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Was ist schlimmer als die Angst? Vielleicht die Gewissheit, dass sie begründet ist. Ein Luxushotel auf Gran Canaria. Eine Schlagershow, die niemals stattfinden wird. Und ein Sänger, der jede Stunde daran erinnert wird, dass seine Zeit abläuft. Das Privatermittlerpaar Sven und Jenny erreicht der Hilferuf des Besitzers einer bekannten Schlagerkneipe in Playa del Inglés. Basti Röhre, der Star des Abends, wird bedroht, sodass er sich weigert, sein Hotelzimmer zu verlassen, und seinen Auftritt absagen will. Er bekommt jede Stunde einen Strauß Beerdigungsblumen geliefert, dem eine eindeutige Botschaft beigefügt ist: Jemand trachtet Basti nach dem Leben. Doch dem Schlagersänger fällt niemand ein, der seinen Tod wollen könnte, und Sven und Jenny beginnen ohne Verdächtigen und ohne jeglichen Anhaltspunkt zu ermitteln. Als sie sich schon mit dem Gedanken abgefunden haben, dass Basti nicht mit offenen Karten spielt und sie sogar belügt, geschieht ein schrecklicher Unfall im Umfeld des Sängers. Plötzlich liegen die Spuren offen vor ihnen; sie führen weit in Bastis Vergangenheit, zu Enttäuschung, Verletzung und bitterer Rache. Alle Fälle sind in sich abgeschlossen und können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
AUSweglos
Team Gran Canaria - Band 4
von
Drea Summer
1. Auflage, 2023
© Alle Rechte vorbehalten.
Drea Summer
Los Tenderetitos, L 134
35100 San Fernando
San Bartolomé de Tirajana
Las Palmas de Gran Canaria
Spanien
Lektorat/Korrektorat: Lektorat TextFlow by Sascha Rimpl Covergestaltung ©Dream Design – Cover and Art
Covermotiv © 1. AdobeStock_62094850
2. Depositphotos_12409513_XL
3. Depositphotos_27784115_XL
Quellen:
1: https://stock.adobe.com/de
2,3:www.depositphotos.com
AUSweglos – Team Gran Canaria
Was ist schlimmer als die Angst?
Das Privatermittlerpaar Sven und Jenny erreicht der Hilferuf des Besitzers einer bekannten Schlagerkneipe in Playa del Inglés. Basti Röhre, der Star des Abends, wird bedroht, sodass er sich weigert, sein Hotelzimmer zu verlassen, und seinen Auftritt absagen will. Er bekommt jede Stunde einen Strauß Beerdigungsblumen geliefert, dem eine eindeutige Botschaft beigefügt ist: Jemand trachtet Basti nach dem Leben. Doch dem Schlagersänger fällt niemand ein, der seinen Tod wollen könnte, und Sven und Jenny beginnen ohne Verdächtigen und ohne jeglichen Anhaltspunkt zu ermitteln.
Als sie sich schon mit dem Gedanken abgefunden haben, dass Basti nicht mit offenen Karten spielt und sie sogar belügt, geschieht ein tödlicher Unfall im Umfeld des Sängers. Plötzlich liegen die Spuren offen vor ihnen; sie führen weit in Bastis Vergangenheit, zu Enttäuschung, Verletzung und bitterer Rache.
Ius talionis
Auge um Auge – Zahn um Zahn
Mein persönlicher Albtraum
Liebes Tagebuch,
ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon hier bin. Die Zeit verschmilzt mit Sonne und Mond zu Wärme, die auf eisige Gletscher trifft. An vielen Tagen herrscht bewölkte Stimmung in meinem Hirn. Es ist düster, und ich bekomme keinen klaren Gedanken zu fassen. Dafür fühle ich mich leicht und unbeschwert, fast schon glücklich. Zumindest glaub ich, dass es Glück ist. »Es war einmal …« So würde meine Geschichte beginnen. »Es war einmal eine Frau, die glücklich war. Die vor Glück strahlte an ihrem Hochzeitstag. Die fast schon vor Glück platzte bei der Geburt ihres Sohnes.« Aber ich weiß, dass mein Glück, seitdem ich hier bin, nur durch die Pillen heraufbeschworen wird, die mir der nette junge Pfleger mit seinem charmanten Lächeln täglich verabreicht. Denn das Glück war mir nicht hold.
