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England, 1813: Die bezaubernde Elinor Rochdale ist adeliger Herkunft. Aber da ihr Vater kurz vor seinen Tod das gesamte Vermögen verspielt hat, beschließt die junge Frau einen Posten als Gouvernante anzutreten, um den finanziellen Ruin abzuwenden. Auf dem Weg zu ihrem Arbeitgeber steigt Elinor versehentlich in die falsche Kutsche und wird unversehens zur Ehegattin des als Trunkenbold verschrienen Mr. Cheviot gemacht. Als derselbige unmittelbar nach der Hochzeit verstirbt, erbt die junge Frau nicht nur sein gesamtes Hab und Gut, sondern auch einige mysteriöse Feinde und Rätsel ...
"Die widerspenstige Witwe" (im Original: "The Reluctant Widow") ist ein amüsanter Regency-Liebesroman mit einer charmanten Heldin. Jetzt als eBook bei beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.
"Lebhaft, amüsant ... und mit einer überraschenden Wendung!" - Kirkus Reviews
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Seitenzahl: 489
Cover
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
England, 1813: Die bezaubernde Elinor Rochdale ist adeliger Herkunft. Aber da ihr Vater kurz vor seinen Tod das gesamte Vermögen verspielt hat, beschließt die junge Frau einen Posten als Gouvernante anzutreten, um den finanziellen Ruin abzuwenden. Auf dem Weg zu ihrem Arbeitgeber steigt Elinor versehentlich in die falsche Kutsche und wird unversehens zur Ehegattin des als Trunkenbold verschrienen Mr. Cheviot gemacht. Als derselbige unmittelbar nach der Hochzeit verstirbt, erbt die junge Frau nicht nur sein gesamtes Hab und Gut, sondern auch einige mysteriöse Feinde und Rätsel ...
Georgette Heyer, geboren am 16. August 1902, schrieb mit siebzehn Jahren ihren ersten Roman, der zwei Jahre später veröffentlicht wurde. Seit dieser Zeit hat sie eine lange Reihe charmant unterhaltender Bücher verfasst, die weit über die Grenzen Englands hinaus Widerhall fanden. Sie starb am 5. Juli 1974 in London.
Georgette Heyer
Die widerspenstige Witwe
Aus dem Englischen von Edmund Th. Kauer
beHEARTBEAT
Digitale Neuausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Copyright © Georgette Heyer, 1946
Die Originalausgabe THE RELUCTANT WIDOW erschien 1946 bei William Heinemann.
Copyright der deutschen Erstausgabe:
© Paul Zsolnay Verlag GmbH, Hamburg/Wien, 1960.
Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer
Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven © Richard Jenkins Photography
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7325-8915-9
www.lesejury.de
Für R. G. R.
Es dämmerte bereits, als die kursmäßige Postkutsche, die von London nach Little Hampton geht, in das Dorf Billingshurst einfuhr; ein frostiger Bodennebel kroch kniehoch über die trübe Szenerie. Die Kutsche hielt vor einer Gastwirtschaft, das Trittbrett wurde heruntergeklappt, damit ein Fahrgast bequemlich aussteigen könne. Eine Lady, gesetzt gekleidet – drappfarbener Mantel, rundes Hütchen ohne Feder –, trat auf die Straße heraus. Während sie wartete, dass ihr verschnürter Reisekorb und ein Handkoffer aus dem Wagenkasten herausgeholt wurden, hakte der Schwager – offenbar seinem Fahrplan um ein paar Minuten voraus – die Zügel fest, kletterte vom Kutschbock und begab sich, der Vorschriften für das Verhalten eines Postkutschers uneingedenk, wiegenden Schritts in den Ausschank, gewillt, sich dort einen ermutigenden Schluck zu genehmigen, mit dessen Hilfe er, ohne seine sichtlich geschwächte Konstitution zu gefährden, den Rest der Strecke zu bewältigen gedachte.
Der besagte Fahrgast stand inzwischen auf der Straße, den Korb neben sich, und hielt einigermaßen unsicher Umschau. Die Lady hatte wohl damit gerechnet, abgeholt zu werden, wusste aber bereits aus Erfahrung, dass man gemeinhin, um eine neue Gouvernante heimzubringen, eher ein leichtes einspänniges Gig als die gutsherrschaftliche Equipage aussandte; darum zögerte sie, sich dem einzigen im Umkreis sichtbaren Fahrzeug, einem respektablen Reisewagen, der auf der anderen Straßenseite hielt, zu nähern. Während sie noch um sich blickte, kam indessen ein galonierter Kutscher vom Bock erwähnten Reisewagens gesprungen, trat, die Finger an die Hutkrempe legend, zu ihr und fragte, ob sie wohl die aus London angesagte junge Dame sei, die aufgrund der Anzeige komme. Als sie dies bestätigte, verneigte sich der Galonierte kurz, nahm den Korb auf und geleitete die Lady über die Straße zu dem Reisewagen. Sie stieg ein, nun wieder gehobener Stimmung, da sie sich mit so unerwarteter Fürsorge behandelt sah; und nun wurde ihr gar die weitere Aufmerksamkeit zuteil, dass der Bediente ihr eine Decke über die Knie breitete und dazu die Hoffnung aussprach, die Lady werde in der scharfen Abendluft nicht frieren. Das Trittbrett wurde hochgeklappt, der Schlag ins Schloss geworfen, der Korb am Dach festgemacht, und alsbald setzte sich der Reisewagen in Bewegung, rollte auf eine Weise wohlgefedert dahin, die sich nach dem mehrstündigen Geschüttel und Gerüttel in der Postkutsche wohltuend spürbar machte.
Behaglich aufseufzend lehnte sich die junge Lady in die Polsterung des Sitzes zurück. Die Postkutsche war voll besetzt, die Fahrt keineswegs eine Annehmlichkeit gewesen. Die Lady fragte sich, ob es ihr wohl jemals gelingen werde, sich an die Unbehaglichkeiten zu gewöhnen, die uns Sparsamkeit und Armut auferlegen. Wohl kaum, da sie im Laufe der letzten sechs Jahre reichlich Gelegenheit gehabt hatte, sich mit solchen Entbehrungen abzufinden. Müde von der Reise, aber entschlossen, sich nicht entmutigenden Betrachtungen hinzugeben, wandte sie ihre Gedanken von der Misslichkeit ihrer allgemeinen Lage ab und den mutmaßlichen Chancen ihres neuen Postens zu.
Nicht dass sie sich kühnen Hoffnungen hingegeben hätte, als sie früh am Morgen von London abfuhr. Ihre Dienstgeberin – nur einmal, bei einer kurzen Begegnung in Fentons Hotel, gesehen – hatte nicht im Entferntesten jene freundliche Gesinnung gezeigt, die sie jetzt bewogen haben mochte, eine armselige Gouvernante in einem stattlichen Reisewagen abholen zu lassen. Miss Elinor Rochdale hatte sich eher versucht gefühlt, in dem üppigen Busen ihrer künftigen Dienstherrin ein Herz zu vermuten, das nicht minder frostig war als die hervorquellenden eiskalten Augen; hätte nur irgendein anderer Posten zur Wahl gestanden, so wäre sie wohl ohne Zögern bereit gewesen, den Dienst in diesem Haushalt von sich zu weisen. Doch hatte sich nichts anderes geboten. Allzu oft gab es in den Familien, die eine Gouvernante benötigten, junge Herren, die in einem für solche Eindrücke empfänglichen Alter standen, und Miss Rochdale war viel zu jung und viel zu gutaussehend, um in den Augen weitblickender Mamas für eine Hausgemeinschaft in Frage zu kommen. Glücklicherweise – denn Miss Rochdales Ersparnisse waren gering, ihr Stolz aber war zu groß, als dass er ihr erlaubt hätte, länger die Gastfreundschaft ihrer ehemaligen Gouvernante anzunehmen – ergab sich, dass Mrs. Macclesfield nur einen einzigen männlichen Nachkommen hatte, einen jungen Lümmel von sieben Jahren. Nach Ansicht seiner Mutter war dies Bürschlein von so eigenwilliger Geistesart und so reizbarem Temperament, dass es äußersten Feingefühls und höchster Überzeugungskraft bedurfte, seinen ungebärdigen Tatendrang zu zügeln. Sechs Jahre früher wäre Miss Rochdale vor den Schrecken, die ihrer hier offenbar harrten, zurückgewichen, seither aber war ihr klar geworden, dass ideale Chancen sich kaum jemals darboten. Wo es keinen verzogenen Balg gab, der allein schon einer Erzieherin das Leben zur Qual machte, würde man aller Wahrscheinlichkeit nach von der Gouvernante erwarten, dass sie ihrer Dienstgeberin sparen half und die Aufgaben eines zweiten Hausmädchens übernahm.
Miss Rochdale zog die Decke enger um die Beine. Ein Schaffellvorleger, der auf dem Boden ausgebreitet war, schützte ihre Füße vor kaltem Luftzug. Sie vergrub sie tiefer in der wohligen Wärme und war jetzt nahe daran sich vorzustellen, sie wäre wieder Miss Rochdale auf Feldenhall und fahre in Papas Equipage zu einer Abendgesellschaft. Die Aufmachung des Bedienten, der zu ihrer Einholung geschickt worden war, und die Eleganz des Wagens hatten sie einigermaßen in Erstaunen gesetzt: Fern war ihr der Argwohn gelegen, Mrs. Macclesfield lebe auf so großem Fuß. Als ihr Blick auf den Wagen fiel, hatte sie auf dem Schlag ein Wappen auszunehmen vermeint, aber es war wohl möglich, dass sie sich in dem dämmerigen Halbdunkel getäuscht hatte. Jetzt überließ sie sich willig Fantasien über die Vornehmheit des Haushaltes, in den sie aufgenommen werden sollte, und über den mutmaßlichen Charakter seiner Mitglieder; und da sie eher zu einer optimistischen Einschätzung der Dinge neigte, verstrickte sie sich alsbald in ein Gewebe höchst unglaubhafter Trugbilder.
