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Bist du ein Sünder?
Die Kleinstadt Niebüll und die Ferieninsel Sylt werden von einem grausamen Serienmörder heimgesucht. Drei getötete Frauen – alle nackt, mit Farbe besprüht und mit einer Tarotkarte versehen.
Das Ermittlerduo Stefanie Teufel und Jan Graf bekommt den Fall zugeteilt, der sich zu einer Gefahr für Stefanies Familie entwickelt: Ihre Halbschwester, die über die ermordeten Frauen für eine Tageszeitung berichtet, erreicht eine mysteriöse Nachricht, in der sie bedroht wird. Schnell wird klar, dass dahinter nur der Tarotkartenmörder stecken kann. In dem Schreiben werden weitere Opfer erwähnt, die bisher noch nicht gefunden wurden.
Doch der Täter ist der Polizei immer einen Schritt voraus. Als erneut eine Frau entführt wird, geraten die beiden Ermittler in einen tödlichen Strudel aus Fanatismus und Wahnsinn.
»Der Tarotkartenmörder« ist der 2. Teil der Serie »Ein Teufel-Graf-Krimi«. Diesmal schickt die Autorin ihre beiden Ermittler auf die Jagd nach einem besessenen Serienmörder, der sündhaftes Verhalten bestraft.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Drea Summer
Über die Autorin:
Drea Summer, gebürtige Österreicherin, lebte im schönen Südburgenland. Sie begann ihre Schreibkarriere mit der Auswanderung nach Gran Canaria vor mehr als vier Jahren. Die »Insel des ewigen Frühlings« inspiriert sie, schaurige und blutige Geschichten, die in ihrem Kopf herumspuken, niederzuschreiben.
Über das Buch:
Bist du ein Sünder?
Die Kleinstadt Niebüll und die Ferieninsel Sylt werden von einem grausamen Serienmörder heimgesucht. Drei getötete Frauen – alle nackt, mit Farbe besprüht und mit einer Tarotkarte versehen.
Das Ermittlerduo Stefanie Teufel und Jan Graf bekommt den Fall zugeteilt, der sich zu einer Gefahr für Stefanies Familie entwickelt: Ihre Halbschwester, die über die ermordeten Frauen für eine Tageszeitung berichtet, erreicht eine mysteriöse Nachricht, in der sie bedroht wird. Schnell wird klar, dass dahinter nur der Tarotkartenmörder stecken kann. In dem Schreiben werden weitere Opfer erwähnt, die bisher noch nicht gefunden wurden.
Doch der Täter ist der Polizei immer einen Schritt voraus. Als erneut eine Frau entführt wird, geraten die beiden Ermittler in einen tödlichen Strudel aus Fanatismus und Wahnsinn.
»Der Tarotkartenmörder« ist der 2. Teil der Serie »Ein Teufel-Graf-Krimi«. Diesmal schickt die Autorin ihre beiden Ermittler auf die Jagd nach einem besessenen Serienmörder, der sündhaftes Verhalten bestraft.
Drea Summer
Ein Teufel-Graf-Krimi
Band 2
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Juni © 2023 Empire-Verlag
Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer
Redaktion: Sascha Rimpl – https://www.lektorat-textflow.com/
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Cover: Chris Gilcher
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Freitag, Vormittag
Es war nicht die Frage nach dem Warum, sondern eher nach dem Wieso-erst-jetzt?, die sich die Reporterin hätte stellen sollen. Ich schlug die Zeitung zu und atmete erst einmal kräftig durch. Der Artikel über mich – den Tarotkartenmörder – stand auf Seite 7. In fetten Buchstaben: »Warum mussten Utta und Mara sterben?«
Doch wie gesagt, die Frage lautete eher: Wieso mussten Utta und Mara erst jetzt sterben? Ich lachte über meinen Gedanken. Natürlich, ich wusste genau, dass sie das so nicht schreiben konnte. Schließlich würde ein Aufschrei durch die Leserschaft gehen, der lauter als der Urknall wäre. Und was war mit Heimke? War sie etwa noch nicht gefunden worden?
Aber wenn ich mir eine der drei schon früher gekrallt hätte, wäre es doch nur der halbe Spaß gewesen. Die Angst musste erst in ihnen wachsen, wie ein Samenkorn. Langsam zu einer Pflanze werden, die immer größer und größer wurde. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich nur noch die Erlösung wünschten. Bis sie glaubten, völlig durchzudrehen. Erst, wenn ihre Augen geweitet waren wie unter Drogeneinfluss, wenn sie sahen, wer ihnen gegenüberstand. Erst dann war die Zeit gekommen, meine wahre Identität zu lüften. In ihren Gesichtern hatte sich die Fassungslosigkeit und das Wissen, dass die Qual bald vorbei war, widergespiegelt. Ich nährte mich von ihrem Schmerz, er war mein Lebenselixier.
Ich dachte an Heimke und an die Lilien, die ich ihr geschickt hatte. In einer Vase hatten diese mitten auf ihrem Küchentisch gethront. Ich hatte es liebevoll und abstoßend zugleich empfunden. Hatte sie wirklich nichts geahnt? War sie wirklich so blind gewesen? Wieder lachte ich, als ich an ihre letzten Worte dachte.
