Ungerecht - Drea Summer - E-Book

Ungerecht E-Book

Drea Summer

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Beschreibung

Was bleibt, wenn dir alles genommen wird? Ein exklusives Villenviertel in Graz. Ein mächtiger Mann, der sich sicher fühlt. Und ein Ehemann, dem nichts mehr bleibt außer seinem Hass. Christian Schmitz betritt die Villa des mächtigen Verlegers Harald Moser mit einem einzigen Ziel: Er will Antworten. Doch mit jeder weiteren Stunde eskaliert die Situation. Immer mehr Menschen aus Mosers Umfeld betreten ahnungslos das Haus. Jeder von ihnen ist Teil der Wahrheit. Jeder hat Schuld auf sich geladen. Doch während das perfide Spiel eskaliert, beginnt Christian zu zweifeln: Hat er wirklich noch die Kontrolle? Oder ist er längst selbst ein Gefangener – in einer Hölle, aus der es keinen Ausweg gibt? Denn Rache mag gerecht sein. Aber sie macht aus dir das, was du am meisten fürchtest.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ungerecht

 

 

von Drea Summer

 

 

 

 

 

 

 

Auflage, 2019

 

© Alle Rechte vorbehalten.

 

Drea Summer

Los Tenderetitos, L 134

35100 San Fernando

San Bartolomé de Tirajana

Las Palmas de Gran Canaria

Spanien

Lektorat/Korrektorat: Lektorat TextFlow by Sascha Rimpl Covergestaltung © Traumstoff Buchdesign traumstoff.atCovermotiv © All About Space shutterstock.com

 

 

 

Ungerecht

 

 

Was würdest du tun, wenn man dir das Wichtigste nimmt? In einem ruhigen Vorort von Graz bricht Christian Schmitz am frühen Morgen in die Villa des schwerreichen Verlegers Harald Moser ein. Er fesselt den überraschten Mann. Im Laufe des Vormittags lockt Christian einige Personen aus Mosers näherem Umfeld unter einem Vorwand in das Haus. Er überwältigt sie alle, und ein schreckliches Spiel beginnt, in dem Christian immer tiefer in einen Strudel aus Gewalt und Blutdurst hineingezogen wird. Was geschah in den letzten zwölf Monaten? Und was bringt einen Mann dazu, sich in einen brutalen Folterknecht zu verwandeln?

 

1

 

Heute, morgens

 

Christian schnaufte schwer und blieb stehen. Trotz des Pfeifens, das aus seinem Mund huschte, hörte er das Rascheln der Bäume. Wieder segelten die Blätter auf den Boden, als ein eisiger Windhauch seine Haut berührte. Ein dicker Laubteppich bedeckte die Erde. Grau in grau, keine Farbe zu sehen. Es war fast so, als würde Christian in sein Innerstes blicken.

Der Mond schien hell, und die Bäume in dem kleinen Wald standen in weitem Abstand zueinander, sodass sie das Licht durchließen und er keine Taschenlampe einschalten musste. Die erste Hürde hatte er bereits Minuten zuvor hinter sich gelassen. Es war nicht einfach für ihn gewesen, über die knapp zwei Meter hohe Mauer zu klettern. Mit Sport hatte er sich noch nie anfreunden können. Viel lieber lag er vor dem Fernseher und schaute auf Netflix eine Serie nach der anderen, natürlich mit einer Tüte Chips an seiner Seite.

Er beugte sich vornüber und stemmte die Hände auf seine Oberschenkel. Sein Rucksack rutschte ihm in den Nacken. Nach dem dritten tiefen Ein- und Ausatmen bekam er wieder genug Luft, um sein Vorhaben weiter auszuführen. Das Ende des Wäldchens war bereits in Sichtweite. Er rannte zu einem Baum am Waldrand. Der Stamm war dick genug, um sich dahinter zu verstecken.