In ihre wirkliche Umwelt wurde sie zurückgerufen, als die Pferde jetzt spürbar ihre Gangart verlangsamten. Miss Rochdale blickte aus dem Fenster und überzeugte sich, dass es inzwischen stockdunkel geworden war. Da der Mond noch nicht aufgegangen war, ließ sich von der Landschaft nichts erkennen, doch hatte die junge Lady den Eindruck, auf einem schmalen und vielfach gewundenen Feldweg dahinzufahren. Wie lange sie schon in dem Wagen saß, wusste sie nicht, doch mochte es geraume Zeit sein, und sie entsann sich, dass Mrs. Macclesfield erwähnt hatte, ihr Wohnsitz in Five Mile Ash liege in der Nähe von Billingshurst. Blieb nur die Möglichkeit, dass der Weg über alles gewöhnliche Maß weitläufig war. Allmählich befestigte sich in Miss Rochdale der Verdacht, dass Mrs. Macclesfield entweder ländliche Begriffe von Entfernungen oder einfach gelogen hatte.
Die Fahrt schien sich endlos in die Länge zu ziehen, schon regte sich in Miss Rochdale der Argwohn, der Kutscher habe im Finstern den Weg verloren, als die Pferde von leichtem Trab in Schritt übergingen; und jetzt bog der Wagen um die Ecke, und gleich darauf knirschten die Räder auf unebenem Kies, als wären sie auf eine schlecht gepflegte Auffahrt gelangt. Der Wagen kam wieder in Fahrt, ein paar hundert Meter ging es weiter, dann wurde angehalten, und der Groom sprang vom Kutschbock.
Silbriges Licht war über die Szenerie ausgegossen, und als Miss Rochdale aus dem Wagen stieg, konnte sie nun auch das Haus, das ihr Heim werden sollte, erkennen. Es war von ansehnlicher Größe, aber kaum bestimmbarer Bauart, ziemlich niedrig. Zwei scharfe Giebel und einige massive Kamine hoben sich vom Nachthimmel ab; eine Lampe, die in einem der Räume brannte, ließ erkennen, dass die Fenster vergittert waren.
Der Groom hatte an dem eisernen Glockenzug gerissen, das Echo der Glocke verklang noch in vagen Fernen, als das Tor aufging. Ein älterer Mann in schäbiger Livree hielt den Torflügel für die Eintretende offen, während er sie, im Vorbeigehen, prüfend und fast besorgt anstarrte. Doch achtete sie kaum darauf, denn ihre Aufmerksamkeit war ganz von dem Anblick in Anspruch genommen, der sich ihr bot. Der war allerdings überraschend genug, dass sie auf der Schwelle stehen blieb. Was, um Himmels willen, hatte die Frau, mit der sie in Fentons Hotel gesprochen, mit all dieser verfallenen Grandezza hier zu schaffen?
Die Halle war ein großer, unregelmäßiger Raum und hatte an dem einen Ende eine pompöse Eichentreppe, am andern einen gemauerten Riesenkamin, umfänglich genug, darin einen Ochsen am Spieß zu braten; dieser Kamin war so gewaltig überdacht, dass er auch den Qualm aufschlucken mochte, wenn etwa ein Unvorsichtiger auf den Einfall kam, auf den Fliesen vor dem Kamin ein Feuer anzumachen. Übrigens schien die getünchte Decke, zwischen schweren Eichenbalken rußgeschwärzt, zu bestätigen, was Miss Rochdale nüchtern vermutet hatte. Die Treppe wie auch der Boden der Halle waren nicht belegt und schienen seit Langem nicht mehr gereinigt worden zu sein; Brokatportieren, die einmal prächtig gewesen sein mochten, nun aber verblichen und stellenweise fadenscheinig waren, verhüllten die Fenster; auf einem schweren altertümlichen Klapptisch waren über einer Staubschicht eine Reitpeitsche, ein Lederhandschuh, ein zerknittertes Zeitungsblatt, ein glanzloser Messingtopf, der wohl für Blumen bestimmt, nun aber mit allerlei Krimskrams angefüllt war, zwei Zinnkrüge und ein Schnupftabaktopf versammelt; eine rostzerfressene Ritterrüstung flankierte den Aufgang zur Treppe; an einer Wand stand eine geschnitzte Truhe, über deren Deckel etliche Mäntel geworfen waren; es gab mehrere Stühle, einer davon zeigte einen durchgestoßenen Rohrsitz, die andern waren ledergepolstert. An den Wänden hingen Bilder in schweren vergoldeten Rahmen, drei mottenzerfressene Fuchsmasken, zwei Hirschgeweihe und eine Anzahl altertümlicher Reiterpistolen und Vogelflinten.
Miss Rochdales verwunderter Blick begegnete jetzt dem des Dieners, der sie eingelassen hatte, und es entging ihr nicht, dass er sie mit einer seltsamen Mischung von Neugierde und Betrübnis anstarrte. Etwas in seinem Gehaben, in Verbindung mit den deprimierenden Anzeichen des Verfalls ringsum, weckte in ihr Erinnerungen an unheimliche Geschichten, die man Leihbibliotheken entlehnt. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte sich eingebildet, sie wäre geraubt und verschleppt worden; all ihren nüchternen Verstand musste sie aufbieten, um diese lächerliche Vorstellung zu bekämpfen.
Mit ihrer wohlklingenden musikalischen Stimme sagte sie: «Ich hatte keine Ahnung, dass es von der Haltestelle der Postkutsche bis hierher so weit wäre. Ich bin darum später eingetroffen, als ich erwartete.»
«Es sind immerhin zwölf Meilen, Miss», sagte der Diener. «Wenn Sie mir folgen wollen ...»
Er geleitete sie zu einer der Türen, die in die Halle führten. Er öffnete sie, doch beschränkte er seine Anmeldung auf ein Kopfnicken, mit dem er ihr bedeutete, einzutreten. Nach einem kurzen Zögern folgte sie dieser Aufforderung, nun neuerlich verstört und einer Anwandlung von Furcht nachgebend.
Der Raum, den sie betrat, war ein Bücherzimmer. Es war ebenso ungepflegt wie die Halle, doch verbreitete eine Anzahl von Kerzen, die in Wandleuchtern staken, ein warmes Licht, und in dem Kamin am anderen Ende des Raumes brannte ein Holzfeuer. Davor stand, eine Hand auf dem Kaminsims ruhend, ein gestiefelter Fuß auf dem Kaminvorsatz, ein Gentleman in bockledernen Reithosen und einem dunkelroten Rock in die flackernden Flammen starrend. Erst als die Tür wieder hinter Miss Rochdale geschlossen wurde, hob er den Blick und betrachtete sie abschätzend, auf eine Weise, die jedermann aus der Fassung gebracht hätte, der weniger daran gewöhnt war, wie käufliche Ware taxiert zu werden.
Der Gentleman mochte zwischen dreißig und vierzig Jahren stehen. Miss Rochdale glaubte zu erraten, dass er der Gatte ihrer Dienstherrin wäre, und sie stellte mit einem gewissen Aufatmen fest, dass er nicht nur wie ein Mann von Stand aussah, vornehm in der Haltung, sondern auch mit einer Sorgfalt gekleidet war, die aufs Angenehmste von seiner Umgebung abstach. In der Tat wirkte er wie ein Mann aus bestem Stall.
Da er keine Bewegung machte, auf Miss Rochdale zuzutreten, näherte sie sich ihm und sagte: «Guten Abend. Der Bediente hat mich hier hereingeführt, vielleicht –»
Sie hatte den Eindruck, dass er sie ein wenig verwundert ansah, doch erwiderte er kühl: «Ja, so lautete meine Anweisung. Setzen Sie sich, bitte. Ich hoffe, man hat Sie an der Haltestelle der Postkutsche nicht warten lassen.»
«Nein, keineswegs.» Sie setzte sich auf einen Stuhl neben dem Tisch und faltete die Hände über dem Retikül in ihrem Schoß. «Der Wagen stand bereit. Ich muss Ihnen dafür danken, dass Sie ihn mir geschickt haben.»
«Ich hegte berechtigten Zweifel, dass in den Ställen hier ein passendes Fahrzeug aufzutreiben wäre», erwiderte er.
Diese Bemerkung, in gleichmütigem Ton vorgebracht, schien Miss Rochdale äußerst befremdlich. Es konnte dem Gentleman nicht entgehen, dass sie bestürzt war, denn er fügte hinzu: «Ich nehme an, dass man Sie über die besondere Art der Position, die Ihnen hier geboten wird, in London informiert hat.»
«Ich glaube wohl.»
«Ich habe es vorgezogen, Sie direkt hierherbringen zu lassen.»
Betroffen hob sie den Kopf. «Ich dachte... ich hatte den Eindruck, dies wäre der Ort meiner Bestimmung!»
«Ist er auch», sagte er ziemlich unwirsch. «Immerhin wünsche ich nicht, dass hier Missverständnisse obwalten. Ich biete Ihnen also eine Gelegenheit, mit eigenen Augen zu sehen, was Ihnen vielleicht nur unzureichend geschildert worden ist. Erst dann können wir zu einem endgültigen Abschluss gelangen.»