Doch es gibt auch Tage wie diesen. An denen die Wolken in meinem Schädel verschwunden sind und mein Verstand messerscharf arbeitet. Und an solchen Tagen vermisse ich sie. So stark, dass es mir das Herz vor lauter Sehnsucht aus der Brust reißt. Weil mein Glück zerstört wurde. Von ihm. Und ich nichts dagegen tun konnte. Machtlos meinen Untergang mit ansehen musste, weil ich zuerst nicht verstand, was überhaupt vor sich ging. Und als ich kapierte, dass er Stück für Stück mein Leben zerstörte, kapitulierte meine Seele. Und seitdem bin ich hier. In meinem Zimmer, das trostloser nicht sein könnte.
Auch heute habe ich diese Tabletten bekommen und es wieder geschafft, sie nicht meine Kehle hinunterzuwürgen. Ich muss lernen, diesen Schmerz zu ertragen, auch wenn ich es niemals verstehe. Auch wenn mein Verstand weiterhin an dieser Wahrheit zerbricht und ich vermutlich niemals wieder ein normales Leben führen kann. Ich muss! Ich bin es ihnen schuldig. Ihnen allen!
Es tut mir leid. Alles. Wirklich. Das musst du mir glauben. Ich war verrückt genug, anzunehmen, dass wir mit diesem Unfall davonkommen würden. An Tagen wie heute sehe ich ihre Augen vor mir, als wäre es gestern gewesen. Weit aufgerissen, voller Angst. Höre den dumpfen Aufprall auf der Motorhaube, bevor die Bremsen quietschten. Spüre die Panik, die in dem Augenblick in mir aufstieg, als Klara das Gaspedal durchtrat. Der Albtraum hat an jenem Tag begonnen. Mein persönlicher Albtraum, der niemals wieder enden wird.
1
Playa del Inglés, Hotel Flores – Zimmer 4524
7:51 Uhr
Sebastian Rohr wuchtete seinen Koffer auf das Bett in seiner Suite. Schon die Fotos, die er von dem exklusiven Hotel im Internet gesehen hatte, hatten ihn schwer beeindruckt. Der Ausblick vom Balkon über die Dünen von Maspalomas ließ die Vorfreude auf seinen großen Auftritt ins Unermessliche wachsen. Heute Abend war er zu einer großen Party im Einkaufszentrum Cita eingeladen worden. Genauer gesagt, in den Schlagerpalast von Dirk und seinem Ehemann Joe. Er kannte die Besitzer von einer Kneipe am Ballermann, in der er hin und wieder seine Songs zum Besten gab. Als die beiden vor zwei Jahren nach Gran Canaria auswanderten, war klar, dass es auf der Kanareninsel ein Wiedersehen geben würde. Seitdem reiste er regelmäßig hierher und hatte auch schon die eine oder andere Bekanntschaft mit weiteren Clubbesitzern gemacht, die an einer Zusammenarbeit mit ihm interessiert waren.
Als er seinen Koffer öffnete, glitzerte ihm das erste Kostüm entgegen. Er holte den Anzug, der mit unzähligen Strasssteinchen besetzt war, heraus und hängte ihn in den Schrank. Nachdem er fertig ausgepackt hatte, sank er auf einen der Stühle auf dem Balkon, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch.
Er hatte alles erreicht in seinem Leben, was er hatte erreichen wollen. Er war der Star unter all den Sternchen der Ballermann-Sänger. Tausende von Leuten jubelten ihm zu und grölten mit, wenn er seine Lieder in den großen Discos auf Mallorca performte. Er war der Größte, der Beste, einfach der Geilste.
Sebastian hatte noch gut neun Stunden Zeit, bis er sich im Schlagerpalast vorbereiten musste. In zehn Stunden begann die Show, und da galt es abzuliefern. Doch es war nur ein Kostüm, das er überzog. Eine Maske zum An- und Ausziehen. Er verwandelte sich in Basti Röhre, den beliebtesten Partysänger Mallorcas – und bald vielleicht auch Gran Canarias. Der ewige Frühling, den diese Insel bot, wäre für sein Geschäft ideal. Das ganze Jahr waren die Läden geöffnet, nicht wie in Mallorca, wo im Winter die Gehsteige hochgeklappt wurden.
Definitiv ist es eine Überlegung wert, sich das alles hier ein wenig genauer anzusehen.
