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Drea Summer

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Beschreibung

- Ein Gong ertönte, wie bei einem Boxkampf. War das Spiel dieses Psychos vorbei? Doch was würde nun passieren? - Nachdem auf Gran Canaria zwei Jugendliche tot aus dem Meer geborgen wurden, engagiert eine besorgte Mutter die Privatermittler Sven und Jenny, um ihren Sohn zu observieren. Die Spur führt sie zu einer Clique, in die man nur nach lebensgefährlichen Mutproben aufgenommen wird. Doch dann verschwindet erneut ein Jugendlicher, und kurz darauf ein weiterer. Die Polizei vermutet dahinter einen geisteskranken Entführer. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Auf der anderen Seite verbirgt sich ein uraltes, grausames Ritual, dessen Wurzeln Jahrzehnte in die Vergangenheit reichen. Letztendlich gerät Sven selbst ins Visier des Psychopathen. Wird er dem tödlichen Spiel entkommen? Dieses Buch kann unabhängig von den anderen gelesen werden.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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ANvisiert

 

Team Gran Canaria Band 3

 

von Drea Summer

 

 

 

 

 

 

1. Auflage, 2020

© Alle Rechte vorbehalten.

 

Drea Summer

Los Tenderetitos 1, L 134

35100 San Fernando

San Bartolomé de Tirajana

Las Palmas de Gran Canaria

Spanien

Lektorat/Korrektorat: Lektorat TextFlow by Sascha RimplCovergestaltung ©Dream Design – Cover and Art

Covermotiv © Stockfoto AdobeStock_192847290

1

In einem Tag – Freitag, nachmittags

 

»Du oder er?«, sagte ich zu dem schwarzhaarigen Jungen, der mich mit seinen blauen Augen anstarrte. Sein ganzer Körper zitterte vor Angst. Ich saugte seine Furcht in mich auf wie ein Schwamm. Ich deutete auf den Schalter, der vor ihm auf dem Tisch festgemacht war. Nur zum Ein- und Ausschalten gedacht. Doch je länger er gedrückt wurde, umso länger hörte man das Schreien. Umso tiefer saß der Schock in dem Jungen. Umso mehr konnte ich mich davon nähren.

2

Jenny und Sven - Donnerstag, nachmittags

 

»Schatz?«, sagte Jenny und schaute von ihrem Bildschirm auf. »Hast du das schon gelesen?«

Sven seufzte laut und ging zu ihr hinüber. »Wenn du in ganzen Sätzen mit mir sprechen würdest, wäre das toll. Dann hätte ich alle Informationen auf einmal.«

Jenny lachte. »Das hab ich mittlerweile von dir übernommen, scheint jedenfalls so.« Ganz nah kam er an sie heran, beugte sich zu ihr hinab, schob ihre braunen langen Haare zur Seite und küsste sie zärtlich im Nacken, sodass sich sofort eine Gänsehaut auf ihren Armen aufstellte. Sie kicherte und wand ihren Oberkörper hin und her, doch Sven hielt sie an den Schultern fest und grub seinen Dreitagebart tiefer in ihre Haut. Jenny quiekte auf und sagte: »Hör auf jetzt. Du bist schrecklich. Lies das mal.« Sie deutete auf einen Zeitungsartikel, den sie in einem der etlichen Fenster auf dem Bildschirm geöffnet hatte.

Sven ließ von Jenny ab und las die Überschrift.»Wieder ein Jugendlicher tot aufgefunden. Suizid auf Gran Canaria.«

»Ja! Ist das nicht der reinste Wahnsinn? Warum bringen die sich bloß um?«, fragte Jenny und zog ihre rechte Augenbraue hoch. »Das ist jetzt schon der zweite Fall in diesem Monat. Der eine vierzehn und dieser hier fünfzehn Jahre alt.«

»Ja, wirklich sehr interessant. Was da wohl dahintersteckt? Leider können wir das nicht weiterverfolgen, weil wir einen anderen Fall haben, der sogar Geld einbringt. Das wir auch dringend nötig haben, wenn ich mir die ganzen kreuz und quer herumliegenden Rechnungen hier ansehe.« Er seufzte bei dem Anblick und fragte sich, wie man in diesem hausgemachten Chaos den Überblick behalten konnte.