Seine grauen Augen schweiften, während er sprach, durch den Raum und wandten sich dann wieder prüfend ihr zu.
Sie gab sich der Hoffnung hin, es wäre ihr gelungen, einigermaßen Haltung zu bewahren. «Ich verstehe Sie nicht, Sir», sagte sie. «Ich für meine Person hielt mich für bindend verpflichtet, als ich London verließ, um hierherzukommen.»
Darauf antwortete er mit einer leichten Verneigung. «Oh, gewiss – sofern Sie es noch immer wünschen.»
Sie war nun nicht mehr sicher, dass sie das tat, aber die Alternative, nach London zu fahren und wieder auf Postensuche zu gehen, mahnte zu Geschmeidigkeit. «Ich werde mein Bestes tun, Sir, um meine Stellung zu Ihrer vollen Zufriedenheit auszufüllen.» Die Ironie, die sie in seinem kühlen Blick las, war verwirrend. Darum gab sie ihrer Stimme einen etwas hochmütigen Ton, als sie hinzufügte: «Ich wusste allerdings nicht, dass Sie es waren, der mich engagiert hat. Ich dachte –»
«Es war ganz unnötig, Sie das wissen zu lassen. Und da Sie sich ja entschlossen haben, auf diesen Handel einzugehen, habe ich zur Sache nichts weiter zu äußern.»
Nach dem Eindruck, den sie von seiner Frau empfangen hatte, glaubte sie ihm das von Herzen gern; überrascht hatte sie nur, dass er in dieser Sache überhaupt mitsprach. Hinwiederum war sein Gehaben durchaus das eines Mannes, der zu befehlen gewöhnt ist. Da sie sich nun gar nicht mehr auskannte, sagte sie nach einer kurzen Pause: «Vielleicht wäre es nicht fehl am Platz, wenn ich jetzt ohne Zeitverlust die Bekanntschaft meines Zöglings machte.»
Er kräuselte die Lippen. «Wahrhaftig ein passender Ausdruck», bemerkte er trocken. «Leider ist Ihr Zögling augenblicklich nicht zur Stelle. Nun, Sie werden ihn bald genug kennenlernen. Wenn, was Sie bisher hier gesehen, Sie nicht abgeschreckt hat, fühle ich mich zu der Hoffnung ermutigt, dass Ihr Entschluss auch nicht wanken wird, wenn Sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.»
«Bestimmt nicht», sagte sie lächelnd. «Man hat mir zu verstehen gegeben, dass er ein wenig... nun, dass er vielleicht ein wenig eigenwillig ist.»
«Entweder besitzen Sie ein Genie, arge Dinge harmlos zu sagen, werte Dame, oder man hat Ihnen die Wahrheit verschwiegen.»
Sie lachte. «Nun, Sie sind offenherzig, Sir. Möglich, dass man mir nicht gleich die volle Wahrheit gesagt hat, aber für jemanden, der zwischen den Zeilen zu lesen versteht, war sie doch wohl, scheint mir, zu erraten.»
«Sie sind eine tapfere Frau.»
Ihre Belustigung stieg. «Ganz und gar nicht, aber ich werde, was möglich ist, zuwege bringen. Ich muss wohl annehmen, dass mein Zögling ein wenig verzogen ist?»
«Verzogen? Ich glaube kaum, dass an dem etwas zu verziehen war.»
Der kalte Gleichmut, mit dem diese Bemerkung geäußert wurde, verlieh auch ihrer Erwiderung einen frostigen Akzent: «Ich bin überzeugt, werter Herr, dass Sie nicht wünschen, Ihre Worte auf die Goldwaage gelegt zu sehen. Vorläufig hoffe ich noch, mich bei meinem Zögling in Respekt setzen zu können. Er wird schon auf mich hören!»
«Sie wollen sich bei ihm in Respekt setzen?», wiederholte er mit hörbarem Erstaunen. «Na, wenn Ihnen das gelingt, dann werden Sie allerhand geleistet haben! Sie werden sich sogar rühmen können, die einzige Person zu sein, auf die er zeitlebens gehört hat!»
«Gewiss übertreiben Sie doch, Sir?», sagte sie schwach.
«Weiß Gott, nein», erwiderte er ungeduldig.
«Nun, dann muss ich eben alle meine Kräfte einsetzen.»
«Wenn Sie gesonnen sind, hier zu verbleiben, dann rate ich Ihnen, Ihre Aufmerksamkeit lieber auf Übel zu richten, die Sie leichter abstellen können.» Wieder sah er sich missfällig im Raum um.
Sie war nun ärgerlich geworden und erlaubte sich in ihrer Entgegnung einen herberen Unterton: «Man hat mir jedenfalls nicht gesagt, Sir, als ich engagiert wurde, dass ich hier auch Dienst als Haushälterin zu leisten habe. Ich bin zwar gewöhnt, mein eigenes Zimmer sauber zu halten, aber dessen mögen Sie gewiss sein, ich denke nicht daran, mich auch sonst noch an Haushaltsarbeiten zu beteiligen.»
Er zuckte die Achseln, wandte sich ab und stieß mit dem Fuß ein glimmendes Scheit ins Feuer. «Sie werden so handeln, wie es Ihnen am besten erscheint. Meine Angelegenheit ist das nicht. Nur werden Sie gut tun, sich alle romantischen Vorstellungen, die Sie vielleicht jetzt noch hegen, aus dem Kopf zu schlagen. Ihr Zögling – es beliebt Ihnen ja, ihn so zu nennen – mag wohl bewogen werden, Sie zu akzeptieren, aber doch nur, weil ich ihn dazu zwingen kann, und aus keinem andern Grunde. Schmeicheln Sie sich nur nicht, dass sein Blick wohlgefällig auf Ihnen ruhen wird! Ich rechne auch nicht damit, dass Sie länger als eine Woche hierbleiben: Sie brauchen auch das nicht, wenn Sie es nicht freiwillig tun.»
«Nicht länger als eine Woche hierbleiben!», rief sie. «Er kann doch nicht so schlimm sein, wie Sie mich glauben machen wollen, Sir! Es schickt sich nicht, so zu sprechen! Verzeihen Sie, aber Sie sollten das wirklich nicht tun!»
«Ich möchte nur, dass Sie Bescheid wissen. Sie sollen Gelegenheit haben, Ihren Entschluss noch einmal zu überprüfen.»
Ziemlich verärgert konnte sie nur sagen: «Ich muss tun, was ich kann. Zugegeben, ich war nicht gerade auf so etwas vorbereitet, aber ich bin nicht in der Lage ... in der Lage, leichtfertig von einer Abmachung zurückzutreten ...»
«Nein, natürlich, das war mir einigermaßen klar. Es konnte ja wohl nicht anders sein.»
Sie sah ihn groß an. «Nun, Sie sprechen wirklich sehr offen! Aber ich kann noch immer nicht erraten, was Sie, nachdem Sie mich engagiert haben, damit bezwecken, mir die Sache jetzt zu verleiden.»
Darüber lächelte er, und dieses Lächeln verlieh seiner sonst so abweisenden Miene eine gewisse Liebenswürdigkeit. «Natürlich ist das absurd», räumte er ein. «Aber Sie sind nicht, was ich erwartet habe, das muss ich Ihnen offen sagen. Meiner Ansicht nach sind Sie zu jung.»
Ihr Mut sank. «Ich habe mein Alter nicht verheimlicht, Sir. Und ich bin vielleicht älter, als Sie annehmen. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt.»
«Sie sehen jünger aus», gab er zu.
«Ich hoffe, es wird nichts ausmachen. Sie mögen versichert sein, dass es mir an Erfahrung nicht fehlt.»
«Auf dem Gebiet, auf dem Sie sich jetzt betätigen sollen, können Sie unmöglich viel Erfahrung haben», äußerte er spöttisch.
Ein furchtbarer Verdacht durchzuckte sie. «Du lieber Gott, er ist doch nicht – das kann doch nicht sein – er ist doch nicht geistesgestört, Sir?»
«Nein, er ist durchaus bei Trost. Sein Hang zum Üblen ist nicht auf Sinnesverwirrung zurückzuführen, sondern hauptsächlich auf Branntwein.»
«Branntwein?», stöhnte sie.
Er zog die Brauen hoch. «Gewiss, und ich war der Ansicht, man habe Sie darüber voll aufgeklärt. Es tut mir leid. Jedenfalls hatte ich es so gewünscht und auch angeordnet.»
Miss Rochdale dämmerte jetzt auf, dass nicht ihr Zögling, sondern ihr Dienstgeber geistesverwirrt war. Sie stand auf und sagte mit einer Festigkeit, die ihre innere Unruhe verbergen sollte: «Ich glaube, Sir, es ist wohl das Beste, ich spreche jetzt ohne allen weiteren Zeitverlust mit Mrs. Macclesfield.»
«Mit wem?», fragte er verwundert.
«Mit Ihrer Frau!» Dabei trat sie den strategischen Rückzug zur Tür an.
Er erwiderte mit unbeirrter Gelassenheit: «Ich bin nicht verheiratet.»
«Nicht verheiratet? Dann ... war dann alles ein Missverständnis? Sie sind also nicht Mr. Macclesfield?»
«Bestimmt nicht. Ich bin Carlyon.»
Er schien sich einzubilden, diese Feststellung genüge, um ihre Wissbegierde völlig zu befriedigen. Miss Rochdale, nun ganz verstört, konnte nur stammeln: «Dann bitte ich um Verzeihung! Ich dachte – aber wo finde ich jetzt Mrs. Macclesfield?»
