April Lady - Georgette Heyer - E-Book
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April Lady E-Book

Georgette Heyer

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Beschreibung

Lord Giles, der Earl of Cardross, ist aufrichtig in seine schöne junge Ehefrau Helen verliebt. Doch als sich die Rechnungen der Hutmacher und extravaganten Schneider häufen, wird er misstrauisch. Hat sie ihn etwa nur wegen seines Reichtums geheiratet, wie man in den vornehmen Kreisen Londons munkelt? Als dann noch eine kostbare Halskette aus dem Familienerbe verschwindet, scheint die Ehekrise am Grosvenor Square nicht mehr aufzuhalten zu sein ...

"April Lady" ist eine köstliche Ehekomödie voller amüsanter Missverständnisse aus der Feder der unvergleichlichen Georgette Heyer, die durch ihre ironische und elegante Schreibweise überzeugt.

"Eine ausgelassene Lektüre, die vor allem Bridgerton-Zuschauerinnen Freude bereiten wird." THE INDEPENDENT

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Über dieses Buch

Lord Giles, der Earl of Cardross, ist aufrichtig in seine schöne junge Ehefrau Helen verliebt. Doch als sich die Rechnungen der Hutmacher und extravaganten Schneider häufen, wird er misstrauisch. Hat sie ihn etwa nur wegen seines Reichtums geheiratet, wie man in den vornehmen Kreisen Londons munkelt? Als dann noch eine kostbare Halskette aus dem Familienerbe verschwindet, scheint die Ehekrise am Grosvenor Square nicht mehr aufzuhalten zu sein ...

Über die Autorin

Georgette Heyer, geboren am 16. August 1902, schrieb mit siebzehn Jahren ihren ersten Roman, der zwei Jahre später veröffentlicht wurde. Seit dieser Zeit hat sie eine lange Reihe charmant unterhaltender Bücher verfasst, die weit über die Grenzen Englands hinaus Widerhall fanden. Sie starb am 5. Juli 1974 in London.

Georgette Heyer

April Lady

Aus dem Englischen von Pia von Hartungen

beHEARTBEAT

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Copyright © 1957 Georgette Heyer

© 1985 Richard G. Rougier

Die Originalausgabe APRIL LADY erschien 1957 bei William Heinemann.

Copyright der deutschen Erstausgabe:

© Paul Zsolnay Verlag GmbH, Hamburg/Wien, 1957.

Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer

Covergestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de

unter Verwendung von Motiven © Richard Jenkins Photography

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-0313-0

www.lesejury.de

Kapitel I

Tiefe Stille senkte sich über das Bibliothekszimmer. Es herrschte jedoch keine Atmosphäre von Vertrautheit, sondern die Stimmung war spannungsgeladen und bedrohlich. Myladys blaue Augen starrten ängstlich in die kühlen grauen von Mylord, um schließlich wieder zum unter seiner Hand liegenden Stapel unbezahlter Rechnungen zurückzukehren. Sie senkte ihr schönes Köpfchen und presste die Hände nervös aneinander. Trotz ihres hochmodernen und außerordentlich teuren Negligés aus französischer Seide und des smarten kurzen Haarschnitts, den der fashionabelste Friseur Londons für ihre goldenen Locken kreiert hatte, sah sie unglaublich jung aus, fast wie ein Schulmädel, das man bei einem Unfug ertappt hat. Sie war in der Tat noch keine neunzehn Jahre alt und seit fast einem Jahr mit dem Gentleman verheiratet, der ihr gegenüber vor seinem Schreibtisch stand und sie stumm und regungslos ansah.

»Nun?«

Sie schluckte krampfhaft. Der Earl sprach zwar sehr verhalten, doch ihr feines Ohr erkannte sogleich den unerbittlichen Tonfall in seiner Stimme. Sie sah ihn verängstigt an, errötete und senkte den Blick. Er sah sie keineswegs böse an, es stand aber außer Zweifel, dass er fest entschlossen war, eine Antwort auf die völlig unbeantwortbare Frage zu erzwingen, die er seiner irregeleiteten jungen Frau gestellt hatte.

Und wieder senkte sich das bedrohliche Schweigen über den Raum, das nur durch das Ticken der großen Uhr auf dem Kaminsims unterbrochen wurde. Mylady krampfte die Finger so fest zusammen, dass die Knöchel weiß schimmerten.

»Ich fragte dich, Nell, wie es kommt, dass alle Geschäftsleute –«, der Earl hob die Rechnungen in die Höhe und ließ sie hierauf wieder auf den Schreibtisch fallen, »es für notwendig erachteten, sich zur Begleichung ihrer ausstehenden Rechnungen an mich zu wenden?«

»Es tut mir so schrecklich leid!«, stotterte die junge Gräfin.

»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, sagte er trocken.

»Nun ja ... es ist ... ich glaube, es ist, weil ich ... weil ich sie zu bezahlen vergaß.«

»Du hast sie zu bezahlen vergessen?«

Das goldblonde Haupt senkte sich noch tiefer. Sie schluckte wieder.

»Wieder einmal in Geldverlegenheit, Nell?«

Sie nickte schuldbewusst, während sie blutrot wurde.

Er schwieg einen Moment, und sein Gesichtsausdruck war unergründlich. Sein Blick schien sie aufmerksam zu prüfen, doch man hätte unmöglich erraten können, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen. »Es scheint, dass ich dir ein völlig unzulängliches Nadelgeld überlassen habe«, bemerkte er.

Das Bewusstsein, dass das Nadelgeld, welches sie von ihm erhielt, ungemein großzügig war, veranlasste sie, ihm einen flehenden Blick zuzuwerfen und zu stottern: »Nein, oh nein!«

»Warum machst du dann Schulden?«

»Ich habe Einkäufe gemacht, die ich vielleicht nicht hätte machen dürfen«, sagte sie verzweifelt. »Dieses ... dieses Negligé zum Beispiel! Es tut mir schrecklich leid! Ich werde es nie wieder tun.«

»Kann ich deine bezahlten Rechnungen sehen?«

Das wurde in noch sanfterem Ton vorgebracht, dennoch vertrieb es den letzten Rest der Farbe von ihren Wangen. Sie wurde ebenso blass, wie sie vorher errötet war. Obwohl sie einige bezahlte Rechnungen vorzuweisen hatte, wusste niemand besser als sie, dass der Gesamtbetrag – wenn er der Tochter eines verarmten Pairs auch enorm erschienen sein musste – nicht einmal über die Hälfte der Verwendung des großzügigen Nadelgeldes Aufschluss gab, welches vierteljährlich bei ihrem Bankier eingezahlt wurde. Und Mylord würde im nächsten Augenblick die Frage stellen, die sie so sehr fürchtete und nicht wahrheitsgemäß zu beantworten wagte.

Und sie kam.

»Nell, vor zwei Monaten«, sagte der Earl in gemessenem Ton, »habe ich dir streng verboten, die Schulden deines Bruders noch einmal zu bezahlen. Du hast mir dein Wort gegeben, es nicht mehr zu tun. Hast du es dennoch getan?«

