Ich sage, nichts ist dein Besitz - Drea Summer - E-Book
SONDERANGEBOT

Ich sage, nichts ist dein Besitz E-Book

Drea Summer

0,0
7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

SAMMELBAND: Sie sind nichts wert »Ihre Kräfte schwanden, je mehr sie sich wehrte. Sie kämpfte nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen ihren Körper, der schwerer und schwerer wurde.« WO IST KATHARINA? Katharina möchte mit ihrer besten Freundin einen entspannten Urlaub auf Gran Canaria verbringen. Bei einem Ausflug in die Berge mit zwei jungen Männern verschwindet sie spurlos. Inspektor Carlos Muñoz Díaz, leitender Beamter vor Ort, erhält durch ein Ermittlerteam aus Deutschland Unterstützung. Doch bereits kurz darauf überschlagen sich die Ereignisse: Katharinas Freunde verstricken sich in Widersprüche, eine düstere Spur führt bis zurück in die Kindertage der jungen Frau, und an den Dünenstränden von Maspalomas findet man eine weibliche Leiche. Tu, was ich dir sage »Ich liebte diesen Moment, in dem ich mein Werk endlich bewundern konnte. Man könnte fast sagen, da ging mir einer ab.« Als ein Toter auf dem Parkplatz des Zoos Palmitos Park auf Gran Canaria gefunden wird, ist es vorbei mit der ungetrübten Urlaubsidylle. Die Polizei kommt zu der Erkenntnis, dass es sich um einen Selbstmord handelt. Der Tote galt bereits sieben Jahre als vermisst. Warum taucht er ausgerechnet jetzt auf? Und wo war er die ganze Zeit? Tage später verschwindet der deutsche Urlauber Leo spurlos aus einer Diskothek in Playa del Inglés. Inspektor Carlos Muñoz Díaz ermittelt, doch bald entwickelt sich der Fall für ihn zu einer persönlichen Tragödie. Stück für Stück offenbart sich ein Abgrund unmenschlicher Abscheulichkeit. Du bist mein Besitz »Er drehte sich um und hielt die Luft an. Atmete dann erleichtert aus, als er sah, dass ihnen niemand folgte. Verdammte Scheiße! In was bin ich da wieder hineingeraten?« In einer Gasse in Playa del Inglés stirbt Svens Ex-Freundin Dörte in seinen Armen an einer Stichverletzung. Sven flieht Hals über Kopf, da er befürchtet, man könne ihm aufgrund seiner düsteren Vergangenheit die Schuld an Dörtes Tod geben. Die Prostituierte Aurelia, die in einem Bordell gegen ihren Willen festgehalten wird, vermisst ihre Freundin Malia, die seit Tagen verschwunden ist. Sie begibt sich auf eine gefährliche Suche. Kurz darauf tauchen zwei weitere Leichen auf. Handelt es sich dabei um die Verbrechen eines Serientäters? Hat Sven doch etwas damit zu tun? Und wo hält er sich versteckt? Inspektor Carlos Muñoz Díaz ermittelt bereits in seinem dritten Fall mit seinem Kollegen Cristiano und seiner Verlobten Sarah.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Ich sage, nichts ist dein Besitz

 

Gran-Canaria-Trilogie

Sammelband

 

von Drea Summer

 

 

 

 

[email protected]

 

1. Auflage,

© Alle Rechte vorbehalten.

 

Drea Summer

Los Tenderetitos 1, L 134

35100 San Fernando

San Bartolomé de Tirajana

Las Palmas de Gran Canaria

Spanien

 

 

 

Lektorat/Korrektorat: Lektorat TextFlow by Sascha Rimpl

Covergestaltung © HollandDesign

Covermotiv ©

Inhalt

Sie sind nichts wert

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

Epilog

Tu, was ich dir sage

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

Du bist mein Besitz

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

 

Sie sind nichts wert

 

Gran-Canaria-Thriller Band 1

 

WO IST KATHARINA?

 

Katharina möchte mit ihrer besten Freundin einen entspannten Urlaub auf Gran Canaria verbringen. Bei einem Ausflug in die Berge mit zwei jungen Männern verschwindet sie spurlos. Inspektor Carlos Muñoz Díaz, leitender Beamter vor Ort, erhält durch ein Ermittlerteam aus Deutschland Unterstützung. Doch bereits kurz darauf überschlagen sich die Ereignisse: Katharinas Freunde verstricken sich in Widersprüche, eine düstere Spur führt bis zurück in die Kindertage der jungen Frau, und an den Dünenstränden von Maspalomas findet man eine weibliche Leiche.

„Sie sind nichts wert“ ist der erste Teil der Thrillertrilogie.

 

 

1

 

»Kommst du, Kathi? Ich will heute noch los.«

Katharina Pfeiffer drehte sich auf die Seite und legte ihr Handy auf das Kissen. Ihre Freundin Yasmin Becker stand am Fußende des Bettes, ihren Rucksack auf dem Rücken, und stemmte die Hände in die Hüften. Katharina warf Yasmin einen genervten Blick zu, den diese mit einer Grimasse erwiderte.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Yasi, wenn du nicht aufpasst, dann bleibt dein Gesicht so stehen. Glaubst du, dass David dich dann noch immer toll findet?« Lachend rollte Katharina sich aus dem Bett und band ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Während sie ihre Sportschuhe anzog, piepte ihr Handy und zeigte eine neue WhatsApp-Message an. Sofort ließ sie sich wieder ins Bett fallen und las die Nachricht.‬

»Dein Verhalten ist kindisch«, sagte Yasmin. »Du bist neunzehn und keine vierzehn mehr.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»›Kindisch‹ sagt mir diejenige, die heute mit ihren Zöpfen aussieht wie Pippi Langstrumpf«, meinte Katharina und tippte fleißig auf ihrem Handy herum. »Das ist Jan. Die Jungs sind gleich da.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Dann mach hin, damit wir endlich loskönnen.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Katharina steckte ihr Handy in Yasmins Rucksack. Gemeinsam verließen sie das Ferienapartment.

Dieser Urlaub war ein Geschenk von Katharinas und Yasmins Eltern, für die guten Abi-Noten und um neue Kraft zu tanken für die Uni, die im September begann.

»Kathi, was ist heute los mit dir?«, fragte Yasmin. »Warum trödelst du denn so?«

Katharina stand vor dem Pool der Bungalowanlage. Sehnsüchtig schaute sie hinunter zu den Dünen von Maspalomas. Gerne wäre sie zum Strand gefahren. Jan im Meer zu küssen, war gestern das Schönste gewesen, was sie jemals erlebt hatte.