Sein Blick schweifte über die Wiese, die im Mondschein aussah wie ein englischer Rasen, hinüber zu der Villa, die gut fünfzig Meter entfernt war. Das Gebäude erweckte mit seinen vielen Fenstern auf den ersten Blick den Eindruck eines Märchenschlosses. Kleine, eckige Türme an zwei Seiten des Daches reckten sich in die Höhe. Die kunstvoll geschwungene Stuckatur über den Sprossenfenstern hob sich hell von der dunklen Fassade ab. Im Haus selbst sah er kein Licht, somit nahm er an, dass der Bewohner der Villa schlief und Christian freie Bahn hätte. Alles um ihn herum war ruhig.

Kurz – vielleicht waren es Millisekunden – dachte Christian daran, umzudrehen und einfach alles seinem Schicksal zu überlassen. Dem Arm der Gerechtigkeit. Nur dann drängten sich die Bilder von Corinne wieder in seinen Kopf. Das viele Blut, das nun auch an ihm klebte. Die Verantwortung, die wie ein Felsbrocken auf seinen Schultern lastete. Er musste es zu Ende bringen, das war er Corinne schuldig. Er war bereits hier, und nun gab es kein Zurück mehr. Kein Zurück in sein altes Leben. Sein altes Leben war tot. Ausgelöscht. Im Abfluss hinuntergespült. Er schüttelte den Kopf und hoffte, dadurch die Bilder aus seinem Kopf zu bekommen. Doch war das überhaupt möglich? Konnte er diese Bilder jemals wieder vergessen? Je mehr er darüber nachdachte, umso stärker wurde die Wut in ihm. Er ballte seine Hände zu Fäusten und rannte in geduckter Haltung über die Wiese zur Villa. Wie ein Schatten bewegte er sich über die weitläufige Terrasse. Das Wasser im Pool schimmerte im Mondschein.

An der Rückseite des Gebäudes angekommen drückte er sich gegen die Wand und atmete tief durch. Ein brennender Schmerz durchfuhr seinen Brustkorb und raubte ihm die Luft. Habe ich gar keine Kondition mehr? Das kann doch wohl nicht wahr sein. Er legte die Hand auf die linke Seite seines Oberkörpers und spürte sein Herz, das wie wild gegen die Rippen donnerte. Vielleicht war es auch zu viel Adrenalin, das sich in den letzten beiden Stunden in ihm aufgebaut hatte, und sein Körper reagierte deswegen so stark.

Mit einem Schlag wurde es dunkel. Er schaute zum Himmel und sah eine Wolke, die sich vor den Mond schob. Schnell zückte er sein Telefon, schaltete die Taschenlampe ein und schlich sich zur großen Hintertür. Es war nicht schwer, sich mittels eines Dietrichs Zutritt zu verschaffen. Das Schloss ließ sich problemlos aufbrechen. Er öffnete die schwere Holztür und betrat den Vorraum. Ein kühler, fast schon eisiger Hauch empfing ihn. Obwohl es erst Oktober war, sanken die Nachttemperaturen bereits in den einstelligen Bereich, aber in einem Haus sollte es eigentlich wärmer sein. Sein Körper reagierte sofort, und es rauften sich die Haare an seinen Armen um einen Stehplatz.

Christian machte einige Schritte und blickte in das erste Zimmer, das vom Vorraum abging. Die zweiflügelige Tür stand offen, und er sah einen riesigen Flachbildfernseher an der Wand hängen. Das Mondlicht schien wieder hell durch die vielen Fenster in den Raum herein. Die Wolke hatte sich offenbar verzogen. Christian blickte sich um. Die Ledercouch, die in der Mitte stand, nahm das halbe Wohnzimmer in Beschlag. Auf der linken Seite, dem Fernseher zugewandt, stand ein Sessel, der vom Aussehen her eher einem goldenen Thron ähnelte.

Ein lautes Sägen zerriss die Stille, und Christian horchte auf. Der Krach kam aus einer der oberen Etagen. Er schlich sich zum Treppenaufgang und lauschte. Stille.

Und dann setzte es wieder ein. Ein lautes Schnarchen. Christian tapste auf Zehenspitzen die Stufen in den ersten Stock und folgte dem Geräusch, das immer lauter wurde, je näher er kam.