»Wieso?«
Ich hatte ihr die Antwort auf ihre Frage verwehrt. Für sie hätte es sowieso nichts mehr gebracht, die Wahrheit zu erfahren. Schließlich hatte ich Sekunden später schon meine Finger um ihren Hals gelegt und fest zugedrückt. Ich musste zugeben, dass es eigentlich egal war, wie sie starb. Hauptsache, sie hinterließ keine Sauerei. Das konnte ich gar nicht leiden.
Obwohl die durchsichtige Plastiktüte über dem Kopf der Blondhaarigen schon ihren Reiz gehabt hatte. Vielleicht sollte ich das perfektionieren. Zu einem meiner Merkmale machen. Wie die Blumen. Oder vielleicht sollte ich das nächste Mal keine Blumen mehr schicken? Würde das die Polizei endgültig verwirren? Der Gedanke gefiel mir, und ich schmunzelte. Bisher waren sie mir nicht auf die Schliche gekommen, weil sie keine Ahnung hatten von der Kunst des Kartenlegens. Nicht den blassesten Schimmer, wie sie eine Karte deuten mussten und dass alles eins war.
Wieder schweifte mein Blick zu der Zeitung, und meine Emotionen schlugen augenblicklich um. Ich ärgerte mich über diese Reporterin. Sie hatte keine Ahnung und schrieb, was sie glaubte zu wissen. Doch: Glauben hieß nicht wissen. Das sollte doch gerade sie verstanden haben. Im Moment hatte ich Wichtigeres zu tun, als mich mit ihr zu befassen. Immerhin hatte ich mir meine nächste Probandin schon ausgesucht, und es war an der Zeit, alles für sie vorzubereiten.
Aber bereits nach wenigen Minuten drang die leise Stimme in meinen Kopf, dass ich dieser Reporterin einen Denkzettel verpassen sollte. Das könnte ein interessantes Spiel werden. Und vielleicht schrieb ich sie doch noch auf meine Liste …
Freitag, Vormittag
Niebüll, Polizeidienststelle
»Sie ist bei ihrer … sie ist bei Teddy Omaopa. Das weißt du doch«, sagte Steffis Vater, Christoph Teufel, am Telefon.
Ja, genau, sie war der Grund, warum Steffi ihre Großeltern seit einer Woche nicht mehr besucht hatte. Weil sie da war. Das Ding, das ihren Vater so glücklich gemacht hatte.
Steffi schnaufte. »Und was will sie von mir? Warum ruft sie mich nicht selbst an?«
»Weil du ihre Nummer blockiert hast? Schon vergessen?«
»Das wird schon seinen Grund haben, meinst du nicht?«, warf Steffi ihrem Vater entgegen.
»Stefanie, bitte! Du bist kein Kind mehr, also benimm dich auch nicht so. Hilf Sophia. Sie ist deine Schwester. Sie wollte mir nicht sagen, worum es geht. Aber es klang dringend. Sophia war am Telefon ganz aufgelöst.«
Schwester … Sie ist meine Halbschwester!, echote es durch Steffis Kopf, sie sagte aber nichts dazu. Dieses Thema hatte zu oft für Grundsatzdiskussionen zwischen ihr und ihrem Vater gesorgt. »Ich ruf sie an, ja?«, gab Steffi schlussendlich nach.
»Danke dir. Sag, wie geht es dir eigentlich? Wir haben schon lange nicht mehr gesprochen.«
»Papa, ich muss jetzt Schluss machen. Ich bin in der Arbeit. Später meld ich mich bei dir.«
»Klar. Ich ruf dich dann halt wieder an«, sagte Steffis Vater und lachte ins Telefon. »Ich weiß genau, dass du mich später nicht anrufst.«
Nun musste auch Steffi lachen. »Okay. Du hast mich erwischt. Bis später, Papa.« Sie beendete das Gespräch und schaute zu Jan, der so tat, als hätte er von dem Telefonat nichts mitbekommen. Noch immer stand sie mitten im gemeinsamen Büro. »Ich muss noch Sophia anrufen. Geht das für dich klar?«
»Sicher«, sagte Jan. »Mach nur. Ich schreib in der Zwischenzeit den Bericht. Du warst jetzt vier Wochen nicht da, somit werde ich es auch noch ein paar Minuten länger überleben.«
»Welchen Bericht?«
»Telefonier einfach. Ich kann mich schon gut allein beschäftigen.« Er zwinkerte ihr zu.
Steffi wurde es ganz mulmig, als sie Sophias Nummer wählte. Das letzte Mal, dass die beiden Halbgeschwister miteinander gesprochen hatten, war zum sechzigsten Geburtstag ihres Vaters gewesen. Das war immerhin schon drei Jahre her. Okay, gesprochen war vielleicht nicht ganz zutreffend. Außer Begrüßungs- und Abschiedsfloskeln hatte Steffis Mund nichts in ihre Richtung verlassen. Ja, sie hasste ihren Vater für Sophia. Und Sophia selbst auch. Und vor allem hasste sie es, wenn ihre Halbschwester bei Steffis Großeltern war. Schließlich, also rein biologisch gesehen, war Sophia nicht einmal die Enkeltochter der beiden, und trotzdem wurde sie genau so behandelt. Auch das hatte sie nie verstanden – wieso Teddy Omaopa sie so herzlich in die Familie aufgenommen hatten, obwohl sie nicht einmal dazugehörte.