Yasmin zog Katharina am Unterarm in Richtung Ausgang, und Katharina folgte ihr.

»Oh, sieh dir David an«, schwärmte Yasmin und zeigte auf den einen der beiden Jungs, die hinter dem verschlossenen Tor standen. »Heute hat er ein enges Shirt an. Wow! Schau dir seine Muskeln an.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Ich krieg gleich das Kotzen«, sagte Katharina und verdrehte ihre Augen. »Wir kennen die Jungs ja erst seit gestern, und du bist schon über beide Ohren in David verschossen.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Und deinen Jan findest du nicht toll?«, sagte Yasmin. »Willst du mir das weismachen?« Sie winkte den Jungs zu. »Lass uns den Tag mit ihnen genießen. Sei doch nicht immer so eine Spießerin.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬ Yasmin betätigte den Schalter, der das Tor öffnete, und Sekunden später lag sie in Davids Armen.

Er begrüßte Yasmin mit: »Na, Gartenzwerg? Geht es dir gut?« Dann küsste er sie innig.

Jan kam auf Katharina zu, beugte sich leicht zu ihr herunter und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Er berührte ihre Schulter mit seiner Hand, aber Katharinas Körper forderte mehr. Ihre Gedanken kreisten um den gestrigen Nachmittag. Anstatt in die Offensive zu gehen und ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, trat sie einen Schritt zurück. Sie senkte den Kopf, zupfte an ihrem T-Shirt herum und versuchte, die kleinen Pölsterchen an ihrem Bauch zu verstecken.

Yasmin befreite sich aus Davids Umarmung und sagte protestierend: »Ich bin kein Gartenzwerg. Ich bin eins dreiundfünfzig. Genauer gesagt, eins dreiundfünfzig Komma sieben. Kennst du einen Gartenzwerg, der so groß ist? Ich nicht!« Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und warf David einen bösen Blick zu.

David lachte herzhaft los, zog sie zu sich und besänftigte sie mit einem langen Kuss.

Katharina schmunzelte. Das ist wieder typisch Yasmin. Sie zieht immer die ganze Aufmerksamkeit auf sich.

»So, Mädels. Auf geht’s nach Artenara. Ihr werdet sehen, das wird toll. Wir fahren mit unserem Auto, okay?« Trotz seines englischen Akzentes sprach Jan gut Deutsch.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Wir sitzen hinten«, sagte David, der sich für Millisekunden von Yasmins Lippen trennte.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Katharina seufzte. Sie würde so gerne auf der Rückbank das weiterführen, was gestern seinen Anfang genommen hatte. Sehnsüchtig starrte sie auf die hintere Autotür.

Alle vier stiegen in den Mietwagen ein. Jan steckte den Schlüssel in das Zündschloss und legte Katharina einen ausgebreiteten Plan von Gran Canaria auf ihre Oberschenkel. Ungläubig, in Zeiten von Google Maps noch Papierpläne zu verwenden, starrte sie darauf.

»Dort ist unser Ziel«, sagte Jan und zeigte auf einen kleinen Punkt auf der linken Seite der Karte. »Und hier sind wir jetzt. Wir nehmen die GC 60, die ist hier orange eingezeichnet mit roter Linie an der Außenseite, weil sie eine der wichtigsten Landstraßen auf Gran Canaria ist. Dann müssen wir Richtung Cruz de Tejeda. Kurz davor biegen wir auf die GC 210 Richtung Artenara ab.« ‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬Er fuhr mit dem Finger die Straßen auf dem Plan entlang, um ihr den Weg zu veranschaulichen. Durch das dünne Papier der Landkarte durchfuhr sie ein Schauer, der sich als Gänsehaut bemerkbar machte. ‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Ist dir kalt, Kathi?« Jan stellte die Klimaanlage aus.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Nein, nein. Alles gut … es ist nur …« Ihre Gesichtsfarbe änderte sich von einem zarten Rosa zu einem kräftigen Rot. »Ja, mir ist kalt.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Jan hatte seinen Blick auf die Straße gerichtet und fuhr los. Katharina hoffte, dass er ihren spontanen Farbwechsel nicht mitbekommen hatte, und schwieg.

»Yasi, hast du die Röhrchen mit für die Gesteinsproben?«, fragte sie kurze Zeit später und wandte sich nach hinten. Yasmin gab ihr keine Antwort. Katharina sah zwei Körper, die ineinander verschlungen die Welt um sich herum vergessen hatten. ‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Welche Gesteinsproben denn?«, fragte Jan, nachdem sich Katharina wieder nach vorne gedreht hatte. »Was‬ habt ihr beide denn vor?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Ich habe dir doch gestern erzählt, dass wir nach dem Sommer auf die Uni gehen und unseren Bachelor of Science machen. Die Uni in Mainz hat uns beide aufgenommen.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Sorry, Süße.« Er nahm seine Hand vom Lenkrad und legte sie auf ihre Hand. »Ich kenne mich mit diesen Fachbegriffen nicht aus. Ich habe Maurer gelernt und bin nicht so klug wie du.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Wir werden Geowissenschaften studieren. Also alles was mit der Erde zu tun hat. Geologie, Mineralogie, Bodenkunde und so weiter. So im Groben gesagt. Und unsere Röhrchen brauchen wir, damit wir von den Felsen Proben entnehmen können, um diese zu Hause zu untersuchen. Verstehst du, was ich meine?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Er nickte, obwohl sie nicht das Gefühl hatte, dass er ihr zugehört hatte. In diesem Moment war für sie nur eines wichtig: Seine Hand ruhte weiter auf ihrer Hand.

Als sie sich dem Basaltfelsen des Roque Nublo, dem Wahrzeichen der Insel, näherten, veränderte sich die Vegetation. Anfangs zeigten sich nur vereinzelt ein paar grüne Flecken. Kakteen und diese dickblättrigen, verholzten Pflanzen, an denen fliederartige, leuchtende Blumen wuchsen, waren im Süden keine Seltenheit. Sie fuhren an einer Ortstafel vorbei, auf der »Fataga« stand. Erst vor ein paar Tagen hatte Katharina in einem Reiseführer gelesen, dass sich dieses Dorf im sogenannten Tal der tausend Palmen befand. Es lag mitten in einer Felsschlucht, umgeben von Palmen, so weit das Auge reichte.