Jenny nickte zustimmend. »Dann lass uns mal losfahren. Schließlich muss Herr Gonzales in einer halben Stunde zur Arbeit. Und dann wollen wir mal sehen, ob er seinen Job macht, für den er bezahlt wird.«

»Eigentlich schlimm, dass wir einen Arbeitnehmer überwachen müssen, findest du nicht? Ich meine, seit zwei Tagen verfolgen wir ihn, und bisher ist nichts Auffälliges passiert. Ist das nur der Chef, der so paranoid ist?«

»Mir egal. Wir haben einen Vorschuss gekriegt, somit müssen wir unseren Job machen. Und wenn der Mann seinen Verpflichtungen nachkommt, umso besser. Schlimmer wäre es, wenn wir etwas herausfinden. Oder?«

Sven schnappte sich seine dünne Fleecejacke. Trotz der noch sommerlichen Temperaturen im September gab es einige Orte auf der Insel, wo der Wind kalt blies. Er öffnete die Tür und blieb wie erstarrt stehen. Eine Frau mittleren Alters stand vor ihm. Die Augen waren verweint, und ihre hellbraunen Haare hingen glanzlos in ihr Gesicht. Sie reckte ihm die Faust entgegen. Vermutlich hatte sie gerade an die Tür klopfen wollen.

»Buenas tardes, Señora«, sagte Sven rasch und bedeutete ihr mit einer Geste, dass sie ins Büro eintreten könne.

Doch die Frau rührte sich nicht vom Fleck.

»Verstehen Sie mich?«, fragte Sven und beugte sich leicht nach unten. Vielleicht waren es Svens stattliche ein Meter fünfundachtzig, die sie erschreckt hatten, als er so plötzlich vor ihr gestanden hatte. Sie selbst war noch kleiner als Jenny und besaß eine überaus zierliche Figur.

»Ja«, antwortete die Frau zögerlich. »Ich verstehe Sie. Ich brauche Ihre Hilfe.«

Klar, weswegen würde sie sonst vor unserer Tür stehen?, dachte Sven, verkniff sich aber einen Kommentar. Jetzt war nicht der richtige Moment für solche Scherze.

»Dann nehmen Sie doch Platz«, sagte Jenny und deutete auf den großen Besprechungstisch, der mittig im Büro stand. Schnell stellte sie die Einkaufstüten mit den Büchern, die sie gestern im Secondhandladen erstanden hatte, auf den Boden und räumte die beiden Gläser, ebenfalls noch von gestern, in die Spüle der Miniküche. »Erzählen Sie uns doch mal, wobei Sie unsere Hilfe brauchen.«

Die Frau setzte sich auf den Stuhl, den Jenny unter dem Tisch hervorgezogen hatte, und hielt für einen Moment inne. Sven kam es vor, als ob sie sekundenlang den Atem anhielt, bevor sie zu sprechen begann.

»Wissen Sie? Ich mache mir große Sorgen um meinen Sohn. Er hat sich so verändert in den letzten Wochen.«

»Wie meinen Sie ›verändert‹? Wie alt ist denn Ihr Sohn?« Jenny zückte ihr Notizbuch.

»Er ist fünfzehn. Fürchterlich, es ist einfach fürchterlich. Ich meine, die schrecklichen Nachrichten aus der Zeitung. Und dann sein verändertes Wesen. Ich … ich hab echt Angst um ihn. Wir sind erst seit Juli hier auf Gran Canaria. Er hat hier ja noch keine Freunde. Die Schule hat doch erst begonnen.« Die Tränen schossen bächeweise ihre Wangen hinunter, und ihre Hände begannen zu zittern, als wären plötzlich Minusgrade im Büro.