Sie schüttelte den Kopf. Es war schrecklich, ihn anlügen zu müssen, aber was konnte sie anderes tun, wenn er sie so streng ansah und so wenig Verständnis für Dysart aufbrachte? Bestimmt war an Dysarts ständig wiederkehrenden Schwierigkeiten nur sein unerhörtes Pech schuld, und scheinbar konnte Cardross nicht verstehen, wie ungerecht es war, Dysart dafür zu tadeln, dass er nicht imstande war, seine Leidenschaft für Hasardspiel und Wetten aufzugeben. Denn diese verhängnisvolle Neigung vererbte sich in der Familie, wie Mama resigniert erklärt hatte: Großpapa war mit einer Unmenge Schulden gestorben; und Papa, in der optimistischen Absicht, den Reichtum seines Hauses in altem Glanz wiedererstehen zu lassen, hatte seine Besitzungen mit noch höheren Hypotheken belastet. Deshalb war Papa auch so überglücklich gewesen, als Cardross um Nells Hand angehalten hatte. Denn Cardross war von ebenso guter Familie, wie er vermögend war. Papa wäre andernfalls genötigt gewesen, seine älteste Tochter dem Meistbietenden zu geben, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass dieser – welch entsetzlicher Gedanke – ein reicher Kaufmann mit gesellschaftlichen Ambitionen war. Er bewies hierin große Seelenstärke und wurde reichlich belohnt: denn in ihrer allerersten Season – oder, genauer gesagt, ehe sie einen Monat lang in die Gesellschaft eingeführt worden war – hatte Cardross Lady Helen Irvine nicht bloß bemerkt, sondern war sich offenbar darüber klar, dass sie die Frau sei, auf die er so lange gewartet hatte. Auf einen derartigen Glücksfall hätte nicht einmal Lord Pevensey zu hoffen gewagt. Man hatte gewiss annehmen müssen, dass Cardross, der bereits über dreißig war und keinen näheren Verwandten als einen Cousin zum Erben hatte, in absehbarer Zeit eine Heirat in Erwägung ziehen werde. Seine gesellschaftliche Stellung war so hervorragend, dass ihm die Wahl unter all den Edelfräulein offenstand, die, nachdem sie im Salon der Königin präsentiert worden waren, von ihren Müttern im Almack’s Club und in allen tonangebenden Salons zur Schau gestellt wurden. Wenn man nach dem Stil der Dame urteilte, von der allgemein bekannt war, dass sie seine Mätresse war, fand er weit eher Gefallen an etwas älteren und in allen weiblichen Künsten erfahrenen Frauen als an einem halben Kind, das eben erst aus dem Schulzimmer entlassen worden war. Es wäre Papa nie eingefallen, dass Nell so gut für die Familie sorgen würde. Ihr Erfolg und Cardross’ Freigebigkeit erwiesen sich für ihn als zu viel des Glücks: Denn kaum hatte er sein Kind zum Altar geleitet, als er einen Schlaganfall erlitt. Die Ärzte versicherten Mylady, dass er noch viele Jahre leben werde, doch die schwere Heimsuchung hatte ihn so weit aktionsunfähig gemacht, dass er sich gezwungen sah, alle gewohnten Vergnügungen aufzugeben und sich in die Einsamkeit seines Ahnensitzes in Devonshire zurückzuziehen, wo er nun, wie seine Frau und sein Schwiegersohn – wenn auch stillschweigend – von ganzem Herzen hofften, dauernden Aufenthalt nehmen musste.

Nell wusste nicht genau, was Cardross getan hatte, um sich die Dankbarkeit ihrer Eltern zu verdienen. Von alldem wurde nur unter dem vagen Begriff von »Vereinbarungen« gesprochen, und sie solle sich ihr hübsches Köpfchen nicht darüber zerbrechen, sondern immer nur darauf achten, sich würdig und taktvoll zu verhalten.

Mama, welche erklärte, ihm zu tiefster Dankbarkeit verpflichtet zu sein, hatte ihr unmissverständlich klargemacht, welche Pflichten sie von nun an zu übernehmen habe. Sie umfassten Dinge, wie zum Beispiel Mylord stets ein liebenswürdiges Antlitz zu zeigen, ihn nie in Verlegenheit zu bringen, indem sie unhöfliche Fragen stellte oder den Anschein erweckte, etwas zu bemerken, falls er – möglicherweise – außerhalb der Mauern des prächtigen Palais am Grosvenor Square eine Verbindung unterhielt. »Ich bin mir sicher«, sagte Mama und tätschelte Nells Hand zärtlich, »er wird dich stets mit der größten Rücksicht behandeln. Und da er auch vorzügliche Manieren besitzt, bin ich überzeugt, dass du nie einen Grund zur Klage über Vernachlässigung haben wirst oder – oder über gleichgültige Höflichkeit, dieses traurige Los so vieler Frauen in deiner Position. Ich versichere dir, mein Liebling, es gibt nichts Demütigenderes, als mit einem Mann verheiratet zu sein, der es sich anmerken lässt, wenn seine Gefühle anderwärts engagiert sind.«

Die arme Mama musste das wissen, denn genau das war ihr Los gewesen. Was Mama allerdings nicht wusste und auch sonst niemand vermuten durfte, war die Tatsache, dass sich ihre so sorgsam erzogene Tochter gleich beim ersten Zusammentreffen mit dem Earl bis über beide Ohren in ihn verliebt hatte. Es geschah an jenem Abend, als ihn Lady Jersey, eine der Patronessen des Almack’s Clubs, quer durch den Salon zu ihr führte und ihr vorstellte. Sie hatte ihm in die Augen gesehen, die mit unsagbar zärtlichem Blick auf ihr ruhten. Nein, Mama hegte diesen Verdacht nicht. Mama war zwar sehr sensibel, sie wusste aber auch, dass die Ehe mit Romantik nichts zu tun hat. Sie hatte in der ständigen Angst gelebt, dass Nell, wie sie ihr später anvertraute, einen Mann werde heiraten müssen, den sie nicht lieben konnte. Sie war jedoch überzeugt, dass Nell einen so charmanten und schönen Gentleman, wie es Cardross war, gern haben musste. Überdies bestand kaum ein Zweifel, dass er seiner Braut in herzlicher Zuneigung ergeben war. Er hatte Lady Jersey an jenem denkwürdigen Abend tatsächlich gebeten, ihr vorgestellt zu werden. Und etwas später, als er um ihre Hand anhielt, machte er Papa gegenüber Bemerkungen, die alle mütterlichen Befürchtungen zerstreuten. Nell würde von ihm stets nur Höflichkeit und Rücksichtnahme zu erwarten haben.

Es war Nell – ganz ihrer Liebe hingegeben – unmöglich erschienen, dass Cardross nur um sie angehalten haben könnte, weil sie recht hübsch war, aus guter Familie und ihm besser gefallen hatte als eine der anderen jungen Damen, die vor seinen kritischen Augen paradierten. Doch Mama hatte recht behalten. Als Nell seine Halbschwester, gleichzeitig Mylords Mündel, kennenlernte, eine äußerst lebhafte Brünette, die noch nicht in die Gesellschaft eingeführt worden war, jedoch hoffte, von ihrer Schwägerin vorgestellt zu werden, hatte das impulsive Edelfräulein, während sie Nell herzlich umarmte, ausgerufen: »Oh, wie hübsch du bist! Viel schöner als Giles’ Mätresse! Wie herrlich wäre es, wenn du sie ausstechen könntest!«

Es war ein entsetzlicher Schock gewesen, doch Nell hatte sich nicht verraten, was allerdings nur ein geringer Trost war. Sie war sogar dankbar, dass man ihr die Wahrheit gesagt hatte, bevor sie sich lächerlich machte, indem sie der Welt ihr Herz offenbarte oder dem Earl lästig und langweilig wurde, indem sie sich in verliebter Weise an ihn hängte, was, wie sie in einer kurzen Season gelernt hatte, von der tonangebenden Gesellschaft keineswegs als korrekt betrachtet wurde. Was aber die Möglichkeit betraf, Lady Orsett auszustechen – es hatte sie nicht viel Mühe gekostet, die Identität von Mylords Mätresse herauszufinden –, so gehörte dieser Ehrgeiz, ebenso wie ihre früheren Träume, eben nur in ein Traumreich. Und heute befand sie sich weiter denn je von diesem Ziel entfernt, als Mylord von ihr wegen ihrer Schulden Rechenschaft forderte.

»Sag mir die Wahrheit, Nell!«

Seine freundliche, jedoch unmissverständlich gebieterische Stimme rief sie aus ihren sich überstürzenden, verworrenen Gedanken zurück. Es war aber doch unmöglich, ihm die Wahrheit zu gestehen, denn selbst wenn er ihr den Ungehorsam verzieh, war es höchst unwahrscheinlich, dass er auch Dysart verzeihen würde, für den es in seinen Augen keinerlei Entschuldigung gab. Und wenn er es ablehnte, Dysart je wieder aus einer seiner Schwierigkeiten zu helfen, und es ihr gleichfalls unmöglich machte, was würde dann aus Dysart werden und auch aus ihrem armen Papa? Vor nicht allzu langer Zeit hatte er ein wenig grimmig gesagt, der beste Dienst, den er Dysart erweisen könne, wäre es, ihm ein Offizierspatent zu kaufen und ihn auf die Pyrenäische Halbinsel zu schicken, um sich dort der Armee Lord Wellingtons anzuschließen. Und es war nur zu wahrscheinlich, dass er genau das tun würde, wenn ihm dieses neuerliche Missgeschick zu Ohren käme. Es gab auch kaum einen Zweifel, dass Dysart dieses Anerbieten mit beiden Händen ergreifen würde, denn er hatte sich immer eine militärische Laufbahn gewünscht. Aber der arme Papa hatte sich geweigert, diese Möglichkeit auch nur zu diskutieren, während sich sein nächstältester Sohn noch als Schuljunge in Harrow befand. Und Mama hatte bei dem bloßen Gedanken, dass ihr geliebter Erstgeborener den Gefahren und Schrecknissen eines Feldzuges ausgesetzt werden könnte, eine ganze Serie ebenso qualvoller wie beängstigender Krämpfe erlitten.