«Kann mich nicht erinnern, dass ich die Dame kenne.»
«Sie kennen sie nicht? Ist das nicht ihr Haus, Sir?»
«Nein.»
«Oh, dann liegt hier ein schrecklicher Irrtum vor!», rief sie bestürzt. «Es ist mir unerfindlich, wie das passieren konnte! Es tut mir wirklich leid, Mr. Carlyon, aber es scheint, ich bin in das falsche Haus geraten.»
«Scheint so, meine Dame.»
«Ein entsetzliches Missgeschick! Ich bitte um Verzeihung! Aber als der Bediente mich fragte, ob ich die aus London angesagte Dame wäre, dachte ich – nun, ich hätte natürlich genauer fragen sollen.»
«Sie sind also doch aus London angesagt? Aber doch nicht auf mein Inserat hin, scheint mir!»
«Nein, ich wurde von Mrs. Macclesfield als Gouvernante für ihre Kinder engagiert ... genauer gesprochen, für ihren kleinen Jungen.» Wider Willen konnte sie ein Auflachen nicht unterdrücken. «Du meine Güte, lässt sich eine unsinnigere Verwechslung ausdenken? Stellen Sie sich nur vor, wie Ihre Eröffnungen auf mich gewirkt haben!»
«Ich kann mir denken, dass Sie mich für verrückt gehalten haben.»
«Das habe ich. Aber komisch ist die ganze Sache trotzdem nicht. Wollen Sie mir jetzt bitte sagen, wo ich hier bin?»
«Sie befinden sich in Highnoons, meine Dame. Und wo wollten Sie sein?»
«Mrs. Macclesfield wohnt in Five Mile Ash. Ich hoffe, es ist nicht allzu weit von hier entfernt.»
«Leider sind es einige sechzehn Meilen oder so. Ostwärts von hier. Heute Nacht werden Sie kaum mehr hinkommen.»
«Du lieber Gott, was fange ich nur an? Ich fürchte, sie wird sehr verärgert sein, und ich weiß wirklich nicht, wie ich ihr mein albernes Verhalten erklären soll.»
Er schien ihr nicht sehr aufmerksam zuzuhören. Jetzt fragte er unvermittelt: «Ist nicht noch eine andere Frauensperson in Billingshurst aus der Postkutsche gestiegen?»
«Nein, niemand außer mir», versicherte sie.
«Dann hat die wohl wieder den Mut verloren. Es wundert mich nicht.»
«Ich entnehme aus Ihren Äußerungen, dass Sie jemanden erwarteten. Wirklich eine sonderbare Verflechtung von Zufällen. Aber ich möchte jetzt wissen, wie ich aus diesem Irrgarten herausfinde.»
Er beehrte sie wieder mit einem seiner taxierenden Blicke. «Nun, vielleicht bringen wir das alles noch ins rechte Gleis. Bevor Sie sich entschließen, in Five Mile Ash vorzusprechen, können Sie doch überlegen, wie Ihnen der Posten, den ich zu bieten habe, zusagt.»
«Aber Sie wünschen doch gar keine Gouvernante, Herr!»
«Nein. Ich suche eine Person weiblichen Geschlechts – tunlichst eine ehrbare Person, die darauf eingeht, unter gewissen Bedingungen einen jungen Verwandten von mir zu heiraten.»
Eine geraume Weile war sie der Sprache beraubt. Als sie endlich wieder Gewalt über ihre Zunge erlangt hatte, fragte sie: «Meinen Sie das ernst?»
«Gewiss.»
«Jetzt glaube ich wirklich, Sie sind verrückt.»
«Ich bin es nicht, aber es mag wohl so scheinen, das sehe ich ein.»
«Einen jungen Verwandten von Ihnen heiraten!» grollte sie. «Zweifellos doch wohl den Herrn, dessen üble Neigungen dem Branntwein zuzuschreiben sind.»
«Stimmt.»
«Mr. Carlyon», sagte Miss Rochdale rundheraus, «mir ist nicht nach Scherz zumute! Wollen Sie also so gütig sein, mir –»
«Ich scherze keineswegs, und ich bin auch nicht Mr. Carlyon.»
«Verzeihung, aber Sie selbst haben sich so genannt.»
«Der Name stimmt, aber Sie würden mich richtiger Lord Carlyon ansprechen.»
«Oh!», sagte Miss Rochdale. «Immerhin, das macht die Sache auch nicht besser.»
«Was macht es nicht besser?»
«Diesen Ihren abgeschmackten und unpassenden Scherz!»
«Mein Vorschlag mag abgeschmackt, er mag unpassend sein, aber er ist kein Scherz. Ich habe gute Gründe, zu wünschen, dass mein Vetter sich so schnell wie möglich verheiratet.»
«Ich kann nicht behaupten, dass ich Sie verstehe, Mylord, aber wenn es sich so verhält, wie Sie sagen, täte Ihr Vetter wohl besser, sich unter den Damen seines Kreises umzusehen.»
«Unzweifelhaft. Aber man ist sich über seinen Charakter viel zu sehr im Klaren, als dass er für eine Dame seines Kreises annehmbar wäre. Auch kann er sich nicht mehr auf den Vorteil berufen, ein ansehnliches Vermögen mitzubringen.»
«Nein, wirklich», rief Miss Rochdale, die jetzt nicht mehr wusste, ob sie lachen oder empört sein sollte. «Und wieso, wenn ich bitten darf, nehmen Sie an, dass dieses Ungeheuer für mich akzeptabel wäre?»
«Ich nehme das ja gar nicht an», erwiderte er gelassen. «Sie können ihm ja, wenn Ihnen das lieber ist, schon beim Verlassen der Kirche den Laufpass geben. Meiner Ansicht nach sollten Sie das sogar.»
«Entweder träume ich», sagte Miss Rochdale, die nur mit äußerster Anstrengung die Fassung bewahrte, «oder Sie sind wirklich verrückt!»
Er schien ein wenig belustigt, schüttelte aber zur Antwort nur den Kopf. Über solches Betragen erbittert, sagte Miss Rochdale scharf: «Es lohnt nicht, darüber zu reden! Haben Sie die Liebenswürdigkeit, mir zu sagen, wie ich nach Five Mile Ash kommen kann, bevor es zu spät ist.»
Er warf einen Blick nach der Standuhr auf dem Kaminsims, aber da sie stehen geblieben war, griff er nach seiner Taschenuhr.
«Es ist bereits zu spät. Es fehlen nur mehr zehn Minuten auf neun.»
«Mein Gott, was tue ich nur?», rief sie erblassend.
«Da ich offenbar in gewissem Sinn für Ihr Missgeschick verantwortlich bin, überlassen Sie es am besten mir, die nötigen Anordnungen zu treffen.»
«Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mylord, aber ich möchte mich nicht jemandem überantworten, der offenbar sinnesverwirrt ist.»
«Reden Sie keinen Unsinn», erwiderte er in dem Ton, in dem sie ein widerspenstiges Kind angesprochen hätte. «Sie wissen sehr wohl, dass ich nicht im Entferntesten sinnesverwirrt bin. Am besten setzen Sie sich wieder, während ich dafür sorge, dass Sie etwas zu Ihrer Erfrischung bekommen.»
Seine Selbstsicherheit wirkte besänftigend auf ihre in Unruhe geratenen Nerven, auch konnte sie nicht abstreiten, dass das Angebot einer kleinen Erfrischung willkommen war. Seit dem Morgen hatte sie nichts zu essen bekommen. Sie setzte sich also wieder, sagte aber argwöhnisch: «Ich verstehe nur nicht recht, welche Anordnungen Sie in Bezug auf mich treffen wollen, da ich doch keinesfalls darauf eingehe, Ihren Vetter zu heiraten.»
«Ganz wie Sie wünschen», erwiderte er und zog an der Glockenschnur.
«Nach allem, was ich in Ihrem Haus hier gesehen habe», bemerkte Miss Rochdale spitz, «ist die Glocke wahrscheinlich kaputt.»
«Mehr als wahrscheinlich», bestätigte er und ging zur Tür. «Übrigens ist dies nicht mein Haus.»
Miss Rochdale griff nach ihren Schläfen. «Jetzt beginne ich an meinem eigenen Verstand zu zweifeln», stöhnte sie. «Wenn dies weder Ihr Haus ist noch das Mrs. Macclesfields, wessen Haus, bitte, ist es dann?»
«Das Haus meines Vetters.»
«Ihres Vetters! Ich kann unmöglich hierbleiben!», schrie sie auf. «Es kann doch nicht Ihre Absicht sein, mich hier zu behalten?»
«Gewiss nicht. Das wäre ganz unschicklich», äußerte er und verließ das Zimmer.
Wilde Ideen einer überstürzten Flucht durchzuckten Miss Rochdales Gehirn, doch da es ihr nicht an Mutterwitz fehlte, verwarf sie diese sofort wieder. Eine Nacht lang in einer unbekannten Gegend herumzuirren, konnte keine Verbesserung ihrer misslichen Lage bedeuten, und obwohl das Betragen des Mannes, dessen Gast sie hier war, für außergewöhnlich gelten konnte, deutete doch nichts darauf hin, dass er sie gegen ihren Willen festzuhalten wünschte. Sie blieb also sitzen und wartete auf sein Wiedererscheinen.
Es erfolgte sogleich, und schon beim Eintreten sagte er: «Außer kalten Braten scheinen die nichts vorrätig zu haben, aber ich habe ihnen befohlen, zu tun, was sie können.»
