich zu bringen. Die in den religiösen Quellen auffindbare Sprache der Gewalt wird als eine Ressource im politischen Machtkampf missbraucht, um Feindbilder aufzubauen und Angst und Bedrohungsbewußtsein zu schüren. Daher kommt es darauf an, diese Motive zu historisieren, in dem man auf ihre Ursprungssituation zurückführt. Es gilt, ihre Genese aufzudecken, um sie in ihrer Geltung einzuschränken.“11

Jan Assmann schreibt dies aus christlicher Sicht. Wenn diese Argumente und diese Herangehensweise zur Vermeidung von Zwang, Unterdrückung und Gewalt beitragen, kann auch ich - als Agnostiker - sie nur begrüßen und unterstützen.

Natürlich gab es auch in und zwischen den polytheistischen Kulturen Kriege und Gewalt, aber nie aus religiösen Gründen oder unter religiösem Vorwand. „Die Religion der anderen wurde als grundsätzlich mit der eigenen vereinbar empfunden. Das bedeutet nicht, daß die entsprechenden Völker weniger gewalttätig miteinander umgingen oder daß die Gewalt erst mit der Mosaischen Unterscheidung in die Welt gekommen sei. Es bedeutet nur, daß die politische Gewalt nicht theologisch begründet wurde, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß es bei der Unterwerfung der anderen um die Bekehrung von Anhängern einer als falsch angesehenen Religion ginge.“12

Die Mosaische Unterscheidung ist die zwischen ,„wahr“ und „falsch“ und zwischen „wir“ und „sie“, wir, die wir den wahren Glauben haben und sie, den falschen. Falsch im religiösen Sinne ist allerdings kein harmloser „Irrtum“, sondern zu manchen Zeiten und in manchen Ländern sträflich oder strafbar und kann – als Ketzerei - für die „falsch Glaubenden“ unangenehme Konsequenzen bis hin zu Verfolgung oder sogar Tod haben, wie wir noch heute aus Ländern wie Saudi-Arabien oder Iran erfahren. Ich schätze mich glücklich, im relativ aufgeklärten Deutschland des 21. Jahrhunderts zu leben, in dem meine Ansichten keine unangenehmen Folgen für mich haben.

Nach Jan Assmann stellt diese Unterscheidung in der Religionsgeschichte eine revolutionäre Innovation dar, die den traditionellen, historisch gewachsenen Religionen und Kulturen fremd war. „Die Hauptsorge gilt nicht, wie in den sekundären Religionen, der Ge