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Paris zur Zeit Louis XV.: Der Herzog von Avon trägt den Spitznamen "Satanas" zurecht, denn er ist für seine Skrupellosigkeit und sein ausschweifendes Leben berüchtigt. Als ihn eines Abends ein Knabe beinahe umrennt, kauft er den jungen Léon kurzerhand seiner Familie ab und macht ihn zu seinem Pagen. In den feinen Pariser Kreisen sorgt dies für großes Aufsehen. Niemand ahnt, dass Avon damit einen raffinierten Rachefeldzug an seinem Erzfeind Graf Henry de Saint-Vire plant, dem Léon verblüffend ähnlich sieht.
Doch zum Erstaunen des Herzogs stellt sich heraus, dass Léon eigentlich ein Mädchen ist. Die entzückende Léonie erobert die Pariser Gesellschaft im Sturm und Avon muss feststellen, dass die junge Dame sich nicht so einfach für seine Zwecke einspannen lässt. Und auch er selbst erliegt bald den Reizen des temperamentvollen jungen Mädchens ...
In "Der Page und die Herzogin" (im Original: These Old Shades) lässt Georgette Heyer die gute alte Zeit des Ancién Regime wieder aufleben. Die historische Liebeskomödie besticht durch einen humorvollen Ton, fein pointierte Dialoge und einen spannenden Plot, bei dem kein Auge trocken bleibt.
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Cover
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
1. Seine Gnaden kauft eine Seele
2. Graf Saint-Vire betritt die Szene
3. Eine unbeglichene Rechnung
4. Seine Gnaden schließt nähere Bekanntschaft mit seinem Pagen
5. Seine Gnaden stattet Versailles einen Besuch ab
6. Seine Gnaden lehnt es ab, seinen Pagen zu verkaufen
7. Satan und Priester sind eines Sinnes
8. Hugh Davenant ist verblüfft
9. Léon und Léonie
10. Lady Fannys Sittlichkeitsgefühl wird verletzt
11. Mr. Marlings Herz wird gewonnen
12. Das Mündel seiner Gnaden
13. Léonies Erziehung
14. Lord Rupert Alastair betritt die Szene
15. Lord Rupert macht Léonies Bekanntschaft
16. Graf Saint-Vire taucht auf
17. Entführung, Verfolgung und Verwirrung
18. Mr. Manvers ist entrüstet
19. Lord Ruperts Gegenstreich
20. Seine Gnaden übernimmt das Kommando
21. Die Niederlage des Grafen Saint-Vire
22. Eine dritte Person greift ins Spiel ein
23. Mr. Marling lässt sich überreden
24. Hugh Davenant ist angenehm überrascht
25. Léonie wird in die Große Welt eingeführt
26. Léonie wird bei Hofe vorgestellt
27. Madame de Verchoureux greift ein
28. Der Graf Saint-Vire entdeckt einen Trumpf in seiner Hand
29. Léonie verschwindet
30. Seine Gnaden nimmt dem Grafen die Trümpfe aus der Hand
31. Seine Gnaden gewinnt das gesamte Spiel
32. Seine Gnaden setzt jedermann zum letzten Mal in Erstaunen
Paris zur Zeit Louis XV.: Der Herzog von Avon trägt den Spitznamen «Satanas» zurecht, denn er ist für seine Skrupellosigkeit und sein ausschweifendes Leben berüchtigt. Als ihn eines Abends ein Knabe beinahe umrennt, kauft er den jungen Léon kurzerhand seiner Familie ab und macht ihn zu seinem Pagen. In den feinen Pariser Kreisen sorgt dies für großes Aufsehen. Niemand ahnt, dass Avon damit einen raffinierten Rachefeldzug an seinem Erzfeind Graf Henry de Saint-Vire plant, dem Léon verblüffend ähnlich sieht.
Doch zum Erstaunen des Herzogs stellt sich heraus, dass Léon eigentlich ein Mädchen ist. Die entzückende Léonie erobert die Pariser Gesellschaft im Sturm und Avon muss feststellen, dass die junge Dame sich nicht so einfach für seine Zwecke einspannen lässt. Und auch er selbst erliegt bald den Reizen des temperamentvollen jungen Mädchens ...
Georgette Heyer, geboren am 16. August 1902, schrieb mit siebzehn Jahren ihren ersten Roman, der zwei Jahre später veröffentlicht wurde. Seit dieser Zeit hat sie eine lange Reihe charmant unterhaltender Bücher verfasst, die weit über die Grenzen Englands hinaus Widerhall fanden. Sie starb am 5. Juli 1974 in London.
Georgette Heyer
Der Page und die Herzogin
Aus dem Englischen von Luise Wasserthal-Zuccari
beHEARTBEAT
Digitale Originalausgabe
»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Copyright © Georgette Heyer, 1926
Die Originalausgabe THESE OLD SHADES erschien 1926 bei William Heinemann.
Copyright der deutschen Erstausgabe:
© Paul Zsolnay Verlag GmbH, Hamburg/Wien, 1960.
Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer
Umschlaggestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de unter Verwendung einer Illustration © Richard Jenkins Photography, London
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Ochsenfurt
ISBN 978-3-7325-3177-6
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Ein Kavalier schlenderte durch eine Seitengasse von Paris; er hatte eben das Haus einer gewissen Madame de Verchoureux verlassen. Sein Gang hatte etwas Geziertes, denn die roten Hacken seiner Schuhe waren sehr hoch. Ein langer purpurner, rosa gefütterter Mantel hing um seine Schultern und enthüllte in lässigem Fall einen reich bordierten und mit goldenen Tressen besetzten Rock aus purpurnem Brokat, eine geblümte Seidenweste, makellose Kniehosen und verschwenderisches Juwelengefunkel auf Halsbinde und Jabot. Ein Dreispitz mit scharfen Kanten saß auf der gepuderten Perücke, ein langes bebändertes Stückchen wippte in der Hand. Es mochte wenig Schutz gegen Straßenräuber bieten, und hing auch ein leichter Galadegen an des Kavaliers Seite, so war doch sein Heft in den Mantelfalten verborgen und nicht schnell zur Hand.
Zu dieser späten Stunde und in dieser menschenleeren Gasse bedeutete es den Gipfel der Verwegenheit, unbegleitet und juwelenglitzernd dahinzuschreiten, doch der Kavalier schien seiner Tollkühnheit gar nicht bewusst zu sein. Er ging achtlos seines Wegs und blickte weder nach rechts noch nach links.
Plötzlich stürzte sich, wie von einer Kanone abgeschossen, aus einem finsteren Durchlass zur Rechten ein Körper auf den Kavalier. Die Gestalt klammerte sich an den eleganten Mantel und versuchte unter Schreckensschreien das Gleichgewicht zu wahren.
Seine Gnaden, der Herzog von Avon, machte eine rasche Wendung. Er packte die Handgelenke seines Angreifers und drehte sie mit einer unbarmherzigen Kraft einwärts, die sein dandyhaftes Aussehen Lügen strafte. Das Opfer wimmerte schmerzlich auf und brach zitternd in die Knie.
«M’sieur, ach, lassen Sie mich los! Ich wollte ja nicht. – Ich wusste nicht – Ich hätte nie – Ach, M’sieur, lassen Sie mich doch los!»
Seine Gnaden beugte sich, leicht zur Seite geneigt, über den Jungen. Das Licht einer in der Nähe stehenden Straßenlaterne fiel auf ein weißes, zu Tode erschrecktes Gesicht. Große, veilchenblaue Augen starrten wild zu ihm empor, in deren Tiefen Entsetzen lag.
«Für derlei Spiele scheinst du mir reichlich jung», sagte der Herzog verwundert. «Oder glaubst du, mich überrumpeln zu können?»
Der Knabe errötete, und seine Augen verdunkelten sich vor Empörung.
«Ich wollte Sie nicht berauben! Wirklich nicht, wirklich nicht! Ich – ich wollte durchbrennen! Ich – oh, M’sieur, lassen Sie mich doch los!»
«Alles zu seiner Zeit, Kind. Von wo wolltest du durchbrennen, wenn ich fragen darf? Von einem anderen Opfer?»
«O nein! Ach bitte, lassen Sie mich los! Sie – Sie verstehen das nicht! Er wird schon meine Verfolgung aufgenommen haben! Ach bitte, bitte, Milor’!»
Die seltsamen, von schweren Lidern beschatteten Augen des Herzogs wandten sich nicht vom Jungengesicht ab. Sie hatten sich plötzlich weit geöffnet und einen gespannten Ausdruck angenommen.
«Und wer, Kind, ist dieser ‹Er›?»
«Mein – mein Bruder. O bitte –»
Um die Ecke des Gässchens kam ein Mann gehastet. Als sein Auge auf Avon fiel, hielt er inne. Der Knabe began zu zittern und klammerte sich an Avons Arm.
«Ah!», stieß der Mann aus. «Wenn diese Missgeburt Euch zu berauben versucht hat, Milor’, wird er’s teuer büßen müssen! Bei Gott! Du Lump, du! Undankbares Biest! Das wirst du noch bereuen, kann ich dir versichern! Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, Milor’! Der Bursche ist mein jüngerer Bruder. Grade verprügelte ich ihn wegen seiner Faulheit, da schlüpfte er mir davon –»
Der Herzog hob ein parfümiertes Taschentuch an seine Nase.
«Bleib Er mir vom Leibe, Geselle», sagte er arrogant. «Prügel dürften zweifellos dem Jungen nicht schaden.»
Der Knabe heftete sich noch mehr an seine Seite. Er unternahm keinen Fluchtversuch, doch seine Hände zuckten wie im Krampf. Abermals schweiften die seltsamen Augen des Herzogs über ihn und verweilten kurz auf den gestutzten kupferroten Locken, die in wilder Unordnung waren.
«Wie gesagt, Prügel dürften dem Jungen nicht schaden. Sein Bruder, sagte Er?» Nun starrte er den schwarzhaarigen Burschen mit den groben Gesichtszügen an.