Sebastian lächelte bei dem Gedanken und dachte an seine Oma, die ihn damals vor mehr als vierzig Jahren immer wieder ermutigt hatte zu singen. Stets hatte sie gesagt, es wäre ihr Traum, irgendwo mit ihm am Strand zu sitzen und ein Lied nach dem anderen zu trällern. Dort zu leben, wo es immer warm war, nicht wie im kalten, schneereichen Winter in Einöden, eine gute Stunde von Salzburg entfernt, wo das Wetter meist genauso dunkel und eintönig war wie die knapp dreihundert Bewohner des Dorfes. Wie gerne hätte er ihr diesen Traum erfüllt und auch heute noch mit ihr das eine oder andere Liedchen gesungen. Ihre Stimme drängte sich in seinen Gehörgang, und er versank in dem Gefühl der Geborgenheit, das er immer gespürt hatte, wenn seine Oma ihn fest an ihre Brust gedrückt hatte.
Das Klopfen an der Tür riss ihn aus der Vergangenheit, und mit einem Seufzen schlurfte er dem Störenfried entgegen. Er öffnete, und ein gut gekleideter junger Mann hielt ihm mit einem aufgesetzten Lächeln einen Strauß weißer Blumen hin, der in einer Glasvase steckte.
»Das wurde für Sie von einem Boten abgegeben«, sagte der Page und entfernte sich eilig.
Sebastian ließ die Tür ins Schloss fallen und stellte die Blumen auf dem kleinen Tisch ab, der ebenso als Schreibtisch und Schminktisch fungierte. Wie bei einer Beerdigung, huschte ihm durch den Kopf, als er die anderen beiden Sträuße betrachtete, die bereits auf dem Tisch gestanden hatten, als er in die Suite gekommen war. Die gleichen weißen Blumen. Und doch schienen sie sich optisch voneinander zu unterscheiden. Wer schickte drei Sträuße mit derselben Sorte Blumen? Das konnte doch nur ein Scherz sein, oder? Er inspizierte die Sträuße genauer, und da fiel ihm die kleine rote Karte auf, die an dem neuen Strauß festgemacht war. Sicher irgendein verrückter weiblicher Fan, der mir dadurch seine Liebe gestehen will, dachte er sich. Er begab sich wieder auf den Balkon, setzte sich und öffnete die Karte. Schweißperlen bildeten sich schon bei den ersten drei Worten, die in einer geschwungenen Handschrift geschrieben worden waren, auf seiner Stirn.
»Todesblumen für dich«, stammelte er heiser. Es kam ihm vor, als ob sich ein riesiger Felsbrocken auf seinen Brustkorb gelegt hätte. Seine Gedanken von vorhin brannten sich wie ein Branding in sein Hirn. Blumenschmuck einer Beerdigung. Er räusperte sich und las weiter. »Was wäre, wenn du deinen Todestag kennen würdest?« Keine Unterschrift. Kein Absender.
Ein böser Scherz, dachte er. Jemand will dir Angst machen. Er durchforstete sein Hirn nach Personen, Neidern … nach allen, die ihm vielleicht etwas anhaben wollten und ihm seinen Erfolg nicht gönnten.
Da kam ihm Bianca in den Sinn. Diese kleine Bestie, diese Furie, dieser Drachen … Für sie fiel ihm nicht einmal ein richtiger Ausdruck ein. Seine Ex-Frau, dieses blutsaugende Individuum! In den letzten fünf Jahren seit der Scheidung war zwischen den beiden eine Hassliebe entstanden. Sie konnten nicht miteinander, aber ohneeinander auch nicht. Und doch verdrängte er den Gedanken an sie wieder. Ex-Frauen konnte man nicht mehr lieben, aber auch nicht aus dem Leben verbannen. Schon gar nicht, wenn noch eine Tochter dazwischenstand.
Er erhob sich wieder und blickte hinaus auf das Meer, dessen Wellen in der Sonne glitzerten. Bianca konnte ihm diese Todesdrohung nicht gesandt haben. Für sie war er lebend weit mehr wert als tot, da er sie aus seinem Testament gestrichen hatte. Den Großteil seines Vermögens würde seine Tochter erben, und mit einem weiteren Teil hatte er ein Kinderhospiz bedacht. Davon abgesehen bezahlte er pünktlich zum Ersten des Monats die Alimente für seine Tochter. Immer! Und natürlich auch den freiwilligen Unterhalt für seine faule Ex-Frau, die sich auf seinen Lorbeeren ausruhte. Besser Geld geben, als Stress haben.
Wieder glitt sein Blick zu den Blumensträußen im Innenraum. Es waren weiße Blumen, dessen Blüten aussahen wie zusammengerolltes Papier. Er war kein Blumenfreund, daher war ihm der Name unbekannt. Oma hätte ihn bestimmt gewusst, denn sie hatte weiße Blumen geliebt, weswegen er damals auch einen Strauß davon auf ihren weißen Sarg hatte legen lassen.