»Hallo, Stefanie«, begrüßte Sophia sie. »Danke, dass du meinem Hilferuf nachkommst.«
»Hey«, zwang sich Steffi über die Lippen.
Sophia ließ sich von ihren knappen Worten nicht beeindrucken und plapperte gleich drauflos: »Hör zu, ich hab eine Nachricht bekommen, von einem Mörder. Er hat sich über meinen Artikel in der Zeitung beschwert. Seine Worte klangen wütend, wenn auch ein wenig mystisch.«
Von einer Millisekunde auf die andere schaltete Steffi in den geschäftsmäßigen Ton. »Warte, ich stell dich auf Lautsprecher, damit mein Partner mithören kann. Also, von welchem Mörder sprichst du?«
»Von dem Tarotkartenmörder«, antwortete Sophia. »Ich hab vorgestern einen Artikel über den Tod von Mara Schultze und Utta Braren abgegeben, der schon am Abend online war und gestern gedruckt wurde. Und nun habe ich eine Zuschrift von ihm bekommen. Anscheinend hat er es auch auf mich abgesehen.«
»Langsam. Alles der Reihe nach. Wie kommst du darauf, dass diese Nachricht vom Mörder ist? Das könnte genauso gut irgendein x-beliebiger Irrer sein, der deine Aufmerksamkeit will.«
»Weil er geschrieben hat, dass er ihre Zeitmessung in seine goldene Schatzkiste gelegt hat. Und es gab noch drei weitere Probanden. Armbanduhr wäre die Zeitmessung, denk ich mal. Ich nehme an, das ist eine Art Souvenir. Hab ich recht?«
»Bitte was hat er geschrieben? Er verwendet das Wort ›Zeitmessung‹?«, wunderte sich Steffi, redete aber gleich weiter. »Ja, mit dem Souvenir hast du recht. Allerdings wurde diese Information nicht in der Öffentlichkeit bekannt gegeben, und so soll es auch bleiben. Das ist eindeutig Täterwissen. Aber drei weitere Probanden? Hat er das wirklich so geschrieben?«
»Ja, es ist in Gedichtform verfasst worden.«
»Am besten, wir kommen zu dir. Wo bist du? Noch bei Omaopa?«
»Nein, zu Hause in Husum. Ich schick dir gleich die Adresse.«
»Du wohnst wo?«, fragte Steffi nach und glaubte, sich verhört zu haben.
»In Husum. Schon seit fast vier Jahren. Wusstest du das nicht? Egal, jetzt weißt du es ja. Also, komm her, und wir können uns unterhalten.«
Steffis Herzschlag beschleunigte sich. Sie wollte natürlich wissen, was genau den Mörder von Mara Schultze und Utta Braren so wütend gemacht hatte. Allerdings wollte sie nicht zu Sophia nach Hause fahren. Das fühlte sich einfach zu … intim an. Zu nah. »Können wir uns bei Omaopa treffen?«
»Klar. Ich pack meine Sachen ein, und dann treffen wir uns dort.«
»Okay. In einer Stunde?«
»Ja, das passt. Ich ruf gleich bei den beiden an und sag ihnen Bescheid, ja?«
»Okay, bis später.« Steffi legte auf und schaute Jan fragend an.
»Soll ich den Twins Bescheid geben, dass wir vielleicht eine neue Spur haben? Schließlich arbeiten die beiden an dem Fall.«
Steffi schüttelte den Kopf und dachte einen Moment lang an Kettel und Vogt, die mit ihren gestärkten weißen Hemden und den dunklen Krawatten wie zwei aufgeblasene Gockel aussahen. Die beiden waren die Besten und die Schönsten. Zumindest wenn es nach ihnen ging. »Lass uns erst mal schauen, ob es wirklich dieser Tarotkartenmörder ist, der meiner Halbschwester geschrieben hat.«
***
»Hallo, mein Schatz«, sagte Steffis Oma, als Jan und sie vor der Eingangstür des typisch friesischen Häuschens standen, dessen weiße Fassade in der Sonne regelrecht strahlte. »Wie schön, dass ihr hier seid. Sophia ist vor wenigen Minuten angekommen, und ich hab schon den Kaffee fertig. Mögt ihr Kuchen dazu?« Steffis Oma lächelte.
»Danke, Oma, für mich nicht. Nur Kaffee bitte.« Steffi wusste, wieso sie Omas Kuchen ablehnte. Oma hatte eine Vorliebe für besonders süße und vor allem sahnige Kuchenarten, die schon nach dem ersten Bissen ein Sättigungsgefühl auslösten und es unmöglich machten, einen weiteren Bissen zu sich zu nehmen.
»Für mich gerne«, erklang Jans Stimme, und sie schimpfte mit sich selbst, dass sie ihn nicht vorgewarnt hatte. Schließlich waren sie hier bei Teddy Oma, und da musste der Teller leer gegessen werden. Das war ein ungeschriebenes Gesetz.