«Ja, edler Herr, mein Bruder. Seit dem Tod unserer Eltern hab ich für ihn gesorgt, und er vergilt es mir mit Undankbarkeit. Er ist eine Strafe Gottes, edler Herr, eine Strafe Gottes!»
Der Herzog schien in Nachdenken versunken.
«Wie alt ist er, Geselle?»
«Neunzehn, Milor’.»
Der Herzog musterte den Jungen genauer.
«Neunzehn. Ist er nicht etwas klein für sein Alter?»
«Na, und wenn, Milor’, so ist’s nicht mein Fehler! Ich – ich hab ihn ordentlich gefüttert. Ich bitt Euch, achtet nicht auf seine Worte! Er ist eine falsche Schlange, eine Wildkatze, eine regelrechte Strafe Gottes!»
«Ich will Ihn von der Strafe Gottes befreien», sagte der Herzog gelassen.
Der Mann starrte ihn verständnislos an.
«Milor’ –?»
«Er ist doch zu verkaufen?»
Eine kalte Hand stahl sich in die des Herzogs und umklammerte sie.
«Zu verkaufen, Milor’? Ihr –»
«Ich möchte ihn kaufen, damit er mein Page werde. Was kostet er? Einen Louis? Oder haben Strafen Gottes keinen Preis? Ein interessantes Problem.»
Die Augen des Mannes erglommen plötzlich in gieriger Verschlagenheit.
«Er ist ein braver Junge, edler Herr. Er versteht sich aufs Arbeiten. Er ist mir eigentlich recht viel wert. Und ich bin ihm von Herzen zugetan. Ich –»
«Ich gebe Ihm eine Guinea für Seine Strafe Gottes.»
«Ach, nicht doch, Milor’! Er ist mehr wert! Viel, viel mehr!»
«Dann behalt Er ihn», sagte Avon und tat einen Schritt weiter.
Der Knabe lief ihm nach und hängte sich an seinen Arm.
«Milor’, nehmen Sie mich mit! Oh bitte, nehmen Sie mich mit! Ich will fest für Sie arbeiten! Ich schwöre es! Oh, ich flehe Sie an, nehmen Sie mich mit!»
Seine Gnaden hielt inne.
«Bin ich nicht ein Narr?», rief er auf Englisch. Er zog die diamantenbesetzte Nadel aus seiner Halsbinde und hielt sie derart, dass sie im Licht der Laterne funkelte und glitzerte. «Nun, Kerl? Genügt Ihm das?»
Der Mann glotzte auf das Schmuckstück, als könnte er seinen Augen nicht trauen. Er rieb sie und trat, noch immer starrend, näher.
«Für dies da», sagte Avon, «erstehe ich Seinen Bruder mit Leib und Seele. Einverstanden?»
«Gebt her!», krächzte der Mann und streckte seine Hand aus. «Der Junge ist Euer, Milor’.»
Avon warf ihm die Nadel zu.
«Ich forderte Ihn, glaube ich, auf, mir vom Leibe zu bleiben», sagte er. «Er beleidigt meine Nase. Folge mir, Kind.» Er entfernte sich, und der Junge schritt in respektvollem Abstand hinter ihm die Straße hinunter.
Schließlich gelangten sie in die Rue St.-Honoré und zu Avons Haus. Ohne einen Blick nach hinten zu werfen, um sich zu versichern, ob sein neues Besitztum ihm wohl auch folge, durchschritt der Herzog den Vorhof und trat an das große nägelbeschlagene Tor. Lakaien ließen ihn unter Bücklingen ein; voll Verwunderung blickten sie auf die schäbige Gestalt, die sich an seine Fersen heftete.
Der Herzog warf seinen Mantel ab und reichte einem der Diener seinen Hut.
«Mr. Davenant?», fragte er.
«In der Bibliothek, Euer Gnaden.»
Avon schlenderte durch die Halle zur Tür der Bibliothek. Ihre Flügel öffneten sich, und er trat ein, dem Knaben mit einem Kopfnicken bedeutend, ihm zu folgen.
Hugh Davenant saß beim Kamin, in die Lektüre von Poesien versunken. Als sein Gastgeber eintrat, blickte er auf und lächelte ihm zu.
«Nun, Justin?» Da erblickte er das Häufchen Elend an der Tür. «Meiner Treu, was ist denn das für eine Bescherung?»
«Das kann man wohl sagen», warf der Herzog hin. Er trat ans Feuer und schob den einen elegant beschuhten Fuß gegen die Glut vor. «Eine Grille. Dieses schmutzige und ausgehungerte Restchen Mensch gehört mir.» Er hatte Englisch gesprochen, doch der Knabe verstand ihn offensichtlich, denn er errötete und ließ sein lockiges Haupt hängen.
«Dir?» Davenants Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. «Was soll das heißen, Alastair? Du meinst doch nicht am Ende – dass dies dein Sohn ist?»
«Oh nein!» Seine Gnaden lächelte leicht amüsiert. «Diesmal nicht, mein lieber Hugh. Ich habe diese kleine Ratte um den Preis eines Diamanten erstanden.»
«Aber – aber wieso denn, um Himmels willen?»
«Keine Idee», erwiderte Seine Gnaden freundlich. «Komm her, Ratte.»
Der Knabe trat schüchtern vor und litt es, dass Justin sein Gesicht ins Licht drehte.
«Ein recht hübsches Kind», bemerkte der Herzog. «Ich werde es zu meinem Pagen machen. Es ist so unterhaltsam, einen Pagen mit Leib und Seele zu besitzen.»
Davenant erhob sich und ergriff eine der Hände des Knaben.
«Du wirst es mir wohl einmal gelegentlich näher erklären», sagte er. «Jetzt aber: Warum gibst du dem armen Kind nichts zu essen?»
«Du denkst auch immer an alles», seufzte der Herzog. Er wandte sich der Tafel zu, auf der ihn ein kaltes Souper erwartete. «Wundervoll. Als hättest du gewusst, dass ich einen Gast mitbringe. Kannst essen, kleine Ratte.»
Der Knabe blickte scheu zu ihm auf.
«Bitte, Milor’, ich kann warten. Ich – ich möchte nicht Ihr Souper essen. Ich möchte lieber warten, wenn – wenn’s beliebt.»
«Ich beliebe nicht, mein Kind. Iss.» Während dieser Worte setzte er sich und ließ sein Lorgnon hin und her schwingen. Nach kurzem Zögern trat der Junge zum Tisch und wartete, dass Hugh ihm ein Hühnerbein abschnitt. Danach kehrte Hugh zum Kamin zurück.
«Bist du verrückt, Justin?», fragte er mit leisem Lächeln.
«Ich glaube nicht.»
«Warum dann dies? Was hast du, um alles in der Welt, mit einem Kind dieses Alters vor?»
«Ich dachte, es könnte ganz unterhaltsam sein. Ich leide, wie du zweifellos weißt, an ennui. Louise langweilt mich. Dies da –» seine weiße Hand machte eine Geste gegen den kleinen Hungerleider – «ist eine vom Himmel gesandte Zerstreuung.»
Davenant runzelte die Stirn.
«Du willst doch nicht am Ende dieses Kind adoptieren?»
«Es – äh – hat mich adoptiert.»
«Du wirst ihn zu deinem Sohn machen?», drang Hugh ungläubig in ihn.
Der Herzog hob verächtlich seine Brauen.
«Mein lieber Hugh! Ein Kind aus der Gosse? Mein Page wird er sein.»
«Und welche Interessen verfolgst du damit?»
Justin lächelte, sein Blick schweifte zum Jungen hinüber.
«Weiß ich’s?», sagte er sanft.
«Du hast einen besonderen Grund?»
«Wie du weise bemerkst, mein lieber Hugh – ich habe einen besonderen Grund.»
Davenant zuckte die Achseln und ließ das Thema fallen. Er beobachtete das Kind an der Tafel, das jetzt seine Mahlzeit beendete und an des Herzogs Seite trat.
«Wenn’s beliebt, Sir, ich bin fertig.»
Avon hob sein Lorgnon.
Plötzlich kniete der Knabe nieder und küsste zu Davenants Überraschung die Hand des Herzogs.
«Ja, Sir. Danke.»
Avon zog seine Hand zurück, doch der Junge blieb auf den Knien liegen und blickte voll Ergebenheit zum wohlgeformten Antlitz des Herzogs auf. Dieser nahm eine Prise Schnupftabak.
«Hochgeschätztes Kind, dort sitzt der Mann, dem du deinen Dank abstatten solltest.» Er wies auf Davenant. «Mir wär’s nie in den Sinn gekommen, dir zu essen zu geben.»
«Ich – ich danke Ihnen, weil Sie mich vor Jean gerettet haben, Milor’», antwortete der Junge.
«Dir steht ein weit schlimmeres Los bevor», sagte der Herzog spöttisch. «Nun gehörst du mir – mit Leib und Seele.»
«Ja, Sir. Wenn’s beliebt», murmelte der Junge; hinter langen Wimpern schnellte ein bewundernder Blick zum Herzog hin.
Die schmalen Lippen kräuselten sich leicht.
«Diese Aussicht scheint dir erfreulich?»
«Ja, Sir. Ich – ich diene Ihnen gern.»
«Aber du kennst mich ja noch gar nicht richtig», sagte Justin mit einem kurzen Auflachen. «Ich bin ein unmenschlicher Zuchtmeister, was, Hugh?»
«Du bist nicht dafür geschaffen, dich eines Kindes in diesem Alter anzunehmen», erwiderte Hugh ruhig.
«Wie wahr! Soll ich ihn dir geben?»
Eine zitternde Hand rührte an seine Manschette.
«Bitte, Sir –»
Justin streifte seinen Freund mit einem Blick.
«Ich werde es aber wahrscheinlich nicht tun. Es ist so amüsant und so – äh – ungewohnt, als goldene Heiligenfigur in den Augen – äh – zartester Unschuld dazustehen. Ich werde den Jungen so lange behalten, wie er mir Spaß macht. Wie heißt du, Kind?»
«Léon, Sir.»