Hatte er sich einen Künstler zum Feind gemacht, der sich wegen seines Auftritts im Schlagerpalast auf den Schlips getreten fühlte? Doch er wischte den Gedanken beiseite. Niemand würde ihm deswegen eine Todesdrohung aussprechen. Und wenn doch …
Noch einmal betrachtete er die Botschaft. Sollte er die Drohung wirklich ernst nehmen? Oder wollte jemand damit erreichen, dass er Angst bekam und den bevorstehenden Auftritt absagte? Doch hatte der Auftritt überhaupt etwas damit zu tun? Fragen über Fragen schwirrten durch sein Hirn wie eine Horde Bienen über einem Lavendelfeld.
Sosehr er sich bemühte und seinen Blick auf die Dünen und das Meer lenkte, es fiel ihm schwer, nicht darüber nachzudenken. Was wäre, wenn diese Drohung doch ernst gemeint war?
2
AIDA Nova
9:11 Uhr
Jenny packte gerade die restliche Kleidung in die Koffer. Eine siebentägige Kreuzfahrt lag hinter ihr und Sven. Sie waren mit der AIDA Nova von einer Kanareninsel zur nächsten gefahren, und sogar die portugiesische Insel Madeira lag auf der Route. Ein wenig Wehmut kam in Sven auf, als er daran dachte, dass ihr Urlaub vorbei war. Aber die Ereignisse der letzten beiden Tage hatten bei ihm keinerlei Urlaubsstimmung mehr aufkommen lassen. Sie waren auf Lügen, Intrigen und ein großes Familiengeheimnis gestoßen. Und all das nur, weil den beiden eine Frau mit blutverschmierten Händen im Flur des Kreuzfahrtschiffes begegnet war.
»Sag mal, was hat der Kapitän gestern den Passagieren erzählt, als das Schiff am Auslaufen gehindert wurde?«, fragte er.
»Es kam eine Durchsage, dass aufgrund eines technischen Defekts das Schiff noch eine Weile im Hafen liegen bleiben muss, aber die Gäste sich keine Sorgen machen sollten und wir trotzdem pünktlich in Gran Canaria anlegen könnten. Klar, ist ja auch nur ein Katzensprung von Lanzarote nach Gran Canaria. Der Kapitän braucht nur ein bisschen schneller zu fahren.«
»Technischer Defekt …« Sven lachte auf. »Was anderes: Wann haben die noch mal gesagt, dass sie kommen wollen?«
»Wer sind ›die‹?«
»Meine Mutter, meine Schwester, mein Schwager und mein kleiner Neffe. Wer sonst?«
»Um elf kommt der Flieger an. Das weißt du doch. Gehen wir heute Abend essen? Alle gemeinsam?«
»Ja, ist sicher besser so. Dann kannst du mehr Zeit mit meiner Mutter und meiner Schwester verbringen. Mädelssachen machen halt.«
»Alles klar. Und die großen Jungs schauen dann auf den kleinen Jungen, ja? Lieb von euch.« Jenny zwinkerte ihm zu, bevor sie ins Badezimmer verschwand und die restlichen Sachen holte.
»Dann ruf ich bei Micha im Abrasa an und reservier einen Tisch für sechs Personen. Auf das Steak freu ich mich jetzt schon.« Sven griff zu seinem Handy, aber noch bevor er die grüne Taste für den Anruf bei Micha anwählen konnte, klingelte es. »Unbekannter Teilnehmer« stand auf dem Display.
»Wagner?«
»Hallo, Sven«, erklang eine dunkle Männerstimme am anderen Ende der Leitung. Im ersten Moment konnte Sven nicht zuordnen, wem diese gehörte. »Ich bin’s, Joe vom Schlagerpalast.«
»Ah, servus. Was kann ich für dich tun?« Noch immer überlegte Sven krampfhaft, wer dieser ominöse Joe vom Schlagerpalast war und wieso er ihn kennen sollte. Mit Schlager hatte er so viel am Hut wie mit Eislaufen im Sommer.