Je tiefer sie ins Inselinnere vordrangen und umso höher hinauf die enge Straße sie führte, desto mehr Lorbeer- und Kiefernwälder drängten sich am Straßenrand entlang. Schattige Olivenbäume luden Katharinas Fantasie ein, dort eine Pause zu machen, um in Ruhe die Bergwelt zu genießen.

Sie öffnete ihr Fenster und stellte fest, dass sich nicht nur die Vegetation, sondern auch die Temperatur verändert hatte. Aus den warmen sechsundzwanzig Grad im Süden zu Beginn der Reise waren binnen einer knappen Stunde nur mehr kühle achtzehn Grad geworden. Fasziniert ließ sie ihren Blick über schwarz glänzende Lavafelder und grüne Täler gleiten.

Nach eineinhalb Stunden schweigsamer Fahrt kamen die vier an ihrem Ziel in Artenara an.

Eine kalte Brise wehte über den Parkplatz. David schloss Yasmin wärmend in seine Arme. Katharina holte ihre Fleecejacke aus dem Rucksack, obwohl sie die Körperwärme von Jan vorgezogen hätte, denn die Jacke ließ den kalten Wind bis auf ihre Haut durch.

Katharina und Jan marschierten voraus in Richtung der berühmten Kapelle namens Eremita de la Virgen de la Cuevita, die etwas entfernt von Artenara lag und über einen schmalen Weg erreichbar war.

»Wusstest du, dass diese Kapelle der Höhlenjungfrau gewidmet ist?«, fragte Katharina Jan, um mit ihm ins Gespräch zu kommen. »Sie ist die Schutzpatronin der Studenten, Folkloregruppen und Radfahrer.«

»Nein«, entgegnete Jan.

Trotz seiner knappen Antwort plapperte Katharina munter drauflos: »Stell dir vor, die Kapelle ist teilweise in den Felsen gemeißelt worden. Und das noch dazu in einen Steilhang. Das muss eine Wahnsinnsarbeit gewesen sein. Glaubst du nicht?«

»Ja.«

Katharina sah zu Jan, der teilnahmslos neben ihr hertrottete. Sein Blick war auf den Boden gerichtet.

Schweig jetzt, Katharina, ermahnte sie sich.

Dieser Vorsatz hielt nicht lange an, und so berichtete sie Minuten später, wo sie nach der Kapelle hinwollte. »Das Museum muss ich unbedingt sehen … das Museo Ethno … warte mal«, sagte sie, kramte in ihrer Hosentasche, förderte ein leicht zerknülltes Papier zutage und las vor, was darauf stand. »Museo Ethno Gráfico Casas Cuevas de Artenara. Dort gibt es eine Ausstellung über das Leben in diesen Höhlenwohnungen, die es hier überall gibt.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Das Museum ist dort«, sagte David und zeigte auf einen Pfad, der direkt vom Hauptplatz des Ortes abging. Der hölzerne Wegweiser war im Laufe der Zeit verwittert, die Schrift darauf dennoch erkennbar.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Lasst uns gleich in das Museum gehen. Und erst danach in die Kirche. Was haltet ihr davon?« Jan schaute in die Runde.

David nickte und bog mit Yasmin in den Weg ein. Jan und Katharina schlenderten hinter ihnen her. Die ineinander verschlungenen Hände ihrer Freundin mit denen des Jungen fesselten Katharinas Blick.

»Aseos« stand auf einem Holzschild in Form eines Pfeiles und erinnerte sie daran, dass ihre Blase bereits auf der Fahrt mächtig gedrückt hatte.

‬‬‬‬»Geht ihr bitte vor. Ich komme gleich nach!«, rief sie den anderen zu und folgte dem Trampelpfad zur Toilette, der hinter das Museum führte. ‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Sie hörte Yasmin kichern.

Ich will auch einen Jungen, der mich zum Lachen bringt.

Ein Rascheln in der Nähe zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie blieb stehen und drehte sich um, in der Hoffnung, dass Jan ihr hinterhergegangen war, um mit ihr allein sein zu können. Doch da war niemand. Nur der Wind, der die Blätter der Olivenbäume in Bewegung brachte. Enttäuscht ging sie weiter.

Die Tür zum Toilettenraum war angelehnt. Sie öffnete sie, trat einen Schritt in die Finsternis des Raumes und tastete nach dem Lichtschalter. Jemand stieß sie grob zur Seite, dann wurde ihr von hinten ein nasses Tuch auf Mund und Nase gedrückt.

»Hilfe!«, schrie sie, so laut sie konnte. Doch das Tuch dämpfte ihre Schreie.

Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und schlug um sich. Ihr Angreifer war stärker und riss sie zu Boden. Auf dem Rücken liegend strampelte sie mit den Beinen und trat nach dem Fremden. Ihre Kräfte schwanden, je mehr sie sich wehrte.

Sie kämpfte nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen ihren Körper, der schwerer und schwerer wurde. Sie hatte Mühe, ihre Augen offen zu halten.‬‬‬‬‬‬‬

 

2

 

Die grauen Umrandungssteine, die teilweise durch das dürre Unkraut hervorblitzten, ließen erahnen, dass es hier einst einen Garten gegeben hatte. Dieser Ort auf der rechten Seite der Finca fesselte Mateos Blick und versetzte ihn schlagartig zurück in seine Kindheit. Zurück in die Vergangenheit, als seine Mama noch gelebt hatte.

Hier war ihr Lieblingsplatz. Der Gemüsegarten. Ich war sechs oder sieben und habe ihr beim Unkrautjäten geholfen. Sie hat so herzhaft gelacht, als ich die jungen Tomatenpflanzen für Unkraut hielt und sie aus dem Beet gerupft habe.

Sein Vater kam aus dem Haus und stellte sich auf die Terrasse. Kein Wort der Begrüßung kam über seine Lippen. Francos Schultern waren in gleicher Höhe, sein Körper ausbalanciert. Er streckte die Brust vor und hielt seinen Kopf kerzengerade. Hochnäsig blickte er auf Mateo herab, der vor den drei Stufen stand, die auf die Terrasse führten. »Da ist dein Werkzeug«, sagte Franco Àlvaro und deutete auf die Sense, die an der Hausecke lehnte.

Mateo nickte, zog sein T-Shirt aus, griff sich die Sense und fing an zu arbeiten. Sein Vater setzte sich auf den Schaukelstuhl, der auf der Terrasse stand, und überwachte Mateo mit Argusaugen. Seinen verschlissenen Strohhut hatte er ins Gesicht gezogen, damit ihn die hoch stehende Mittagssonne nicht blendete. Franco beobachtete Mateo, dem mit jedem Hieb der Sense mehr Schweißperlen von der Stirn tropften.