«Wie angenehm kurz!» In der sanften Stimme des Herzogs klang stets ein schwacher Unterton von Spott mit. «Léon. Kurz und gut Léon. Nun erhebt sich die Frage – für die Hugh selbstverständlich schon die Antwort bereithält –: Was tun wir jetzt mit Léon?»
«Ihn zu Bett schicken», sagte Davenant.
«Natürlich. Und was hältst du von – einem Bad?»
«Das auf jeden Fall.»
«Ach ja», seufzte der Herzog und betätigte die Handglocke an seiner Seite.
Ein Lakai erschien und verbeugte sich tief.
«Euer Gnaden wünschen?»
«Schicken Sie mir Walker herein», sagte Justin.
Der Lakai entschwand, und es erschien eine adrette und steife Gestalt mit grauem Haar.
«Walker, ich wollte Ihnen etwas auftragen. Ach, richtig, jetzt entsinne ich mich. Walker, bemerken Sie dieses Kind?»
Walker blickte auf den knienden Knaben.
«Ay, Euer Gnaden.»
«Er bemerkt es, welch ein Glück», murmelte der Herzog. «Es heißt Léon, Walker. Trachten Sie dies Ihrem Gedächtnis einzuprägen.»
«Gewiss, Euer Gnaden.»
«Es bedarf mehrerer Dinge, vor allem aber eines Bades.»
«Ay, Euer Gnaden.»
«Zweitens, eines Bettes.»
«Ja, Euer Gnaden.»
«Drittens, eines Nachthemdes.»
«Ja, Euer Gnaden.»
«Viertens und letztens, einer Garnitur Kleidung. Schwarz.»
«Schwarz, Euer Gnaden.»
«Ein strenges, trauermäßiges Schwarz, wie es meinem Pagen zusteht. Sie werden dafür Sorge tragen. Zweifellos werden Sie sich dieser Aufgabe glänzend gewachsen zeigen. Nehmen Sie das Kind mit und versehen Sie es mit Bad, Bett und Nachthemd. Und darnach lassen Sie es in Ruhe.»
«Sehr wohl, Euer Gnaden.»
«Und du steh auf, Léon. Folge dem wertgeschätzten Walker. Morgen reden wir weiter.»
Léon erhob sich und machte eine Verbeugung.
«Ja, Monseigneur. Danke.»
«Danke mir nicht schon wieder», gähnte der Herzog. «Es langweilt mich.» Er blickte Léon nach und wandte sich dann Davenant zu.
Hugh fasste ihn voll ins Auge.
«Was soll das alles heißen, Alastair?»
Der Herzog schlug die Beine übereinander und ließ einen Fuß pendeln.
«Weiß ich’s?», sagte er heiter. «Ich hoffte, du würdest es mir sagen können. Du bist doch sonst so allwissend, mein Lieber.»
«Du hast irgendetwas im Sinn, bestimmt», sagte ihm Hugh auf den Kopf zu. «Ich kenne dich lange genug, um dessen sicher zu sein. Was bezweckst du mit diesem Kind?»
«Du bist manchmal äußerst lästig», klagte Justin. «Und nie lästiger, als wenn du dich streng tugendhaft gebärdest. Verschone mich bitte mit einer Predigt.»
«Ich beabsichtigte durchaus nicht, dich abzukanzeln. Ich möchte nur das eine sagen: du kannst unmöglich dieses Kind als deinen Pagen aufnehmen.»
«Du lieber Gott!», sagte Justin und starrte nachdenklich ins Kaminfeuer.
«Denn erstens ist es adeliger Abkunft. Das kann man sowohl aus seiner Rede wie aus seinen feingegliederten Händen und Gesichtszügen schließen. Und zweitens – die Unschuld leuchtet ihm aus den Augen.»
«Wie peinlich!»
«Es wäre sehr peinlich, wenn es die Unschuld verlöre – durch dich», sagte Hugh, und in seine sonst leicht verträumte Stimme mischte sich ein grimmiger Tonfall.
«Du überbietest dich an Höflichkeit», murmelte der Herzog.
«Wenn du ihm etwas Gutes tun willst –»
«Mein lieber Hugh! Du behauptetest doch, mich zu kennen?»
Davenant lächelte.
«Justin, willst du mir einen Gefallen erweisen? Gib mir Léon und suche dir anderswo einen Pagen.»
«Es tut mir stets Leid, wenn ich dich enttäuschen muss, Hugh. Sooft es nur irgendwie angeht, trachte ich deinen Erwartungen gemäß zu handeln. Daher werde ich Léon behalten. Die Unschuld wird hinter dem Bösen einherwandeln – du siehst, ich komme dir zuvor –, in tugendsames Schwarz gehüllt.»
«Was hast du mit ihm vor? Sag mir wenigstens dies!»
«Er hat tizianrotes Haar», erwiderte Justin süß. «Tizianrotes Haar war stets eine meiner vorherrschenden Passionen.» Die haselnussbraunen Augen glommen einen Moment auf, verschleierten sich aber sofort wieder. «Ich bin überzeugt, du teilst sie.»
Hugh erhob sich und trat zum Tisch. Er schenkte sich ein Glas Burgunder ein und nippte schweigend ein Weilchen daran.
«Wo warst du heute Abend?», fragte er schließlich.
«Das hab ich wirklich vergessen. Ich glaube, zuerst ging ich in De Touronnes Spielsalon. Ja, nun erinnere ich mich. Ich gewann. Sonderbar.»
«Warum sonderbar?», forschte Hugh.
«Weil ich, Hugh, in jenen, nicht einmal so lange zurückliegenden Tagen, da man – äh – allgemein wusste, die edle Familie der Alastair stünde vor dem Ruin – ja, Hugh, selbst als ich so toll war, eine Ehe mit der gegenwärtigen – äh – Lady Merivale ins Auge zu fassen –, nur verlieren konnte.»
«Ich habe dich schon Tausende in einer Nacht gewinnen sehen, Justin.»
«Und sie in der nächsten verlieren. Dann verreiste ich mit dir, wenn du dich erinnerst – ach, wohin fuhren wir doch gleich? Nach Rom, natürlich!»
«Ich erinnere mich.»
Die schmalen Lippen verzogen sich höhnisch.
«Ja. Ich war der äh – abgewiesene Freier mit gebrochenem Herzen. Genau genommen hätte ich mir eine Kugel durch den Kopf jagen müssen. Aber über das Alter des Dramatisierens war ich schon hinaus. Stattdessen wandte ich mich – rechtzeitig – nach Wien. Und da gewann ich. Der Lohn des Lasters, mein lieber Hugh.»
Hugh kippte sein Glas; das Kerzenlicht spiegelte sich im dunklen Wein.
«Ich hörte», sagte er langsam, «dass der Mann, dem du dieses Vermögen abgewannst – ein junger Mann, Justin –»
«– mit untadeligem Charakter.»
«Ja. Dieser junge Mann – hörte ich – jagte sich eine Kugel durch den Kopf.»
«Du wurdest falsch informiert, mein Lieber. Er wurde im Duell erschossen. Der Lohn der Tugend. Die Moral der Geschichte springt doch hinlänglich deutlich ins Auge, nein?»
«Und du kamst mit einem Vermögen nach Paris.»
«Mit einem recht ansehnlichen. Ich kaufte dieses Haus.»
«Ja. Ich frage mich, wie du das mit deiner Seele vereinbaren kannst?»
«Ich habe keine, Hugh. Ich dachte, du wüsstest dies.»
«Als Jennifer Beauchamp Anthony Merivale heiratete, hattest du so etwas Ähnliches wie eine Seele.»
«Findest du?» Justin sah ihn leicht belustigt an.
Hugh hielt seinem Blick stand.
«Und desgleichen frage ich mich, was dir Jennifer Beauchamp heute bedeutet?»
Justin hob seine schöne weiße Hand.
«Jennifer Merivale, Hugh. Lebendes Denkmal eines Irrtums und einer Anwandlung von Tollheit.»
«Und doch bist du seither nicht mehr der Alte.»
Justin stand auf, nun sprach der Hohn unverkennbar aus seinen Worten.
«Vor einer halben Stunde sagte ich dir doch, mein Lieber, dass ich mich bemühe, deinen Erwartungen gemäß zu handeln. Vor drei Jahren – als ich durch meine Schwester Fanny von Jennifers Heirat erfuhr – erklärtest du mit deiner üblichen Schlichtheit, sie habe mich zwar nicht zum Mann genommen, mich aber zum Manne gemacht. Voilà tout.»
«Nein.» Hugh blickte ihn gedankenvoll an. «Ich habe mich geirrt, aber –»
«Mein lieber Hugh! Zerstöre doch bitte nicht meinen Glauben an dich!»
«Ich habe mich geirrt, aber nicht sehr. Ich hätte sagen sollen, Jennifer habe einer anderen Frau den Weg geebnet, dich zum Mann zu machen.»
Justin schloss die Augen.
«Wenn du tiefsinnig wirst, Hugh, lässt du mich den Tag bedauern, da ich dich in die auserwählten Reihen meiner Freunde aufnahm.»
«Du hast so viele, nicht wahr?», sagte Hugh, sich erhitzend.
«Parfaitement.» Justin schritt zur Tür. «Wo Geld ist, sind auch – Freunde.»
Davenant stellte sein Glas nieder.
«Soll das eine Beleidigung sein?», fragte er ruhig.
Justin hielt inne, die Hand auf dem Türknauf.
«Sonderbarerweise nein. Aber fordere mich auf jeden Fall.»
Hugh lachte plötzlich auf.
«Ach, geh schlafen, Justin! Du bist ganz unmöglich!»
«Das sagst du mir nicht zum ersten Mal. Gute Nacht, mein Lieber.» Er ging hinaus, doch bevor er die Tür geschlossen hatte, schien ihm etwas einzufallen, und er blickte lächelnd zurück. «À propos, Hugh, ich habe eine Seele bekommen. Sie hat gerade gebadet und schläft jetzt.»
«Das walte Gott!», sagte Hugh ernst.