»Hör mal. Wir haben ein Problem mit einem unserer Stars für heute Nacht. Wie es scheint, bekommt er Morddrohungen, und nun bräuchte er einen Bodyguard, der ihn beschützt.«
Sven richtete sich kerzengerade auf. »Morddrohungen? Warum wendest du dich da an mich und nicht an die Polizei? Ich bin Privatermittler und kein Personenschützer.«
»Die Sache ist die, dass die Polizei nichts unternehmen kann, denn derzeit scheinen es nur leere Drohungen zu sein. Nicht mehr, nicht weniger. Du weißt doch selbst, wie das ist, wenn man Beamte einschaltet. Die stellen viele Fragen, auf die man keine Antwort weiß, und nichts passiert. Und auf die Schnelle ist auch kein Bodyguard zu finden. Die haben ja nicht auf uns gewartet, verstehst du? Am besten ist, du kommst zu uns und machst dir selbst ein Bild. Wir bezahlen auch mehr als das Übliche, aber bitte komm schnell!«
Es war nur ein kurzer Moment, in dem Sven zögerte. Aber die überdurchschnittliche Bezahlung würde dem abgemagerten Konto der Detektei wieder zu einer kleinen Rundung um die Hüfte verhelfen, deswegen nahm er den Auftrag an. »Und wo soll ich hinkommen?« Sven schaute fragend zu Jenny, die mit ihren Schultern zuckte.
»Kennst du das Hotel Flores in Playa del Inglés? Zimmer 4524. Wann kannst du da sein?«
»Ich brauch sicher mehr als zwei Stunden. Aber wir kommen.« Sven wartete den Abschiedsgruß nicht ab, sondern legte auf. Joes Worte hinterließen einen bitteren Nachgeschmack. Sven war nicht die erste Wahl für diesen Job gewesen und vermutlich auch nicht die zweite. Und doch war er froh, dass Joe ihn überhaupt um Hilfe bat.
»Ich weiß, wer Joe ist.« Jenny schmunzelte. »Das wird dir jetzt ganz und gar nicht gefallen. Er und sein Mann sind die Inhaber dieser Schunkelbar in der Cita. Kannst du dich noch erinnern, als wir mit Eva und Frank dort waren? Eva hat ihren Geburtstag im Schlagerpalast gefeiert. Das ist sicher schon drei Jahre her oder so.«
»Oh nein«, sagte Sven. »Das war grausam dort. Wenn ich an die Musik denke, gruselt es mich jetzt noch. Aber wir sollen doch zum Hotel kommen. Da bleiben wir hoffentlich verschont von diesem Schlagerzeugs.«
»Dann hoffen wir mal das Beste.«
***
Fast drei Stunden später standen die beiden vor den riesigen Toren des Hotels, das eher einem Palast glich. Der dunkle Anstrich und die Fenster mit den Kreuzen verliehen dem Gebäude einen exklusiven Charme.
»Wow, was da wohl ein Zimmer kostet?«, fragte Jenny.
»Eine Stange Geld, mein Schatzi.«
»Ich möchte auch mal in so einem Hotel meinen Urlaub verbringen.«
»Wir hatten doch gerade erst Urlaub. Unsere Koffer sind sogar noch im Auto.« Sven lachte. »Aber wir haben es um einiges besser als die meisten. Schließlich wohnen wir dort, wo andere Urlaub machen. Sonne, Strand, Meer – wir haben alles direkt vor unserer Haustür. Komm jetzt. Lass uns das Zimmer suchen. Vierter Stock, vermute ich mal.«
Sie betraten die riesige Eingangshalle, die mit einem hellen Marmorboden und dunklen Möbeln ausgestattet war. Keine Minute später fanden sie den mit glitzernden Schnörkeln verzierten Lift.
»Ist das echtes Gold?«, flüsterte Jenny, und die Türen öffneten sich. Der Boden des Fahrstuhls war mit einem roten Teppich ausgelegt, und die Tasten der einzelnen Etagen leuchteten golden. »Ich nehm alles zurück. In so ein Hotel möchte ich nicht. Da komm ich mir vor wie eine graue Maus.«
»Du bist die schönste graue Maus, die ich kenne«, sagte Sven und zwinkerte ihr zu.
»Wow, was bist du heute für ein Charmeur! So nett kenn ich dich ja gar nicht.«
»Wenn ich dir mal ein Kompliment mache, dann passt es nicht. Wenn ich keines mache, dann passt es nicht. Was auch immer ich mache, es scheint falsch zu sein.« Er zog eine Schnute.
»Oh! Pobrecito!« Sie streichelte über seine Wange, wie eine Mutter, die ihren Sohn tröstete.
Ein leises Ping ertönte, und die Türen öffneten sich. Sven sprang einen Schritt zurück, legte seine Hand auf die Wange und machte ein entsetztes Gesicht. »Nicht anfassen! Lass das. Was sollen bloß die Leute denken?«
Jenny kicherte.