Nein, die Wahrheit konnte sie ihm nicht gestehen. Wie sollte man aber für die dreihundert Pfund Rechenschaft ablegen, wenn man keine Rechnung vorweisen konnte? Dabei hätte ihr als Tochter von Lord Pevensey das Problem nicht ganz unbekannt sein dürfen: Denn nur wenige wussten besser Bescheid als eine Irvine, wie Geld zerrinnen konnte, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. »Es war nicht Dysart«, sagte sie rasch. »Es tut mir leid, aber ich war es selbst!« Sie sah, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte; in seine Augen trat ein lauernder Blick, und ein harter Zug legte sich um seinen Mund. Plötzlich begann sie sich zu fürchten. »Bitte sei nicht böse«, bat sie atemlos. »Ich verspreche, es nie wieder zu tun.«

»Willst du damit sagen, dass du es im Spiel verloren hast?«

Sie ließ den Kopf wieder traurig hängen. Nach einer Pause sagte er: »Ich hätte ja wissen müssen, dass es dir im Blut liegt!«

»Nein, nein! Das ist wirklich nicht wahr!«, rief sie mit leidenschaftlicher Aufrichtigkeit. »Es sah bloß so prüde und dumm aus, als alle anderen spielten, nicht auch zu spielen, und dann verlor ich ... und ich dachte, das Glück würde sich vielleicht wenden ... aber das war nicht der Fall, und so –«

»Du brauchst mir nicht mehr zu sagen«, unterbrach er sie. »Es gab noch keinen Spieler, der nicht glaubte, das Glück müsse sich wenden.« Er sah sie stirnrunzelnd an und fügte in ruhigerem Ton hinzu: »Es widerstrebt mir sehr, Nell, Schritte zu unternehmen, die es dir völlig unmöglich machen, etwas anderes zu spielen als Silberloo oder Poule. Aber ich warne dich, ich werde meiner Frau nie gestatten, eine von Faros Töchtern zu werden.«

»So? Ich weiß zwar nicht genau, was das ist«, sagte sie naiv, »ich werde es aber bestimmt nicht wieder tun, also bitte veranlasse nichts Abscheuliches.«

»Also gut«, erwiderte er und sah sich die Rechnungen auf seinem Schreibtisch an. »Ich werde diese Rechnungen hier begleichen und auch alle anderen, die du vielleicht noch hast. Willst du sie mir bitte herbringen?«

»Jetzt?«, stotterte sie, während sie sich voll Entsetzen einer Schublade erinnerte, die mit unbezahlten Rechnungen vollgestopft war.

»Ja, jetzt.« Und lächelnd fügte er hinzu: »Weißt du, es wird dir nämlich bedeutend leichter ums Herz sein, wenn du damit reinen Tisch machst.«

Dem stimmte sie zu, doch als sie ihm bald darauf ein Bündel zerdrückter Rechnungen übergab, war ihr keineswegs leicht ums Herz. Man konnte nicht leugnen, dass sie in betrüblicher Weise verschwenderisch war. Da der jungen Frau das Nadelgeld, das Cardross ihr gegeben hatte, so ungeheuer reichlich erschienen war – weil sie außer über eine winzige Summe, die sie als Taschengeld von ihrem Papa erhielt, bisher nie über eine größere Summe hatte verfügen können –, hatte sie in dem Gefühl, grenzenlose Mittel zu besitzen, völlig sorglos alles eingekauft, was ihr gefiel. Doch jetzt, als sie mit ansehen musste, wie Mylord dieses schreckliche Bündel durchblätterte, meinte sie, sie müsse verrückt gewesen sein, so viel Geld so sinnlos vergeudet zu haben.

Einige Minuten las er mit unbewegter Miene, doch plötzlich runzelte er die Stirn und sagte: »Eine goldene Schnupftabaksdose, zweifarbig, in Grisaille-Malerei?«

»Für Dysart!«, erklärte sie ängstlich.

»Oh!« Er setzte sein Studium der sie belastenden Rechnungen fort. Beklommen sah sie, wie er wieder ein solches Beweisstück aufhob, das als Briefkopf den Namen ihrer bevorzugten Schneiderin in eleganter Arabeskenverzierung trug. Er sagte jedoch nichts, und es gelang ihr, wieder etwas freier zu atmen. Doch einen Moment später las er laut vor: »Singvogel samt Kästchen, mit türkisblauer Emailarbeit verziert – was zum Teufel –?«

»Das ist eine Spieldose«, erklärte sie mit zitternder Stimme. »Für die Kinder ... ich meine für meine Schwestern.«

»Aha, ich verstehe«, sagte er und legte die Rechnung beiseite.

Und wieder hoben sich ihre Lebensgeister, nur um einen Augenblick später erneut zu sinken, denn der Earl rief: »Du guter Gott!« Sie spähte mit Zittern und Zagen zu ihm hinüber, um zu sehen, was diesen erschrockenen Ausruf verursacht hatte, und bemerkte, dass er ein anderes ebenfalls mit Arabesken verziertes Blatt in der Hand hielt. »Vierzig Guineen für einen einzigen Hut?«, fragte er ungläubig.

»Ich fürchte, er war ein bisschen teuer«, gestand sie. »Aber ... er hat drei sehr schöne Straußenfedern, weißt du? Du ... du sagtest, er gefällt dir«, fügte sie verzweifelt hinzu.

»Dein Geschmack ist immer unfehlbar, meine Liebe. Haben mir auch die andern acht Hüte gefallen, die du gekauft hast? Oder habe ich sie bisher noch nicht zu sehen bekommen?«

Entsetzt stammelte sie: »Acht, Giles? Es waren doch bestimmt nicht acht?«

Er lachte. »Acht! Ach, schau doch nicht so entsetzt drein. Ich glaube ja selbst, dass du alle sehr dringend brauchtest. Vierzig Guineen sind bestimmt ein wenig übertrieben, aber ich bin überzeugt, dass alle reizend sind und dich zum Entzücken kleiden.« Sie lächelte ihm dankbar zu, und er kniff sie leicht ins Kinn. »Ja, alles recht schön und gut, Madam, doch das ist nur die Bestechung, die der großen Strafpredigt vorangeht. Denn du hast es doch etwas zu arg getrieben, meine Liebe. Du scheinst nicht den geringsten Begriff davon zu haben, wie man sein Geld verwaltet, und ich zweifle sehr, ob du je im Leben ein Rechnungsbuch geführt hast. Nun gut. Ich werde alle Rechnungen bezahlen und überdies weitere hundert Pfund auf dein Konto überweisen. Damit solltest du dich – das heißt, musst du dich – bis zum nächsten Quartal in einer recht bequemen finanziellen Situation befinden.«

Sie rief impulsiv: »Oh, ich danke dir, dass du so gut bist! Und ich verspreche, mich sehr in Acht zu nehmen.«

»Ich glaube, du wirst gar nicht in die Lage kommen, mit deinen Ausgaben sehr sparsam umgehen zu müssen«, sagte er mit einem Anflug von Ironie. »Solltest du aber noch irgendwo Rechnungen aufbewahrt haben, dann gib sie mir jetzt. Ich werde dich nicht schimpfen, Nell ... aber ich warne dich! Es hat keinen Sinn, dein Geld in sicherer Obhut bei Childe zu lassen, während du in ganz London Schulden machst. Am Ende des Quartals dürfen keine weiteren Rechnungen offen sein. Wenn du also noch welche vor mir verbirgst, dann gestehe es mir lieber jetzt ein. Sollte ich dir nämlich draufkommen, dass du mich beschwindelt hast, dann wäre ich in der Tat sehr böse mit dir. Und dann passierte weit mehr als eine Strafpredigt.«

»Was ... was würdest du tun, wenn ... wenn ich am Ende des Quartals noch Geld schuldig wäre?«, fragte sie verängstigt.

»Dann würde ich dir nur so viel Geld geben, um dir zu ermöglichen, Kleinigkeiten für den täglichen Bedarf zu kaufen, und verfügen, dass alle Rechnungen zur Regelung an mich geschickt werden«, erwiderte er.

»Oh nein«, rief sie tief errötend.