«Tee und ein Butterbrot, mehr möchte ich gar nicht», beruhigte sie ihn.
«Wird sogleich zur Stelle sein.»
«Ich danke Ihnen.» Sie zog die Handschuhe aus und faltete sie zusammen. «Ich überlege gerade, was wohl zu tun wäre. Könnte man allenfalls einen Wagen, oder eine Kutsche vielleicht, auftreiben, die mich nach Five Mile Ash brächte?»
«Wenn es bloß darum ginge, würde ich Sie in meinem Wagen hinbringen, aber Sie werden sich Ihren künftigen Dienstgebern wohl kaum empfehlen, wenn Sie um Mitternacht auftauchen.»
Die Richtigkeit dieser Bemerkung brach mit voller Wucht über sie herein. Im Geist sah sie die angsteinflößende Mrs. Macclesfield vor sich, und diese bloße Vorstellung ließ sie erschauern.
«Wir haben hier in Wisborough Green einen recht anständigen Gasthof, in dem Sie für die Nacht gut untergebracht sind», sagte er. «Und wenn Sie am Morgen gesonnen sind, bei Ihrem Vorhaben zu verharren, lasse ich Sie nach Five Mile Ash bringen.»
«Ich bin Ihnen sehr verpflichtet», sagte sie mutlos. «Aber was sage ich nur Mrs. Macclesfield? Die Wahrheit wird nichts nützen – die klingt zu unglaubhaft.»
«Eine lästige Situation. Sagen Sie, Sie hätten den Tag verwechselt und kämen eben erst jetzt in Sussex an.»
«Ich fürchte, sie wird sehr ungehalten sein und mich vielleicht wieder fortschicken.»
«In diesem Fall können Sie ja hierher zurückkommen.»
«Ja, und Ihren scheußlichen Vetter heiraten! Danke schön, so weit ist es denn doch noch nicht.»
«Das beurteilen Sie selbst am besten», erwiderte er unbeirrt. «Ich weiß natürlich nicht genau darüber Bescheid, was von einer Gouvernante erwartet wird, aber nach allem, was ich darüber gehört habe, ist wohl jeder andere Posten vorzuziehen.»
Darin lag so viel Wahres, dass sie einen Seufzer nur mühsam unterdrücken konnte. Besänftigt sagte sie: «Ja, das wohl, aber doch nicht die Ehe mit einem Trunkenbold.»
«Lang wird er nicht mehr leben», gab er zu bedenken.
In ihr regte sich jetzt ein gut Teil Neugierde, nachdem der erste Schrecken überwunden war, und sie sah ihn fragend an.
«Er hat schon immer gekränkelt», erklärte er. «Wenn er nicht in einem Raufhandel ums Leben kommt, was keineswegs unwahrscheinlich ist, wird der Branntwein ihn bald erledigt haben.»
«Oh», sagte Miss Rochdale schwach. «Warum wollen Sie ihn dann verheiratet sehen?»
«Weil ich, wenn er unverheiratet stirbt, dieses Gut hier erben muss.»
Sie konnte nur große Augen machen. Glücklicherweise – denn sie fand im Augenblick nicht die rechten Worte, ihre Bestürzung zu äußern – trat jetzt der Diener ein, setzte ein Tablett mit Tee, Butterbrot und kaltem Braten vor sie nieder. Dann warf der Diener einen Blick auf Carlyon und sagte bedrückt: «Mr. Eustace ist noch nicht aufgetaucht, Mylord.»
«Spielt keine Rolle.»
«Wenn er sich nur nicht auf etwas eingelassen hat!», murmelte der Mann. «Er war furchtbarer Laune, als er abfuhr, Mylord.»
Carlyon gab achselzuckend seine Gleichgültigkeit zu verstehen. Seufzend zog sich der Diener zurück. Miss Rochdale hatte ihren Stuhl an den Tisch herangerückt, goss sich eine Tasse Tee ein und widmete sich wohlgemut dem kalten Hammelbraten. Sie fühlte sich jetzt weit eher imstande, mit den gegebenen Umständen fertig zu werden. «Ich möchte in Ihnen nicht den Eindruck erwecken, Mylord, dass ich auf unschickliche Weise neugierig bin, aber haben Sie nicht eben erst gesagt, Sie würden dieses Gut erben, wenn Ihr Vetter unvermählt stirbt?»
«Allerdings.»
«Aber wollen Sie es denn nicht erben?»
«Auf keinen Fall.»
Sie nahm zuerst einen Schluck Tee. «Wirklich höchst sonderbar!» Etwas anderes fiel ihr nicht ein.
Er trat an den Tisch heran, setzte sich ihr gegenüber.
«Mag wohl so klingen, aber es ist die volle Wahrheit. Dazu muss ich Ihnen erklären, dass ich volle fünf Jahre lang, Jahre, um die mich niemand zu beneiden braucht, der Vormund meines Vetters war.» Er machte eine Pause; es entging ihr nicht, dass sein Mund härter wurde. Nach einer Weile fuhr er, wieder mit gefestigter Stimme, fort: «Schon in Eton ist er hinausgeflogen. Die meisten seiner Verwandten väterlicherseits machten mir das zum Vorwurf.»
«Wieso das?», fragte sie überrascht.
«Kann ich auch nicht sagen. Aber es hieß allgemein, wenn er seinen Vater nicht in zarter Kindheit verloren oder wenn meine Tante einen anderen von ihren Schwägern an meiner Stelle zu seinem Vormund bestellt hätte, wäre sein Charakter anders geworden.»
«Nun, das ist wohl ein hartes Urteil! Doch – verzeihen Sie! – war das nicht seltsam, dass gerade Sie als Vormund bestellt wurden? Sie müssen doch noch sehr jung gewesen sein.»
«Ich stand in Ihrem jetzigen Alter. Sechsundzwanzig. Im Übrigen war es nur natürlich – meine Tante war die ältere Schwester meiner Mutter, sie hatte diesen Besitz hier von meinem Großvater geerbt. Mein Gut liegt etwa sieben Meilen von hier entfernt, die Familien hatten immer in regem Verkehr gestanden. Und da ich selber seit Langem vaterlos war, wirkte ich älter als meine Jahre. Mit achtzehn stand ich an der Spitze einer Familie, deren jüngste Angehörige noch im Kinderzimmer steckten.»
«Du lieber Himmel, Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie in diesem Alter alle Pflichten eines Familienoberhauptes übernahmen!», rief Miss Rochdale.
Er lächelte. «Nein, nicht ganz. Meine Mutter war ja damals noch am Leben, aber sie erfreute sich keiner guten Gesundheit, und so war es nur natürlich, dass alle sich nach mir richteten.»
Erstaunt sah sie ihn an. «Wer, alle?»
«Ich habe drei Brüder und drei Schwestern, meine Dame.»
«Und für die alle sind Sie verantwortlich?!»
«Aber nein! Meine Schwestern sind jetzt verheiratet, einer meiner Brüder dient beim Stab Sir Rowland Hills in Spanien, ein anderer ist Lord Sidmouth’ Sekretär im Home Office und lebt meist in London. Sie sehen, nur der Jüngste lastet auf mir. Er macht jetzt sein erstes Jahr in Oxford. Damals aber, zu der Zeit, von der ich sprach, waren sie noch alle zu Hause.» Wieder trat ein Lächeln in seine Augen. «Ihre Erfahrung muss Ihnen sagen, dass sechs junge Leute, im Alter vom Kleinkind bis zu sechzehn Jahren, eine Last sind, die eine zarte Frau nicht auf ihre Schultern nehmen kann.»
«Das stimmt», sagte sie nachfühlend. «Aber Sie hatten doch gewiss Erzieher und Gouvernanten zur Verfügung?»
«Ja, unzählige, ich weiß gar nicht mehr, wie viele es waren», gab er zu. «Zwei meiner Brüder erwiesen sich in den Künsten, ihre Hauslehrer loszuwerden, höchst erfinderisch. Aber ich weiß wirklich nicht, warum ich Sie mit diesen meinen Angelegenheiten belästigen soll – wollte Ihnen ja nur erklären, wie es dazu kam, dass meine Tante ihren Sohn unter meine Vormundschaft stellte. Ich muss zugeben, dass ich, nachdem es nun einmal meine Aufgabe war, seine verhängnisvolle Neigung zu allen Arten von Ausschweifung und Verschwendung zu steuern oder gar ihn auf bessere Wege zu lenken, glatt versagt habe. Gelungen ist es mir nur, ihm eine tiefe Abneigung gegen meine Person einzuflößen. Übel nehmen kann ich es ihm nicht: Sein Abscheu vor mir hält noch immer keinen Vergleich mit den Gefühlen aus, die ich für ihn immer schon gehegt habe.» Er warf ihr über den Tisch einen Blick zu und fügte bedachtsam hinzu: «Es ist keine Kleinigkeit, einen jungen Menschen gerecht zu behandeln, für den man nur Geringschätzung und Missbilligung empfindet, liebe Dame. Einer der Onkel meines Vetters würde Ihnen erklären, ich sei immer hart zu dem jungen Burschen gewesen. Mag sein, dass ich es war; absichtlich war ich es nicht. Als ich ihn aus der Schule in Eton herausnehmen musste, stellte ich ihn unter die Aufsicht eines vortrefflichen Hofmeisters. Gewirkt hat es nicht. Dann gab es viel Geschrei darüber, dass ich nicht recht darauf eingehen wollte, ihn nach Oxford zu schicken. Die Aussicht war ja in der Tat gering, dass er sich dort bewähren würde, ich war auf jeden Fall dagegen. Nachher ist mir vorgehalten worden, ich hätte aus Missgunst so gehandelt.»