»Padre, ich habe die Frau gefunden, die mir ein Baby schenkt«, sprach Mateo und holte wieder mit der Sense aus‬‬‬‬‬. »Du wirst stolz auf mich sein.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Bis jetzt habe ich noch kein Ergebnis von dir gesehen. Du weißt, was ich von dir erwarte.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Sí, Vater. Das weiß ich.« ‬‬‬‬‬‬Mateo stellte sich aufrecht hin, hielt sich mit seiner freien Hand den schmerzenden Rücken und stützte sich mit der anderen auf der Sense auf. ‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»¿Qué pasa? Wieso hörst du Nichtsnutz auf zu arbeiten? Als ich in deinem Alter war, habe ich stundenlang durchgearbeitet.« Franco stand auf und stellte sich an die Brüstung der Terrasse. Er umfasste das Geländer so fest, dass die Muskeln an seinen Oberarmen hervortraten. ‬‬‬‬‬‬Seine Gesichtszüge verhärteten sich. Der Unterkiefer war kantig wie ein Felsbrocken.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Mateo sah seinen Vater an, griff mit der zweiten Hand zur Sense und arbeitete weiter.

Franco beobachtete ihn minutenlang, setzte sich dann wieder in den Schaukelstuhl und zog seinen Strohhut ein wenig mehr ins Gesicht.

Mateos Blick schweifte über das Unkraut hinweg hinunter ins Tal, wo wieder ein Ferienflieger auf dem Flughafen landete.

Nur einmal in ein Flugzeug einsteigen, an irgendeinen Ort der Welt fliegen, mit meiner Liebsten an der einen und meinem Sohn an der anderen Hand.

Durch seine abschweifenden Gedanken verlangsamte sich sein Arbeitstempo, was von seinem Vater nicht unbemerkt blieb.

Mateo hörte kein Knarren mehr von dem wippenden Schaukelstuhl. Das alarmierte all seine Sinne. Ungeachtet der Entfernung der beiden zueinander und obwohl Mateo seinem Vater den Rücken zugedreht hatte, verfehlte der durchdringende Blick seine Wirkung nicht. Sofort machte er sich wieder an die Arbeit.

Trotz Francos fortgeschrittenen Alters war er ein Mann, der einen allein durch seinen imposanten Körper einschüchterte. Mateo erinnerte sich dunkel daran, wie sein Vater in Uniform ausgesehen hatte. Damals war er noch bei der Polizei gewesen. Heute war er in Pension. Die Blicke, die er Mateo zuwarf, hatten die gleiche Wirkung wie damals in Mateos Kindheit.

Knapp die Hälfte des Gartens hatte er geschafft, doch die schweißtreibende Arbeit hinterließ Spuren. Sein Mund war trocken, und vor seinen Augen flimmerte es. Die Kopfschmerzen setzten ein. Obwohl sein Körper sich nach einer Pause und etwas zu trinken sehnte, arbeitete er im gleichen Tempo weiter.

Franco stellte sich neben Mateo mit einem Glas Wasser in der Hand und trank es in einem Zug aus. Mateo fragte nicht nach Wasser. Die Worte seines Vaters schallten noch aus Kinderzeiten in seinen Ohren.

»Du musst dir dein Essen und dein Trinken in meinem Haus verdienen. Du bekommst von mir nichts geschenkt.« Das hatte Franco jedes Mal zu Mateo gesagt, wenn dieser ihn um etwas gebeten hatte.

Mateo war in der Ecke des Gartens angelangt, wo seine Mutter damals, vor mehr als zwölf Jahren, ihre Blumen gepflanzt hatte. Lugar de las flores del amor, Ort der Blumen der Liebe – die Stelle in ihrem Garten, an der sie am besten gediehen. Unter dem Unkraut entdeckte Mateo einen grünen Stängel mit einer kleinen violetten Blüte daran. Er ging in die Hocke und grub die Blume mit seinen Fingern aus, sodass er sie mit der Wurzel aus der festen Erde herausnehmen konnte.

Ach, Mama, wie sehr ich dich vermisse, dachte Mateo, bevor sein Rücken brannte wie Feuer. Sein Vater stand keinen Meter von ihm entfernt und holte das zweite Mal mit seinem Ledergürtel aus, der Sekunden später erneut auf Mateos Rücken peitschte.

»Du Faulenzer! Jetzt arbeitest du schon wieder nicht! Nicht einmal das kannst du!« Franco schrie und ließ den nächsten Hieb auf Mateos Rücken niederschnellen.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Mateo zuckte zusammen, das Brennen verstärkte sich. Er biss seine Zähne zusammen. Kein Laut kam über seine Lippen.

»Ein Vater sollte stolz auf seinen Sohn sein. Aber auf dich kann ich nicht stolz sein. Du bist ein Nichtsnutz, ein Niemand! Mit deinen zwanzig Jahren hast du nichts, aber auch gar nichts auf die Beine gestellt.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Und wieder knallte der Gürtel auf Mateos Rücken. Diesmal so heftig, dass Mateos Knie unter den Schmerzen nachgaben und er zu Boden ging. Tränen rannen ihm über das Gesicht. Seine Kopfschmerzen verwandelten sich in pulsierende Messerstiche.

Die kleine Pflanze rutschte ihm aus der Hand, landete auf dem Boden und die Blüte knickte ab. Francos schwerer Stiefel zermalmte sie unter seiner Sohle, und damit auch die Hoffnung, dass sie je wieder erblühen würde. Die Blume erinnerte Mateo an seine Schwester Valeria.

Ein Hupen beendete die Schläge seines Vaters. Ein Auto fuhr den Steilhang herauf, der zur Finca führte. Hier auf Gran Canaria war es üblich zu hupen. Eine Glocke oder etwas, womit man seinen Besuch ankündigen konnte, fand man besonders bei einer Finca auf dem Land selten.

Sein Vater fädelte den Gürtel wieder in seine Hose ein und ging dem Auto entgegen, das die letzte Kurve vor dem Haus erreicht hatte.

Der Postbote parkte seinen Wagen neben Mateos und stieg aus.