Jetzt habe ich dich gleich, du Arschloch. Gleich wirst du dafür büßen, was du mir angetan hast.

Nach wenigen Momenten erreichte er das richtige Zimmer. Die Tür war geschlossen, und er griff mit der rechten Hand an die Klinke. Nervös fuhr er sich durch sein schwarzes, kurzes Haar. Jemand schrie in seinem Kopf: Nein, mach das nicht! Noch ist es nicht zu spät umzukehren. Du wirst in der Hölle schmoren, wenn du deinen Plan durchziehst!

Christian hielt einen Augenblick inne. Er spürte den Teufel, der ihm Anweisungen ins Ohr flüsterte, höchstpersönlich auf seiner rechten Schulter sitzen. Seine Hand begann zu zittern.

Ich bin bereits in der Hölle.

2

 

Drei Wochen zuvor

 

»Hallo? Liebling? Was ist denn passiert?«, fragte Christian ins Telefon. Seine Schicht hatte gerade erst begonnen. Er hatte sich alles bereitgelegt und sich auf eine ruhige Nacht gefreut. Nur die Rundgänge auf dem Gelände des Unterpremstätter Schotterwerkes würden ihn dazu bringen, seinen Posten zu verlassen. Der Thriller, den er sich heute Mittag in der Buchhandlung geholt hatte, lag auf dem Tisch vor den unzähligen Monitoren. Er hörte am anderen Ende der Leitung nur ein Schniefen, gefolgt von einem lauten Schluchzen. »Jetzt sag, was ist los?!« Christian stand von seinem Stuhl auf und stapfte ungeduldig im Raum auf und ab, während er auf die Antwort wartete. Was ist denn bloß wieder los? Hatte sie einen Albtraum? Oder war der Nachbarshund zu laut? Ein wenig genervt und mit lauterer Stimme fragte er wieder: »Corinne? Was ist los? Sprich endlich!«

Ein Räuspern folgte, bevor sie ins Telefon flüsterte: »Er ist frei.« Das waren die einzigen Worte, die sie herausbrachte, bevor sie in einen Heulkrampf ausbrach. Christian konnte ihre Worte nicht fassen. Wie soll das nur gehen? Wieso wurde er nicht verurteilt? Wieso haben sie ihn freigesprochen?

Noch während er über die Antworten nachdachte, flüsterte Corinne: »Er … er hat mich angezeigt.«

»Bitte, was?«, brüllte er ins Telefon, was er augenblicklich bereute, denn das Schluchzen am anderen Ende der Leitung verstärkte sich sofort. Es dauerte Minuten, bis sie ihm wieder antworten konnte. Minuten, die ihm vorkamen wie Stunden. Das Kopfkino schaltete sich in diesem Moment ein, und Tausende Fragen zermarterten seinen Verstand. So viel Ungerechtigkeit in einem Land wie Österreich konnte es doch gar nicht geben. War dieses System wirklich so aufgebaut, dass es nur denjenigen schützte, der sich den besseren Anwalt leisten konnte? Der mehr Geld zur Verfügung hatte? Das war doch alles nur ein Traum, und er würde gleich aufwachen, und der Scheißkerl säße hinter Gittern.

»Er hat mich angezeigt wegen falscher Verdächtigung und Rufmord.« Corinne hatte Mühe zu sprechen, und nur stockend kamen ihr die Worte über die Lippen.

Christian ließ sich auf den Stuhl fallen. Seine Knie hatten schlagartig nachgegeben. Er beugte sich vornüber und ließ das Handy von seinem Ohr sinken. Er wusste im ersten Moment nicht, wie er darauf reagieren sollte.

Wie kann das möglich sein? Wie kann ein Opfer zum Täter werden? Der Anwalt hat ja gesagt, es wird schwer, gegen ihn anzukommen. Dieser Mistkerl hat eine knallharte Anwältin im Gepäck, die über Leichen geht. Klar, er hat ja auch genug Geld. Und was haben wir? Wir haben gerade genug, um uns über Wasser zu halten. Und seitdem Corinne nicht mehr arbeiten kann, ist das Geld noch knapper als zuvor.