»Ich versichere dir, es wäre mir ebenso unangenehm wie dir selbst, und ich würde mich ebenso gedemütigt fühlen. Doch ich habe gesehen, wozu so unbekümmerte Geldverschwendung, die dir so viel Genuss zu bereiten scheint, führen kann, und bin entschlossen, dafür zu sorgen, dass sich das in meinem Haus nicht ereignet. Überlege es dir also gut, Nell! Hast du mir bestimmt alle Rechnungen gegeben?«

Das Bewusstsein, ihn bereits angeschwindelt zu haben, überwältigte sie fast ebenso wie seine Drohung, die von einem unerbittlichen Gesichtsausdruck noch bekräftigt wurde. In unterdrückter Erregung, welche ein ruhiges Überlegen unmöglich machte, sagte sie rasch: »Ja ... oh ja.«

»Also gut. Dann wollen wir nie wieder darüber sprechen.«

Das Flattern ihres Herzens ließ allmählich nach. Sie sagte mit unterdrückter Stimme: »Danke, Giles! Ich bin dir ungeheuer dankbar. Ich hatte wirklich nicht die Absicht, eine so verschwenderische Frau zu sein.«

»Ebenso wenig wie ich ein tyrannischer Ehemann sein möchte. Wir könnten doch weit besser miteinander leben, nicht wahr, Nell?«

»Nein, nein, ich meine, dafür habe ich dich nie gehalten. Du bist unendlich gütig ... und ich bitte dich, mir zu verzeihen, dass ich dir so viel Kummer bereite. Bitte verzeih mir.«

»Nell!«

Seine Hand streckte sich ihr entgegen, sie ergriff sie aber nicht, sondern sagte nur nervös lächelnd: »Danke, Giles. Du bist sehr gut. Ach, wie entsetzlich spät es geworden ist ... d – darf ich jetzt gehen ?«

Seine Hand fiel herab. Er sagte in völlig verändertem Ton: »Ich bin kein Schulmeister. Wenn es dein Wunsch ist, kannst du dich ganz gewiss entfernen.«

Sie murmelte etwas Zusammenhangloses über seine Schwester und den Almack’s Club und floh aus dem Zimmer. Die Geste am Ende einer Szene, in welcher er in der Tat eher einem Schulmeister als einem Ehemann ähnlich war, schien Nell mehr der Ausdruck seiner Güte als der eines wärmeren Gefühls zu sein. Sie war mit ihren bereits überreizten Nerven außerstande gewesen, darauf einzugehen und sich, wie sonst immer, dazu zu zwingen, auf jedes Entgegenkommen von seiner Seite entsprechend zu reagieren. Sie wusste sehr wohl, dass ihr eiliger Rückzug ihn beleidigen würde. Sie vermutete jedoch nicht, dass er ihn so tief verletzen könnte, denn sie hatte vom Beginn ihres Ehelebens in der Tatsache, dass er ihr den Hof machte, nur den ritterlichen Entschluss gesehen, sie, da er ihr einmal seinen Namen gegeben hatte, nicht merken zu lassen, dass sein Herz einer anderen gehörte.

Cardross gab sich inzwischen ziemlich bitteren Betrachtungen hin und dem steigenden Verdacht, dass alle Wohlmeinenden, die ihn davor gewarnt hatten, Nell zu heiraten, schließlich doch recht behalten hatten: Nichts Gutes konnte aus einer Verbindung mit einer Irvine kommen. Einer seiner Cousins, Mr. Felix Hethersett, dieses leuchtende Vorbild des guten Tons, hatte ihm die ganze Sache mit brutaler Offenheit dargelegt. »Es ist nichts gegen das Mädel selbst zu sagen, lieber Alter, aber ich mag den Stall nicht, dem sie entstammt«, hatte Mr. Hethersett gesagt.

Nun, er selbst hatte den Stall gleichfalls nicht gemocht. Nichts lag seiner Absicht ferner, als eine Irvine zu heiraten; und nichts schien unwahrscheinlicher als eine Liebesheirat. Er hatte die Pflicht zu heiraten. Da er jedoch jahrelang eine äußerst harmonische Verbindung zu einer Dame der vornehmen Gesellschaft mit leichter Moral und außerordentlichem Taktgefühl unterhalten hatte, lag das Ereignis, einem Paar blauer Augen und einem schelmischen Grübchen erliegen zu können, völlig außerhalb seiner Berechnung. Und doch war dieses Ereignis eingetreten. Er hatte Nell zum ersten Mal in einem Ballsaal gesehen und war augenblicklich fasziniert gewesen. Nicht so sehr von ihrer unleugbaren Schönheit als von der Süße ihres Gesichtsausdrucks und der Unschuld in ihrem fragenden Blick. Ehe er sich darüber Rechenschaft gab, was geschehen war, hatte er sein Herz verloren und jede warnende Überlegung in den Wind geschlagen. Sie entstammte der Linie einer verschwenderischen und nicht gerade soliden Familie. Als er aber in ihre Augen sah, wäre er bereit gewesen zu schwören, dass sie, wie durch ein Wunder, diesem Makel der Irvines entgangen sei.

Als er sie heiratete, war sie noch keine achtzehn Jahre alt gewesen, vierzehn Jahre jünger als er selbst; und als er sich mit seiner schüchternen Braut allein befand und sie sich ihm zu entziehen versuchte, erwies er sich ihr gegenüber als ungemein zartfühlend, da er glaubte, durch Zärtlichkeit und Geduld das liebende, lebensprühende Geschöpf erwecken zu können, das, wie er sich so sicher war, in diesem nervösen Kind schlummerte.

Er hatte dieses Geschöpf hie und da flüchtig zu erkennen – zumindest glaubte er es –, jedoch nie ganz für sich zu gewinnen vermocht, und die Angst, sich getäuscht zu haben, breitete sich in ihm immer stärker aus. Sie war gehorsam, fügsam, ja fast unterwürfig; gelegentlich eine bezaubernde, und immer eine wohlerzogene Gesellschafterin. Obwohl sie seine Annäherungen nie zurückwies, beschwor sie sie nie herauf, und kein Anzeichen ließ erkennen, dass sie ohne seine Gesellschaft nicht ebenso glücklich sei. Kaum hatte sie sich am Grosvenor Square eingerichtet, als sie sich auch schon mit sichtlichem Eifer in alle fashionablen Vergnügungen stürzte, ihre junge Schwägerin zur Seite, rasch einen Hofstaat um sich versammelte und keineswegs zu den Frauen zählte, welche beständig die Begleitung ihres Gatten forderten. Sie war verschwenderisch. Er hatte heute entdeckt, dass sie, wie ihre übrige Familie, eine Spielernatur war. Und alle Zuneigung, deren sie fähig war, schien sie an ihre kleinen Schwestern und den Taugenichts von einem Bruder zu vergeuden. Viele Leute hatten Cardross zu verstehen gegeben, Nell hätte ihn nur seines Geldes wegen geheiratet. Er hatte ihnen nicht geglaubt. Jetzt begann er sich darüber aber doch Gedanken zu machen. Er selbst hatte in ihrem überstürzten Rückzug aus seiner Bibliothek bloß den Wunsch eines verwöhnten Kindes gesehen, einem unangenehmen Schulmeister zu entkommen, und hätte es sich nie träumen lassen, dass sie nur deshalb geflohen war, weil ihre Gefühle sie zu überwältigen drohten.

Sie flüchtete in den Schutz ihres eigenen Appartements und hoffte, da sie ein wenig Zeit brauchte, um sich zu beruhigen, ihre Kammerfrau dort noch nicht vorzufinden. Diese Hoffnung erfüllte sich zwar, doch stattdessen fand sie ihre Schwägerin vor, welche sich damit vergnügte, jene acht – nein, neun! – Hüte allerletzter Mode zu probieren.

Das Appartement der jungen Gräfin bestand aus einem geräumigen Schlafzimmer und einem anschließenden Raum, der dem Haushalt als ihr Ankleidezimmer bekannt war, in Wirklichkeit aber viel eher den Charakter eines Boudoirs hatte. Mylord hatte beide Räume anlässlich seiner Hochzeit umgestalten lassen und bereitete seiner Braut ein Nestchen in einem breiten Bett, das mit zeltartig gerafften rosaseidenen Vorhängen verkleidet war, die von Girlanden und Putten gehalten wurden, während Wände und Vorhänge des Ankleidezimmers aus blausilbernem Brokat bestanden. In diesem etwas frivolen Boudoir, um das sie Nell heftig beneidete, paradierte die eitle Lady Letitia Merion zwischen den verschiedenen Spiegeln auf und ab. Sie war jedoch außerstande zu entscheiden, wie der Hut richtig aufgesetzt werden müsse. Sie begrüßte ihre Schwägerin freudig und rief: »Oh, wie froh ich bin, dass du kommst. Ich warte schon eine Ewigkeit auf dich. Nell, ich finde diesen Hut einfach hinreißend, wie soll man ihn aber aufsetzen? So oder so?«

»Oh, bitte nicht«, bat Nell unwillkürlich. Sie konnte diesen Anblick nicht ertragen, der so viel zu ihrer eben erfolgten Niederlage beigetragen hatte.