»Immer der Reihe nach«, sagte Jenny. »Wie ist Ihr Name? Und wie heißt Ihr Sohn?«

»Oh, Entschuldigung. Vor lauter Aufregung hab ich tatsächlich vergessen, mich vorzustellen. Mein Name ist Maria. Maria Luisa Martín Hernandez. Aber bitte nennen Sie mich Meli. Und mein Sohn heißt Santiago. Also, können Sie mir helfen?«

»Ich bin Jenny, und das ist mein Partner Sven. Was genau sollen wir für Sie tun?«

»Das ist doch klar. Sie sollen ihn beschatten und herausfinden, warum er sich so verändert hat. Ich habe Ihnen eine Anzahlung für Ihre Dienste gleich mitgebracht. Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie vor meinem Mann kein Wort darüber verlieren, dass ich Sie engagiert habe. Er würde durchdrehen bei dem Gedanken, dass ich Geld für so was ausgebe.« Meli kramte in ihrer Handtasche und legte einen weißen Umschlag auf den Tisch, den sie Jenny zuschob.

»Das heißt, Sie haben mit Ihrem Mann bereits darüber gesprochen, dass Sie sich Sorgen um Ihren Sohn machen?«

»Ja, und Max meinte nur, dass Santiago eben gerade in einer schwierigen Phase seines Lebens ist und er keinen Schnuller mehr braucht. Aber ich spüre doch, da stimmt etwas nicht.«

»Was genau meinen Sie damit? Erklären Sie mir, wie Santiago sich verändert hat.«

»Er hat sich, seitdem wir hier sind, sehr zurückgezogen. Also, es ist nicht so wie auf Lanzarote. Dort hat er immer Freunde mit nach Hause gebracht. Aber hier … hier hat er noch keine Freundschaften geschlossen. Er ist immer allein unterwegs. Max meinte, das ist völlig normal und er muss sich hier erst eingewöhnen.«

»Ich nehme an, Ihr Mann Max ist kein Spanier oder Canario?«

»Das stimmt. Max kommt gebürtig aus Wien. Und ich vom spanischen Festland. Wir haben uns vor mehr als zwanzig Jahren kennengelernt. Er hat in dem Hotel auf Lanzarote, in dem ich als Zimmermädchen gearbeitet habe, die Baumaßnahmen für den neuen Wellnessbereich geleitet. Meine Großeltern sind Canarios, müssen Sie wissen, und Santiago gleicht seinem Urgroßvater fast wie ein Ei dem anderen. Ach …« Meli seufzte gedankenverloren. »Es war Liebe auf den ersten Blick zwischen Max und mir.«

»Oh, ich bin auch Österreicher«, warf Sven sofort ein. »Ich komme aus der Obersteiermark.«

Jennys strafender Blick traf ihn. Doch Meli schien dieser Einwurf nicht gestört zu haben, denn sie erzählte weiter.

»Santiago war zwar nicht geplant, trotzdem ein Wunschkind. Verstehen Sie, was ich meine? Es war vielleicht drei Monate nach dem Unfall, den Max auf der Baustelle gehabt hat. Ein tonnenschweres Teil hat sein Schienbein unter sich begraben und einen Trümmerbruch verursacht. Ich war heilfroh, dass er am Leben war, nur das steife Bein ist bis heute geblieben. Ich glaube, es waren die Glückshormone in mir, die Santiago geholfen haben, zu entstehen. Doch als ich merkte, dass ich schwanger war, hatte ich solche Angst, mein Baby zu verlieren. Hatte ich doch erst kurz zuvor verstanden, wie schnell man einen geliebten Menschen verlieren kann.« Meli schwieg einen Moment, bevor sie weitersprach. »Und Max meint jetzt, dass diese Angst noch immer fest in mir verankert ist und ich mir deshalb wegen jeder Kleinigkeit Sorgen um meinen Sohn mache. Max sieht das alles anders: Santiago ist eben ein Teenager, und die verändern sich nun mal und wollen sich von Mutters Rockzipfel lösen.«

»Wir nehmen Ihre Sorge ernst und werden uns Ihres Falls annehmen. Haben Sie ein aktuelles Foto von Ihrem Sohn dabei? Und wo können wir ihn antreffen um diese Zeit?«

Meli kramte in ihrer Handtasche, förderte ihr Handy zutage, und wenige Sekunden später drehte sie den Bildschirm zu Sven und Jenny.