«Sie hätten auf böswillige Missdeutung gar nicht hören sollen!», warf Miss Rochdale, in Feuer geraten, ein.
«Hab ich ja auch nicht. Nun, nach allerlei Hin und Her, verfiel der Junge darauf, in die Armee einzutreten. Ich dachte, wenn er erst von der Gesellschaft loskäme, die so schlechten Einfluss auf ihn ausübte, dürfe man hoffen, dass er doch noch respektabel würde, und so habe ich ihm ein Offizierspatent gekauft. Sogleich hieß es, ich schmiede Pläne, ihn zu beerben, und habe diesen Weg gewählt, um sein Leben zu verkürzen. Es war für meinen guten Ruf von Vorteil, dass eine Menge Formalitäten zu erledigen waren, bevor er zum aktiven Dienst berufen wurde. Mittlerweile wurde er großjährig, und so war ich meine Verantwortung los.»
«Ich wundere mich nur, dass Sie nicht Ihre Hände ganz von ihm abgezogen haben!»
«In gewissem Ausmaß tat ich das auch, aber seine Auffassung unserer Verwandtschaft führte ihn zu der Überzeugung, dass er nicht nur berechtigt sei, sich bei Geldtransaktionen auf meine Bürgschaft zu berufen, sondern sogar meinen Namen unter verschiedene Schuldverschreibungen zu setzen; dadurch wurde es einigermaßen schwer, seine Existenz zu übersehen.»
Sie war ehrlich empört. «Und da machen seine Verwandten väterlicherseits Ihnen noch Vorwürfe! Das ist doch wirklich zu arg.»
«Ja, es geht einem allmählich ein wenig auf die Nerven. Ich mache mir selbst Vorwürfe, dass ich ihren Verdächtigungen Vorschub geleistet habe, indem ich einmal eine Hypothek auf einen Teil seines fideikommissrechtlich nicht festgelegten Gutsbesitzes gab. Ich meinte es gut, aber ich hätte gescheiter sein sollen. Wenn er jetzt stürbe, und dieses Gut hier käme in meine Hände, dann würde es in gewissen Kreisen selbstverständlich heißen, ich hätte ihn geradezu ermutigt, all diese Exzesse zu begehen, die zu seinem frühen Ende führen mussten, und hätte ihn sogar durch irgendwelche Tricks daran gehindert, zu heiraten.»
«Ich sehe ein, dass Ihre Lage unangenehm ist», sagte sie, «aber ich bin doch überzeugt, dass Ihre eigene Familie und Ihre Freunde solcher Verleumdung kein Gehör schenken würden.»
«Bestimmt nicht.»
«Also sollten Sie gar nicht darauf achten.»
«Nein, das sollte ich wohl nicht – wenn ich dabei nur an mich selbst zu denken hätte. Doch derlei Gerüchte können verhängnisvoll werden. Sie könnten zum Beispiel meinem Bruder John peinlich werden, und es ist gewiss nicht mein Wunsch, ihm, wenn auch noch so schuldlos, Knüppel vor die Füße zu werfen. Und gar Nicky – nein, Nicky könnte es gar nicht ertragen, dass ich vor seinen Ohren verunglimpft werde!» Er unterbrach sich, als käme ihm erst jetzt zu Bewusstsein, dass er doch mit einer Fremden sprach, und schloss unvermittelt: «Der einfachste Weg, all diesem Unfug ein Ende zu setzen, ist der, meinem Vetter eine Frau zu besorgen, und dazu bin ich, wie Sie sehen, entschlossen.»
«Ganz verstehe ich Sie nicht, Sir! Wenn Ihr Vetter, wie Sie sagen, gegen Sie eingenommen ist, warum sieht er sich da nicht selbst nach einer Frau um? Es kann doch nicht sein Wunsch sein, dass Sie seinen Besitz erben!»
«Keineswegs ist das sein Wunsch. Doch alle Vorstellungen seines Arztes vermochten ihn nicht zu überzeugen, dass sein Leben keine Guinee mehr wert ist. Er glaubt noch Zeit zu haben, und so schiebt er den Moment, in dem er sich mit einer Frau belastet, hinaus.»
«Wenn dem so ist, wie glauben Sie dann, ihn dazu bewegen zu können, sich mit einer unbekannten Frauensperson zu vermählen, die Sie, wie ich jetzt verstehe, durch Zeitungsinserate beschafft haben? Das ist doch widersinnig!»
«Ich habe mich bereit erklärt, seine aktuellen Schulden zu übernehmen, wenn er heiratet.»
Sie sah ihn mit schlauem Zwinkern an: «Da übernimmt er, auf der einen Seite entlastet, auf der andern Seite die Last einer Ehe. Oder haben Sie auch gleich dafür vorgesorgt, dass die bedauernswerte Frauensperson sichergestellt ist?»
«Natürlich», sagte er sachlich. «Ich habe in keiner Weise angedeutet, dass diese Heirat mehr als eine Formsache sein sollte. Und wirklich möchte ich keiner Frau zumuten, mit meinem Vetter zu leben.»
Sie zog die Brauen hoch und sagte leicht errötend: «Damit kann doch Ihrer Absicht nicht gedient sein? Verzeihen Sie, aber Sie haben das wohl nicht bedacht, Sir! Um Sie von der Erbschaft auszuschließen, muss da nicht ein Erbe da sein?»
«Nein, das ist unwesentlich. Die Vermächtnisbestimmungen sind überaus verzwickt. Mein Vetter erbte den Besitz durch seine Mutter von seinem und meinem Großvater, aber die Heirat seiner Mutter mit Lionel Cheviot hatte meinem Großvater so missfallen, dass er allerlei Klauseln ausdachte, damit das Vermögen nie in Lionels Hände oder in die der Familie Cheviot fiele. Zu diesem Zweck vermachte er es seinem Enkel, mit der Vorbehaltsklausel, alles müsse, falls Eustace unverheiratet stürbe, an die jüngere Tochter meines Großvaters, beziehungsweise an deren ältesten Sohn fallen; und das bin ich.»
«Das Vermögen ist fideikommissrechtlich gesichert, nehme ich an.»
«Nein, ein eigentliches Fideikommiss ist es nicht, an dem Tage, an dem Eustace heiratet, kann er nach Belieben über den Besitz verfügen. Es ist eine ungeschickte Verfügung, und ich habe mich oft gefragt, was für eine Grille sich da in meines Großvaters Kopf eingenistet haben mag. Er neigte zu verschrobenen Ansichten, war zum Beispiel felsenfest davon überzeugt, dass frühzeitiges Heiraten jungen Männern sehr zuträglich sei. Das mag ihm auch vorgeschwebt haben, als er diese testamentarischen Bestimmungen ausdachte. Genau weiß ich es nicht.» Er unterbrach sich, sagte dann nach einem kurzen Schweigen freundlich: «Sie müssen zugeben, werte Dame, dass der Plan, den ich da gerade verfolge, nicht ganz so phantastisch ist, wie er auf den ersten Blick scheinen mag.»
Darüber musste sie lächeln, sagte indessen: «Werden Sie aber eine Frau auftreiben, die sich bereitfindet, auf solche Weise zu heiraten? Ich möchte das doch ernstlich bezweifeln.»
«Ganz im Gegenteil, ich hoffe, es ist mir bereits gelungen», gab er zurück.
Sie schüttelte entschlossen den Kopf. «Keineswegs, Mylord, das ist es noch nicht, sofern Sie mich meinen. Ich könnte etwas dergleichen gar nicht in Erwägung ziehen.»
«Und warum könnten Sie das nicht?», fragte er.
Sie sah ihn flammend an. «Warum ich das nicht kann?», wiederholte sie.
«Ja, sagen Sie es mir doch!»
Sie sah sich außerstande, diesem Wunsch zu entsprechen, obwohl sie sich über ihre Gründe durchaus im Klaren war. Nach einem vergeblichen Versuch, diese Gründe in Worte zu kleiden, suchte sie ihr Heil in einer Ausflucht: «Es ist doch vollkommen klar, warum ich das niemals könnte!»
«Mir nicht.»
Offenbar war er nicht so leicht abzuspeisen. Miss Rochdale blickte ihn vorwurfsvoll an und sagte: «Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass es Ihnen an vernünftiger Einsicht fehlt.»
«Nein, ich bilde mir auch nicht ein, dass es keine Argumente gegen mich gibt. Jetzt erwarte ich von Ihnen, dass Sie mich überzeugen.»
Obwohl dies durchaus vernünftig war, stieg in Miss Rochdale doch ein ganz ungerechtfertigter Unwille auf. Kalt wehrte sie ab: «Auf einen solchen Versuch kann ich mich gar nicht einlassen. Sie können ja, wenn es Ihnen so gefällt, annehmen, dass ich immer noch genug Stolz habe, um vor einem solchen Kontrakt zurückzuschrecken.»
«Was mir anzunehmen gefällt, ist hier ganz belanglos», erwiderte er geduldig. «Weitere Gründe haben Sie nicht?»
«Ja ... will sagen, nein! Sie müssen doch verstehen, dass ich einfach nicht aussprechen kann, was ich jetzt fühle! Alles feinere Empfinden muss durch das bloße Ansinnen verletzt werden!»
«Sie sind verlobt?», fragte er.
«Nein, das bin ich nicht.»
«Aber vielleicht rechnen Sie damit, es bald zu sein?»