Sie traten in das Haus. Im Flur roch es nach Selbstgebackenem, und gleich darauf hörte sie Teddy Opa herzhaft lachen. Es war eine Mischung aus einem Hohoho und dem Brummen eines Bären. Im Wohnzimmer sah sie Opa, der sie mit seinen braunen Augen, die halb von buschigen grauen Brauen überdeckt waren, ansah. Dann wanderte ihr Blick zu Sophia. Wieder war sie überrascht darüber, wie jung sie eigentlich war, und dann kam ihr in den Sinn, dass sie bei der Geburt von Sophia schon dreizehn Jahre alt gewesen war. Ihr Hirn rechnete. Ergebnis: Sophia musste achtundzwanzig Jahre alt sein. Wobei das für ihre Ermittlungen nicht wichtig war. Auch war nicht wichtig, dass Sophia dieselbe undefinierbare Haarfarbe – Straßenköterblond – hatte wie sie selbst. Weitere Ähnlichkeiten sah sie nicht, und sie war erleichtert über diese Feststellung.
»Hallo, Opa«, sagte Steffi, ging auf ihn zu und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange.
»Hallo, Stefanie. Schön, dass ihr beide heute hier seid. Ihr drei natürlich«, sagte Opa und zwinkerte Jan zu, der zur Begrüßung die Hand hob. »Sophia hat mir erzählt, dass ihr euch aus arbeitstechnischen Gründen trefft. Vielleicht findet ihr beide ja über diesen Weg einen Draht zueinander. Was meint ihr?«
»Opa, echt jetzt? Es ist gerade nicht der richtige Zeitpunkt, das anzusprechen. Und ich hab nichts gegen Sophia.« Steffi legte ein gekünsteltes Lächeln auf die Lippen und blickte ihre Halbschwester an.
»Okay«, mischte sich Jan ein und setzte sich auf das riesige dunkelbraune Sofa im Retro-Stil. »Also, Sophia. Ich darf Sie doch Sophia nennen, oder?«
»Ja, und bitte das Siezen lassen. Ich bin einfach Sophia, ja?«
»Jan«, sagte er und reichte ihr die Hand. Steffi hatte völlig vergessen, dass sich die beiden noch nie begegnet waren. Wie unhöflich sie war, sie einander nicht vorgestellt zu haben. »Gut. Also, hast du die Nachricht von ihm dabei?«
Sophia nickte, kramte in ihrer Handtasche und förderte einen Zettel zutage, der in einer Plastiktüte steckte. »Ich hab es ordnungsgemäß in eine Tüte gegeben. Allerdings sind da mit Sicherheit meine Fingerabdrücke drauf. Ich konnte ja nicht ahnen, dass der Brief vom Mörder ist.«
»Super gemacht«, sagte Jan und schenkte ihr ein Lächeln.
Steffi äffte seine Worte geistig nach. Sophia schleimte sich ohne mit der Wimper zu zucken bei Jan ein. Zum Kotzen. Trotz allen Ärgers über die ungewollte Halbschwester und deren Verhalten ihrem Kollegen gegenüber setzte sie eine professionelle Miene auf und trat näher an Jan heran.
»Kein handschriftlicher Brief«, bemerkte Jan sofort, und Steffi sah, dass nur wenige Zeilen wie in Gedichtform mitten auf dem Papier standen.
Steffis Oma betrat mit einem Tablett in den Händen das Wohnzimmer und stellte es auf dem riesigen Tisch ab, den sich Teddy Omaopa extra für größere Feiern gekauft hatten. Gut, sie hatten den höhenverstellbaren Fliesentisch, der in dem minimalistischen Wohnzimmer aussah wie ein Ungetüm, auf einem Flohmarkt gefunden. Damals noch für ein paar Mark. Und obwohl er vermutlich so alt wie Steffi war, wies der Tisch bis auf ein paar kleine Kratzer noch ein einwandfreies Aussehen auf. Steffi hielt nichts von diesem altmodischen Kram. Sie kaufte ihre Möbel lieber bei Ikea. Neu und ungebraucht.
Sie nahm sich eine Kaffeetasse, setzte sich neben Jan und lehnte sich zurück. Heute durfte Jan die Unterhaltung führen. Und das nicht nur, weil er direkt neben Sophia saß. Oma hatte Opa auf die Schulter getippt und ihm unmissverständlich klargemacht, dass er mit ihr den Raum verlassen solle. Er kam der Aufforderung nach, und als beide aus dem Raum verschwunden waren, nahm Steffi den Zettel, den Jan auf den Tisch gelegt hatte.
Dass Unwissenheit nicht vor Strafe schützt, sollte man wissen.
Aber bei euch kann ich nur die Intelligenz vermissen.
Die Frage, die ihr euch stellt, ist nicht richtig.
Nur das »Wieso-erst-jetzt?« ist wichtig.
Ihr habt es noch immer nicht verstanden,
Aber es gab noch drei weitere Probanden.
Von allen habe ich etwas in mein goldenes Schatzkästchen gegeben.
Die Zeitmessung, das Wichtigste im Leben.
Seid auf der Hut und zügelt eure Zunge.
Ansonsten presse ich euch auch den letzten Sauerstoff aus der Lunge.