»Hola, Franco. Wie geht es dir? Ich bringe dir die Post vorbei. Ah, hola, Mateo.« Der Mann grüßte ihn aus der Ferne. »Dich habe ich schon lange nicht mehr gesehen.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Buenas tardes, Pepé«, murmelte Mateo, nahm die Sense in die Hand und vermied es, den beiden, die jetzt ein Pläuschchen einige Meter entfernt hielten, den Rücken zuzukehren.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬Mateo arbeitete ab diesem Zeitpunkt noch schneller, aber nicht um seinen Vater zu gefallen, sondern um schnellstmöglich hier wegzukommen. ‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Eine knappe halbe Stunde später war Mateo fertig mit der Arbeit und stellte die Sense wieder an ihren angestammten Platz zurück.

»Padre, ich fahre!«, rief er ins Haus hinein, in das sein Vater Minuten vorher verschwunden war.

»Vale, bis dann«, tönte es in süßlicher, dunkler Stimmlage aus dem Inneren. »Komm mich mal wieder besuchen.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Mateo durchfuhr es bei den Worten wie ein Blitz.

Wie kommt Vater auf die Idee, genau diesen Satz zu sagen, den Mama immer gesagt hat, wenn Besuch das Haus verließ? Ist es seine Absicht, mich zu verletzen? Hat er das nicht schon zur Genüge getan?

Er atmete tief ein, bevor er Franco antwortete.

»Sí, Padre, werde ich«, sagte er und fügte in seinem Geiste die Worte nicht machen hinzu. Erleichtert, endlich hier wegzukommen, stieg er in sein Auto ein und fuhr vom Parkplatz der Finca. Er brauchte dringend einen Rat, und es gab nur einen Ort, an dem er sich sicher und geborgen fühlte. ‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Den Umweg, den er deswegen fuhr, nahm er gerne in Kauf. Er liebte diesen Ort. Hier hatte er sich schon als kleiner Junge immer wohlgefühlt. Damals mit Mama war er oft hier gewesen. Vater war nie mitgekommen.

Auf dem Parkplatz vor der Kirche stellte er das Auto ab, stieg aus und stand Sekunden länger, als er es musste auf der obersten Stufe vor der Eingangstür. Obwohl die Kirche sich direkt am Marktplatz befand, war sie um diese Zeit menschenleer. Erst ab dem späten Nachmittag, wenn die Geschäfte wieder öffneten, füllten sich die engen Gassen mit Menschen. Der Anblick dieser alten, schweren Holztür gab ihm das Gefühl von Sicherheit. Zärtlich fuhr er mit seinem Zeigefinger über die goldenen, teilweise verblassten Verzierungen.

All seine Sorgen würden vergessen sein, sobald er diese Tür öffnete.

Sie knarrte. Sofort umhüllte eine angenehme Kühle seinen verschwitzten Körper.

Der Pfarrer, der die Kerzen vor dem Altar löschte, schaute zu Mateo auf, der ihn nickend beim Eintreten begrüßte. Mateo steuerte zielsicher das Wandbild der Himmelfahrt Jesu an, das die gesamte Rückwand der Kirche zierte. Er durchschritt den Mittelgang, vorbei an den dunklen Holzbänken, an deren Ende die Gewölbe mit prunkvollem hellbraunem Stein ummantelt waren. Der Übergang zur Decke strahlte in hellem Weiß. Die Decke selbst, die mit dunklen Holzquadraten die beiden Sitzreihen überspannte, verlieh der Kirche einen einzigartigen Charme. An ihr schimmerten Hunderte Sterne hell im Schein der Sonne, die durch das bemalte Fenster oberhalb des Wandbildes schien.

Mateo ging am Altar vorbei und stellte sich direkt unter Jesus, der auf dem Bild mehr als zwei Meter in der Höhe schwebte und von oben gnädig heruntersah, begleitet von zwei Engeln.

Andächtig blickte er Jesus an und fing in Gedanken mit ihm ein Gespräch an. Er erschrak, als der Pfarrer ihm sein T-Shirt hochheben wollte.

»Hola, Mateo. Was ist denn mit dir passiert? Wieso ist dein T-Shirt voller Blut?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Mateo blockte mit seiner Hand den Pfarrer ab und zog das Shirt wieder herunter.‬‬‬‬‬‬‬‬‬»Es ist nichts. Nur ein paar Kratzer von den Ästen im Wald. Mir geht es gut.« Er drehte sich um und lächelte den Pfarrer an.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Mein Sohn. Das schaut nicht nach ›nichts‹ aus. Lass mich deine Wunden ansehen. Ich helfe dir.« Der Pfarrer zog erneut das T-Shirt nach oben. Mateo ließ ihn gewähren. »Äste … vale. Wir gehen in die Sakristei. Ich reinige deine Wunden. Du kannst mit mir über alles sprechen, mein Sohn.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Mateo willigte ein und folgte dem Pfarrer in den Nebenraum. ‬‬‬‬‬‬‬‬Er setzte sich auf den einzigen Stuhl, der vor einem Tisch stand. Der Pfarrer kramte in der Kommode nach dem nötigen Verbandsmaterial und begann gleich darauf mit der Wundversorgung.

»Mateo? Wie ist das passiert? Wer hat dir das angetan?«

»¿Señor pastor?‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬ Glauben Sie, dass Gott mir helfen wird?«

»Selbstverständlich. Gott hilft dir, mein Sohn. Du wirst sehen, er wird dir einen Engel schicken.« ‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Vorsichtig tupfte der Pfarrer mit einer Desinfektionslösung die blutenden Striemen ab. Leises Zischen drang über Mateos Lippen.

3

 

Yasmin kicherte, als sie sich mit David im Innenhof des Museums auf einer der wenigen Bänke niederließ. Sie lauschte dem Gesang der Vögel und sah nach oben in den wolkenlosen Himmel. Wieder kamen Davids Lippen auf ihre zu und küssten sie fordernd. Auch seine Hände gingen auf Wanderschaft. Erst als Jan ebenfalls den Innenhof betrat, stoppte Yasmin Davids Annäherungen, schaute Jan an und fragte: »Wo ist denn Kathi?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Auf dem Klo, denke ich. Hat wohl ein längeres Geschäft zu verrichten. Sie kommt sicher gleich.« Ein schelmisches Grinsen folgte, und kleine Lachfältchen zogen sich um seine Mundwinkel. »Sehen wir uns nun das Museum an, oder seid ihr beiden nur zum Küssen hier?«

»Ich gehe mal nachsehen, wo Kathi bleibt«, sagte Yasmin. »Kein Mensch ist so lange auf dem Klo. Das ist sicher schon zehn Minuten her.« Sie löste sich aus Davids Armen, stand auf und verließ den Hof.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Der kleine Trampelpfad, der zum Toilettenraum führte, war menschenleer. Yasmin öffnete nach wenigen Schritten die Tür. Im ersten Moment erkannte sie nur schemenhafte Umrisse und suchte tastend an der Wand nach einem Lichtschalter. Sekunden später flackerte das Neonlicht, bevor es den Raum erhellte. Yasmin erschrak.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Der Raum mit dem Waschbecken war leer, die Tür zur Toilette stand offen. Auf dem Boden lag eine Fleecejacke. Yasmin rannte darauf zu, als würde ihr Leben davon abhängen, und hob sie auf.