Christian schluckte den Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, hinunter. »Angezeigt? Dieses Arschloch hat dich angezeigt? Bei allem, was er dir angetan hat, ist er zur Polizei gerannt? Sag mal, ist der nicht ganz dicht?!«

Es wurde still in der Leitung. Er hörte nur Corinnes Atem, der schnell und unregelmäßig ging. »Mama hat heute den Brief entgegengenommen. Du hast ja geschlafen am Vormittag, und ich … ich …«, sagte sie, und die Worte erstarben mitten im Satz.

»Ja, ist schon gut, mein Schatz. Du kannst im Moment einfach nicht. Wie geht es jetzt weiter? Was sollen wir bloß tun? Wir können nicht noch mehr Geld für den Anwalt ausgeben.« Seine Hände zitterten, und der Wunsch, endlich aufzuwachen, war groß. Er fühlte sich, als wäre er der Protagonist in einem Psychothriller. Er wusste, dies war erst der Anfang des abscheulichen Spiels, das dieser arrogante, aufgeblasene Arsch mit ihnen beiden spielte. Geld regierte die Welt.

»Ich hätte meinen Mund halten und niemandem etwas davon erzählen sollen«, meinte Corinne. »Dann wäre das alles nicht passiert.«

»Nein! Das wäre falsch gewesen. Du hast richtig gehandelt. Der Scheißkerl gehört hinter Schloss und Riegel. Wir haben zu sehr auf die Gerechtigkeit der österreichischen Justiz vertraut. Viel zu sehr. Es gibt keine Gerechtigkeit in diesem Land. Ich werde das regeln, okay?« Christian hörte seine eigenen Worte. Bisher hatte er immer alles regeln können. Klar, er war der Mann im Haus. Er musste seine Familie beschützen. Er musste das tun, was ein Mann tun musste.

Alles hatte so schön begonnen vor knapp fünf Jahren, als er und Corinne sich kennengelernt hatten. Er hatte sie im Supermarkt über den Haufen gerannt und als Entschuldigung zu einem Kaffee eingeladen. Dieses schüchterne Wesen, das ihm gegenübergesessen hatte, eroberte sofort sein Herz, und er war unsterblich in sie verliebt, von der ersten Sekunde an. Obwohl er fast acht Jahre älter war als sie, verliebte auch sie sich in ihn.

Ich werde das regeln, schoss es ihm wieder durch den Kopf wie ein Pfeil, der sein Ziel verfehlt hatte und nun unkontrolliert herumflog.

»Ich liebe dich«, flüsterte er in die Stille des Telefons. Er beendete das Gespräch und schrieb seiner Schwiegermutter eine Nachricht.

 

Liebe Klara,

bitte schau zu Corinne hoch. Ihr geht es nicht gut. Und bitte lass sie nicht aus den Augen.

Kuss, Christian

 

Dann legte er das Telefon zur Seite und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er hatte alles um sich herum vergessen. Nur der eine Satz brannte sich in sein Hirn und zwang seine Gedanken in einen Käfig.

Ich werde das regeln.

3

 

Drei Wochen zuvor

 

»Ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrem Sieg«, sagte Christine Fleur. Harald Moser hielt ihre Hand länger fest, als es eigentlich sein musste. Christine versuchte, ihre Hand aus seiner zu ziehen, doch es gelang ihr nicht. Ein Gefühl des Unbehagens überkam sie.

Sie schaute ihrem Mandanten in die Augen, und Moser grinste. Boah, welch ein widerlicher, alter Sack. Allein sein süffisantes Lächeln verfolgte sie bis in ihre Träume. Und sein heutiges Erscheinungsbild würde noch einige Zeit in ihrem Gedächtnis verweilen – dieser Hemdknopf in der Höhe seines Bauchnabels war selbstmordgefährdet, und es war nur mehr eine Frage der Zeit, wann er sich aufgrund der hohen Spannung des Hemdes lösen und ein weiteres Stück nackte Haut preisgeben würde. Schon die ganze Zeit, während des Prozesses, hat er mir ständig Avancen gemacht. Wie werde ich den jetzt wieder los? Ich mache nur meinen Job. Nicht mehr und nicht weniger.