Nach minutenlanger Suche in dem scheinbar endlos langen Gang hatten sie das Zimmer gefunden. Sven klopfte an die Tür. Von innen erklangen Männerstimmen, die sich nach einem handfesten Streit anhörten. Svens Puls erhöhte sich sofort, und er dachte, dass vielleicht jemand die Todesdrohung wahr machte und sich im Inneren soeben eine Bluttat abspielte. Energischer hämmerte er mit der Faust gegen die Tür.
»Aufmachen! Hier ist Sven Wagner.«
Mental bereitete er sich bereits auf einen Kampf mit dem unbekannten Gegner vor, der jeden Moment vor ihm stehen würde.
3
Playa del Inglés, Hotel Flores – Zimmer 4524
12:17 Uhr
»Du hast es anscheinend nicht verstanden!«, schrie Sebastian, packte einen der mittlerweile vier Blumensträuße und warf ihn Joe vor seine blank polierten schwarzen Schuhe. »Da meint es jemand echt ernst! Jeder dieser Sträuße hat eine Blüte weniger. Und die Botschaften sind wohl mehr als eindeutig. Ich kann bei euch nicht singen. Ich werde abreisen, und zwar sofort.«
»Aber«, versuchte Joe zu beschwichtigen, »wir haben dir doch einen Bodyguard besorgt. Er wird auf dich aufpassen. Ich bin mir sicher, dass es nur ein böser Scherz ist mit den Blumen und den Kärtchen. Vielleicht will derjenige erreichen, dass du vor Angst wieder abhaust. Und du gibst ihm damit genau das, was er will.« Seine blauen Augen fixierten Sebastian, und doch schwang in seinen Worten Mitgefühl mit. Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch sein schwarz gefärbtes Haar, das mit mindestens einem Kilo Gel nach hinten drapiert worden war.
»Es ist mir egal …«, wütete Sebastian weiter und stopfte bereits seine Kostüme in den Koffer. Es hämmerte an der Tür. »Da! Siehst du? Da draußen steht er schon und will mich umbringen.«
»Bitte!«, sagte Dirk, der bisher geschwiegen hatte. Auf seinen Wangen prangten rote Flecken. »Wenn dir jemand etwas antun will, wird er wohl kaum an die Tür klopfen. Das ist sicher Sven.«
Im gleichen Moment wurde das Hämmern lauter, und eine Männerstimme erklang: »Aufmachen! Hier ist Sven Wagner.«
Dirk betätigte die Klinke, und Sebastian sah einen großen Mann, sicher einen Meter neunzig, mit braunen Haaren, die wie Stacheln vom Kopf abstanden. Dahinter eine zierliche Frau, einen halben Kopf kleiner als er. Sie betraten gemeinsam die Suite und wurden von Dirk begrüßt.
»Hallo, ihr zwei. Danke, dass ihr so schnell vorbeikommen konntet.«
»Das ist doch jetzt nicht euer Ernst«, polterte Sebastian los und schmiss das letzte Kostüm, das er soeben aus dem Schrank geholt hatte, in den Koffer. »Was soll die Frau hier? Meinem Mörder schöne Augen machen und hoffen, dass sie ihn rumkriegt, damit er mich nicht umbringt?«
»Mein Name ist Sven Wagner«, sagte der Mann. »Das ist meine Partnerin Jenny. Ihre Aufgabe ist es, zu beobachten und mir in Gefahrensituationen sofort Bescheid zu geben. Und eine hübsche Frau, die sich unter die Leute mischt, fällt wohl nicht so auf wie ein Haufen wild gewordener Bodyguards. Finden Sie nicht?«
Sebastian kam es so vor, als ob dieser Sven mit seinen Zähnen knirschte, aber das konnte auch Einbildung sein. Sven war sehr nahe an ihn herangetreten. Sein Lächeln wirkte freundlich, aber seine Fäuste waren geballt.
Sebastian trat einen Schritt zurück und hob seine Hände vor den Brustkorb. »Schon gut! Alles klar. Ich sehe, Sie haben alles bestens im Griff. Also Sie und Ihre Partnerin. Aber mein Entschluss steht fest, ich werde abreisen. Somit danke ich Ihnen für Ihre Dienste, doch ich werde sie nicht brauchen.«
»Können Sie uns vielleicht mal aufklären, was hier eigentlich los ist?«, fragte Jenny in die Runde, dabei blickte sie jedem Einzelnen direkt in die Augen.