»Die gehört Kathi.« Sie drückte die Jacke ganz fest an ihren Körper. »Kathi?«, murmelte sie mit einem Zittern in der Stimme.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Sie durchsuchte die beiden Räume, drehte sich um und schritt wieder hinaus ins Freie.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Kathi?«, rief sie und schaute sich nach allen Richtungen um. »KATHI!«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Keine Antwort.

Keine Katharina.

Die beiden Jungs rannten auf sie zu. Yasmin zitterte am ganzen Körper.

»Was ist denn los? Wieso schreist du denn so?«, fragte David und schloss sie in seine Arme.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Kathi … Kathi«, stammelte Yasmin. Die ersten Tränen rannen ihr über die Wangen und sie vergrub ihr Gesicht an Davids Brust.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Hier ist sie nicht«, sagte Jan, nachdem auch er sich versichert hatte, dass die Toilette leer war. »Kathi, was soll der Scheiß?«, rief er.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Die Blätter der Olivenbäume raschelten, als würden sie auf Jans Rufe antworten.

»Sie … sie … sie ist weg!«, schluchzte Yasmin in Davids T-Shirt. Er streichelte ihr tröstend über den Rücken.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Sie kann nicht einfach weg sein«, sagte Jan. »Sie erlaubt sich sicher einen Scherz mit uns. Du wirst sehen, sie ist gleich wieder da. Ich schaue mich in der näheren Umgebung um.« Er ließ die beiden allein und ging davon.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Als er nach ein paar Minuten wiederkam, sah ihn Yasmin hoffnungsvoll an. Jan senkte seinen Blick Richtung Boden und schüttelte den Kopf. Yasmin lehnte an Davids Brust und weinte bitterlich.

»Was machen wir jetzt bloß?«, flüsterte David Jan zu, der versuchte, Yasmin zu beruhigen, indem er über ihre Haare strich.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Wir müssen uns aufteilen«, sagte Jan. »Einer geht zurück zum Auto, einer in das Museum und einer geht den Weg hier entlang.« Er zeigte auf den steinigen Pfad, der zu den Höhlenwohnungen führte, die sich oberhalb des Museums befanden.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

David nickte zustimmend und drängte Yasmin sanft von seinem Körper weg. ‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬»Yasi, du gehst zurück ins Museum und schaust dich dort um. Du bleibst dort, bis wir wiederkommen, ja? Du gehst nirgendwo anders hin. Nicht dass wir dich auch noch verlieren.« Dann sagte er zu Jan: ‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬»Ich gehe zum Auto, und du nimmst dir den Weg vor.«‬‬‬‬

Yasmin schaute beiden hinterher, wie sie sich von ihr entfernten, und wieder brach sie in Tränen aus. Sie stand wie festgewurzelt da, ein paar Schritte entfernt von der Toilette. Ihr Geist war bereit, Katharina zu suchen, aber ihr Körper war wie gelähmt.

»Reiß dich zusammen, Yasi«, murmelte sie, atmete tief durch und zwang ihre Füße, sich vom Untergrund zu lösen.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬Sie schlurfte dem Eingang des Museums entgegen, und immer wieder blieb sie stehen und schaute sich um. Aber mit jedem Schritt, den sie machte, und mit jedem Blick, den sie schweifen ließ, schwanden ihre Hoffnungen, Katharina zu finden, und die Angst verstärkte sich.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Wieder im Museum angekommen durchsuchte sie jeden Raum mehrmals. »Katharina, das ist nicht lustig. Ich mach mir Sorgen.« ‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Gedankenverloren blickte sie auf die Bank im Innenhof, auf der sie und David sich Minuten zuvor noch geküsst hatten und er ihr seine Liebe geschworen hatte. Dieser Hof hatte seine romantische Wirkung auf sie mit einem Schlag verloren.

Sie sah alles grau in grau.

Ihre Beine gaben nach, und sie sackte neben der kleinen Säule, die im Innenhof den Vorbau hielt, zusammen. Laut schluchzend versank ihr Gesicht zwischen ihren Knien, die sie dicht an den Körper herangezogen hatte.

Schritte, die sich näherten, weckten wieder Hoffnung in ihr. Sie blickte auf und sah durch einen Tränenvorhang in zwei dunkelbraune Augen. Der dicke Mann, der vor ihr stand, schaute sie mit besorgtem Blick an.

»Was ist passiert, Señora?«,fragte er und kam einen Schritt auf sie zu.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Ich verstehe nicht«, stammelte Yasmin und verschränkte die Arme vor der Brust.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Warum sitzen Sie denn hier auf dem Boden und weinen?«, antwortete der Fremde in gebrochenem Deutsch.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Meine Freundin. Ich finde meine Freundin nicht. Und die Jungs sind auch auf der Suche nach ihr. Einer ist zum Auto am Parkplatz zurück, und der andere ist hier irgendwo.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Ihre Freundin ist verschwunden?« hakte er nach. »Ich kann von meiner Wohnung genau auf den Parkplatz sehen. Dort steht kein Auto. Stehen Sie auf und setzen Sie sich auf die Bank.« Er reichte ihr die Hand, um ihr vom Boden aufzuhelfen. »Beruhigen Sie sich erst mal. Ich sehe mich hier mal um. Bleiben Sie hier. Ich komme gleich wieder.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Yasmin saß auf der Bank und starrte mit versteinertem Blick auf die Wand.

Wie hat er das gemeint, dass kein Auto auf dem Parkplatz steht? Habe ich das vielleicht falsch verstanden? Ihre Gedanken kreisten.

»Señora, hier ist keiner«, sprach der Fremde, als er sich ihr wieder näherte. »Weder Ihre Freundin noch die jungen Männer. Ich denke, es ist besser, wenn ich die Policía rufe. Okay, Señora?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Yasmin nickte, und der riesige Kloß in ihrem Hals verhinderte, dass Worte über ihre Lippen kamen.

Polizei? Keine Jungs da? Wo ist Kathi? Was ist das bloß für ein Albtraum?