»Interessante Formulierung, meint ihr nicht? Wie aus dem achtzehnten Jahrhundert«, sagte Steffi und sah Sophia und Jan an. »Also, er scheint dir auch zu drohen, wenn du weiterhin – zumindest in seinen Augen – Blödsinn schreibst. Was hast du denn in deinem Artikel geschrieben, dass er sich so darüber aufregt?«
»Hier«, sagte Sophia und tippte einige Male auf dem Display ihres Handys herum, bevor sie es Steffi hindrehte. »Das ist der Artikel. Ich hab nur über die Opfer geschrieben und dass ich das Warum dahinter nicht verstehe. Immerhin haben beide ein normales Leben geführt. Recherchiert hab ich tagelang und nichts gefunden, dass sie irgendwie Dreck am Stecken hatten. Seine Opferwahl scheint willkürlich zu sein.«
»Was ich seinen Ausführungen entnehmen kann«, sagte Jan, »ist, dass du dich nicht fragen sollst, warum, sondern eher: ›Wieso erst jetzt?‹ Aber was meint er damit?«
»Seid ihr euch überhaupt sicher, dass ein Mann dahintersteckt?«, fragte Sophia und schlug sich im gleichen Moment auf den Mund. »Tschuldigung.«
Steffi musste grinsen. Es war wieder eine Gemeinsamkeit, die die beiden Halbschwestern verband. Obwohl Steffi eigentlich in keiner Weise mit ihr verbunden sein wollte.
»Jein«, gab Jan zu. »Derzeit ermitteln wir …« Er wurde von Steffi unterbrochen. Auf keinen Fall durfte er herausposaunen, dass heute das mutmaßlich dritte Opfer des Täters gefunden worden war.
»Sie ist nicht bei der Polizei, Jan. Schon vergessen? Du plauderst gerade einer Reporterin gegenüber etwas aus, was du nicht ausplaudern solltest. Das ist dir schon klar, oder?« Steffi legte einen scharfen Unterton in ihre Stimme.
»Journalistin«, sagte Sophia. »Ich bevorzuge die Bezeichnung Journalistin. Schließlich suche ich nach Informationen und untermaure meine Artikel mit stichhaltigen Beweisen. Ein Reporter berichtet nur.«
»Aha«, sagte Steffi und notierte sich in Gedanken, dies nachzugoogeln. Bis jetzt war sie immer der Meinung gewesen, dass beide Berufsnamen ein und denselben Job bezeichneten.
»Ich als Journalistin bin genauso gut eine Reporterin«, erklärte Sophia ungefragt. »Aber das ist nur ein Teil meiner Aufgaben, versteht ihr? Reporter ist gleich Berichterstatter. Journalistin ist aber noch viel, viel mehr.«
»Aha«, zwängte sich Steffi wieder hervor. Das Thema war in ihrem Kopf schon abgehakt. »Also, hast du eine Antwort auf die Frage: ›Wieso erst jetzt?‹?«
»Nein. Ich hab gesucht und gesucht, aber nichts gefunden. Ich weiß nicht, was sie getan haben sollen, und vor allem, wann. Vielleicht ist es etwas gewesen, was schon einige Zeit zurückliegt. Oder auch nicht. Ich weiß es nicht.« Sophia zuckte mit ihren Schultern.
»Ich ruf Peeke an«, sagte Jan. »Wenn da etwas in ihrem Leben war, dann wird er es herausfinden. Er ist wie Google, nur menschlich. Also, fast menschlich.« Er lachte und stand auf. Wenige Sekunden später telefonierte er mit Peeke und brachte ihn auf den neuesten Stand.
Bisher weiß ich nur von zwei Opfern«, sagte Sophia. »Was ist mit den anderen? Schließlich schreibt er ja, dass es drei weitere gibt. Das sind dann fünf Opfer insgesamt, oder? Ich werd aus dem Brief nicht wirklich schlau.«
Steffi knetete ihre Finger. »Wir ermitteln, und ich kann dir darüber nichts sagen. Wann hast du diesen Brief bekommen? Wurde er dir nach Hause zugestellt?«
»Gestern. Ich bekam ihn in die Redaktion geliefert. Er steckte in einem unscheinbaren weißen Kuvert, das ich auch eingetütet habe.« Sophia zeigte auf die Plastiktüte, die Steffi wieder auf den monströsen Tisch gelegt hatte.
»Bei welcher Redaktion arbeitest du?«
»Norddeutscher Blitz. Wir berichten über tagesaktuelles Geschehen und haben eine enorme Reichweite hier in Norddeutschland. Wir sind einer der führenden Zeitungsverlage.« Steffi kam es vor, als ob Sophias Brustkorb vor Stolz anschwoll.
»Peeke setzt sich gleich dran«, sagte Jan, nahm wieder in der Mitte der beiden Platz und griff sich unverzüglich den Teller mit dem extragroßen Stück Kuchen. Er stach mit der Gabel einen Teil ab, den er sich sofort einverleibte. Steffi wartete darauf, dass Jan etwas sagte, doch es kam nichts von ihm. Stattdessen schob er sich gleich noch einen Bissen in den Mund.
»Und? Gut?«, fragte Steffi nach. Es konnte doch nicht sein, dass ihm dieser Kuchen schmeckte! Noch nie hatte ein Kuchen von Oma wirklich geschmeckt, obwohl immer alle Teller bis auf den letzten Krümel leer gefegt waren.
»Ja, ist super«, sagte Jan. »Ganz leicht und fluffig. Frischkäse anscheinend oder so. Willst du kosten?«
Steffi hob abwehrend die Hände in die Höhe.