»Du lieber Gott, was ist denn los?«, fragte Letty.

»Nichts, nichts. Ich habe ein wenig Kopfschmerzen, das ist alles.« Sie bemerkte, dass Letty sie anstarrte, und versuchte zu lächeln. »Bitte, kümmere dich nicht darum. Es ist nur ... ich bin nur ...« Sie stockte, ihre Stimme versagte, sie vermochte die Tränen nicht mehr zu unterdrücken.

»Nell!« Letty warf den hinreißenden Hut achtlos beiseite, lief durch das Zimmer und schlang ihre Arme um die Schwägerin. »Oh, bitte weine nicht. Was ist denn passiert?«

»Nichts, nichts. Das heißt – ich war so entsetzlich verschwenderisch.«

»Und das ist alles?! Ich nehme an, Giles hat dir eine Strafpredigt gehalten. Aber mach dir nichts draus, er wird sich schon wieder beruhigen. War er sehr wütend?«

»Oh nein, nur sehr ungehalten. Und es war ja auch wirklich unverzeihlich von mir!« sagte Nell und trocknete ihre Tränen. »Aber das ist ja gar nicht das Schlimmste. Ich sah mich gezwungen ...« Sie brach errötend ab und fügte hastig hinzu: »Ich kann es dir nicht sagen. Ich hätte überhaupt nichts sagen sollen ... bitte achte nicht weiter darauf. Ich war unverantwortlich sorglos, aber ich hoffe, mich von nun an zu bessern. Hattest du einen besonderen Grund, warum du mich sprechen wolltest?«

»Ach nein. Ich wollte dich bloß fragen, ob ich heute Abend deinen Zephirschal tragen darf, natürlich nur, wenn du ihn nicht selbst trägst – aber wenn du traurig bist, will ich dich damit nicht auch noch quälen«, fügte Letty hinzu.

»Ja, bitte, nimm ihn nur. Du kannst ihn übrigens gleich behalten, denn ich bin überzeugt, ich könnte es nicht über mich bringen, ihn nochmals zu tragen«, sagte Nell traurig.

»Nicht mehr tragen – Nell! Sei doch keine solche Gans! Was denn! Du warst doch außer dir vor Begeisterung, als man ihn dir vorlegte, und er kostete dreißig Guineen ...«

»Das weiß ich, aber Giles sah die Rechnung und sagte kein Wort des Tadels ... ich glaubte, ich müsse im Erdboden versinken.«

»Ich für meinen Teil«, sagte Letty aufrichtig, »wäre dafür außerordentlich dankbar. Darf ich ihn tatsächlich behalten? Danke, Nell. Es ist genau das Richtige zu meinem französischen Musselinkleid. Ich hatte schon die Absicht, Giles zu überreden, mir genau denselben zu kaufen.«

»Oh nein, bitte, tu das nicht«, sagte Nell erschrocken.

»Nein, jetzt würde es mir nicht im Traum einfallen, da er wieder einmal übler Laune ist«, stimmte Letty zu. »Ich kenne tatsächlich niemanden, der wegen ein paar lächerlicher Schulden so widerlich ist. Was ziehst du heute Abend an? Du hast doch nicht vergessen, dass Felix Hethersett uns heute in den Almack’ Club begleitet?«

Nell seufzte: »Ich wollte, wir müssten nicht gehen.«

»Ach, wenn du keine Lust hast, besteht nicht die geringste Veranlassung für dich, hinzugehen«, sagte Letty zuvorkommend. »Du kannst Felix ein Billett in seine Wohnung schicken, und was mich betrifft, so ist meine Tante Thorne bestimmt gerne bereit, mich und meine Cousine mitzunehmen.«

Dieses fröhliche Geplauder trug dazu bei, Nells Gedanken von ihren eigenen Missetaten abzulenken. Nach seiner Vermählung hatte der Earl sein junges Mündel aus der Obhut ihrer mütterlichen Tante genommen und in sein eigenes Haus gebracht. Mrs. Thorne war zwar eine äußerst gutmütige Dame, er vermochte sich aber mit ihren Ansichten nicht zu befreunden und hatte auch nicht das Gefühl, dass sie den Wunsch oder die Autorität hatte, seine leichtsinnige Halbschwester im Zaum zu halten. Er war erzürnt gewesen über die nachlässige Erziehung Lettys. Und noch entrüsteter war er, als sie ihm enthüllte, dass ungeachtet ihrer großen Jugend bereits ihre, wie sie versicherte, unsterbliche Liebe zu einem jungen Mann entflammt war. Jeremy Allandale war ein äußerst respektabler junger Mann, und doch konnte man ihn, obwohl er gute Beziehungen hatte, nicht als wünschenswerten Gatten für eine Lady Letitia Merion betrachten. Er gehörte dem Stab des Außenamtes an, und wenn seine Aussichten auch als günstig zu bezeichnen waren, lebte er momentan in recht beschränkten Verhältnissen. Da seine verwitwete Mutter weit davon entfernt war, vermögend zu sein, fühlte er sich für die Erziehung seiner jüngeren Brüder und Schwestern verantwortlich. Der Earl hielt dies für einen glücklichen Umstand, denn es war deutlich zu erkennen – obwohl sich der junge Mann mit vollendetem Anstand benahm –, dass er in Letty unsterblich verliebt war; und auf Lettys Takt konnte man sich nach Ansicht ihres Bruders in keiner Weise verlassen. Sie wäre absolut fähig, wenn es ihr nur gelänge, das Verfügungsrecht über ihr Vermögen zu erlangen, ihren Herzensfreund dazu zu überreden, mit ihr durchzubrennen. Wie die Dinge aber lagen, war das vollkommen unwahrscheinlich. Mr. Allandale erhielt zwar wenig Ermutigung, am Grosvenor Square Besuch zu machen, aber der Earl hatte entweder aus Weisheit oder aus tiefer Abneigung, den Tyrannen zu spielen, seiner Schwester nie verboten, einen normalen gesellschaftlichen Verkehr mit ihm aufrechtzuerhalten. Sie hatte keinen Tadel zu erwarten, wenn sie Mr. Allandale zwei Tänze schenkte; doch Nell wusste sehr genau, dass sie es unter der nachlässigen Beaufsichtigung ihrer Tante dabei nicht bewenden lassen würde. Sie erriet aus der Bereitwilligkeit, mit welcher Letty ihren eigenen Wunsch, diesen Abend zu Hause zu bleiben, unterstützte, dass Mr. Allandale sich gleichfalls im Almack’s Club einfinden werde. Sie schüttelte ihre Schwermut daher sogleich ab und erklärte, Letty selbstverständlich zu begleiten.

Mr. Allandale hatte sich in der Tat im Almack’s Club eingefunden, und Nell fragte sich zum hundertsten Mal, aus welchem Grund sich Letty in ihn verliebt hatte. Er war zwar ein stattlicher junger Mann und sah sogar recht gut aus: Aber seine Manieren waren viel zu steif und formell, um angenehm zu wirken, und seine Konversation war eher gezwungen und mühsam als amüsant. Er war zweifellos zuverlässig. Nell fand ihn überaus öde, und Mr. Felix Hethersett, der kein Blatt vor den Mund nahm, sagte: »Der Bursche ist sterbenslangweilig, ich glaube kaum, dass sich die Affäre halten wird.«

»Nein«, pflichtete ihm Nell bei, »doch ich muss zugeben, Letty hat die größte Beständigkeit bewiesen, obwohl man ihr, seitdem sie eingeführt wurde, heftig den Hof machte. Ich riskierte es einmal, Cardross darauf hinzuweisen, dass es schließlich keine so ganz unmögliche Heirat wäre, aber – aber er kann sich damit nicht abfinden und sagte bloß, wenn sie ein paar Jahre älter ist und noch immer derselben Ansicht, würde er Mr. Allandale nicht unfreundlich empfangen.«

»Sich derart wegzuwerfen«, sagte Mr. Hethersett missbilligend. »Donnerwetter, Cousine, sie ist ein recht einnehmendes kleines Ding! Und außerdem eine reiche Erbin. Es wäre keineswegs unverständlich«, fügte er hinzu, »wenn Sie wünschen würden, sie wohlbehalten an jemanden gebunden zu wissen. Ich glaube, sie ist eine teuflische Belastung.«

»Oh nein, das ist sie nicht«, sagte Nell ziemlich gekränkt. »Wie können Sie nur annehmen, dass ich sie loswerden wollte! Ich bin so glücklich, sie um mich zu haben.«