«Ich bin meiner Rolle nicht ganz sicher. Soll ich jetzt Amen sagen oder fluchend abgehen?» In seinen Augen saß der Spott, doch ihr Lächeln war nicht unerfreulich. Er wartete nicht die Antwort ab, sondern schloss die Tür und ging langsamen Schrittes in sein Schlafgemach.
Kurz nach Mittag des folgenden Tages ließ Avon seinen Pagen rufen. Léon stellte sich unverzüglich ein und ließ sich auf ein Knie nieder, um dem Herzog die Hand zu küssen. Walker hatte die Anweisungen seines Herrn strikt befolgt, und das zerlumpte und schmierige Kind des vergangenen Abends war durch einen peinlich sauberen Jungen ersetzt worden, dessen rote Locken streng aus der Stirn gebürstet waren; die schlanke Gestalt steckte in einem schlichten schwarzen Anzug mit gestärkter Musselinhalsbinde.
Avon fasste den Pagen kurz ins Auge.
«Ja. Du kannst aufstehen, Léon. Ich werde dir jetzt einige Fragen stellen. Ich wünsche, dass du sie wahrheitsgemäß beantwortest. Verstanden?»
Léon verschränkte die Arme hinter dem Rücken.
«Ja, Monseigneur.»
«Als Erstes könntest du mir mitteilen, wieso du meine Sprache kennst.»
Léon warf ihm einen überraschten Blick zu. «Monseigneur?»
«Bitte spiele nicht den Ahnungslosen. Ich hasse das.»
«Ja, Monseigneur. Ich war nur überrascht, dass Sie’s wussten. Das geschah in der Schenke, verstehen Sie.»
«Ich halte mich nicht gerade für stumpfsinnig», erwiderte Avon kalt, «aber ich verstehe kein Wort.»
«Pardon, Monseigneur. Jean besitzt eine Schenke, und dort kommen sehr oft englische Reisende hin. Keine – keine sehr noblen Engländer, natürlich.»
«Ach so. Nun kannst du mir deine Geschichte erzählen. Beginne mit deinem Namen.»
«Ich heiße Léon Bonnard, Monseigneur. Meine Mutter war die Mère Bonnard, und mein Vater –»
«– war der Père Bonnard. Dies übersteigt nicht mein Fassungsvermögen. Wo wurdest du geboren, und wann starben deine werten Eltern?»
«Ich – ich weiß nicht, wo ich geboren wurde, Monseigneur. Nicht in Anjou, glaube ich.»
«Dies ist gewiss hochinteressant», bemerkte der Herzog. «Verschone mich jedoch mit einer Aufzählung der Orte, wo du nicht geboren wurdest, ich bitte dich.»
Léon errötete. «Sie verstehen mich nicht, Monseigneur. Meine Eltern zogen nach Anjou, als ich ein Baby war. Wir besaßen einen Hof in Bassincourt, auprès de Saumur. Und – und wir lebten dort, bis meine Eltern starben.»
«Starben sie simultan?», forschte Justin.
Léons gerades Näschen krauste sich bestürzt. «Monseigneur?»
«Gleichzeitig.»
«An der Pest», erklärte Léon. «Ich wurde Monsieur le Curé übergeben. Ich war damals zwölf, und Jean war zwanzig.»
«Wie kam es, dass du um so vieles jünger bist als Jean?», fragte Justin und schlug seine Augen voll auf, so dass sich sein Blick mit dem Léons traf.
Léon entrang sich ein mutwilliges Kichern; er hielt dem durchbohrenden Blick freimütig stand.
«Monseigneur, meine Eltern sind tot, und ich kann sie nicht mehr danach befragen.»
«Freundchen –» Justin sprach sehr sanft. «Weißt du, wie ich mit kecken Pagen verfahre?»
Léon schüttelte furchtsam den Kopf.
«Ich lasse sie auspeitschen. Ich rate dir, auf der Hut zu sein.»
Léon erbleichte, das Lachen erstarb in seinen Augen.
«Pardon, Monseigneur. Ich – ich wollte nicht keck sein», sagte er zerknirscht. «Meine Mutter gebar eine Tochter, die starb. Danach – danach kam ich.»
«Danke. Wo lerntest du wie ein Edelmann sprechen?»
«Bei Monsieur le Curé, Monseigneur. Er lehrte mich lesen und schreiben und ein wenig Latein – und noch vieles andere.»
Justin zog die Brauen hoch.
«Und dein Vater war Bauer? Wieso erhieltest du eine so gründliche Erziehung?»
«Ich weiß nicht, Monseigneur. Ich war das Jüngste, sehen Sie, und das Lieblingskind. Meine Mutter ließ es nicht zu, dass ich auf dem Hof arbeitete. Deswegen hasst mich auch Jean, glaube ich.»
«Möglich. Reiche mir deine Hand.»
Léon hielt ihm eine zarte Hand zur Untersuchung hin. Justin nahm sie in die seine und prüfte sie durch sein Lorgnon. Sie war schmal und edel geformt; die spitz zulaufenden Finger waren von Schwerarbeit aufgeraut.
«Ja», sagte der Herzog. «Recht hübsch.»
Léon lächelte gewinnend. «Quant à ça, Monseigneur, ich finde, Sie haben sehr schöne Hände.»
Die Lippen des Herzogs erbebten leicht.
«Dein Kompliment überwältigt mich, mein Kind. Deine Eltern starben also. Was geschah dann?»
«Oh, dann verkaufte Jean den Hof! Er fand, er sei für höhere Dinge geschaffen. Aber ich weiß nicht –» Léon neigte den Kopf, über diesen Punkt meditierend. Das nicht zu bändigende Grübchen stellte sich ein, wurde jedoch schnell unterdrückt. Léon sah seinem Gebieter feierlich ins Auge, wenn auch leicht nervös.
«Wollen wir Jeans Fähigkeiten übergehen», sagte Justin sanft. «Fahre in deiner Geschichte fort.»
«Ja, Monseigneur. Jean verkaufte den Hof und nahm mich von Monsieur le Curé weg.» Léons Gesicht bewölkte sich. «Monsieur wollte mich bei sich behalten, aber Jean ließ es nicht zu. Er meinte, ich könnte ihm nützlich sein. Und Monsieur konnte natürlich nichts dagegen unternehmen. Jean brachte mich nach Paris. Und dann zwang er mich –» Léon hielt inne.
«Weiter!», rief Justin scharf. «Wozu zwang er dich dann –?»
«Für ihn zu arbeiten», sagte Léon schwächlich. Er begegnete einem forschenden Blick, vor dem er seine großen Augen niederschlug.
«Schön», meinte Justin schließlich. «Wir wollen es dabei bewenden lassen. Et puis?»
«Nachher kaufte Jean das Wirtshaus in der Rue Sainte-Marie und – und nach einiger Zeit lernte er Charlotte kennen und – und heiratete sie. Da wurde es noch schlimmer, weil Charlotte mich hasste.» Die blauen Augen schossen zornige Blicke. «Ich versuchte sie eines Tages zu töten», berichtete Léon naiv. «Mit dem großen Tranchiermesser.»
«Ihr Hass erscheint mir nicht ganz unverständlich», sagte Justin trocken.
«N-naja», gab Léon zweifelnd zurück. «Ich war damals erst fünfzehn. Ich erinnere mich, ich bekam den ganzen Tag nichts zu essen – und Schläge noch obendrein. Und – und das ist alles, Monseigneur, bis Sie kamen und mich mitnahmen.»
Justin ergriff eine Kielfeder und ließ sie durch seine Finger gleiten. «Darf ich fragen, warum du Charlotte mit dem – äh – Tranchiermesser umzubringen versuchtest?»
Léon errötete und blickte zur Seite.
«Das – das hatte seinen Grund, Monseigneur.»
«Ich bezweifle es nicht.»
«Ich – ich meine, sie war sehr unfreundlich und grausam und – und sie brachte mich in Zorn. Das war das Ganze.»
«Ich bin sowohl unfreundlich wie grausam, aber ich rate dir nicht zum Versuch, mich umzubringen. Oder einen meiner Bediensteten. Ich weiß nämlich, was deine Haarfarbe ankündigt.»
Die langen dunklen Wimpern hoben sich wieder, und das Grübchen zeigte sich abermals.
«Colère de diable», sagte Léon.
«Stimmt. Du wirst gut daran tun, ihn bei mir nicht aufkommen zu lassen, mein Kind.»
«Ja, Monseigneur. Die, die ich liebe, versuche ich nicht zu töten.»
Justins Lippen kräuselten sich spöttisch.
«Ich atme auf. Nun höre mich an. Du wirst von jetzt an mein Page sein; du wirst gekleidet und verpflegt und gut ausgestattet werden, doch dafür verlange ich von dir Gehorsam. Verstanden?»
«Aber ja, Monseigneur.»
«Du wirst erfahren, dass mein Wort bei meinen Dienern Gebot ist. Und dies ist mein erster Befehl für dich: Sollte dich jemand fragen, wer du bist oder woher du kommst, so antworte nur, dass du Avons Page bist. Du wirst deine Vergangenheit vergessen, bis ich es dir erlaube, dich ihrer zu erinnern. Verstanden?»
«Ja, Monseigneur.»
«Und du wirst Walker genauso gehorchen wie mir.»
Das feste Kinn schob sich nach vorne; Léon warf einen abschätzenden Blick auf den Herzog.
«Tust du’s nicht –» die sanfte Stimme wurde noch sanfter – «so wirst du entdecken, dass auch ich zu strafen verstehe.»
«Wenn es Ihr Wille ist, dass ich diesem Walker gehorche», erklärte Léon würdevoll, «werde ich’s tun, Euer-r-r Gna-a-aden!»
Justin fasste ihn ins Auge.
«Gewiss. Und mir ist es lieber, wenn du mich Monseigneur nennst.»
Die blauen Augen blitzten boshaft auf. «Dieser Walker hat gesagt, wenn ich mit Ihnen spreche, Monseigneur, muss ich ‹Euer-r-r Undsoweiter› sagen, pah! Ich kann’s nicht, enfin!»