«Ich erwähnte bereits, dass ich sechsundzwanzig Jahre alt bin», wehrte Miss Rochdale ab. «Es ist also höchst unwahrscheinlich, dass ich mich noch jemals verlobe.»
«Wenn dem so ist», erwiderte er sachlich, «dann wäre es für Sie keineswegs das Schlimmste, auf solch ein Abkommen mit mir einzugehen.» Es entging ihm nicht, dass ihre Wangen sich röteten, und so lächelte er verständnisvoll: «Nein, suchen Sie mir nicht gleich wieder zu entkommen! Überlegen Sie doch einen Moment! Was Sie vor sich haben, ist ein Leben der Demütigung und der Sklavendienste. Ich kenne Sie nicht, weiß nicht einmal Ihren Namen, aber es war mir sofort klar, auf den ersten Blick, dass Sie nicht geboren sind, die Stellung anzunehmen, die Ihnen jetzt bestimmt ist. Wenn Sie also keine Aussicht haben, eine annehmbare Verbindung einzugehen, was erwarten Sie sich von Ihrer Zukunft? Gewiss sind Ihnen die Misslichkeiten Ihrer Lage klar genug, ich brauche sie Ihnen nicht zu erklären. Wenn Sie aber meinen Vetter heiraten, dann wiegen die Vorteile einer solchen Verbindung, das müssen Sie zugeben, die Unannehmlichkeiten wohl auf, die ich, Sie mögen dessen versichert sein, so klar sehe wie Sie. Sein Charakter ist unselig, aber seine Herkunft ist gut: Als Mrs. Cheviot, obendrein in annehmbaren Vermögensverhältnissen, können Sie sich überall in Respekt setzen. Und Sie brauchen nicht mehr zu tun, als meinem Vetter in der Kirche die Hand zu reichen, ich verbürge mich dafür, dass er Sie nachher nicht belästigen wird. Sie verbringen Ihr weiteres Leben in behaglichem Wohlstand; ja, Sie können sogar ein zweites Mal heiraten, denn ich meine es durchaus ernst, wenn ich Ihnen sage, dass mein Vetter bei seiner jetzigen Lebensweise nicht lang weitermachen wird. Überlegen Sie sich das alles nüchtern und sachlich, bevor Sie mir antworten!»
Schweigend hatte sie ihm zugehört, hatte erst seinem Blick standgehalten, dann aber die Augen niedergeschlagen und ihre im Schoß gefalteten Hände betrachtet. Es war unmöglich, bei seinen Worten gleichgültig zu bleiben. Kaum jemals war sie einem Mitmenschen begegnet, der alle Misslichkeiten ihrer Lage so ganz verstand. Die meisten Leute, deren flüchtige Bekanntschaft sie machte, schienen der Ansicht zu sein, eine Gouvernantenstelle sei immerhin gesellschaftlich herausgehoben genug, um annehmbar zu sein. Doch dieser fremde Mann mit seinen etwas harten Augen und seiner verwirrenden Sachlichkeit nannte das Leben, das sie führen musste, beim Namen, nannte es Sklavendienst. Er hatte dabei weder in Miene noch im Tonfall auch nur eine Andeutung von Mitleid gehabt, aber er hatte die Wahrheit gesagt, und wer solch ein Leben führte, wusste, dass es die Wahrheit war.
So konnte sie nur hoffen, dass er feinfühlig genug war, nicht weiter in sie zu dringen, ja dass es ihm widerstrebte, ihre Bedenken zu überwinden. Dass die Versuchung da war, ließ sich nicht abstreiten. Die Zukunft lag ungewiss vor ihr, und hier wurde ihr, bloß dafür, dass sie nominell auf eine Ehe einging, Sicherheit geboten, vielleicht sogar hinreichender Wohlstand, um wieder einigermaßen angenehm, ja vielleicht sogar luxuriös zu leben. Es kostete schon einen Kampf, in solcher Ablehnung hart zu bleiben; sie musste eine oder zwei Minuten verstreichen lassen, bevor sie ihrer sicher genug war, um seinem Blick zu begegnen. Sie versuchte zu lächeln; es war ein armseliges Unternehmen. Doch schüttelte sie den Kopf. «Ich kann nicht. Dringen Sie nicht weiter in mich, bitte, mein Entschluss ist gefasst.»
Er verneigte sich kurz. «Wie Sie wünschen.»
«Sie müssen doch verstehen, dass ich es einfach nicht kann, Sir.»
«Sie haben mich gebeten, nicht weiter in Sie zu dringen, also werde ich es auch nicht tun. Man wird Sie morgen zu jeder von Ihnen gewünschten Tagesstunde nach Five Mile Ash bringen.»
«Sie sind sehr gütig», antwortete sie dankbar. «Hoffentlich weist Mrs. Macclesfield mir nicht gleich die Tür! Wahrscheinlich täte sie es, wenn sie die Wahrheit wüsste!»
«Es bleibt Ihnen genug Zeit, sich eine annehmbare Erklärung auszudenken. Trinken Sie jetzt Ihren Tee! Wenn Sie damit fertig sind, bringe ich Sie in den erwähnten Gasthof und sorge dafür, dass Sie dort gut untergebracht sind.»
Sie dankte ihm bescheiden und nahm die Tasse auf. Es tat ihr wohl, dass er über ihre Ablehnung, auf seine Pläne einzugehen, nicht ärgerlich, ja nicht einmal enttäuscht schien. So glaubte sie hinzufügen zu müssen: «Es tut mir leid, Ihnen lästig zu fallen, Mylord.»
«Ich wüsste nicht, warum Sie mir lästig fallen sollten.» Er zog die Schnupftabakdose aus der Tasche und ließ sie aufspringen. «Sie sind mir gegenüber immer noch im Vorteil», bemerkte er. «Darf ich Ihren Namen wissen?»
«Mein Name ist Rochdale», antwortete sie nach einem kurzen Zögern. «Elinor Rochdale.»
Seine Hand stockte über der offenen Dose; er blickte auf, wiederholte dann tonlos: «Rochdale.»
Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Herausfordernd fügte sie hinzu: «Auf Feldenhall.»
Er nickte, es war eine Geste gleichmütiger Höflichkeit, aber ihr war jetzt völlig klar, dass er Bescheid wusste. Sie sah ihm zu, während er seine Prise nahm, und sagte dann unvermittelt: «Doch, Sie irren nicht. Ich bin die Tochter eines Mannes, der durch unglückliche Spekulationen und Verluste am Spieltisch um sein Vermögen kam und sich erschoss.»
Wenn sie erwartet hatte, dass er Verlegenheit zeigen werde, wurde sie enttäuscht. Er verstaute gelassen die Tabakdose in seiner Tasche und bemerkte bloß: «Ich hätte nicht angenommen, dass eine Miss Rochdale auf Feldenhall Gouvernantendienst nehmen muss, welche Missgeschicke immer ihren Vater getroffen haben mögen.»
«Sir, ich besitze auf dieser Welt keinen Groschen, den ich nicht selbst verdient habe», sagte sie herb.
«Das glaube ich Ihnen gern, aber ich könnte mir vorstellen, dass Sie Verwandte haben.»
«Auch darin haben Sie recht! Aber ich bin einmal ein komisches Geschöpf: Wenn ich schon das Sklavenleben führen muss, das Sie selbst so bezeichnet haben, dann lasse ich mich für meine Plackerei gern auch bezahlen.»
«Sie sind also mit Ihren Verwandten nicht sehr glücklich», stellte er fest.
«Nun», erwiderte sie offenherzig, «ich kann ihnen, alles in allem, keinen Vorwurf daraus machen. Es ist gewiss kein Vergnügen, sich ein mittelloses Frauenzimmer aufzuhalsen. Noch dazu, wenn auf ihrem Namen ein Makel ruht. Sie wissen selbst davon zu sagen, was es bedeutet, wenn man ins Gerede kommt; demnach müssen Sie auch verstehen, warum ich Verwandte oder Freunde nicht in Verlegenheit bringen will. Sie werden jetzt sagen, dass ich mich ja unter anderem Namen unterbringen könnte! Nun, vielleicht hätte ich das getan, wenn ich nicht zu stolz wäre.»
«Es fiele mir gar nicht ein, so etwas zu sagen», erwiderte er ruhig. «Immerhin gebe ich zu, dass Sie über viel Stolz verfügen – auch über einigen falschen.»
«Falschen!», rief sie betroffen.
«Gewiss. Und der hat Sie bewogen, die Folgen des Todes Ihres Vaters zu überschätzen.»
«Sie kennen ja die Umstände nicht, die dazu geführt haben», sagte sie leise.
«Ganz im Gegenteil, aber erst jetzt erfahre ich, dass Sie etwas damit zu tun hatten.»
«Darin haben Sie vielleicht recht, mag sein, dass ich das Demütigende zu sehr auf mich bezogen habe. Nun, meine ersten Erfahrungen, die ich mit dem harten Urteil der Welt gemacht habe, waren eben schmerzlich. Sie mögen wissen, dass ich zur Zeit, da mein Vater starb, mit einem Herrn von Stand verlobt war, der ... nun, er hat sichtlich aufgeatmet, als ich ihn von seinen Verpflichtungen entband.» Sie warf den Kopf zurück, schloss: «Nicht, dass ich mir das Geringste daraus gemacht hätte, das dürfen Sie mir glauben.»
Er blieb ungerührt. «Warum hätten Sie auch sollen?»
Eine Mitleidsbekundung hätte sie gedemütigt, trotzdem, gegen allen Verstand, verletzte sie die Gefühllosigkeit seiner Antwort, und sie sagte scharf: «Nun, angenehm ist es jedenfalls nicht, den Abschied zu bekommen.»