»Herr Moser? Würden Sie bitte meine Hand wieder loslassen?«, sagte sie mit Nachdruck in ihrer Stimme.

Er lockerte seine Finger, beugte sich hinunter und presste seine wulstigen Lippen auf ihren Handrücken. Sie spürte, wie ihr die Magensäure in die Speiseröhre stieg. Er war ein Mann, der genau wusste, was er wollte. Mit über fünfzig Jahren Lebenserfahrung, die er vorzuweisen hatte, hätte sich Christine mehr Weisheit als Geilheit von ihrem Mandanten gewünscht. Aber es war die Welt, in der sie zu Hause war. Und dieser Fall war kinderleicht zu gewinnen gewesen. Die DNA-Spuren waren nicht von ihrem Mandanten, die Anzeige kam erst zwei Tage nach dem angeblichen Übergriff. Und ihr besonderes Ass im Ärmel: die Beförderung der Kollegin, die noch nicht so lange in der Redaktion ihres Mandanten beschäftigt war. Perfekte Sache. Die Variante mit dem Racheakt der Klägerin war natürlich das Tüpfelchen auf dem I. Die Richterin hatte ihr geglaubt, oder wie man es auch immer nennen mochte. Schließlich hatte Christine alles darangesetzt, diesen Fall zu gewinnen, und nichts dem Zufall überlassen.

»Gehen Sie mit mir heute Abend essen, Frau Fleur? Oder darf ich Sie Christine nennen? Ich meine, zur Feier des Tages. Ich kenne da ein Spitzenrestaurant ganz …«

»Nein, danke. Heute Abend habe ich leider schon etwas vor, Herr Moser.« Christine dachte an ihren Lieblingssessel, in dem sie nach der Arbeit gerne saß und ein gutes Buch las. Der Duft von Pfefferminztee, den sie dazu trank, war sofort in ihrer Nase präsent und ließ sie in eine angenehme Stimmung fallen.

»Oder an einem anderen Tag, der in ihren Terminkalender passt«, sagte Moser und trat ein Stück näher an sie heran.

Sie wich zurück, um den notwendigen Abstand wiederherzustellen. »Sieht sehr schlecht aus im Moment. Mein Terminkalender ist voll. Vielleicht passt es mal zu einem späteren Zeitpunkt. Ja, Herr Moser?« Christine schnappte sich ihre schwarze Aktentasche, die perfekt auf ihr heutiges schwarz-rotes Kostüm abgestimmt war. Den Umschlag, den ihr Moser gegeben hatte, ließ sie darin verschwinden. Sie war gerade im Begriff, aus dem Büro zu gehen, da hielt er sie an ihrem Unterarm fest. Ihr Herzschlag verdoppelte sich von einer Sekunde auf die andere und hämmerte gegen ihren Brustkorb. Sie setzte ihr Pokerface auf. Trotzdem hatte sie Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, und schob ihre schwarze Brille ein Stückchen höher auf die Nase. »Ja? Was ist denn noch, Herr Moser?«

»Sie sind so eine wunderschöne Frau. Sie verwehren mir, Sie kennenzulernen. Warum sind Sie nur so unnahbar? Ist das Ihre Masche, damit die Männer mehr Interesse an Ihnen haben?«

»Ich habe viele Termine. Für ein Privatleben bleibt mir nur wenig Zeit. Das müssten doch gerade Sie, Herr Moser, am besten wissen. Schließlich leiten Sie einen renommierten Verlag.«

Ihre Worte hatten offensichtlich Eindruck bei ihm hinterlassen. Er ließ ihre Hand los. Obwohl ihr Instinkt sie zur Flucht aufrief, ging sie langsam und mit hocherhobenem Kopf zur Tür hinaus. Erst als sie aus seiner Sichtweite war, rannte sie zum Lift, der genau in diesem Moment seine Türen öffnete.