Einen Augenblick lang starrte Justin seinen Pagen hochmütig an. Sofort dämpfte sich das Blitzen der Augen. Léon starrte ernst zurück.
«Sei auf deiner Hut!», warnte ihn Justin.
«Ja, Monseigneur», erwiderte Léon schwächlich.
«Du kannst jetzt gehen. Heute Abend wirst du mich begleiten.» Der Herzog tauchte seine Feder in das Tintenfass und begann zu schreiben.
«Wohin, Monseigneur?», erkundigte sich der Page höchst interessiert.
«Was kümmert’s dich? Ich habe dich entlassen. Geh!»
«Ja, Monseigneur. Pardon.» Léon ging und schloss behutsam die Tür hinter sich. Draußen begegnete er Davenant, der langsam die Treppe herunterkam. Hugh lächelte.
«Nun, Léon? Wo hast du den ganzen Vormittag gesteckt?»
«Ich habe die neuen Kleider angelegt, M’sieu’. Ich sehe nett darin aus, n’est-ce pas?»
«Sehr nett. Wohin gehst du jetzt?»
«Weiß nicht, M’sieu’. Kann ich vielleicht etwas für Monseigneur tun?»
«Wenn er dir keine Weisungen gab, nichts. Kannst du lesen?»
«Aber gewiss! Ich hab’s doch gelernt. Ach, ich hab vieles vergessen, M’sieu’!»
«So, hast du?», fragte Hugh amüsiert zurück. «Komm mit, Kind, ich werde dir ein Buch aussuchen.»
Als Hugh zwanzig Minuten später die Bibliothek betrat, traf er den Herzog noch immer schreibend an.
«Justin, wer und was ist Léon? Er ist ein reizendes Kind – bestimmt kein Bauernlümmel!»
«Er ist ein vorlauter Range», sagte Justin mit dem Schatten eines Lächelns. «Der erste meiner Pagen, der es wagte, mich auszulachen.»
«Er hat dich ausgelacht? Eine sehr heilsame Erfahrung für dich, Alastair. Wie alt ist das Kind?»
«Ich habe meine Gründe, es für neunzehn zu halten», sagte Justin gelassen.
«Neunzehn? Meiner Treu, das ist doch unmöglich! Das ist doch noch ein Baby!»
«Nicht ganz. Kommst du heute Abend mit mir zu Vassaud?»
«Möglich. Ich hab zwar kein Geld zu verlieren, aber was liegt schon dran?»
«Du brauchst nicht zu spielen», sagte Justin.
«Warum dann in einen Spielsalon gehen, wenn man nicht spielt?»
«Um in der großen Welt zu sein. Ich gehe zu Vassaud, um Paris zu sehen.» Er griff wieder zur Feder, und Hugh zog sich zurück.
An diesem Abend stand Léon beim Diner hinter dem Stuhl des Herzogs und wartete ihm auf. Justin schien ihn kaum zu bemerken, doch Hugh konnte seine Augen fast nicht vom pikanten Gesichtchen wenden. Er starrte ihn sogar dermaßen an, dass Léon schließlich, mit großer Würde und einigem Vorwurf, zurückstarrte. Als Justin der Blick seines Freundes auffiel, wandte er sich um und hob sein Lorgnon, um Léon ins Auge zu fassen.
«Was tust du da?», fragte er.
«Monseigneur, ich sehe nur M. Davenant an.»
«Dann unterlasse dies.»
«Aber er sieht mich auch an, Monseigneur!»
«Das ist etwas anderes.»
«Das finde ich nicht», bemerkte Léon, sotto voce.
Geraume Zeit nach dem Diner brachen die beiden Herren zu Vassaud auf. Als Hugh erfasste, dass Léon sie begleiten sollte, nahm er Avon bestürzt beiseite.
«Justin, Schluss mit diesen Affektiertheiten! Bei Vassaud brauchst du keinen Pagen, und dort hat ein solches Kind auch nichts zu suchen!»
«Mein teuerster Hugh, ich möchte dich bitten, dich nicht in meine Angelegenheiten einzumengen», antwortete Justin zuckersüß. «Der Page geht mit. Ich habe eben meine Grillen.»
«Aber warum denn? Das Kind sollte zu Bett gehen!»
Justin schnipste einen Tabakkrümel von seinem Rock.
«Du zwingst mich, dir in Erinnerung zu rufen, Hugh, dass der Page mir gehört.»
Davenant presste die Lippen zusammen und schritt durch die Tür. Seine Gnaden folgte ihm lässig.
Vassauds Spielsalon war trotz der frühen Abendstunde überfüllt. Die beiden Herren ließen ihre Überröcke beim Lakai im Vestibül zurück und schritten sodann, Léon in ihrem Kielwasser, durch die Halle auf die breite Treppe zu, die in die Spielsäle des ersten Stockwerks führte. Hugh erblickte am Fuße der Treppe einen Freund und hielt inne, um mit ihm einige Worte zu wechseln, doch Avon bewegte sich weiter und verbeugte sich nur leicht nach links oder rechts, wenn ihn Bekannte grüßten. Er blieb kein einziges Mal stehen, um mit jemandem zu sprechen, obgleich ihn mehrere Leute anriefen, sondern schritt in königlicher Haltung dahin, ein leises Lächeln auf den Lippen.
Léon folgte ihm auf den Fersen, mit vor Interesse weit aufgerissenen blauen Augen. Er zog beträchtliche Aufmerksamkeit auf sich, und viele neugierige Blicke schweiften über ihn und den Herzog. Als er einen solchen Blick auffing, errötete er leicht, doch Seine Gnaden schien die Überraschung, die er hervorrief, nicht wahrzunehmen.
«Was ficht Alastair jetzt schon wieder an?», fragte der Chevalier d’Anvau, der mit einem Herrn de Salmy in einer Ausbuchtung der Treppe stand.
«Weiß der Himmel», de Salmy zuckte elegant die Achseln, «er muss eben einfach extravagant sein. Guten Abend, Alastair.»
Der Herzog nickte ihm zu. «Entzückt, Sie zu begrüßen, de Salmy. Sehen wir einander später beim Piquet?»
De Salmy verneigte sich.
«Mit Vergnügen.» Er blickte Avon nach und zuckte abermals die Achseln. «Tut so, als ob er der König von Frankreich in eigener Person wäre. Mir missfallen diese sonderbaren Augen. Ah, Davenant, schön, dass Sie hier sind!»
Davenant lächelte freundlich.
«Sie auch? Welch eine Menschenmenge, nicht wahr?»
«Ganz Paris», stimmte ihm der Chevalier bei. «Warum hat Alastair seinen Pagen mitgebracht?»
«Keine Ahnung, Justin ist nie sehr mitteilsam. Wie ich sehe, ist Destourville zurückgekehrt.»
«Ach ja, gestern Abend. Sie haben doch zweifellos vom Skandal gehört?»
«Oh, mein lieber Chevalier, ich höre mir nie Skandale an!» Hugh lachte und schritt weiter die Treppe hinan.
«Je me demande», bemerkte der Chevalier, Hugh durch sein Lorgnon nachblickend, «warum der brave Davenant der Freund des schlimmen Alastair ist?»
Der Salon im ersten Stock war hell erleuchtet und schwirrte von heiterer und zusammenhangloser Konversation. Einige saßen bereits am Spieltisch, andere waren um das Buffet versammelt und nippten an ihrem Wein. Hugh erblickte Avon durch die Flügeltür, die in einen kleinen Salon führte; er bildete den Mittelpunkt einer Gruppe, sein Page in einigem Abstand hinter ihm.
Ein halb unterdrückter Ausruf ließ Hugh seinen Kopf wenden. Ein hochgewachsener, ziemlich nachlässig gekleideter Mann stand neben ihm und starrte zu Léon hinüber. Seine Stirn war in Falten gezogen, sein harter Mund zusammengepresst. Rot schimmerte sein Haar durch den Puder, doch seine gewölbten Brauen waren schwarz und sehr dicht.
«Saint-Vire?» Hugh verneigte sich. «Sie wundern sich über Alastairs Pagen? Ein drolliger Einfall, nicht wahr?»
«Ihr Diener, Davenant. Ein drolliger Einfall, gewiss. Wer ist der Junge?»
«Ich weiß es nicht. Alastair hat ihn gestern gefunden. Er heißt Léon. Ich hoffe, Madame befindet sich wohl?»
«Danke, ja. Alastair hat ihn gefunden, sagten Sie? Was soll das heißen?»
«Da kommt er», antwortete Hugh. «Sie fragen ihn am besten selbst.»
Ein Rauschen seidener Gewänder, und Avon tauchte auf, sich tief vor dem Grafen Saint-Vire verbeugend.
«Mein lieber Comte!» Die haselnussbraunen Augen funkelten spöttisch. «Mein liebster Comte!»
Saint-Vire gab die Verbeugung schroff zurück.
«Monsieur le Duc!»
Justin griff nach seiner juwelenbesetzten Schnupftabakdose und offerierte sie. So groß Saint-Vire war, neben der ebenmäßig hochgewachsenen Gestalt und der stolzen Haltung des Herzogs wirkte er unbedeutend.
«Eine kleine Prise gefällig, lieber Comte? Nein?» Er schüttelte die aufschäumende Spitzenmanschette von seiner weißen Hand zurück und griff sich mit zarten Fingerspitzen Tabak. Seine schmalen Lippen lächelten, doch es war kein freundliches Lächeln.
«Saint-Vire bewunderte deinen Pagen, Justin», sagte Davenant. «Er erregt keine geringe Aufmerksamkeit.»
«Zweifellos.» Gebieterisch schnipste Avon mit den Fingern, und Léon trat vor. «Ein geradezu einzigartiges Geschöpf, mein lieber Comte. Sehen Sie sich bitte satt.»
«Ihr Page interessiert mich nicht, M’sieur», antwortete Saint-Vire kurz und wandte sich zur Seite.
«Hinter mich!» Kalt wurde dieser Befehl erteilt, und Léon trat sogleich zurück. «Wie würdevoll, Comte! Erheitere ihn, Hugh!» Avon schritt weiter, und nach einem Weilchen sah man ihn Lansquenet spielen.