Sehr betreten bat er um Vergebung. Ungeachtet seiner früheren Kritik an ihrer Familie gehörte er zu ihren getreuesten Bewunderern, und man betrachtete ihn allgemein als ihren bevorzugtesten Cicisbeo. Sie hatte noch andere und weit blendendere Bewunderer, aber er war unleugbar ihr Günstling; ein Umstand, welcher den Weltläufigen ein Rätsel blieb. Denn sie hätten es sich nie träumen lassen, dass die junge Gräfin keinen Geschmack an leichtfertigen Tändeleien fand und Mr. Hethersett nur zulächelte, weil er Mylords Cousin war. Sie behandelte ihn kaum anders als ihren Bruder, eine Tatsache, die ihm ausgezeichnet zusagte, da er in Wirklichkeit kein Homme à Femmes war, sondern sich dem Hofstaat einer Dame von Rang und Schönheit nur zugesellte, weil es zum guten Ton gehörte. Mr. Hethersett, ein übertriebener Pedant, war mit außerordentlich gutem Geschmack gesegnet und verfügte nicht nur über eine untadelige Abstammung, sondern auch über ein ansehnliches Vermögen. Er war weder hübsch noch amüsant, doch seine Kleidung war stets von erstklassiger Eleganz, und er verstand es, ein Gespann in vollendeter Weise zu lenken; man nahm allgemein an, er beteilige sich an jedem Unfug in der Stadt; und er hatte so verbindliche Manieren, dass er zu den beliebtesten Beaus der Bond Street zählte. Die Herren hielten ihn für einen guten Kameraden; die Damen schätzten ihn aus zweierlei Gründen: Erstens stieg das Ansehen jeder Dame, die in den Genuss seiner Bewunderung kam, und zweitens bedeutete seine Freundschaft nicht nur, die auszeichnende Beachtung eines der hervorragendsten Vertreter der vornehmen Welt zu besitzen, sondern auch, sich der stets bereitwilligen Dienste eines Gentlemans zu erfreuen, dessen Gutmütigkeit sprichwörtlich war. Für die abenteuerlustigeren Damen, diese kecken Dinger, die ihre Musselinkleider anfeuchteten, damit sie, dicht anliegend, ihre exquisiten Formen enthüllten, die ihre Zehennägel mit Goldfarbe lackierten und beständig am Rande ihres gesellschaftlichen Ruins balancierten, gab es weit attraktivere junge Leute. Die junge Lady Cardross war jedoch kein Mitglied dieser Schwesternschaft. Zwar wollte auch sie keineswegs unmodern erscheinen oder keine ergebenen Bewunderer besitzen, dennoch achtete sie peinlich darauf, die Bewerbungen irgendeines der notorischen Lebemänner, welche ihr hofierten, nicht zu ermutigen. Auf Mr. Hethersett konnte man stets zählen, von ihm geduldig auch zur langweiligsten Party der Season begleitet zu werden. Und man brauchte auch nie zu befürchten, dass das Aufgeben von Förmlichkeiten ihn dazu verleiten könnte, seine bevorzugte Stellung zu missbrauchen. Er war weder witzig noch gesprächig, doch zeichnete ihn ein gewisser Scharfsinn aus, seine Verbeugungen waren die Vollkommenheit selbst und seine Grazie im Ballsaal unvergleichlich. Selbst Letty, welche erklärte, seine Ideen über Korrektheit seien vorsintflutlich, verachtete seine Begleitung nicht, wenn sie in den Almack’s Club fuhren. Der Almack’s Club war zwar entsetzlich rückständig, und die stolzen Patronessen trugen die Nasen viel zu hoch; doch jede Dame, der man den Eintritt in diese geheiligten Räume versagte, musste sich als gesellschaftlich ausgestoßen betrachten. Diese Veranstaltungen in Mr. Hethersetts Begleitung zu besuchen sicherte einem den Beifall selbst der strengen Mrs. Drummond Burrell, und das wiederum trug selbst einem völlig unscheinbaren Mädchen ein herablassendes Lächeln der widerlichen Gräfin Lieven ein.

Nell war ebenso erstaunt wie entzückt, als sie bei ihrer Ankunft in der King Street feststellte, dass ihr verworfener, aber sehr geliebter Bruder mit einem ziemlich hässlichen Mädchen recht ungeschickt einen Boulanger tanzte. Er erklärte ihr bald darauf, dass er noch nie im Leben so hereingefallen sei. »Ja, da kannst du wohl staunen!«, sagte er, und seine engelsgleichen blauen Augen sprühten vor Entrüstung.

Sie konnte ein Lachen nicht unterdrücken und sagte: »Oh, Dy, was bist du für ein elender Wicht! Mit mir wolltest du nicht hierherkommen, ja du erklärtest sogar, keine tausend Pferde brächten dich her.«

»Es waren auch keine tausend Pferde«, erwiderte er düster. »Sie hätten es nie zuwege gebracht. Es war die alte Mutter Wenlock! Sie winkte mich heute Vormittag in der Bond Street an ihren altmodischen Landauer heran und sagte, ich müsse unbedingt in der Brook Street dinieren, um ihre Nichte kennenzulernen. Ich sagte natürlich, ich hätte eine Verabredung mit Freunden, aber ebenso gut hätte ich meinen Atem sparen können. Von allen teuflischen Dingen sind diese schrecklichen alten Hexen, die mit Mama so innig befreundet sind, am allerärgsten. Bedenke, Nell, hätte ich gewusst, dass sie die Absicht hat, mich in den Almack’s Club zu schleppen, dann hätte sie sagen können, was sie wollte, ich hätte mich nicht von der Stelle gerührt. Erstens bin ich kein Tänzer, und zweitens bekommt man hier nichts zu trinken als Limonade und einen Gerstentrank – von den beiden ist mir, verdammt noch einmal, sogar noch die Limonade lieber –, und diese feine Nichte, von der sie schwor, sie sei ein entzückendes Mädchen, ist die reinste Vogelscheuche!«

»Das hätten Sie sich denken können«, sagte Mr. Hethersett in seiner Welterfahrenheit.

»Warum?«, fragte der Viscount.

In anderer Gesellschaft hätte ihm Mr. Hethersett mit brutaler Offenheit geantwortet, doch unter Nells unschuldig fragendem Blick fehlte ihm der Mut, und er sagte, er wisse es selbst nicht so genau. Schließlich konnte man vor einer liebenden Schwester nicht sagen, dass es keiner Gardedame bei gesundem Verstand einfallen würde, Dysart einzuladen, um ein bezauberndes Mädchen zu einer Party zu begleiten. Viel wahrscheinlicher wäre es, wenn das in Frage stehende Mädchen auch nur im Geringsten sein umherschweifendes Interesse zu erregen schien, dass sie ihm das Haus verbieten würde. Obwohl Erbe eines Grafentitels, war es doch allgemein bekannt, dass sein edler Vater – bis er das unwahrscheinliche Glück hatte, Cardross für seine Tochter zu angeln – völlig bankrott war und dass er, um es vulgär auszudrücken, seinen ganzen Besitz verjubelt hatte. Und niemand, der seinen eigenen flatterhaften Lebenswandel verfolgte, konnte das geringste Vertrauen darin setzen, dass er die Familienbesitzungen durch eine klügere Verwaltung in Ordnung bringen würde. Weit entfernt davon, ihn für einen erstrebenswerten Heiratskandidaten zu betrachten, hielt man ihn für überaus gefährlich, denn er vereinigte mit seinen entschieden zügellosen Neigungen einen so hohen Grad unwiderstehlichen Charmes, dass er für ein empfindsames wohlerzogenes Mädchen leicht zum Verhängnis werden konnte. Überdies sah er außerordentlich gut aus, und obwohl seine strengen Kritiker die Nachlässigkeit seiner Kleidung verurteilten, konnte nicht geleugnet werden, dass seine hochgewachsene Gestalt mit den schönen breiten Schultern und sein Kopf mit dem leuchtenden goldblonden Haar unweigerlich alle Blicke auf sich zogen. Er verfügte auch über ein zärtliches, reumütiges oder auch mutwilliges Lächeln, das eben jetzt auftauchte, denn er war kein Narr und wusste sehr wohl, was Mr. Hethersett gemeint hatte.

»Memme!«, rief er herausfordernd.

Doch Mr. Hethersett lehnte es ab, sich provozieren zu lassen. Und da Letty in diesem Augenblick in Begleitung Mr. Allandales erschien, ließ Dysart die ganze Sache fallen. Er begrüßte Letty mit der ungezwungenen Kameradschaftlichkeit eines auf irgendeine Art verwandten jungen Mannes und bat sogleich um die Erlaubnis, sie in das Karree führen zu dürfen, das sich soeben formte. Wie bedingungslos ergeben Letty ihrem Mr. Allandale auch sein mochte, so war sie dem Charme des Viscounts gegenüber doch keineswegs unzugänglich; sie eilte daher vergnügt mit ihm von dannen und überließ es ihrem Verehrer, mit Nell belanglose Höflichkeiten auszutauschen.