Eine Frau mit knallroten, schulterlangen Haaren, etwas älter als sie selbst, stieg aus dem Aufzug aus. Sie hatte ihre rosa Bluse locker oberhalb des Bauchnabels zusammengeknotet. Es musste sich wohl um eine Reporterin handeln, die hier arbeitete. Sie grüßte freundlich, und Christine hielt die Luft an, bis sich die Türen wieder schlossen. Dann atmete sie erleichtert aus. Ihr Kopf sackte ein klein wenig nach vorne, und ihre blonden Haare verdeckten ihr Gesicht. Sie ließ die Aktentasche, die sie Sekunden zuvor noch fest umklammert gehalten hatte, sinken. Erst jetzt merkte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte.

Der Lift gab einen Ton von sich, als er in der untersten Etage ankam. Christine stellte sich aufrecht hin, wischte ihre Haare aus dem Gesicht und zog ihre Schultern zurück. Sie verließ das Gebäude und stöckelte ihrem Auto entgegen.

Ihr Handy klingelte. Sie blieb stehen und kramte in ihrer Tasche. Das Klingeln war bereits verstummt, als sie ihr Telefon fand. ›1 versäumter Anruf von Kirsten‹ stand auf dem Display. Die nervt auch, dieses geldgierige Weib, dachte sie sich und rief zurück. Allerdings ging nach dem dritten Läuten nur die Mailbox dran.

Das gibt es doch nicht. Sie hat mich vor nicht mal einer Minute angerufen. Was hat sie mit dem Handy gemacht? Weggeschmissen? So was werde ich nie verstehen.

Sie wählte eine andere Nummer aus ihrem Telefonspeicher. Eine freundliche weibliche Stimme meldete sich: »Bezirksgericht Graz-Ost. Vermittlung. Was kann ich für Sie tun?«

»Richterin Kirsten Klauß, bitte.«

»Die Richterin telefoniert gerade. Soll ich ihr etwas ausrichten?«

»Nein, ich versuche es später nochmals.« Christine beendete das Gespräch. Sie war bereits bei den Stufen angekommen, die in die Tiefgarage führten. Gleich würde sie in ihrem Auto sitzen und mit jedem Meter, den sie dann fuhr, der ersehnten Ruhe näher kommen.

4

 

Vor einem Jahr

 

»Der Chef ist heute mal wieder besonders gut gelaunt, was?«, sagte Corinne und beugte sich zu Susi, die ihren Arbeitsplatz neben ihrem hatte.

Susi sah auf und deutete mit dem Kopf Richtung Ausgang. »Pause? Ich kann mir das Geschrei heute wirklich nicht mehr anhören. Die arme Irina. Er hat sie heute schon wieder über. Letztes Mal war es so krass, dass sie aufsprang und weinend aus der Redaktion gerannt ist. Also, ehrlich, wenn ich einen anderen Job finde, dann bin ich hier weg. Weg von diesem Irrenhaus und diesem Choleriker.« Susi loggte sich aus ihrem Computer aus und stand auf. Ihre knallroten Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden, der bei jeder Bewegung hin und her wippte. Heute trug sie ein graues T-Shirt mit Mickey Mouse darauf und eine neongelbe Hose dazu. Corinne bewunderte ihren Kleidungsstil. Selbst traute sie sich solche Kombinationen nicht zu, aber zu Susi passte es.

Corinne stand ebenso auf und folgte ihr. Sie hatte es fast zur Tür hinaus in die Teeküche geschafft, da hörte sie hinter sich ihren Chef brüllen.

»Frau Heimgartner? Wo wollen Sie schon wieder hin? Schon wieder eine Pause? Sie kommen sofort in mein Büro, haben Sie verstanden? Ihr letzter Artikel über die Mode der heutigen Jugend war … ich finde keine Worte dafür, wie einseitig der war. Ich habe Lesermeinungen auf meinem Tisch, die sind alle dafür, dass ich sie entlassen sollte.«

Corinne hatte die Türklinke schon in der Hand. So kurz vor dem Ziel gescheitert. Sie hörte Susis Worte, die sie ihr zuflüsterte: »Oh nein, Liebes! Das tut mir so leid für dich.«

Super, davon habe ich jetzt was, dass es dir leidtut. Nicht schon wieder in sein Büro. Der Typ ist so ekelhaft.