Sie verstand kein Wort von dem, was er in sein Telefon sagte, da er Spanisch sprach. Er drehte sich zu ihr um, mit dem Handy am Ohr, und fragte: »Señora, wie heißen Sie? Wie ist Ihr Name?«

»Yasmin … Yasmin Becker«, stammelte sie.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Er gab ihren Namen durch, beendete das Gespräch und setzte sich neben sie auf die Bank. »Mein Name ist Antonio. Ich bin der Museumswärter und schaue hier nach dem Rechten. Ich wohne in einer Höhlenwohnung oberhalb und habe Schreie gehört. Ich vermute, die waren von Ihnen, Yasmin, stimmt’s?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Yasmin nickte.

»Inspektor Muñoz Díaz ist auf dem Weg hierher. Er ist in ein paar Minuten hier.«

Yasmin wischte mit ihrem Handrücken die Tränen aus ihrem Gesicht. Der Museumswärter holte ein Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche und reichte es ihr.

»¿Quieres agua? «, fragte er und streckte ihr seine Wasserflasche entgegen. ‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Yasmin nahm dankend an und erinnerte sich wieder an ihren Rucksack, den sie am Eingang abgestellt hatte. Gerade als sie aufstehen wollte, um ihn zu holen, betraten zwei Männer in Uniform und ein Mann in einem Anzug den Innenhof.‬‬‬‬‬‬‬‬

»Die Polizei ist da«, sagte Antonio, bevor er aufstand und den Männern entgegenging. Yasmin hörte ihren Namen mehrmals in dem Gespräch. Die beiden Uniformierten verließen Minuten später das Museum. Der Mann im Anzug näherte sich ihr. Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig. Aber nur wegen seines silbernen Haaransatzes, der sich von dem restlichen schwarzen Haupthaar deutlich abhob. Er setzte sich zu ihr auf die Bank.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Yasmin, soy Inspektor Carlos Muñoz Díaz. Sag Carlos zu mir. Was ist hier passiert?« Er sprach Deutsch, fast ohne Akzent.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Meine Freundin Katharina ist verschwunden. Sie ging auf die Toilette. Und als ich nachgeschaut habe, wo sie so lange bleibt, war sie nicht mehr da. Jan ist eine Runde ums Museum gegangen, hat sie aber auch nicht gefunden. Und dann haben wir drei getrennt nach Kathi gesucht.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Wer ist Jan?«, fragte Carlos. »Welche drei? Von was sprichst du, Kleines?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Der Freund von David«, sagte sie mit fester Stimme. »Wir waren hier mit den Jungs.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Und wer ist David?« Ein Seufzen folgte dem Satz‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Wir haben die beiden gestern am Strand von Playa del Inglés kennengelernt. Und heute sind wir zu viert hierher, um uns Artenara anzusehen.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Also, du und deine Freundin, ihr kommt aus Deutschland. Und die beiden Jungs? Sind das auch Deutsche?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Bevor Yasmin antworten konnte, betrat einer der Uniformierten den Innenhof. Carlos stand auf und ging auf ihn zu. Der Körpersprache nach zu urteilen, hatten sie Katharina nicht gefunden.

Carlos drehte sich wieder zu ihr und sprach: »Woher kommen die Jungs, sagtest du?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Aus England. Sie wohnen in der Nähe von Bristol, haben sie gestern erzählt. Das habe ich mir deswegen gemerkt, weil das die Geburtsstadt von Cary Grant ist.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Und der eine heißt David und der andere hieß … Jan.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Familiennamen?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Yasmin schüttelte den Kopf und schaute auf den Boden. Wer fragt schon nach Familiennamen?

Carlos kam wieder auf sie zu und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Weißt du, wo die Jungs hier auf der Insel wohnen? Wie bist du und deine Freundin hierhergekommen? Alles, wirklich alles, was dir einfällt, erzählst du mir, vale?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Sie haben gestern erzählt, dass sie in Vezinta oder so ähnlich wohnen«, sagte Yasmin. »Wir sind mit dem Auto von den beiden hierhergefahren.« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und fuhr schluchzend fort: »Oh Mann! Die Jungs müssen doch hier sein. Und Katharina auch!«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Du meinst sicher Vecindario«, sprach Carlos, und Yasmin nickte zustimmend. »Haben die beiden ein Mietauto, oder gehört ihnen das Auto? Weißt du das?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Es war ein Sticker an dem Auto. Ein runder Sticker. Aber ich kann mich nicht erinnern, was draufstand.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Welche Farbe hatte der Aufkleber? Versuche, dich zu konzentrieren.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Grün und weiß … oder blau und weiß … keine Ahnung«, stammelte sie, und unter Tränen fügte sie hinzu: »Wo ist denn bloß Kathi?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Wir finden Kathi, mit Sicherheit. Ich habe Verstärkung angefordert. Wir werden hier alles absuchen. Du kommst erst mal mit mir mit auf die Polizeistation. Dort ruhst du dich aus, und dann reden wir nochmals, vale?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

 

4

 

Sarah Österreicher betrat das Büro ihres Chefs, nachdem dieser ihr mit einer eindeutigen Handbewegung zu verstehen gegeben hatte, dass sie zu ihm kommen solle. Die letzten Sätze des Gesprächs mit dem anwesenden Paar schnappte sie noch auf.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Hilf uns, Norbert«, sprach der Mann und griff nach der Hand der Frau, die neben ihm saß. »Katharina ist nicht auffindbar. Sie ist verschwunden, von einem Moment auf den anderen. Yasmin, ihre beste Freundin, hat uns heute Abend angerufen. Sie ist auf einer Polizeistation irgendwo auf Gran Canaria. Sie hat uns die Nummer von dem Polizisten gegeben, ein gewisser Herr Muñoz Díaz. Der ist wohl der leitende Beamte vor Ort.« Frank überreichte Norbert Richter einen Notizzettel. In zittriger Schrift waren darauf Zahlen und Buchstaben notiert.

Kurz blickte Norbert auf den Zettel und reichte diesen weiter an Sarah, die sich zwischenzeitlich neben ihren Chef gestellt hatte.

»Frank, du bist hier bei der Berliner Polizei. Wie stellst du dir das denn vor, dass ich dir helfe?« Norbert holte tief Luft. »Gut, ich werde sehen, was ich in dieser Sache für dich tun kann. Die Canarios arbeiten nicht gerne mit ausländischen Behörden zusammen. Und außerdem kochen die da unten ihr eigenes Süppchen, was Gesetze anbelangt. Das muss dir klar sein.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Mit diesen Worten verabschiedete er sich von dem Ehepaar und reichte beiden die Hand.