«Zweifellos, aber die Einsicht, dass Sie eine üble Bindung los waren, muss Ihren Kummer doch bald gelindert haben, stelle ich mir vor.»
Gegen ihren Willen blitzte es in ihren Augen. «Ich weiß zwar nicht im Entferntesten, Mylord, warum Ihre so überaus vernünftigen Bemerkungen mich erbittern, aber sie tun es! Es wäre wohl besser, Sie brächten mich zu diesem Ihrem anständigen Gasthof, bevor ich mich vergesse und Ihnen in einer Tonart antworte, die mir Ihrem Rang gegenüber nicht zukommt.»
Er lächelte. «Es tut mir leid, wenn ich Sie verletzt habe, Miss Rochdale. Aber ich sehe nicht ein, warum eine Bekundung meines Mitgefühls Ihnen angenehm oder auch nur erträglich sein sollte.»
Sie begann ihre Handschuhe überzustreifen. «Wie hassenswert ist doch diese Ihre Art, immer genau das Richtige zu sagen! Kommen sich Ihre Freunde nicht, wenn Sie mit Ihnen zusammen sind, immer völlig albern vor?»
«Da ich glücklicherweise viele gute Freunde habe, verhält es sich offenbar nicht so», sagte er.
Sie lachte und stand auf. Gerade in diesem Augenblick wurde heftig geschellt, als ob jemand dringend Einlass begehre. Erschrocken wandte sie ihren fragenden Blick auf Carlyon. Auch er war aufgestanden und sagte, während er zur Tür ging: «Das ist zweifellos mein Vetter. Sie möchten ihm wohl nicht gern begegnen. Nun, keine Sorge! Ich lasse ihn nicht hier herein.»
«Schließlich ist das sein eigenes Haus», sagte sie belustigt. «Und er wird mich ja wohl nicht beißen.»
«Das kaum, aber vermutlich ist er betrunken, und es wäre mir unlieb, wenn Sie zu allen erduldeten Peinlichkeiten noch eine auf sich nehmen müssten.»
Der Diener musste dem Tor näher gewesen sein, als sie annahm. Denn bevor Carlyon die Tür erreicht hatte, wurden in der Halle Stimmen laut, hastige Schritte, und ein schlanker, hochgewachsener junger Mann kam hereingestürmt, rief sichtlich aufatmend: «Ach, Gott sei Dank, dass du da bist, Ned! Ich war schon fast zu Hause, als Hitchin mir sagte, dass du hierhergefahren wärst. Ich sitze nämlich verdammt in der Patsche! Weiß wirklich nicht, was ich tun soll, und da dachte ich, ich wende mich am besten gleich an dich, auch wenn du gar nicht von mir entzückt bist!»
Ein Blick auf diesen blonden, frischen, blauäugigen Jungen und seine sonnverbrannten Wangen hatte genügt, Miss Rochdale zu überzeugen, dass er keinesfalls Carlyons verlebter Vetter sei. Ein zweiter Blick war nötig, um sie eine nicht näher bestimmbare Ähnlichkeit mit Carlyon entdecken zu lassen. Der junge Mensch war sichtlich in höchster Erregung und sah mehr als verstört aus. Immerhin kannte sie Carlyon jetzt, so kurz ihre Bekanntschaft auch währte, genug, um über die dämpfende Antwort nicht überrascht zu sein, mit der er den aufgeregten jungen Mann beschwichtigte.
«Gewiss war es das Gescheiteste, was du tun konntest», sagte er. «Ich kann nur gar nicht glauben, dass ein Anlass zu solcher Aufregung vorliegt, Nicky. Was hast du denn angestellt?»
Der jüngere Bruder atmete tief auf und lächelte hilflos. «Ach, Ned, wenn man bei dir ist, da kommt einem gar nichts mehr hoffnungslos verzweifelt vor! Aber diesmal ist es wirklich grässlich! Es tut mir schrecklich leid, aber ich habe Eustace Cheviot umgebracht.»
Betretenes Schweigen senkte sich auf den Raum herab. Carlyon stand reglos, starrte unter zusammengezogenen Brauen hervor den Bruder an. Nicky erwiderte seinen Blick flehentlich, aber nicht hoffnungslos. Irgendwie erinnerte er Miss Rochdale an ein junges Hündchen, das den Pantoffel seines Herrchens zerbissen hat und nun doch ein wenig zweifelt, ob es dafür gelobt werden wird.
Es war Carlyon, der das Schweigen zuerst brach. «Das ist denn doch des Teufels», sagte er gedehnt.
«Ja», erwiderte Nicky. «Und ich habe mir ja gleich gedacht, dass es dir nicht recht sein wird, Ned, aber ich hab es ja gar nicht absichtlich getan! Siehst du, es war ... nun ja, du weißt doch, wie er –»
«Einen Augenblick, Nicky! Erzähl mir das richtig von Anfang an! Was hast du eigentlich in Sussex zu suchen?»
«Oh, die haben mich heimgeschickt, bis nach den Ferien von der Schule verwiesen!», erklärte Nicky. «Ich war auf dem Weg nach Hause, und da –»
«Warum verwiesen?», unterbrach ihn Carlyon.
«Ach, es war weiter nichts Schlimmes, Ned. Verstehst du, es war wegen des Tanzbären.»
«Oh! Ich verstehe.»
Nicky schmunzelte ihm zu. «Hab ich doch gleich gewusst, dass du es verstehen würdest! Keighley war mit mir – wollten uns bloß einen Spaß machen, nicht wahr? Und als ich dann den Bären sah – war doch klar, ich musste ihn mir einfach ausleihen, Ned.»
«Leuchtet ein», sagte Carlyon trocken.
«Der Haarbeutel hat nachher gefunden, ich hätte ihn gestohlen, aber das ist doch Unsinn! Als ob ich so was täte! War über die Beschuldigung außer mir, das kann ich dir sagen! Nun, ich nehm’s ihm ja nicht übel, dass er mich wie einen Beutelschneider und Taschendieb verdonnert hat, weil ich das Biest losgelassen habe, dass es zwei von unseren Bonzen auf einen Baum hinaufgetrieben hat – du hättest es sehen sollen, Ned! Hast in deinem ganzen Leben nichts Grandioseres gesehen!»
«Glaub’s wohl, aber ich hab’s ja nicht gesehen.»
«Leider, du hättest dich totgelacht. Na ja, so war das, und ich hab ja auch damit gerechnet, dass ich Bußgeld würde zahlen müssen, hätte mir nichts ausgemacht. Aber wie dann der Dean darauf herumgeritten ist, ich hätte den Bären gestohlen, obwohl ich ihm doch gesagt habe, ich hätte ihn mir nur ausgeborgt ... na, da hab ich losgelegt, habe gesagt, ich hätte es nicht nötig, Bären zu stehlen, denn wenn du wüsstest, dass ich mir einen wünsche, würdest du mir bestimmt einen schenken ...»
«Es ist das Letzte, was ich dir schenken würde.»
«Gut, ich will ja gar keinen; wüsste nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Aber das kann ich dir sagen, dieser Einwurf von mir hat ihn erst recht wütend gemacht, und das Ergebnis ist, dass ich für die Zeit bis nach den Ferien von der Schule verwiesen worden bin. Und dabei glaube ich gar nicht, dass der Haarbeutel wirklich zornig war, verstehst du, denn erstens einmal mag er den einen von den Bonzen, die der Bär auf den Baum getrieben hat, gar nicht, und dann will ich dir sagen, er hat so auf eine Weise gezwinkert, das hab ich genau gesehen. Er ist nämlich eine Mordskanone, der Haarbeutel, unser Dean!»
«Schön, und was geschah dann?»
«Ja, dann musste ich natürlich heimfahren! Keighley brachte mich in seinem neuen Phaeton nach London. Also der hat das entzückendste Paar Traber, Ned! Sechzehn Meilen die Stunde als Durchschnitt, Prachttiere! Und –»
«Lass jetzt die Pferde aus dem Spiel! Ich möchte hören, wie die Sache weitergeht.»
«Ach ja, natürlich! Also von London musste ich mit der Postkutsche nach Wisborough Green –»
«Warum, um Himmels willen?»
«Geld auftreiben! Um dir die Wahrheit zu sagen, ich hatte, nachdem der Fahrlohn bezahlt war, kaum noch ein paar Halbshillinge in der Tasche.»
«Das glaub ich dir aufs Wort, aber warum bist du nicht in die Mount Street gegangen?»
«Wäre ich ja, aber ich dachte, wahrscheinlich wäre John da, und du weißt doch, wie der ist, Ned! Hätte mir wieder eine endlose Predigt gehalten, und weißt du, ich mache mir gar nichts daraus, wenn du mich vornimmst, aber John, der soll mir nicht predigen, der ist schließlich nicht mein Vormund, da werde ich nur wild!»
«Du hast Pech gehabt. John ist auf dem Gut.»
«Ja, jetzt weiß ich das, Hitchin hat es mir gesagt. Mir wäre lieber, er wäre nicht da, denn jetzt fühlt er sich natürlich verpflichtet, ein langes Gesicht zu machen und mir zu erklären, ich hätte das nicht tun dürfen. Als ob er es nicht selber auch getan hätte! Gewiss hätte er es getan, denn so gern er jetzt predigt, er hat doch das Herz auf dem rechten Fleck, stimmt’s nicht, Ned?»
«Ja. Und was ist das, was er auch getan hätte?»