»Das Rezept hat Oma von mir.« Wieder schwang Stolz in Sophias Worten mit. »Ich hab ihr vorige Woche gesagt, dass ihre Kuchen und Torten viel zu fettig sind. Und das ist nicht gut für ihre Gesundheit. Schließlich sollten sie in ihrem Alter auf das Cholesterin und auf die Zuckerwerte achten.«
Steffi biss sich auf die Zunge. Klar hatte Sophia recht damit. Schließlich sollten Omaopa noch ewig leben. Oder zumindest noch ein paar Jährchen. Aber besaß Sophia das Recht, Steffis Großmutter die Wahrheit über ihre Backkünste ins Gesicht zu sagen? Hatte sie keine eigenen Großeltern, denen sie Ernährungstipps geben konnte? Steffi trank einen Schluck von ihrem Kaffee, um nicht in die Versuchung zu kommen, etwas zu kommentieren, was sie eigentlich nicht wollte oder sollte.
»Toll. Schön, dass du dich um deine Großeltern so sorgst«, sagte Jan, und Steffi sprang mit Schwung auf. Sie stellte die Tasse mit einem lauten Klirren auf den Tisch und verließ fluchtartig den Raum. Sie musste hier raus, da sie das Gefühl hatte, jeglicher Sauerstoff war mit einem Schlag aus dem Wohnzimmer gewichen. Sie riss die Haustür auf und rannte Teddy Oma fast über den Haufen.
»Steffi? Was ist los? Wo willst du hin?«
Doch Steffi hatte keine Lust, ihrer Großmutter zu erklären, was im Wohnzimmer gerade passiert war. Keine Lust auf irgendeine Belehrung und schon gar keinen Bock darauf, zu hören, dass sie kein kleines Mädchen mehr war und sich dementsprechend auch nicht so zu benehmen hatte. Sie rannte durch den blumenreichen Garten und flüchtete sich in den Dienstwagen, der in der Einfahrt stand. Sie war froh, dass Jan vergessen hatte, das Auto abzuschließen, ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und betätigte die Zentralverriegelung. Steffi hoffte, sich hier beruhigen zu können. Allein zu sein, bis ihre Wut verraucht war. Ihre Wunde am Oberschenkel begann wieder zu stechen. Natürlich! Schließlich war es erst vier Wochen her, dass sie ein Messer ins Bein gerammt bekommen hatte. Die Wunde war gut verheilt, aber hin und wieder zwickte sie noch.
Es klopfte an der Beifahrerscheibe. Jan und Sophia standen davor und machten betretene Mienen. Steffi wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen. Vor lauter Zorn hatte es ihr glatt die Tränen aus den Augenwinkeln gedrückt. Normalerweise war sie nach außen hin wie ein Fels in der Brandung, den nichts und niemand erschüttern konnte. Doch diesmal konnte sie ihre Emotionen einfach nicht zurückhalten.
»Steffi! Jetzt komm schon. Was ist los?«, fragte Jan und klopfte erneut.
»Es ist alles okay. Aber wir müssen jetzt aufs Revier.« Steffi bemühte sich, einen professionellen Tonfall an den Tag zu legen. Doch es gelang ihr nicht, ihre Stimme zitterte zu sehr.
Freitag, Vormittag
Sylt, Westerland, Margarethenstraße
Teida Schwennen stockte der Atem, als sie die Netzstrumpfhose aus dem blauen Umschlag zog und sie wie pures Gift zwischen ihren Fingern hielt. Er war wieder da. Doch das war nicht möglich. Er wusste doch nicht einmal, wer sie war, hatte sich nie für sie interessiert. Seit drei Jahren, vier Monaten und acht Tagen nicht. Und nun war er zurückgekommen, um sie ein zweites Mal zu quälen. Der Schwindel überkam sie so plötzlich, dass sie sich abstützen musste, um nicht umzufallen. Langsam ließ sie sich mit dem Rücken an der Wand entlang auf den Esszimmerboden gleiten und kauerte sich mit angezogenen Beinen hin. Dann kam die Angst wieder, die sie damals verspürt hatte, als er sie angefasst hatte. Schlagartig wurde sie zurückversetzt in eine Zeit, die sie am liebsten vollständig aus ihrem Gedächtnis gestrichen hätte, aber niemals würde vergessen können.
Die Party. Warum bin ich bloß auf diese verdammte Party gegangen? Sie war sonst nicht der Typ, der auf Kostümpartys stand, nicht einmal zu Fasching, wo es alle Welt machte. Es war jener Abend, der ihr ganzes Leben verändert hatte, und niemals würde sie es sich verzeihen können. Niemals! Vielleicht lag es auch an ihrem Kostüm selbst, dass er sie auserkoren hatte. Der Flapper-Girl-Look der Zwanzigerjahre. Ein glattes Kleid mit einem Gürtel, das ihre schlanke Taille unterstrich. Stilecht in Rot-Schwarz mit einer schwarzen Boa, die sie sich lässig von Ellenbeuge zu Ellenbeuge geschlungen hatte. Dazu die langen schwarzen Handschuhe und die Zigarettenspitze in der rechten Hand, die mit Sicherheit dreißig Zentimeter lang war.