Sie streifte die braun-rötliche Strähne ihres Haares hinter das Ohr und seufzte. Dann schloss sie kurz ihre Augen und atmete tief durch, bevor sie sich umdrehte.

Harald Moser stand in der geöffneten Tür seines Büros. Sein Gesicht war blutrot angelaufen, seine Nasenflügel vibrierten und er schnaubte wie ein wild gewordener Stier. Er hatte nichts mit dem Nikolaus gemeinsam, so zumindest war sein Spitzname anfangs von den Kollegen vergeben worden.

Warum muss er gerade mich heute auf der Schippe haben?

»Ich komme, Herr Moser.« Corinne sprach mit leiser Stimme und beeilte sich, zu ihrem Chef zu gelangen, der bereits in sein Büro stampfte. Die mitleidigen Blicke ihrer Kollegen ließ sie über sich ergehen.

»Tür zu!«, schrie Moser und setzte sich auf seinen überbreiten Chefsessel, der vor einem Echtholzschreibtisch stand.

Corinne erschrak, erholte sich aber im nächsten Moment wieder und schloss die Tür.

»So, Frau Heimgartner. Nun zu Ihnen. Die Qualität Ihrer Artikel hat in letzter Zeit ziemlich nachgelassen. Sie schreiben nicht mehr, wie ich es gerne hätte. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrer Kollegin Susanne Barlang. Sie schreibt wunderbare Texte über alles Mögliche. Sie ist nicht so einseitig wie Sie. Bei Ihnen dreht sich alles nur um Mode und Beauty. So was kann ich nicht gebrauchen. Bis Ende dieser Woche haben Sie Zeit, einen vernünftigen Artikel zu verfassen, der die Leser auch interessiert. Ansonsten fliegen Sie raus. Und jetzt verschwinden Sie aus meinem Büro!« Moser nahm seinen abwertenden Blick von ihr und unterstrich seine Worte mit einer wedelnden Handbewegung. Für ihn war dieses Gespräch beendet.

Corinne spürte, wie der Boden unter ihren Füßen weggezogen wurde. Sie brauchte diesen Job. Jetzt noch dringender als zuvor. Tausende Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Wie in Fels gemeißelt stand sie da und wusste nicht, wie sie auf diese Drohung reagieren sollte. Sie starrte ihren Chef an, doch der war schon wieder mit seinem Computer beschäftigt. Es dauerte einige Momente, bis ihr Hirn die Information verarbeitet hatte und sie wieder fähig war, sich zu bewegen. Hastig drehte sie sich um und verschwand durch die Tür in das Großraumbüro. Sie senkte ihren Kopf, denn sie wollte sich den Blicken ihrer Kollegen entziehen. Langsam ging sie zu ihrem Arbeitsplatz und setzte sich wieder vor ihren PC. Die ersten salzigen Tränen rannen ihr bereits über die Wangen. Wie sollte sie das bloß schaffen? Bis Ende der Woche, hatte er gesagt. Aber es war doch das Lifestylemagazin in der Steiermark. Hier ging es um Mode und um Beauty. Es hatte doch einen Grund, warum der Verlag »Trend und Schick« hieß. Noch vor Minuten hatte sie gedacht, dass es nichts gab, was sie jetzt noch aus ihrer perfekten Welt stoßen könnte. In ihrem Inneren war das Kartenhaus, das sie und Christian sich mühevoll aufgebaut hatten, mit einem Schlag von einer Abrissbirne in Schutt und Asche gelegt worden.

Susi rutschte mit ihrem Stuhl näher an Corinne heran und flüsterte: »Ich helfe dir, Liebes. Es wird alles wieder gut. Er hat heute nur einen ausgesprochen schlechten Tag. Er hat das sicher nicht so gemeint. Oder … oder hast du ihm von deiner Neuigkeit bereits erzählt? Und er flippt deswegen so aus?«

»Nein«, stammelte Corinne. »Natürlich habe ich ihm nicht erzählt, dass ich schwanger bin. Wann hätte ich denn die Gelegenheit dazu gehabt?«

Zeitgleich mit dem Ende des Satzes erfüllte Harald Mosers laute Stimme das Büro. Es war binnen Millisekunden alles still. Keiner traute sich, auch nur einen Mucks zu machen.