»Hübscher Junge«, sagte Jenny sofort. »Wahnsinnig blaue Augen. Können Sie uns dieses Bild bitte schicken? Und alle Infos, die wir sonst noch so benötigen könnten.«

3

Enrique – Donnerstag, nachmittags

 

Tausende Gedanken huschten Enrique durch den Kopf, doch keiner – wirklich keiner – konnte ihn aus seiner aussichtslosen Lage befreien. Wieder hörte er das Klicken, gefolgt von dem Knirschen der Steine, die unter ihm waren. Das allein ließ sein Blut schon erstarren. Leise quietschende Geräusche setzten ein, und das Eisengerüst, auf dem er festgebunden war, neigte sich.Worauf hatte er sich bloß eingelassen? Wieso nahmen sie ihn nicht einfach in ihre Clique auf?

Gleich würde sein Kopf ins Wasser eintauchen und ihm die Luft zum Atmen geraubt werden. Hoffentlich nicht so lange wie beim letzten Mal. Er hörte seine »Freunde« johlen und jubeln. Sie schrien lautstark seinen Namen. »Enrique, Enrique!« Fast klang es wie im Fußballstadion – die Anfeuerungsrufe bei einem Elfmeter. Es war jedes Mal ein Heidenspaß für diese Arschlöcher, wenn es um eine Mutprobe ging.

Diesmal hatten sie sich etwas Besonderes einfallen lassen. Wie immer trafen sie sich an der kleinen Bucht in der Nähe der verlassenen Zementfabrik in El Pajar. Dort, wo die runden Steine aufeinandergeschichtet waren und steil ins Wasser führten. Das war der Lieblingsort der Gang. Denn dort waren sie ungestört. Keine Menschenseele weit und breit. Erst vor wenigen Tagen hatten sie sich das Metallgitter besorgt, das auf dem Gelände der Fabrik zurückgelassen worden war. Wer auch immer auf die Idee gekommen war, diese Art von Mutprobe auszuführen, demjenigen hätte Enrique am liebsten den Hals umgedreht.

Das eiskalte Meerwasser schwappte ihm ins Gesicht, und er hielt die Luft an. Weiter und immer weiter ließen die Jungs ihn ins Meer sinken. Plötzlich stoppte seine Unterlage abrupt. Er richtete ein Stoßgebet gen Himmel, dass dieses abartige Spiel nun ein Ende habe und sie ihn jetzt doch endgültig in ihrer Clique akzeptierten. Doch er spürte nicht den Ruck, der ihm beim ersten Mal signalisiert hatte, dass sie ihn wieder hinaufzogen. Er schwebte fast schwerelos im Meer. So musste sich ein Astronaut fühlen, der im Weltall in einem Shuttle arbeitete. Oft genug hatte er sich Reportagen darüber angesehen und jeden Film, der auch nur am Rande etwas mit der Raumfahrt zu tun hatte, verschlungen.

Es fühlte sich an wie ein Schlag mitten in sein Gesicht, und abrupt öffnete er seine Augen. Um ihn herum war alles schwarz. So schwarz wie die Nacht nie sein könnte. Er drehte seinen Kopf zuerst nach links und dann nach rechts. Seine Augen brannten wie das Höllenfeuer. Doch, nichts. Panik strömte wie Gift in seine Adern, und er zerrte an seinen Fesseln. Vergebens!

¡Qué puta mierda!, schoss es durch sein Hirn. Sein Brustkorb fühlte sich an, als würde ein Felsbrocken darauf liegen, der ihm die letzte Luft aus den Lungen presste. Bunte Lichter flackerten vor seinen Augen auf. Die Schwärze legte sich schützend wie ein Mantel um ihn und riss Enrique mit sich in die Tiefe.