Davenant wurde an einen anderen Tisch gerufen und begann, mit Saint-Vire als Partner, Pharao zu spielen. Ein geckenhaft gekleideter Kavalier saß ihm gegenüber, er teilte die Karten.
«Mon cher, Ihr Freund ist stets so amüsant. Wozu der Page?» Er blickte zu Avons Tisch hinüber.
Hugh nahm seine Karten auf.
«Woher soll ich das wissen, Lavoulère? Sicher hat er einen Grund dafür. Und – Verzeihung – ich bin dieses Themas schon müde.»
«Er ist so – so auffallend», entschuldigte sich Lavoulère. «Ich meine, der Page. Rotes Haar – oh, und von welcher Leuchtkraft! – und tiefblaue Augen. Oder sind sie dunkelpurpurn? Das kleine ovale Gesicht und die adelige Nase –! Justin ist unüberbietbar. Finden Sie nicht, Henri?»
«Oh, gewiss!», antwortete Saint-Vire. «Er könnte ein Schauspieler sein. Quant à moi, so möchte ich ergebenst vorschlagen, es genug sein zu lassen mit der Beachtung des Herzogs und seines Pagen. Sie spielen aus, Marchérand.»
An Avons Tisch gähnte einer der Spieler und schob seinen Stuhl zurück.
«Mille pardons, doch ich verdurste! Ich gehe eine Erfrischung zu mir nehmen.»
Die Partie war beendet, Justin spielte mit seinem Würfelbecher. Nun blickte er auf und bedeutete Château-Mornay, Platz zu behalten.
«Mein Page wird Wein holen, Louis. Er ist nicht nur dazu da, angestarrt zu werden. Léon!»
Léon schlüpfte hinter Avons Stuhl hervor, von wo er das Spiel gespannt verfolgt hatte.
«Monseigneur?»
«Canary und Burgunder, aber schnell.»
Léon zog sich zurück und bahnte sich nervös durch die Tische einen Weg zum Buffet. Unverzüglich kehrte er mit einem Tablett zurück, das er, auf ein Knie sinkend, Justin präsentierte. Justin deutete schweigend dorthin, wo Château-Mornay saß, und Léon trat, ob seines Fehlers errötend, zu diesem und präsentierte neuerlich das Tablett. Nachdem er die Herren der Reihe nach bedient hatte, blickte er seinen Gebieter fragend an.
«Geh zu M. Davenant und frage ihn, ob er Befehle für dich hat», sagte Justin schleppend. «Wagen Sie einen Wurf mit mir, Cornalle?»
«Wie Sie wünschen.» Cornalle zog einen Würfelbecher aus der Tasche. «Fünfzig Pfund? Wollen Sie bitte beginnen.»
Achtlos stürzte Justin seinen Becher auf den Tisch und wandte den Kopf, um Léon zu beobachten. Der Page stand an Davenants Seite. Davenant blickte auf.
«Nun, Léon? Was gibt’s?»
«Monseigneur schickt mich, Sie zu fragen, M’sieur, ob Sie irgendwelche Befehle für mich haben.»
Saint-Vire warf einen schnellen Blick auf ihn; er saß in seinem Stuhl zurückgelehnt, die eine Hand lag leicht geballt auf dem Tisch.
«Danke, nein», erwiderte Hugh. «Außer – Saint-Vire, wollen Sie mit mir trinken? Und Sie, meine Herren?»
«Danke, Davenant», sagte der Graf. «Sie haben keinen Durst, Lavoulère?»
«Im Augenblick nicht. Oh, wenn Sie alle trinken müssen, dann meinetwegen ich auch!»
«Léon, hole uns bitte Burgunder!»
«Ja, M’sieur», erwiderte Léon, sich verbeugend. Er begann am Ganzen Vergnügen zu finden. Während seines Botenganges blickte er verständnisinnig um sich. Als er zurückkehrte, bewies er, dass die Lektion an Avons Tisch nicht vergeblich war, und präsentierte das Silbertablett als Erstem Saint-Vire.
Der Graf wandte sich um, ergriff die Karaffe, schenkte langsam ein Glas voll und reichte es Davenant. Die Augen auf Léons Gesicht geheftet, schenkte er ein Zweites voll. Des starren Blickes gewahr, sah Léon freimütig Saint-Vire an. Der Graf hielt die Karaffe geneigt, goss aber längere Zeit nichts ein.
«Wie heißt du, Junge?»
«Léon, M’sieur.»
Saint-Vire lächelte. «Nur Léon, sonst nichts?»
Léon schüttelte den Lockenkopf.
«Je ne sais plus rien, M’sieur.»
«So unwissend bist du?» Saint-Vire fuhr in seiner Tätigkeit fort. Als er das letzte Glas ergriff, sprach er weiter: «Mich dünkt, du bist noch nicht lange bei Monsieur le Duc?»
«Nein, M’sieur. Wie M’sieur sagen.» Léon erhob sich und blickte zu Davenant hinüber. «M’sieur?»
«Das ist alles, Léon, danke.»
«Du hast ihn also brauchen können, Hugh? Nun, war es nicht weise von mir, ihn hier herzubringen? Ihr Diener, Lavoulère.»
Die sanfte Stimme schreckte Saint-Vire auf, und seine Hand erbebte so sehr, dass er ein Tröpfchen verschüttete. Avon stand neben ihm, das Lorgnon ans Auge gehoben.
«Ein richtiges Prinzlein von einem Pagen», lächelte Lavoulère. «Wie ist Ihr Glück heute Abend, Justin?»
«Ermüdend», seufzte der Herzog. «Seit einer Woche ist es mir unmöglich zu verlieren. Aus dem träumerischen Ausdruck auf Hughs Zügen schließe ich, dass bei ihm dem nicht so ist.» Er stellte sich hinter Hughs Sessel und legte ihm seine Hand auf die Schulter. «Vielleicht, lieber Hugh, bringe ich dir ein bisschen Glück.»
«Bis jetzt habe ich noch nie derlei durch dich erfahren», erwiderte Davenant. Er setzte sein leeres Glas ab. «Spielen wir weiter?»
«Unbedingt», nickte Saint-Vire. «Wir beide sitzen in einer Pechsträhne, Davenant.»
«Die uns noch mehr Pech bringen wird», bemerkte Hugh, das Kartenpäckchen mischend. «Erinnern Sie mich, Lavoulère, dass ich Sie künftighin nur als Partner dulde.» Er teilte die Karten und sprach währenddessen leise auf Englisch mit dem Herzog. «Schicke das Kind hinunter, Alastair. Du brauchst es ja nicht.»
«Ich bin Wachs in deinen Händen», erwiderte Seine Gnaden. «Er hat seinen Dienst getan. Léon, erwarte mich in der Halle.» Er streckte die Hand aus, um Hughs Karten aufzunehmen. «Du lieber Gott!» Mit diesen Worten legte er sie wieder nieder und sah eine Weile schweigend dem Spiel zu.
Nach dem Ende der Runde sprach ihn Lavoulère an.
«Wo ist Ihr Bruder, Alastair? Dieser charmante Junge! Er ist total verrückt!»
«Ja, es ist beklagenswert. Rupert dürfte jetzt entweder im Gewahrsam eines englischen Büttels schmachten, oder er schmarotzt bei meinem unseligen Schwager.»
Bei Milady Fannys Gatten, nicht wahr? Edward Marling, n’est-ce pas? Sie haben nur diesen einen Bruder und diese eine Schwester?»
«Sie sind mehr als genug», sagte Seine Gnaden.
Lavoulère lachte.
«Voyons, Ihre Familie ist amüsant! Herrscht denn da gar keine gegenseitige Liebe?»
«Sehr wenig.»
«Und doch hörte ich, dass Sie die beiden aufzogen.»
«Kann mich nicht daran erinnern», sagte Justin.
«Aber Justin, als deine Mutter starb, nahmst du doch die Zügel in die Hand!», begehrte Davenant auf.
«Nur ganz leicht, mein Lieber. Nur so viel, um den beiden ein bisschen Angst vor mir einzujagen, nicht mehr.»
«Lady Fanny hat dich sehr gern.»
«Gelegentlich gewiss», räumte Justin gelassen ein.
«Ach, Milady Fanny!» Lavoulère küsste seine Fingerspitzen. «Man vergesse nicht, wie ravissante sie ist!»
«Und man vergesse nicht, dass Hugh gewinnt», näselte Seine Gnaden. «Meine Glückwünsche, Davenant.» Er rückte leicht zur Seite, so dass er Saint-Vire ins Gesicht blicken konnte. «Wie geht es Madame, Ihrer reizenden Gattin, lieber Comte?»
«Danke, gut, M’sieur.»
«Und dem Vicomte, Ihrem reizenden Sohn?»
«Ebenfalls.»
«Er weilt heute nicht hier, glaube ich?» Avon hob das Lorgnon und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. «Wie mich dies betrübt! Zweifellos halten Sie ihn für derlei Vergnügungen für zu jung? Er ist erst neunzehn, glaube ich?»
Saint-Vire legte seine Karten auf den Tisch und blickte verärgert in das hübsche und rätselhafte Antlitz seines Gegenübers.
«Sie bezeigen großes Interesse für meinen Sohn, Monsieur le Duc!»
Die haselnussbraunen Augen weiteten sich einen Atemzug lang und verengten sich dann wieder.
«Wie könnte es anders sein?», fragte der Herzog höflich zurück.
Saint-Vire nahm seine Karten wieder auf.
«Er ist mit seiner Mutter in Versailles», sagte er kurz. «Habe ich auszuspielen, Lavoulère?»
Als Davenant in das Haus in der Rue St.-Honoré zurückkehrte, entdeckte er, dass Seine Gnaden sich noch nicht eingefunden hatte, obgleich Léon schon seit langem da war und im Bett lag. Hugh nahm an, dass Avon von Vassaud zu seiner letzten Herzensdame gegangen war, und zog sich in die Bibliothek zurück, um ihn dort zu erwarten. Bald darauf schlenderte der Herzog herein, schenkte sich ein Glas mit Canary-Wein voll und trat an den Kamin.