Ihr Cousin Felix beobachtete diese Vorgänge mit neidischen Blicken. Es wäre schwergefallen, einen größeren Kontrast zu finden als den, welcher zwischen Lord Dysart und Mr. Jeremy Allandale bestand. Dieser war ein eher untersetzter junger Mann, dessen ernste Augen und regelmäßige Züge sich mit einem ungemein seriösen Wesen und gediegenem Charakter vereinten. Jener war ein hochgewachsener schöner Dandy mit unbekümmert arroganter Haltung; in seinen Augen blitzte ein verwegenes Leuchten, welches einer Veranlagung entsprang, die ebenso unbeständig wie die Mr. Allandales beständig war. In einer Hinsicht waren sie allerdings Blutsbrüder: Beide waren auf ihre Art als zukünftige Ehegatten abzulehnen. Mr. Hethersett, welcher den Beginn eines vielversprechenden Flirts zwischen Letty und Seiner Lordschaft beobachtete, glaubte, seine Pflichten Cardross gegenüber sträflich vernachlässigt zu haben. Ein scharfsinnigerer Mann, überlegte er verdrießlich, wäre eingeschritten, ehe Letty Zeit gehabt hätte, Dysarts Aufforderung anzunehmen.

Auch Nell beobachtete das Paar auf dem Tanzparkett, nicht weil sie irgendwelche Bedenken hegte, denn obwohl sie wusste, dass Cardross für Dysart keine sonderliche Sympathie empfand, wusste sie doch, dass Letty an niemandem außer an ihrem Jeremy Gefallen fand – sondern ein wenig nachdenklich. Als sie Dysart erblickte, hatte sie unverzüglich das Bedürfnis gehabt, ihm ihre Sorgen anzuvertrauen. Sie erwartete zwar kaum, dass er imstande wäre, ihr die Geldsumme zurückzuerstatten, welche sie ihm geliehen hatte, zumindest aber hätte sie ihn warnen können, in Zukunft nicht mehr auf sie zu rechnen.

Es ergab sich auch weiterhin keine Möglichkeit für eine Unterredung mit ihm. Sie selbst wurde zum Tanz aufgefordert, doch ihr Platz in dem Karree war von dem Dysarts weit entfernt; und als sie das Tanzparkett wieder verließ, hatte er Letty der Obhut Mr. Hethersetts übergeben und war zu seiner eigenen Gesellschaft zurückgekehrt.

Zehn Minuten später verließ er den Almack’s Club unter der durchsichtigsten aller Ausreden, ein Umstand, von dem Nell durch seine Gastgeberin unterrichtet wurde. Denn sie kam in der ausdrücklichen Absicht, Nell mit ihrer Meinung über seine Manieren und seine Erziehung vertraut zu machen, quer durch den Saal gesegelt. Mr. Hethersett konnte nichts tun, um ihr diese schwere Prüfung zu ersparen. Doch als es eine der schrecklichen Tanten, mit denen er und Cardross gesegnet waren, für ihre Pflicht hielt, Nell wegen ihrer Unbekümmertheit zu rügen, mit der sie Letty gestattete, mit Mr. Allandale zu tanzen, kam er ihr eiligst zu Hilfe und empfahl Lady Chudleigh sogar, diesen Tadel Cardross persönlich mitzuteilen.

»Ich möchte dir versichern, Felix«, sagte die würdige Dame mit vernichtender Betonung, »dass nichts meinen Absichten weniger entspricht. Es liegt mir mehr als fern, Unheil stiften zu wollen.«

»Sollten Sie es dennoch tun«, erwiderte der unerschrockene Mr. Hethersett, »gäbe Ihnen Cardross höchstwahrscheinlich einen seiner wohlbekannten derben Verweise.«

Nell war von diesem ihretwegen zur Schau getragenen Heroismus völlig überwältigt, doch Mr. Hethersett wehrte bescheiden ab. Nachdem er den Rückzug der verwitweten Lady durch sein Monokel, welches sein Auge in der abscheulichsten Weise vergrößerte, beobachtet hatte, versicherte er Nell, er habe nicht mehr als die Wahrheit gesagt. »Keine Sorge, Cardross könnte sich ihre Geschichten anhören«, sagte er. »Außerdem weiß er genau, dass Sie Letty nicht hindern können, mit Mr. Allandale zu tanzen. Ich bezweifle sogar, dass er selbst es zuwege brächte.«

Es schien, als teile der Earl diese Zweifel. Als die Damen kurz nach Mitternacht am Grosvenor Square ihre Equipage verließen, war er von einem Dinner, welches die Erhabene Beefsteak-Gesellschaft gab, noch nicht zurückgekehrt. Er besuchte seine junge Frau jedoch am späten Vormittag des folgenden Tages und fand sie noch im Bett, ein Frühstückstablett auf den Knien. Die reichen Falten der Bettvorhänge aus zartrosa Seidenstoff waren zurückgezogen worden. Zwischen kleinen Schlückchen Kaffee und winzigen Bissen von ihrem Butterbrot war sie damit beschäftigt, ihre Korrespondenz zu lesen. Diese schien, nach dem zu urteilen, was auf ihrer Daunendecke lag, hauptsächlich aus goldgeränderten Einladungskarten zu bestehen. Es befand sich aber auch ein Brief ihrer Mama darunter, kreuz und quer durchgestrichen, welchen sie eben zu entziffern versuchte, als Cardross das Zimmer betrat. Sie legte ihn sogleich beiseite und begann die Löckchen zurechtzurücken, die aus dem kleidsamen Nachthäubchen aus Musselin und Spitzen hervorlugten. »Mein Gott! Oh du meine Güte! Ich dachte nicht, dass du so bald kommen würdest ... ich bin so schrecklich zerzaust.«

»Lass nur«, sagte er, ergriff ihre Hand und küsste sie. »Ich versichere dir, du siehst bezaubernd aus. Hast du dich gestern Abend gut amüsiert?«

»Ja, danke. Das heißt ... weißt du, es war ja nur einer der Tanzabende im Almack’s.«

»Also nicht sehr amüsant«, bemerkte er, setzte sich auf den Bettrand und griff nach einer der Einladungskarten. »Ebenso wenig wie es diese Sache sein wird, ich fürchte aber, wir müssen sie annehmen. Sie ist Lettys Patin. Verhielt sich Letty übrigens gestern Abend korrekt, oder steckte sie den ganzen Abend mit diesem Burschen Allandale zusammen?«

»Nein, wirklich nicht. Sie tanzte bloß zweimal mit ihm.«

»Ich bin überrascht zu erfahren, dass sie sich eine derartige Zurückhaltung auferlegte – und ich mache dir mein Kompliment: Das war bestimmt dein Werk.«

»Nun ja, ich sollte natürlich versuchen, sie davon abzubringen, Dinge zu tun, die du nicht gestattest«, sagte Nell etwas unsicher, »aber es war wirklich nicht nötig. Mr. Allandales Gewissenhaftigkeit ist so fundiert, dass ich überzeugt bin, er würde von ihr nie etwas verlangen, was den Leuten Stoff zum Klatsch geben könnte.«

»Du guter Gott!«, rief Seine Lordschaft. »Was für ein langweiliger Kümmerling. Was findet sie nur an ihm?«

»Ich verstehe es auch nicht«, sagte Nell aufrichtig. »Obwohl ich überzeugt bin, dass er viele ausgezeichnete Qualitäten und einen überlegenen Verstand besitzt.«

»Überlegen?! Unsinn! Ich fand immer nur, dass er ein unglaublich öder Mensch ist. Ich wünschte, sie würde diese Backfischschwärmerei endlich aufgeben. Denn, weißt du, die Sache ist völlig unmöglich: Er hat weder Vermögen noch irgendwelche Aussichten, eine reiche Erbschaft zu machen, und ich könnte schwören, noch nie ein Paar gesehen zu haben, das weniger zusammenpasst. Ich wäre ein Verbrecher, wenn ich eine solche Verbindung unterstützte. Wenn seine Gewissenhaftigkeit tatsächlich so gut fundiert ist, wie du sagst, glaube ich nicht, befürchten zu müssen, dass er mit ihr nach Gretna Green durchbrennen könnte.«

»Du lieber Himmel, nein«, rief Nell erschrocken.