»Mein Leben wird bedroht«, sagte Sebastian. »Irgendjemand schickt mir Blumen. Jeder Strauß hat eine Blüte weniger. Zuerst waren es zehn Blüten, dann neun, dann acht, jetzt sieben. Und dann noch die Nachrichten … Todesdrohungen … Das ist los.« Er schloss hörbar seinen Koffer und holte ihn umständlich vom Bett. »Und wenn Sie mich nun entschuldigen würden …«
Sebastian schritt zur Tür, da sagte Sven: »Es kann gut möglich sein, dass Sie weiterhin in Gefahr sind. Zuerst sollten wir herausfinden, wer Ihnen diese Botschaft schickt und aus welchem Grund. Jemand hat es auf Sie abgesehen, und ich glaube nicht, dass derjenige damit aufhören wird, nur weil Sie in einen Flieger steigen.«
Sebastian hatte das Gefühl, dass in diesem Moment all der Sauerstoff im Raum verbraucht war und er giftige Dämpfe einatmete. So sehr brannte der Atemzug in seinem Brustkorb. Er drehte sich um, entschlossen, dem eingebildeten Kerl mit seiner Tussi gehörig die Meinung zu sagen, doch sein Verstand setzte wieder ein. Die Wut war blitzartig verraucht, und die Angst kroch durch seine Venen und nahm immer mehr Besitz von seinem Körper. »Verdammt!« Sebastians Stimme war brüchig und sein Mund ausgetrocknet. Was tun? Was tun? WAS TUN?
»Ich schlage vor, Sie bleiben erst mal hier und erzählen, was passiert ist«, sagte Jenny und bedeutete ihm, sich auf das Bett zu setzen. »Und vor allem, wer Ihnen etwas antun möchte und anscheinend nach Ihrem Leben trachtet.«
Ein Beben erschütterte Sebastians Körper, das gleich wieder abklang. Nur das Zittern seiner Hände war geblieben. Er stellte den Koffer vor der Tür ab, schritt wie ein geprügelter Hund zum Bett und ließ sich auf die Matratzenkante sinken. Das kann doch alles nicht wahr sein!, huschte durch seinen Kopf. Und doch war es wahr, wenn er in die betretenen Gesichter der Anwesenden blickte.
Ein tiefer Seufzer erklang, bevor er seine Stimme wiederfand und erzählte, was in den letzten vier Stunden passiert war. »Als ich heute Morgen in die Suite kam, standen schon zwei Sträuße auf dem Tisch. Dann brachte mir der Page um acht Uhr morgens einen weiteren Strauß derselben Blumensorte. Diesmal mit einer Botschaft auf dem kleinen Kärtchen. Die erste Botschaft, ja, klang bedrohlich, aber die kann auch von einem Spinner geschrieben worden sein, der sich nur wichtigmachen will.«
»Und was war das für eine Botschaft?«, fragte der Privatdetektiv nach.
»Todesblumen für dich.« Sebastian ging zum Tisch und holte das rote Grußkärtchen, das er ihm überreichte. Sven las kurz und gab es an seine Partnerin weiter.
»Doch als der Page ein zweites Mal an meine Tür geklopft hat, wieder mit einem Blumenstrauß in seiner Hand, sind mir fast die Knie weggesackt. Es waren nur mehr sieben Blumen. Und es war genau eine Stunde vergangen.« Hilfesuchend blickte Sebastian sich um.
»Das heißt, jeder Strauß hat eine Blüte weniger«, sagte Sven. »Wie ein Countdown. Zehn, neun, acht, sieben. Verstehe. Und da haben Sie beschlossen, Joe und Dirk zu informieren, dass Sie in Gefahr schweben. War beim letzten Strauß, der gebracht wurde, auch eine Nachricht dabei? Und wer hat die ersten beiden hier reingestellt?«
Sebastian hievte sich umständlich von der Bettkante hoch. »Der Page brachte sie ins Zimmer, bevor ich es bezog, vermute ich mal. Sie waren schon hier, als ich gekommen bin. Das sagte ich doch schon. Das hier ist die Botschaft, die beim letzten Strauß dabei war.« Er holte das blau Kärtchen von der Kommode und hielt es Sven hin. »›Der Sand in der Sanduhr rieselt.‹ Das ist alles. Doch es sagt viel aus. Jemand will mich tot sehen, und die Blumen sind der Countdown.«
»Das sind Callas«, warf Jenny ein. »Ich hab mal in einem Blumenladen gejobbt. Das ist die Todesblume schlechthin. Allerdings bedeutet sie in der Trauerfloristik ewiges und friedliches Leben. Ich bin mir nicht sicher, ob der Täter sich dieser Botschaft auch bewusst ist, oder ob es einen anderen Grund gibt, wieso er diese Blumengattung gewählt hat.«
»Also, wann haben Sie die erste Blumenlieferung selbst entgegengenommen?«, fragte Sven und bedachte Sebastian mit einem mitleidsvollen Blick.