4

Vor 31 Jahren

 

Ein lang gezogenes Knarren bohrte sich durch die Stille des Hauses. Obwohl es mitten in der Nacht war, startete Operation Gänseblümchen. Onkel John hatte die vorletzte Stufe erreicht, und ich schlich leise hinterher. Vater durfte auf keinen Fall aufwachen. Schon seit Tagen hatte Onkel John von nichts anderem mehr geredet. Diesmal durfte ich dabei sein. Meine Hände waren schwitzig vor Aufregung, und mein Herzschlag hatte sich in Sekundenschnelle verdoppelt, als er zu mir ins Zimmer gekommen war und mich geholt hatte. Nochmals kamen mir seine Worte in den Sinn. »Es ist wichtig. Das muss so sein.«

War es richtig oder falsch, was Onkel John machte? Ich wusste es nicht. Woher auch? Ich war doch erst zwölf Jahre alt und tat das, was er mir befahl. Ich erinnerte mich noch genau an den Abend, als ich mich auf seinen Schoß gesetzt hatte und er mir die Geschichte erzählte. Die Geschichte, die wir seit jenem Abend Gänseblümchen nannten. Ein Codewort war doch für jede Operation wichtig. Zumindest in den Serien, die ich mir Nacht für Nacht reinzog. Doch in den Horrorfilmen wurde das nie so gemacht.

»Seit Jahrhunderten wird es so gehandhabt, und es soll Schutz bieten und die Geister fernhalten. Und es zeigte sich im Laufe der Zeit, dass die Behauptungen tatsächlich wahr sind. Auch heute noch wird es so praktiziert auf der ganzen Welt. Es ist nichts Schlimmes daran. Du brauchst dir nur den Stärksten auszusuchen. Schließlich muss es halten. Verstehst du?«

Zärtlich drückte er mich an seinen Körper, und ich nickte, obwohl ich nicht alles verstand, was er sagte. Onkel John war weder mein Onkel noch hieß er John, doch ich spürte diese innere Verbundenheit, dieses unsichtbare Band, das uns von Anfang an miteinander verwurzelt hatte.

Ich erinnerte mich noch gut an seinen Einzug hier ins Haus vor drei Monaten. Im ersten Moment hatte ich nicht verstanden, warum Vater ihn mitgebracht hatte, waren wir doch bisher auch gut ohne einen Mitbewohner ausgekommen. Doch schon in derselben Nacht wurde ich von ihm geweckt. Ich erschrak zu Tode, jedoch lächelte er mich an und legte seinen Zeigefinger auf meinen Mund. Schlaftrunken setzte ich mich im Bett auf.

»Mein Junge! Möchtest du mit mir ein Abenteuer erleben?«, flüsterte er, und seine Stimme hörte sich kratzig an.

Ich war von einer Sekunde auf die andere hellwach und nickte eifrig. Da kam das Bauchkribbeln das erste Mal zum Vorschein, denn wenn es sich hier um nichts Verbotenes handelte, warum kam er mitten in der Nacht in mein Zimmer?

»Gut! Das dachte ich mir. Ich habe dich beobachtet, als du dir heute diesen Film angesehen hast. Du weißt, welchen ich meine, ja?«

Ich nickte, aber nicht mehr mit der gleichen Intensität wie zuvor. Mein Blick senkte sich gen Boden, das schlechte Gewissen hatte mich übermannt. Doch legte er seine Hand unter mein Kinn und zwang mich, ihm in die Augen zu blicken.

»Keine Sorge. Ich erzähle nichts deinem Vater«, sagte er und lächelte mich an, als hätte er mich soeben gelobt. »Hör zu! Ich weihe dich ein in meine Pläne. Du wirst eines Tages in meine Fußstapfen treten. Aber wir brauchen Codenamen. Schließlich sind wir in geheimer Mission unterwegs.«

Ich nickte wieder. Meine Hände begannen zu schwitzen. Das hörte sich alles aufregend an und war genau das, wonach ich die ganze Zeit gesucht hatte.