Frank wollte gerade die Tür zu Norberts Büro schließen, als er diese nochmals aufmachte und mit tränenerstickter Stimme sagte: »Glaubst du, dass jemand dahintergekommen ist? Vielleicht wurde sie ja entführt. Werden wir eine Lösegeldforderung bekommen? Norbert, ich habe Angst um meine Tochter. Sie ist unser einziges Kind. Bitte bring sie uns heil zurück! Wir verlassen uns auf dich.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Wir finden deine Katharina. Lass uns einen Schritt nach dem anderen gehen. Zuerst muss ich nach Gran Canaria, um mehr Informationen zu erhalten. Wenn sich jemand bei dir meldet, dann ruf mich sofort an.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Sarah sah den beiden nach, als sie wie geprügelte Hunde das Gebäude verließen. »Chef? Wer war das? Wer ist Katharina, und was meinte er mit ›entführt‹? Was ist hier los?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Ruf du bei der Polizei in Gran Canaria an, bevor du Fragen stellst, bei denen dich die Antworten wirklich nichts angehen«, herrschte Norbert sie an.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Gut, und was soll ich sagen? Hallo, ich bin es. Keine Ahnung, warum ich anrufe. Ich befolge nur die Anweisungen von meinem Chef?« Sarah setzte ein schelmisches Lächeln auf.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Du bist und bleibst eine freche Göre. Warum habe ich bloß zugestimmt, dass du in meinem Revier arbeitest?« ‬‬‬‬‬‬‬‬Norbert stöhnte und schaute sie mit ernstem Blick an. Er griff nach einem der Bleistifte, die in einer Linie aufgereiht auf dem Schreibtisch lagen, und kritzelte etwas auf seinen Notizblock, den er aus einer Schreibtischschublade gezogen hatte. Er trennte den Zettel sauber vom Block und reichte ihn Sarah. ‬‬‬‬‬‬»Hier stehen die wichtigsten Daten. Erzähl dem Polizisten, dass wir in diesem Fall ermitteln. Wir brauchen die genaue Adresse, wo sich Yasmin Becker derzeit aufhält. Und setz deinen weiblichen Charme ein. Du musst den Inspektor davon überzeugen, dass es für ihn wichtig ist, dass wir kommen. Verstehst du das?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Sarah nickte, verließ das Büro und setzte sich an ihren Schreibtisch.

Ein mulmiges Gefühl kam in ihr hoch, als sie die spanischen Worte am anderen Ende der Leitung hörte. Spanisch hatte sie zuletzt in der Schule gehabt, und das auch nur zwei Jahre als Nebenfach. Sie versuchte, zumindest eine Begrüßung auf Spanisch aus ihrem Gedächtnis zu zaubern. Den Rest mixte sie in Englisch hinzu.

»Buen… buenas tardes, mi name es Sarah Österreicher. I am de Alemania. Do you speak alemán?‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬«

»Sí, ich spreche Deutsch«, antwortete Inspektor Carlos Muñoz Díaz. »Wie kann ich Ihnen helfen?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Sarah atmete erleichtert auf. »Es geht um die beiden Mädchen«, sagte sie und las die Namen von dem Zettel ab, der vor ihr lag. »Yasmin Becker und Katharina Pfeiffer.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Vale. Und was benötigen Sie von mir, Señora Sarah?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Diese sanfte männliche Stimme zauberte ihr ein Lächeln aufs Gesicht. Sie konnte sich nicht erklären, warum das so war.

»Die Adresse«, sagte Sarah, »und wie der Stand der Ermittlungen bezüglich Katharina Pfeiffer ist.«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Meine Privatadresse oder die Adresse, wo sich Yasmin Becker aufhält?« Ein leiser Lacher folgte.‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Sarah durchfuhr ein warmer Schauer, der sich schnell in ihrem gesamten Körper ausbreitete. Diese Stimme, dieses Lachen, all das brachte sie völlig aus dem Konzept. Sie räusperte sich und sprach: »Die Adresse der Bungalowanlage natürlich. Ihre Privatadresse brauche ich nicht. Dass Sie in solchen Situationen noch aufgelegt sind zu spaßen …«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Vale. Entschuldigen Sie. Sie verstehen wohl keinen Spaß, Señora Sarah. Und Sie sind von der Polizei in Deutschland?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

»Ja. Katharinas Eltern haben uns beauftragt, aktiv bei der Suche nach Katharina mitzuhelfen.«

»Und warum sollte ich Ihnen diese Informationen geben? Wie können Sie mir bei der Suche helfen? Wir kommen hier auch ohne Ihre Unterstützung zurecht. Auch wenn das bedeuten würde, dass ich Sie nie zum Abendessen einladen kann.«

»Wir haben Informationen über Katharina, die Sie bestimmt interessieren«, sagte Sarah. »Und das mit dem Angebot zum Abendessen überlege ich mir vielleicht noch. Wir fliegen mit Sicherheit nach Gran Canaria, ob Sie wollen oder nicht. Also? Arbeiten wir nun zusammen?«

Nach kurzem Schweigen antwortete Carlos: »Vale, Yasmin Becker wurde vor einer Stunde in ihr Ferienapartment gebracht und wird dort von einem Beamten betreut. Katharina Pfeiffer haben wir trotz intensiver Suche nicht gefunden. Wir glauben, dass sie von den beiden Jungs – zumindest von einem davon – entführt und verschleppt wurde. Da die beiden vom Tatort abgehauen sind, liegt die Vermutung doch sehr nahe. Die Adresse von Yasmins Aufenthaltsort schicke ich Ihnen via Mail zu. Wenn Sie mir Ihre Mailadresse geben würden? Ich nehme an, Ihre ist einfacher zu buchstabieren als meine.«‬‬‬‬‬‬‬‬

Sarah durchfuhr es wieder heiß, ihre Handinnenflächen schwitzten, und das Handy drohte ihr aus der Hand zu rutschen. Was war nur mit ihr los? Sie kannte diesen Mann noch nicht einmal.

In diesem Moment kam Norbert Richter aus seinem Büro und starrte in ihre Richtung. Sarah riss sich zusammen und buchstabierte angestrengt ihre Mailadresse, bedankte sich und beendete das Gespräch.‬‬‬‬

»Was ist los, Sarah? Wieso schwitzt du so? Bist du krank?«‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬

Sarah wischte sich ihre Hände am Hosenbein ab und versuchte, dem scharfen Blick von Norbert zu entgehen.

---ENDE DER LESEPROBE---