»Um kurz vor acht. Ich war doch erst vor einer halben Stunde angekommen.«
»Okay. Und die nächsten Blumen um kurz vor neun, nehme ich mal an.«
»Ja!«
»Es ist jetzt kurz nach zwölf«, sagte Sven. »Meiner Rechnung nach fehlen da drei Lieferungen, wenn Ihre Theorie stimmen soll. Also die von zehn, elf und jetzt zwölf Uhr. Vielleicht war es wirklich nur ein böser Scherz?«
»Nein … ja … nein. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Wieso sollte sich jemand mit mir so einen Scherz erlauben?«
Der Privatdetektiv zuckte mit den Schultern. In diesem Moment klopfte es an der Tür.
4
Vor einer Woche
Was passierte mit einer Seele, die nichts mehr zu verlieren hatte? Zerbrach sie einfach in tausend kleine Stückchen? Oder heilte sie wieder? Diese Fragen beschäftigten mich schon lange. Zu lange. Und ich musste feststellen, dass die Zeit keine Wunden heilte. Ganz im Gegenteil. Die Zeit zeigte, wie wenig ich vergessen, verzeihen und schon gar nicht vergeben konnte. Der Schmerz saß so tief. Die Narben heilten niemals, würden nicht mal verblassen. Die Tragödie klammerte sich so fest an mich, dass ich mich niemals davon lösen könnte. Ich hatte alles verloren, was mir jemals wichtig war. Mein eigenes Leben war nichts mehr wert, weil ich jeden Tag diese Bilder sah. Dieses Kopfkino, das wie ein Super-8-Film präsent war. Sich immer und immer wieder abspielte, ohne dass ich es wollte.
Es dauerte fast ein Jahr, bis ich überhaupt bereit war zu akzeptieren, zu verstehen, dass du nie wieder zu mir zurückkommen würdest. Jeden Tag sehnte ich mich mehr und mehr danach, dich zu umarmen, zu küssen. Deine Nähe zu spüren. Deine Liebe.
Es gab vier Phasen der Trauer. Seit zwei Monaten steckte ich in der zweiten Phase fest, in der mich die reine Wut dominierte. In der ich alles um mich herum vernichten wollte, einschließlich mich selbst. Die Frage nach dem Wieso kreiste in meinem Kopf wie Geier um totes Fleisch. Wieso hat er uns das angetan? Eine Träne rann meine Wange hinab, obwohl ich längst geglaubt hatte, alle verbraucht zu haben. Die Calla war immer deine Lieblingsblume gewesen. Und deswegen hatte ich sie als meine Botschaft ausgewählt. Niemals würde ich verstehen, wieso du auf ihn hereingefallen warst. Was du an diesem Typen so toll fandest. Doch hatte ich jetzt keine Zeit mehr, in Erinnerungen zu schwelgen. Ich hatte noch unendlich viel vorzubereiten für den großen Tag. Ich war dein Rächer. Ich liebte dich, bis in die Unendlichkeit!
Das Gleichgewicht ließ sich nur durch das Zufügen eines gleichwertigen Schadens wiederherstellen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Doch reichte es, wenn der Mörder selbst starb? Oder sollte auch der erlittene Schmerz miteinbezogen werden bei der letzten Abrechnung?
5
Vor mehr als einem Jahr
Sophie turnte aufgeregt in ihrem Zimmer umher. Gefühlt Tausende Kleidungsstücke türmten sich in Stapeln auf dem Bett und am Boden. Und doch hatte sie das Gefühl, noch immer nicht die richtigen Sachen in ihren Koffer gepackt zu haben.
»Mama!«, schrie sie die Treppe hinunter. »Wo ist mein gelbes T-Shirt?«
»Vermutlich noch in der Wäsche. Musst du selbst nachschauen. Ich mache gerade mit Emilia Schulaufgaben.«
Sophie stapfte missmutig die Stufen zum Keller des Einfamilienhauses hinab. Sie kramte im Wäschekorb, schmiss die Hemden ihres Vaters und die Kleidungsstücke ihrer Schwester achtlos auf den Boden, bis sie endlich ihr bauchfreies T-Shirt entdeckte, das sie unbedingt auf ihre Reise mitnehmen wollte.