»So viel also über die reizenden Prophezeiungen meiner Tante Chudleigh.«

»Deine Tante Chudleigh! Oh, Giles, sie war gestern Abend im Almack’s und machte mir entsetzliche Vorwürfe, weil ich Letty gestattete, mit Mr. Allandale zu tanzen.«

»Welche Unverschämtheit!«

»Oh nein, Giles! Felix sagte allerdings dasselbe. Und er sagte ihr auch, sie solle sich nur bei dir beklagen, was von ihm zwar nicht sehr höflich, aber unglaublich mutig war.«

»Ich frage mich, wie sie sich das vorstellt und was ich tun könnte, um Letty daran zu hindern? Nichts anderes, als sie in Merion einzusperren – übrigens muss ich nächste Woche nach Merion fahren. Es wäre wohl zwecklos, dich zu bitten, mich zu begleiten?«

Sie wandte ihm ihr plötzlich bestürztes Gesicht zu. »Nächste Woche?! Da ist doch das Maskenfest bei den Beadings –!«

Er hob die Brauen. »Ist das so wichtig? Ich für meinen Teil halte Maskenbälle in Chiswick –«

»Nein, wirklich nicht. Aber du hast es Letty versprochen, den Ball besuchen zu dürfen. Es ist ihr erster Maskenball, und sie hat sich den bezauberndsten Domino machen lassen, und ... und ich muss gestehen, ich fände es entsetzlich unfreundlich von uns, ihr jetzt zu sagen, dass sie nicht gehen darf.«

»Zum Henker mit Letty! Kann sie denn nicht – nein, das kann sie natürlich nicht. Also gut: Ich werde dich nicht länger damit quälen, mich zu begleiten.«

»Ich wollte, ich könnte es tun«, sagte sie sehnsüchtig.

Er lächelte ihr ziemlich spöttisch zu und griff nach einer anderen Einladungskarte. »Ein Quadrilleball bei den Cowpers! Wie blendend! Da wird es wieder ein entsetzliches Gedränge geben. Müssen wir gehen?«

Lady Cardross hatte mit ihrer Post eine höfliche Erinnerung von ihrem Parfümeur Mr. Warnen erhalten, dass noch eine kleine Rechnung für weißes Nagelwachs und Olympischen Tau offen sei. Sie hatte unter Lady Cowpers Einladung gelegen und lag nun offen da, als der Earl nach der Karte griff. Es handelte sich lediglich um einige Guineen, doch Nell breitete instinktiv ihre Hand darüber, um sie zu verbergen. Diese rasche Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Er sah hin, und Nell zog, ärgerlich über sich selbst, ihre Hand heftig errötend sogleich wieder zurück.

»Welche Freuden stehen uns sonst noch bevor?«, fragte er und griff nach einer weiteren Karte. »Gesellschaften und Bälle scheinen in vollem Schwung zu sein: Du wirst unter den vielen Verpflichtungen noch zusammenbrechen. Aber bitte schleppe mich ja nicht zu dieser Veranstaltung!«

»Die? Oh nein. Das ist doch eine Damengesellschaft. Du ... du wirst bei unserem eigenen Ball aber doch anwesend sein, nicht wahr?«

»Selbstverständlich.«

Es trat wieder ein kurzes Schweigen ein. Nach dem flüchtigen Blick hatte der Earl die Rechnung von Mr. Warren nicht wieder angesehen, aber seine schuldbewusste Frau glaubte, seine Aufmerksamkeit unbedingt davon ablenken zu müssen. Sie sagte ein wenig atemlos: »Cardross, was für einen schönen und eleganten Dressing Gown du heute trägst! Ich glaube, ich habe ihn bisher noch nie an dir gesehen.«

»Aha! Ich hoffte, er würde dir gefallen«, sagte er munter. »Und auch, dass du mit mir zufrieden sein wirst, wenn ich ihn dir vorführe.«

»Ach, mach dich doch nicht lustig über mich! Er ist wirklich wunderschön.«

»Ja, und ganz entsetzlich teuer – so teuer wie dein Hütchen mit den Federn –, ich fürchte allerdings, nicht so kleidsam. Du siehst also, ich setze mich mit diesem Geständnis einer heftigen Gegenattacke aus.«

»Oh, Giles!«

Er lachte und streichelte ihre Wange. »Törichte kleine Nell. Ist sie sehr hoch?«

Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und sah ihn schüchtern lächelnd an. »Nein, wirklich nicht. Es ist ... es ist nur eine Rechnung, die ich zufällig vergaß, und ich hatte Angst, du könntest böse werden.«

»Was für ein unangenehmer Ehemann muss ich sein«, murmelte er reumütig. »Soll ich diese Rechnung mit den übrigen bezahlen?«

»Bitte nein. Es ist nur eine ganz kleine – schau!« Sie zeigte sie ihm, doch er sah sie gar nicht an, sondern nahm ihre Hand in die seine, zerdrückte die Rechnung zwischen seinen Fingern und sagte: »Du darfst dich vor mir nicht fürchten. Das war nie meine Absicht. Ich werde diese Rechnung bezahlen und auch alle anderen – nur verstecke sie nie vor mir!«

»Ich mich vor dir fürchten? Oh nein, nein«, rief sie.

Seine Hand schloss sich fester um die ihre, und er beugte sich vor, als wolle er sie küssen. Doch eben in diesem Augenblick trat Nells Kammerfrau ein. Obwohl sie sich unverzüglich wieder zurückzog, war die Stimmung zerstört. Nell hatte, heftig errötend, ihre Hand eiligst zurückgenommen, und der Earl machte keinen weiteren Versuch, sie wieder zu fassen. Er erhob sich – auch sein Gesicht hatte sich gerötet –, denn er empfand die ganze Verlegenheit eines Mannes, der um zehn Uhr vormittags dabei ertappt wird, seine eigene Frau zu liebkosen. Er flüchtete eilends in sein Ankleidezimmer.

Kapitel II

Kurz vor vier Uhr nachmittags fuhr die Barutsche der jungen Lady Cardross durch das Stanhope-Tor in den Hyde Park. Es war ein ungemein elegantes Vehikel, der Dernier Cri für Stadtequipagen. Ihr Gatte hatte ihr nicht nur das Gefährt, sondern auch noch ein Paar vollendet harmonierender Grauschimmel anlässlich ihres Einzuges als Herrin des Palais am Grosvenor Square geschenkt. »Unschlagbar schick«, nannte es Dysart, denn ohne Frage besaß keine andere Dame ein eleganteres Gefährt. Für jedermann, der zur Gesellschaft zählte, gehörte es zur Pflicht, während der Londoner Season an jedem schönen Nachmittag zwischen fünf und sechs Uhr fahrend, reitend oder auch nur spazierengehend im Hyde Park gesehen zu werden. Vor ihrer Heirat, als sie noch neben ihrer Mama in einem altmodischen Landauer saß, hatte Nell die Besitzer der eleganten Equipagen häufig beneidet und sich gedacht, wie angenehm es sein müsste, in einer smarten Barutsche hinter einem Paar elegant trabender, edler Tiere zu sitzen. Sie war über das Geschenk des Earls restlos begeistert gewesen und hatte naiv ausgerufen: »Jetzt werde ich auch bald zu den tonangebenden Damen gehören!«

»Wünschst du dir denn das?«, hatte er amüsiert gefragt.

»Ja«, erwiderte sie aufrichtig. »Und ich glaube, dass ich es werden muss, obwohl Miss Wilby – unsere Gouvernante, weißt du – immer sagte, es sei nicht recht, seine Gedanken auf weltliche Dinge zu richten. Denn du bist doch tonangebend, und daher ist es, wie ich glaube, unerlässlich, dass auch ich tonangebend werde.«

»Ich bin überzeugt«, sagte er mit bewunderungswürdig beherrschtem Gesichtsausdruck, »dass es selbst Miss Wilby als deine Pflicht betrachten würde.«

Sie war diesbezüglich etwas im Zweifel, doch da sie sich glücklicherweise erinnerte, nicht mehr in der Obhut ihrer Gouvernante zu sein, gelang es ihr, diese exzellente Erzieherin aus ihren Gedanken zu verbannen. »Du weißt doch, wie viele Leute über Lord Dorset und seine Schimmel sprechen, und auch über Mrs. Toddington und ihre Füchse?«, sagte sie in vertraulichem Ton. »Jetzt werden sie über Lady Cardross und ihre Grauschimmel sprechen. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn meine Barutsche ebenso viele Augen auf sich zöge wie die ihre.«

»Auch mich nicht«, pflichtete Seine Lordschaft ihr bei, feierlich wie ein Richter. »Ich würde mich viel eher wundern, wenn es nicht der Fall wäre.«