«Ein äußerst instruktiver Abend. Hoffentlich hat sich mein innig geliebter Freund Saint-Vire bald vom Schmerz erholt, den mein früher Aufbruch ihm verursacht haben muss?»
«Hoffentlich», lächelte Hugh. Er lehnte sein Haupt an die Polsterung des Lehnstuhls und blickte den Herzog einigermaßen verwirrt an. «Warum hasst ihr einander so, Justin?»
Die geraden Brauen hoben sich.
«Hassen? Ich und hassen? Mein lieber Hugh!»
«Na schön, wenn’s dir lieber ist, will ich es so formulieren: Warum hasst Saint-Vire dich so?»
«Das ist eine uralte Geschichte, Hugh, eine fast vergessene Geschichte. Das – äh – contretemps zwischen dem liebenswürdigen Grafen und mir fand in jenen Tagen statt, da ich noch nicht den Vorzug deiner Freundschaft hatte, weißt du.»
«Es gab also ein contretemps? Wahrscheinlich hast du dich wieder einmal abscheulich benommen?»
«Was ich an dir so sehr bewundere, mein Lieber, ist deine charmante Unverblümtheit», bemerkte Seine Gnaden. «Aber in jenem Fall benahm ich mich nicht abscheulich. Erstaunlich, nicht wahr?»
«Was geschah denn?»
«Sehr wenig. Eine ganz triviale Angelegenheit. So trivial, dass fast jedermann sie vergaß.»
«Eine Frau steckt dahinter, natürlich?»
«Eben. Keine geringere Person als die gegenwärtige Herzogin de Belcour.»
«Die Herzogin de Belcour?» Hugh hatte sich vor Überraschung kerzengerade aufgerichtet. «Saint-Vires Schwester? Diese rothaarige Hexe?»
«Ja, diese rothaarige Hexe. Soviel ich mich erinnern kann, bewunderte ich ihren – äh – Hexenzauber vor zwanzig Jahren. Sie war in der Tat anziehend.»
«Vor zwanzig Jahren! So lange schon! Justin, du wolltest sie doch nicht –»
«Ich wollte sie heiraten», sagte Avon nachdenklich. «Ich war sehr jung und dumm. Heute erscheint’s mir unglaublich; und doch war’s so. Ich hielt bei ihrem würdigen Vater – ist es nicht zum Lachen? – um ihre Hand an.» Er hielt inne und starrte ins Feuer. «Ich war damals, wenn ich mich recht entsinne, zwanzig Jahre alt oder ein bisschen drüber – ich hab’s vergessen. Mein Vater und der ihre standen nicht zum Besten – auch hier steckte eine Frau dahinter; ich glaube, mein Erzeuger trug den Sieg und die Beute davon. Diese Wunde wird wohl weiter geeitert haben. Und schon damals, mein Lieber, standen bei mir leichtfertige Liebesabenteuer auf der Tagesordnung.» Seine Schultern erbebten vor Lachen. «Die sind bei uns gang und gäbe. Der alte Graf versagte mir die Hand seiner Tochter. Nicht ganz unverständlich, findest du? Nein, ich entführte sie nicht. Stattdessen erhielt ich einen Besuch Saint-Vires. Damals war er noch Vicomte de Valmé. Dieser Besuch war äußerst demütigend.» Grimmige Linien gruben sich um Justins Mund ein. «Äußerst demütigend.»
«Für dich?»
Avon lächelte.
«Für mich. Der edle Henri betrat mein Logis mit einer großen und schweren Reitpeitsche.» Er blickte zu Boden, als Hugh nach Atem rang, und sein Lächeln verstärkte sich. «Nein, mein Lieber, ich wurde nicht verdroschen. Kurz und gut: Henri war wütend; irgendetwas stand zwischen uns, vielleicht eine Frau – ich hab’s vergessen. Er tobte vor Zorn. Eigentlich sollte mir das einige Genugtuung bereiten. Ich hatte gewagt, meine verworfenen Augen zu der Tochter der überaus sittenstrengen Familie Saint-Vire zu erheben. Ist dir diese Sittenstrenge je aufgefallen? Sie liegt im Umstand begründet, dass die Liebschaften der Saint-Vire heimlich vor sich gehen, wogegen meine, wie du weißt, in aller Munde sind. Du erfasst doch den feinen Unterschied? Bon!» Avon hatte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Armlehne eines Lehnstuhls niedergelassen. Er begann, sein Weinglas zwischen Daumen und Zeigefinger am schlanken Schaft zu drehen. «Meine ausschweifenden Sitten – ich zitiere seine eigenen Worte, Hugh –, mein völliger Mangel an Moral, mein besudelter Ruf, mein lasterhafter Charakter, mein – genug damit. Es lief darauf hinaus – mein durchaus ehrenhaft gemeinter Antrag war ein Schimpf. Er gab mir zu verstehen, ich sei ein Wurm, der sich im Staube unter den Füßen der Familie Saint-Vire krümme. In dieser Tonart ging’s weiter, aber schließlich kam der edle Henri doch zum Ende und zur Krönung seiner Rede. Ich sollte für meine Unverschämtheit einen Peitschenhieb von seinen Händen erhalten. Ich! Alastair von Avon!»
«Aber, Justin, er muss verrückt gewesen sein! Als ob du niederer Abkunft wärst! Die Alastairs –»
«Gewiss war er verrückt. Diese Rothaarigen, lieber Hugh –! Und es stand tatsächlich einiges zwischen uns. Zweifellos hatte ich mich dann und wann ihm gegenüber abscheulich benommen. Es kam, wie du dir denken kannst, zu einem kurzen Wortwechsel. Ich brauchte keineswegs lange, um zum Ende und zur Krönung meiner Rede zu gelangen. Mit einem Wort, ich machte mir das Vergnügen, ihm mit seiner eigenen Peitsche das Gesicht entzweizuschlagen. Er zog seinen Degen.» Avon streckte seinen Arm aus, die Muskeln spielten unter der Seide des Ärmels. «Ich war jung, doch selbst damals verstand ich mich schon einigermaßen auf die Kunst des Duells. Ich bohrte ihn so gründlich an, dass meine Lakaien ihn in meiner Kutsche nach Hause führen mussten. Als er fort war, versank ich in Nachdenken. Siehst du, mein Lieber, ich war wie toll verliebt – oder bildete es mir zumindest ein – in diese – äh – rothaarige Hexe. Der edle Henri hatte mir mitgeteilt, seine Schwester halte sich durch meine Werbung für beschimpft. Mir fiel ein, dass die Dame vielleicht meinen Antrag missdeutet hatte. Ich suchte das Palais der Saint-Vire auf, um jeden Zweifel am Ernst meiner Absichten zu beheben. Ich wurde nicht von ihrem Vater, sondern vom edlen Henri empfangen, der auf dem Sofa lag. Auch einige seiner Freunde waren anwesend – ich habe ihre Namen vergessen. Vor ihnen und vor seinen Lakaien informierte er mich, dass er – äh – in loco parentis sei und mir die Hand seiner Schwester verweigere. Weiteres, dass seine Diener, sollte ich mich ihr zu nähern wagen, mich mit der Peitsche von ihr wegtreiben würden.»
«Gott im Himmel!», rief Hugh.
«Ja, das dachte ich auch. Ich zog mich zurück. Was hätte ich schon tun sollen? Ich konnte nicht mehr an den Kerl heran, hatte ich ihn doch schon fast umgebracht. Als ich mich das nächste Mal in der Öffentlichkeit zeigte, entdeckte ich, dass mein Besuch im Palais Saint-Vire zum Tagesgespräch von Paris geworden war. Ich war gezwungen, Frankreich für eine Zeitlang zu verlassen. Glücklicherweise gab’s dann einen anderen Skandal, der den meinen in den Schatten stellte, und so öffnete mir Paris nochmals seine Pforten. Ja, Hugh, es ist eine uralte Geschichte, aber ich habe sie nicht vergessen.»
«Und er?»
«Auch er hat sie nicht vergessen. Er war damals halbverrückt, aber als er wieder bei Sinnen war, kam er sich nicht entschuldigen; allerdings erwartete ich’s auch nicht von ihm. Wir begegnen einander nun, als seien wir entfernt bekannt; wir sind höflich zueinander – oh, peinlich höflich! –, aber ihm ist wohl bewusst, dass ich noch immer warte.»
«Warten ... worauf?»
Justin ging zum Tisch und stellte sein Glas nieder.
«Auf eine Gelegenheit, die Rechnung voll zu begleichen», sagte er sanft.
«Auf Rache?» Hugh beugte sich vor. «Ich dachte, Dramatisches läge dir nicht, mein Freund?»
«Gewiss; doch ich hege eine regelrechte Passion für – Gerechtigkeit.»
«Seit zwanzig Jahren hängst du Rachegedanken nach?»
«Mein lieber Hugh, falls du dir vorstellst, dass Gier nach Rache seit zwanzig Jahren mein vorherrschender Trieb ist, muss ich leider deine Illusion korrigieren.»
«Hat sie sich nicht abgekühlt?», fragte Hugh, seiner Worte nicht achtend.
«Sehr abgekühlt, mein Lieber, aber gefährlich ist sie noch immer.»
«Und all die Zeit hat sich dir keine einzige Gelegenheit geboten?»
«Ich will’s gründlich machen, weißt du», entschuldigte sich der Herzog.
«Bist du nun dem Erfolg näher, als du es vor zwanzig Jahren warst?»
Justin wurde von lautlosem Lachen geschüttelt.
«Wir werden sehen. Sei versichert, wenn es dazu kommt, wird es – so sein!» Ganz langsam schloss sich seine Hand um die Schnupftabakdose, und als sich die Finger lösten, war das dünne Gold zermalmt.
Hugh lief ein Schauder über den Rücken.
«Mein Gott, Justin, ist dir bewusst, wie böse du sein kannst?»