»Ich bin ab sofort für dich Onkel John. Und du, mein Junge«, sagte er und strich mir durchs Haar. »Du bist mein John-Boy.«

5

Marcos – in einem Tag – Freitag, nachmittags

 

Marcos fixierte den Schalter, der vor ihm auf dem zerkratzten Tisch festgemacht war und ihn fast schon anprangernd anstarrte. Er wollte, nein, er konnte nicht draufdrücken. Nicht wieder diese Schmerzensschreie hören, die zwar aus einer anderen Kehle drangen, aber ihn tief in seinem Inneren erschaudern ließen. Doch würde er den Schalter nicht betätigen, dann würde es ihn – Marcos – treffen. Er würde den Stromstoß abbekommen, der über die Elektroden an seinem nackten Oberkörper wie ein Orkan durch ihn hindurchfegen würde. Sein Körper würde sich abermals in sich zusammenziehen wie ein Kaugummi. Genau so wie es schon einige Male zuvor der Fall gewesen war.

Der Timer, der an der unverputzten Wand hing und den Countdown wie bei einer Bombe herunterzählte, zwang ihn zur Eile. Plötzlich verschwammen die Zahlen vor seinen Augen, und die ganze Situation, in der er sich befand, wirkte mit einem Mal unwirklich. Fast nicht existent. Wieder ertönte die Stimme hinter ihm, und schlagartig war er in der grausamen Realität angekommen, als die Zahl Fünfzehn auf dem Display erschien.

Vierzehn, dreizehn …

»Du oder er?« Es war eher wie ein Flüstern, und vielleicht hatte Marcos sich das auch nur eingebildet.

Zehn.

Wenn er den Schalter nicht betätigte, würde ihn der andere Junge auch verschonen? Doch was brachte es? Würde der Stromstoß dann sie beide treffen, wenn keiner den Schalter drückte?

Sechs.

Und wenn er nicht drückte und der andere Junge doch, dann floss die Energie gleich zweimal in kurzer Zeit durch seinen Körper. Wer war der andere Gefangene dieses Irren? Warum sollte er ihn verschonen?

Drei.

Marcos betätigte den Taster, und im selben Moment hörte er den Schrei aus dem Lautsprecher hinter ihm, der tief aus der Kehle eines Jungen zu kommen schien. Einen Augenaufschlag lang zuckte Marcos zusammen und fragte sich, ob seine Entscheidung richtig oder falsch war. Er selbst konnte den Schmerz nachfühlen, den nun der andere Junge abbekam, und Marcos’ Herz polterte gewaltig gegen seinen Brustkorb. Diese geballte Ladung, die ihn wie ein Torpedo durchschoss und in Windeseile alle Gedanken wegblies, bis auf einen:

Hilfe!

 

6

Sven und Jenny – Donnerstag, nachmittags

 

»Du beschattest Señor Gonzales, und ich werde mir mal anschauen, was der Junge so treibt«, sagte Sven zu Jenny. Meli hatte vor wenigen Minuten das Detektivbüro El Espía verlassen, nicht ohne nochmals darauf hinzuweisen, dass die beiden kein Sterbenswort ihrem Ehemann verraten dürften. Wobei Sven fand, dass dies selbstverständlich war, denn als Detektiv musste man der Schatten der Zielperson sein und durfte um keinen Preis auffallen. Und schon gar niemandem von seinem Auftrag erzählen.

»Ja, ich nehm das Auto, okay? Du den Roller«, sagte Jenny noch, nahm Sven den Schlüssel aus der Hand und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

»Super«, sagte Sven. »Ich krieg wieder das doofe Ding. Ruf mich an, wenn was ist, ja?«

Jenny antwortete nicht mehr, sondern nickte nur, als sie Richtung Tiefgarage lief. Sven schaute auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach sechzehn Uhr. Er las sich die Zeiten, die Meli den beiden aufgeschrieben hatte, nochmals durch. ›16:30 Uhr: Santiago joggen auf der Strandpromenade in Arguineguín.‹ Schnell schwang er sich auf den Roller, den er vor wenigen Wochen günstig erstanden hatte. Das alte Moped, mit dem Jenny ihn anfangs fast umgebracht hatte, hatte er verkauft. Davon abgesehen, dass das Ding mehr Löcher im Blech gehabt hatte als ein Sieb, war es auch noch eine lahme Ente gewesen.