Auch die Netzstrumpfhose, die sie sich aus einem der unzähligen Onlineshops bestellt hatte, war Teil ihres Kostüms gewesen. Noch immer hielt sie diese in der Hand und starrte darauf, als könnte sie eine Antwort geben auf die Frage nach dem Absender. Sie glaubte in diesem Moment sogar, sein Parfüm riechen zu können. Herb, männlich, voller Testosteron. Die Übelkeit stieg ihr so plötzlich die Speiseröhre hoch, dass sie nur noch ihren Kopf zur Seite drehen konnte und das Frühstück auf den Fliesenboden erbrach.
Er war wieder da!
Also waren die Nachrichten, die sie in ihrem Briefkasten gefunden hatte, von ihm gewesen. Kryptische Nachrichten auf blauen Karten. Buchstaben, Zahlen, nichts weiter. Zuerst hatte sie es für einen neuen Werbegag gehalten, und doch war immer ein mulmiges Gefühl in ihr aufgestiegen, wenn sie eine weitere Nachricht erhielt. Sie hätte viel früher das Haus verlassen sollen, sich in Sicherheit bringen müssen. Doch dafür war es jetzt zu spät.
Freitag, Vormittag
Bredstedt, Haus von Steffis Großeltern
»Du sagst mir sofort, was los ist«, sagte Jan zum wiederholten Mal. »Du kannst doch nicht einfach nach draußen stürmen, ohne mir etwas zu sagen.«
»Ich hab einen Anruf bekommen. Deswegen bin ich rausgegangen.« Steffi sah aus dem Fenster. Noch immer standen sie vor dem Haus ihrer Großeltern, und Jan hatte wie immer auf dem Fahrersitz Platz genommen, nachdem er das Auto mit der Fernbedienung aufgeschlossen hatte. Sophia hatte sich einige Schritte vom Dienstwagen entfernt. Vermutlich merkte sie, dass Steffi wegen ihr so außer Rand und Band geraten war. Wobei es eigentlich gar nicht um sie als Person ging. Es war …
»Du bist hinausgestürmt. Vorher hast du noch die Tasse auf die Tischplatte geknallt wie eine Wahnsinnige. Ich beweg das Auto keinen Millimeter, bis du mir sagst, was das wird, wenn du damit fertig bist. Das ist höchst unprofessionell. Aber das weißt du ja.« Jan verschränkte seine Arme, als wollte er mit dieser Geste seine Worte unterstreichen.
»Es sind nicht ihre Großeltern«, platzte es aus Steffi heraus, ohne dass sie es wollte. »Es sind meine. Und nur meine!« Steffi tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust.
»Ach, darum geht es. Jetzt wird mir so einiges klar. Du glaubst also, dass sie dir deine Großeltern wegnimmt, so wie damals deinen Vater. Ist es das? Geht es darum?« Jan schaute sie mit einem durchdringenden Blick an.
»Nein. Also ja. Nein, darum geht es nicht.« Steffi ließ ihren Kopf sinken und knibbelte an ihren Fingern herum. Die Tränen schossen wieder ihre Wangen hinab, und sie wischte sie mit einer unwirschen Handbewegung fort. Sie kam sich mehr als dämlich vor.
»Steffi«, sagte Jan und legte seine Hand auf ihre. Das hatte er niemals zuvor gemacht, und in ihr kam ein leichtes Kribbeln in der Bauchgegend auf. »Du musst endlich verstehen, dass Sophia nichts für all das kann. Sie hat nicht darum gebeten, auf die Welt zu kommen. Es war dein Vater, der dich verlassen hat, als du noch ein Kind warst. Nur auf ihn darfst du sauer sein. Und eigentlich nicht mal das. Gerade du solltest verstehen, dass es manchmal in einer Beziehung anfangs ganz gut passt, und irgendwann kommt der Moment, wo man feststellt, dass gar nichts mehr so ist, wie man es durch die rosarote Brille gesehen hat.«
Jans Worte berührten Steffis Herz. Er hatte recht damit, mit allem, was er sagte. Und doch wollte ihr Herz nicht verstehen, was das Hirn schon längst begriffen hatte. »Du meinst die Sache mit Ralf.« Steffi sah Jan an und musste lachen.