«Selbstverständlich. Nennt man mich nicht – Satanas?» Abermals zeigte sich das höhnische Lächeln; die Augen funkelten.
«Ich hoffe zum Himmel, dass dir Saint-Vire niemals unter die Hände kommt! Dann würden die, die dich Satanas nennen, wohl recht behalten!»
«Das trifft durchaus zu, mein armer Hugh.»
«Weiß Saint-Vires Bruder von der Sache?»
«Armand? Niemand weiß davon, nur du und ich und Saint-Vire. Armand mag natürlich Verschiedenes erraten haben.»
«Und doch seid ihr beide befreundet!»
«Oh, Armands Hass gegen den edlen Henri ist womöglich noch größer als meiner.»
Hugh lächelte wider Willen.
«Ihr sucht einander darin zu übertrumpfen?»
«Nicht im Geringsten. Ich möchte sagen, Armands Hass ist ein verbissener Abscheu. Im Gegensatz zu mir lässt er es beim Hassen bewenden.»
«Er würde vermutlich seine Seele für Saint-Vires Kragen verkaufen.»
«Und Saint-Vire», sagte Avon sanft, «würde seine Seele verkaufen, um Armand diesen Kragen vorzuenthalten.»
«Ja, das ist bekannt. Seinerzeit klatschte alle Welt darüber, dass dies der eigentliche Grund seiner Heirat war. Dass er seine Gattin liebt, kann man ihm nicht zum Vorwurf machen.»
«Nein», bekräftigte Justin und lächelte in sich hinein, als dächte er an geheime Dinge.
«Nun», fuhr Hugh fort, «Armands Hoffnungen auf den Titel wurden gewiss gründlich zunichte, als Madame Saint-Vire einem Sohn das Leben schenkte.»
«Stimmt», bestätigte Justin.
«Das war ein Triumph für Saint-Vire!»
«Gewiss», räumte Seine Gnaden gelassen ein.
Für Léon verstrichen Tage im Fluge, ein jeglicher randvoll von erregenden Neuigkeiten. Niemals noch hatte er in seinem Leben ähnliche Dinge zu Gesicht bekommen. Das neue Leben, das vor ihm lag, blendete ihn mit seinem Glanz; aus einer schäbigen und schmierigen Kneipe war er mit einem Mal in eine prunkvolle Umwelt versetzt worden, wurde mit fremdartigen Speisen genährt, in feine Kleidung gehüllt und in den Mittelpunkt des Pariser Adelskreises geführt. Nun schien plötzlich das Leben aus Seide und Diamanten, strahlenden Lichtern und ehrfurchteinflößenden Gestalten zu bestehen. Damen, deren Finger mit funkelnden Ringen bedeckt waren, deren kostbare Brokatroben einen betäubenden Duft ausströmten, blieben manchmal stehen, um ihn anzulächeln; große Herren mit gepuderten Perücken und hochhackigen Schuhen fuhren ihm im Vorbeigehen achtlos spielerisch durch das Haar. Sogar Monseigneur geruhte manchmal, das Wort an ihn zu richten.
Das elegante Paris gewöhnte sich an seinen Anblick, lange bevor er sich an sein neues Dasein gewöhnte. Nach einer Weile hörten die Leute auf, ihn anzustarren, wenn er in Avons Gefolge erschien, doch es verging geraume Zeit, bevor er aufhörte, all das, was sich seinen Augen bot, bewundernd zu fixieren.
Zum Erstaunen von Avons Dienerschaft verharrte er in seiner Anbetung des Herzogs. Nichts konnte ihn davon abbringen, und wenn etwa einer der Lakaien drunten seinen beleidigten Gefühlen in einer Tirade gegen den Herzog Luft machte, warf sich Léon sogleich zu dessen Verteidiger auf, wobei ihn oft blinder Zorn übermannte. Da der Herzog verboten hatte, an den Pagen Hand anzulegen, außer es geschehe auf seine ausdrückliche Anordnung, zähmten die Lakaien in Léons Anwesenheit ihre Zunge, denn sein Dolch saß ihm allzu locker im Gürtel, und des Herzogs Befehlen wagten sie sich nicht zu widersetzen. Gaston, der Kammerdiener, hielt diese hitzige Parteinahme für jämmerlich fehl am Platze; dass jemand den Herzog verteidigte, dünkte ihn ein Übergriff in die Rechte eines Untergebenen, und mehr als einmal versuchte er den Pagen zu überzeugen, jeder, der über einige Selbstachtung verfüge, sei verpflichtet, den Herzog zu lästern. «Mon petit», erklärte er mit Festigkeit, «das ist lächerlich. Das ist undenkbar. Même, das ist schimpflich. Das ist gegen jedes Herkommen. Der Herzog ist kein Mensch. Einige Leute nennen ihn Satanas, und, mon Dieu, sie haben recht!»
«Ich habe nie den Teufel zu Gesicht bekommen», antwortete Léon aus der Tiefe eines breiten Lehnstuhls hervor, auf dem er im Schneidersitz kauerte. «Aber ich glaube nicht, dass Monseigneur ihm gleicht.» Er überlegte. «Aber wenn er dem Teufel gleicht, würde ich den Teufel sehr gern haben. Mein Bruder sagt, ich sei ein Kind des Teufels.»
«Wie schändlich!», sagte die Haushälterin, die dicke Madame Dubois, entsetzt.
«Meiner Treu, ein Teufelstemperament hat er!», kicherte Gregory, ein Lakai.
«Aber hör mich doch an, du!», drang Gaston in ihn. «Monsieur le Duc ist die Härte in Person! Wer wüsste es besser als ich? Ich sage dir, moi qui vous parle, wär er nur zornig, ginge alles in Ordnung. Wenn er mir einen Spiegel an den Kopf würfe, nicht ein Wort würd ich sagen! Das ist Herrenart, Edelmannsart! Aber der Herzog! Der spricht leise und sanft – oh, wie sanft! – und seine Augen sind halb geschlossen, während seine Stimme – voilà, ich schaudere!» Er erschauerte wirklich, belebte sich jedoch augenblicklich, als Beifallsgemurmel ausbrach. «Und du, petit! Wann hat er schon zu dir gesprochen, wie man zu einem Jungen spricht? Er spricht zu dir, als ob du sein Hund wärst! Ach, es ist geradezu schwachsinnig, einen solchen Mann zu bewundern! Kaum glaublich ist’s!»
«Ich bin sein Hund. Er ist freundlich zu mir, und ich liebe ihn», erklärte Léon fest.
«Freundlich! Madame, hören Sie?» Gaston appellierte an die Haushälterin, die tief aufseufzend ihre Hände faltete.
«Er ist noch so jung», sagte sie.
«Nun will ich dir mal was sagen!», rief Gaston. «Was, glaubst du, hat dein geliebter Herzog vor drei Jahren getan? Du siehst dieses Palais, ja? Schön ist es, kostbar ist es. Eh bien! Ich, ich hab dem Herzog seit sechs Jahren gedient, du kannst dir also denken, dass ich die Wahrheit spreche. Vor drei Jahren war er noch arm! Steckte bis über den Hals in Schulden. Na, gelebt haben wir trotzdem standesgemäß, bien sûr; die Alastairs haben’s nie anders gehalten. Haben immer im selben Glanz gelebt, aber hinter all der Pracht gab’s nichts als Schulden. Ich weiß es. Dann sind wir nach Wien gegangen. Der Herzog hat seit eh und je um große Einsätze gespielt: Das ist in diesem Haus so üblich. Zuerst hat er verloren. Man könnt nicht sagen, dass er sich’s zu Herzen genommen hätte, denn er hat noch immer gelächelt. Auch das ist so seine Art. Dann kommt ein junger Edelmann daher, sehr reich, sehr wohlgemut. Spielt mit dem Herzog. Er verliert. Er schlägt einen noch höheren Einsatz vor, der Herzog geht drauf ein. Und was geschieht? Der junge Edelmann verliert weiter. Und er verliert weiter und weiter, bis zum Schluss – alles futsch! Das Vermögen hat den Besitzer gewechselt. Der junge Mann ist ruiniert – absolument! Der Herzog geht. Er lächelt – oh, dieses Lächeln! Ein bisschen später ficht der junge Mann ein Pistolenduell aus und feuert weit, weit in die Luft! Weil er ruiniert war, hat er den Tod gewählt. Und der Herzog –» Gaston machte eine weit ausholende Handbewegung – «der Herzog kommt nach Paris und kauft sich dieses Palais mit dem Vermögen des jungen Edelmanns!»
«Ach!», seufzte Madame und schüttelte ihr Haupt.
Léon schob leicht das Kinn vor.
«Das ist gar nicht so schlimm. Monseigneur spielt immer fair. Dieser junge Mann war ein Narr. Voilà tout!»
«Mon Dieu, so beurteilst du die verkörperte Schlechtigkeit? Oh, ich könnte dir Dinge erzählen! Wenn du all die Frauen kenntest, die der Herzog hofiert hat! Wenn du wüsstest –»
«Monsieur!» Madame Dubois hatte protestierend ihre Hände erhoben. «Vor mir solch eine Sprache?»
«Ich bitte um Entschuldigung, Madame. Nein, ich sage kein Wort. Nicht ein einziges! Aber was ich alles weiß!»
«Die einen sind so, die andern wieder anders», sagte Léon ernst. «Habe schon vieles mit angesehen.»
«Fi donc!», schrie Madame auf. «So jung, und schon so –»
Léon beachtete die Unterbrechung nicht und blickte Gaston mit einer Lebensweisheit an, die dem jungen Gesicht merkwürdig anstand.
«Und so oft ich solche Dinge sah, habe ich mir gedacht, dass stets die Frauen schuld sind.»
«Hört euch dieses Kind an!», rief Madame. «Was kannst du, petit, in deinem Alter schon davon wissen?»
Léon zuckte die Achseln und beugte sich wieder über sein Buch.
«Vielleicht nichts», antwortete er.
Gaston warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und hätte in der Diskussion fortgefahren, wäre ihm nicht Gregory zuvorgekommen.