Sven setzte den Helm auf und machte sich auf den Weg in das Städtchen Arguineguín. Das war ihm ganz recht. Denn von der Strandpromenade bis zu dem Reihenhäuschen, das Jenny und er erst seit zwei Wochen ihr Eigen nannten, waren es maximal fünf Minuten Fahrzeit. Na ja, Eigentum war es noch nicht ganz, wenn Sven darüber nachdachte, wie hoch die Kreditrate war, die die Bank jeden Monat von ihnen forderte. Aber der Ausblick von dort entschädigte ihn für alles.

Es waren zwanzig Minuten vergangen, und Sven spazierte am Anfang der Promenade entlang. Er schielte immer wieder auf das Foto auf seinem Handy und musterte alle blonden jungen Männer, die er sah. Doch bisher war Santiago nicht aufgetaucht. Dabei hatte Meli gesagt, dass er jeden Tag hier joggte. Immer zur selben Zeit. Sven lehnte sich an die Metallbrüstung. Hinter sich hörte er das Meer rauschen, das sich an der betonierten Mauer des Naturschwimmbeckens brach. Er seufzte laut, und die salzgeschwängerte Luft kroch in seine Nase.

Vielleicht ist Santiago heute etwas dazwischengekommen? 16:37 Uhr zeigte seine Armbanduhr an. Gedanklich ging er das Gespräch mit Meli nochmals durch. Sie selbst wohnte mit ihrem Mann und Santiago in einem der Häuser, die direkt neben dem Einkaufszentrum Ancora standen. Und Santiago nahm – zumindest sagte das Meli – immer dieselbe Strecke Richtung Promenade. Anfangs waren sie und ihr Sohn gemeinsam joggen gegangen, bis sich Melis Dienstplan geändert hatte.

Sven musste an der richtigen Stelle sein. In einem kleinen italienischen Restaurant direkt an dem neu angelegten Naturschwimmbecken nahm er an einem der Tische Platz. Genau hier muss er vorbeikommen, dachte Sven und schaute sich wieder nach allen Seiten um. Das wäre der kürzeste Weg von Santiagos Zuhause. Als der Kellner zum Tisch kam, bestellte er sich eine Cola, die er sofort bezahlte.

Sein Handy gab einen Piepton von sich, und schon allein der Name, der auf dem Display erschien, schnürte ihm die Kehle zu. Stefanie! Wie lang war das wohl her, dass ausgerechnet sie sich bei ihm gemeldet hatte?Er las die Nachricht: ›BRAUCHE DEINE HILFE!‹

»Natürlich brauchst du meine Hilfe«, murmelte er leise vor sich hin und kontrollierte mit seinen Augen wieder die Promenade. Immer wenn du etwas brauchst, meldest du dich. Ansonsten nicht.

Er steckte sein Telefon in die Hosentasche zurück. Im Moment wollte er ihr nicht antworten. Das wird warten müssen. So dringend kann es wohl kaum sein. Vermutlich ging es mal wieder ums liebe Geld. Doch diesmal würde er hart bleiben, auch wenn ihm Roman leidtat. Der Kleine würde wohl ewig unter seiner Mutter und ganz besonders unter dem Einfluss seiner Großmutter leiden müssen.

Die Gedanken an Stefanie beschäftigten ihn, obwohl er es nicht wollte, und er zwang sich, aufmerksam zu sein, damit er Santiago auf keinen Fall verpasste. Doch auch als Sven sein Glas geleert hatte, war Santiago immer noch nicht aufgetaucht. In seiner Hosentasche vibrierte es. Er holte das Handy heraus und nahm ab.

»Hallo, Schatzi«, flötete er ins Telefon.