Die junge Praktikantin, die erst seit einer Woche im Verlag arbeitete, sprang blitzschnell von ihrem Schreibtisch auf und rannte in die Teeküche, um dem Chef seinen angeforderten Kaffee zu bringen. Sie betrat Mosers Büro, nur um es Sekunden später wieder weinend zu verlassen. Auf ihrer weißen Rüschenbluse prangte ein hellbrauner Fleck. Die Kleine würde wohl ihr Praktikum nicht zu Ende machen.

Corinne starrte dem Mädchen entsetzt hinterher. Für was für ein erbarmungsloses Ekelpaket arbeite ich bloß? Wenn Moser damals vor sieben Jahren schon die Leitung des Verlages gehabt hätte, als sie hier angefangen hatte, dann würde sie heute sicher nicht für ihn arbeiten. Bei ihrem Vorstellungsgespräch hatte noch sein Schwiegervater auf dem Chefsessel gesessen. Erst nach dessen Tod vor vier Jahren hatte Harald Moser die Leitung übernommen. Seitdem waren zwar die Umsatzzahlen weit nach oben gestiegen, allerdings blieb der Mensch auf der Strecke.

»Er ist und bleibt ein Schwein. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Aber du … du musst ihm sagen, dass du schwanger bist, dann kann er dich nicht feuern. Verstehst du?« Susi legte ihre Hand auf Corinnes Unterarm und schaute sie mit forderndem Blick an.

Corinne nickte nur. Klar wusste sie das. Nur, heute mit ihm zu sprechen, wäre keine gute Idee. Vielleicht morgen, wenn er etwas bessere Laune hatte. Sie streichelte gedankenverloren über ihren Bauch. Obwohl sie erst in der elften Schwangerschaftswoche war, spürte sie bereits die Anwesenheit ihres Babys, das in ihr wuchs und gedieh.

5

 

Heute, morgens

 

Christians Herz klopfte bis zum Anschlag in seiner Kehle. Sein Mund war trocken, und die Zunge klebte am Gaumen fest. Noch nie in seinem Leben war er so aufgeregt und ängstlich zugleich gewesen. Das lag vielleicht auch daran, dass er sich zuvor noch nie in so einer Situation befunden hatte. Er musste das Versprechen einlösen, nur das zählte im Moment, und nur das gab ihm den Antrieb, trotz seiner Angst weiterzumachen. Er drückte die Klinke nach unten und öffnete die Tür, die mit einem leisen Knarren aufging. Dieses Knarren hörte sich eher an wie das Knurren eines Hundes, und Christian erstarrte. Er hatte das Gefühl, dass dieses Geräusch durch die ganze Villa hallte und ihn als Eindringling entlarven würde. Doch im nächsten Moment setzten die Schnarchgeräusche wieder ein, und Christian atmete vor Erleichterung aus. Er würde alles daransetzen, dass dieser Abschaum seine gerechte Strafe bekäme. Und die sah nicht im Entferntesten so aus, wie es die Justiz entschieden hatte.

Er sah auf das übergroße Bett mit dem Kopfteil aus Metall. Harald Moser schlief tief und fest, obwohl ihm das Mondlicht ins Gesicht schien. Seine Stirn war in Falten gelegt.

Christian stand mitten im Zimmer und beobachtete den schlafenden alten Mann, der ihm alles genommen hatte. Alles, wirklich alles, was ihm jemals heilig gewesen war. Derjenige, der Schuld daran hatte, was passiert war.

Nun würde er ihm alles nehmen. Er sollte dafür büßen.

Christian holte das Pfefferspray aus seinem Rucksack und hielt es direkt vor Mosers Gesicht.

---ENDE DER LESEPROBE---