»Ja, sorry. Aber dieser Typ ging gar nicht. Den konnte ich nicht leiden. Er hat mit seinem Faible für Organisation dein Chaosprinzip ziemlich durcheinandergebracht.« Jan lachte. »Aber egal jetzt. Du musst dich mit Sophia aussprechen und ihr sagen, was gerade mit dir los war. Unter vier Augen, meinst du nicht?«
»Ja, vielleicht. Mein Verhalten ist kindisch, oder? Keine Ahnung, wieso ich so wütend geworden bin. Aber zuerst sollten wir einen Mörder fangen.«
»Wie wäre es, wenn du als Erstes mal deine Gefühlswelt klärst und dann fangen wir den Mörder? Ich brauch eine Kollegin, die zu hundert Prozent an der Sache dran ist, und nicht eine, die noch an ihrer Vergangenheit knabbert. Davon abgesehen sollten wir zuerst mal klären, ob wir diesen Fall überhaupt annehmen dürfen. Ich ruf bei Tobias an, und du redest mit deiner Schwester.«
Steffi seufzte. Wie immer hatte Jan recht. Und nach all den Jahren, in denen sie Sophia von sich gewiesen hatte, war vielleicht jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, ihr die Hand zu reichen. Auch wenn es sich für ihr Herz grundlegend falsch anfühlte, ihr Hirn sagte freudig ja. Steffi stieg aus dem Wagen aus und ging auf Sophia zu, die nach wie vor in einigem Abstand wartete. Sophia blickte sie mit großen Augen an. Vermutlich hatte sie ein wenig Bammel davor, dass Steffi ihr eine Szene machen würde. Doch Steffi reichte ihr die Hand und sagte: »Mein Gefühlsausbruch tut mir leid, und ich hoffe, dass wir beide uns besser kennenlernen. Wir scheinen viel gemeinsam zu haben. Zumindest möchte ich versuchen, in Zukunft netter zu dir zu sein.«
Sophia war sichtlich überrascht und erwiderte den Händedruck. »Ich freu mich, Steffi. Ich wollte schon immer eine große Schwester haben. Vielleicht passen wir ja ganz gut zusammen. Und wenn nicht, dann können wir uns ja wieder aus dem Weg gehen. Hat doch bisher auch ganz gut geklappt.«
***
»Also«, fing Jan das Gespräch wieder an, als sich die beiden von Sophia verabschiedet hatten und im Auto unterwegs nach Niebüll waren. »Der Staatsanwalt gibt gelbes Licht für die Suche nach dem Tarotkartenmörder. Wir sollen die Twins unterstützen.«
»Okay, aber was heißt ›gelbes Licht‹? Diesen Ausdruck hab ich noch nie gehört in dem Zusammenhang.«
»Na, es bedeutet, dass wir zwar ermitteln dürfen, aber nichts, worin deine Halbschwester involviert ist. Du kennst die Vorschriften.«
»Jetzt spinnt Tobias komplett, oder wie?«, erwiderte Steffi und starrte Jan an. »Wie soll das funktionieren? Durch Sophia kommen wir vielleicht viel näher an den Mörder ran. Zudem hängt doch alles zusammen. Wie stellt er sich das in der Praxis vor?«
»Keine Ahnung. Wir finden einen Weg. Wie immer halt. Was mich irritiert, ist, dass es anscheinend fünf Opfer gab. Aber nur drei wurden dem Tarotkartenmörder zugeordnet. Das heute Morgen gefundene miteingerechnet. Das heißt, zwei Opfer sind uns durch den buchstäblichen Rost gefallen.«
»Oder sie wurden bisher noch nicht gefunden. Wir müssen gemeinsam die Akten durchgehen. Vielleicht sehen wir eine Verbindung und können dadurch die anderen beiden Opfer finden.«
»Ja, fahren wir ins Büro zurück. Die Akten von Mara Schultze und Utta Braren liegen auf meinem Schreibtisch. Und vermutlich auch schon weitere Informationen über das Opfer von heute Morgen. Oder willst du dir zuerst den Fundort der Toten und ihre Wohnung ansehen? Dann müssen wir allerdings nach Sylt.«
»Ich denke, zuerst Büro und dann Sylt. Was meinst du?«
»Super, dann können wir bei Oma essen. Heute gibt es Steckrübeneintopf.« Steffi hatte das Gefühl, dass bei Jan bereits der Sabber aus den Mundwinkeln lief. »Da ich morgen meinen freien Tag habe, kocht Oma für mich Steckrübeneintopf. Und dieser schmeckt am zweiten Tag noch besser als am ersten, deswegen wird er heute schon zubereitet. Somit gibt es heute und morgen Steckrübeneintopf.«
Steffi lachte. »Du hast echt einen Vogel. Hab ich dir das schon mal gesagt?«
»Du auch. Deswegen sind wir ja so ein gutes Team.« Er schmunzelte und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch sein kurzes dunkles Haar. Gleich darauf drückte er auf dem Display im Auto auf die Zwei. »Hallo, Oma. Ich bin es, Jan. Nur ganz kurz. Steffi und ich kommen heute zum Essen vorbei, ja?«
»Oh, das ist ja schön, mein Kleiner. Wann kommt ihr?«, fragte Jans Oma Dortje.
»Keine Ahnung. Bitte wartet nicht auf uns. Ich kann das auch selbst aufwärmen. Und, Oma? Bevor ich es vergesse, bitte, wir kommen nur zum Essen, ja? Mach dir keine … Umstände.«
»Ja, mein Kleiner. Alles klar. Bis später dann.« Sie legte auf, und Steffi prustete los.
»Ich werde mich wohl nie an den Ausdruck Kleiner gewöhnen. Du überragst sie um einen ganzen Kopf. Mindestens.«
»Ach, lass sie doch«, entgegnete Jan. »Wenn es sie glücklich macht, dann macht es mich auch glücklich. Außer wenn sie wieder Kerzen aufstellt, dass jeder Aufbahrungssaal vor Neid erblassen würde.«
»Sie wollte es doch nur romantisch machen für uns zwei. Ich fand das voll lieb von ihr. Sie will halt endlich eine gescheite Schwiegerenkeltochter. Daran solltest du mal arbeiten.«
»Themenwechsel!«, sagte Jan, und sein Gesichtsausdruck wurde ernst. »Ich hab dich ja schon auf den neuesten Stand gebracht bezüglich des heute gefundenen Opfers.