»Hey«, sagte Jenny. »Gibt es was Neues bei dir?«

»Nein, der Junge ist nicht aufgetaucht. Ich denke, ich muss mich morgen näher am Haus postieren. Anscheinend nimmt Santiago doch einen anderen Weg.«

»Okay. Bei mir gibt es auch nichts. Unser Auftraggeber wird vermutlich nicht erfreut sein, dass sein Angestellter die ihm aufgetragene Arbeit erledigt. Oder vielleicht doch?« Sie kicherte.

»Was essen wir heute?«, fragte Sven, und sein Magen knurrte wie auf Befehl.

»Du immer mit deinem Essensding. Als ob wir keine anderen Sorgen hätten.«

»Haben wir auch nicht. Also, zumindest im Moment nicht.«

»Ich kann uns ja schnell was kochen, wenn ich zu Hause bin, was meinst du?«

Sven dachte an das letzte Gericht, das sie ihm vorgesetzt hatte. Irgendwelche gelben Körner mit Gemüse oder so.

»Lass uns doch zu Julia essen gehen. Was hältst du davon?«

Jenny lachte und sagte: »Alles klar, der Herr braucht Fleisch. Ich muss Schluss machen, Señor Gonzales fährt nun weiter. Bis später.«

Das Gespräch war beendet. Wie konnte sie ihn bloß so schnell durchschauen? Er musste schmunzeln bei dem Gedanken. Die beiden waren seit nicht mal einem Jahr ein Paar, und doch kannte sie ihn besser als er sich selbst.

Seit einer Stunde saß er schon in diesem Restaurant. Er wippte mit dem Fuß und trommelte mit seinen Fingern auf den Oberschenkel. Innerlich verfluchte er sich, dass er hier sitzen musste und nicht wie Jenny zumindest jemanden verfolgen konnte. Allem Anschein nach wollte der junge Mann heute nicht kommen. Somit beschloss Sven, näher an Santiagos Zuhause heranzufahren, um ihn vielleicht dort zu sehen.

Minuten später fuhr er auf den geschotterten Parkplatz gegenüber dem Wohnhaus. Ja, von hier habe ich eine gute Sicht auf das Haus. Allerdings war auch er für jedermann gut sichtbar und somit auffällig. Er stellte den Roller ab und positionierte sich auf einer der etlichen Stufen, die durch eine Art Barranco auf die gegenüberliegende Straße führten. Es dauerte nicht lange, und er sah einen jungen Mann, der die Straße entlangjoggte. Ein prüfender Blick auf das Display seines Handys verriet Sven, dass es sich hierbei um Santiago handeln musste. Kurz darauf verschwand er im Haus.

Verfickte Scheiße, dachte Sven. Warum hab ich ihn nicht gesehen? Wo war der Junge bloß?

7

Marcos – in einem Tag – Freitag, nachmittags

 

Ein Gong ertönte, wie bei einem Boxkampf. War das Spiel dieses Psychos vorbei? Doch was würde nun passieren? Wie von Geisterhand legte sich ein Tuch um seine Augen und nahm ihm die Sicht auf seine Umgebung. Die Fesseln an seinen Füßen, die an den Stuhlbeinen festgebunden waren, lockerten sich, und der Druck verschwand vollständig. Genauso bei seiner linken Hand, die Sekunden zuvor noch mit Paketband an der Handstütze festgemacht war – fast so als wären beide zu einem Teil zusammengeschmolzen. Zumindest spürte er seine Hand wieder, was ihm fürchterliche Schmerzen bereitete, da nun das Blut in seinen Adern wieder ungehindert fließen konnte.

Wieso machte der Typ das? Warum passierte das alles? Und vor allem – warum passiert das ausgerechnet mir?

Mit einem Ruck wurde Marcos an seinem Oberarm vom Stuhl hochgezogen. »Stehen bleiben!«, erklang es in einer tiefen, sonoren Stimmlage. Das war allerdings eine andere Stimme als die, die mit ihm während des Psychospielchens mit dem Schalter gesprochen hatte. Zumindest kam es Marcos so vor, und er überlegte, ob er seinen Peiniger nicht vielleicht sogar kannte. Angestrengt versuchte er, sich zu erinnern.

---ENDE DER LESEPROBE---