Äquidistanz - Durs Grünbein - E-Book

Äquidistanz E-Book

Durs Grünbein

0,0
20,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Durch Geschichte und Gegenwart verfolgt Durs Grünbein in diesem neuen, seinem zwölften Gedichtband seinen Kurs des Poetisch-historischen Gedichts. Als Spurensicherung, Ortsbestimmung versteht der Dichter seine Streifzüge durch Zeiten und Räume, in denen er nicht nur Deutschland, sondern auch dem Gegenpol vieler Deutscher, Italien, und in beiden Ländern sich selbst begegnet.

Immer, hier wie dort, kreuzt Vergangenheit den Weg des Wanderers. Durch Mörderreviere führen seine Verse ebenso wie über Lichtungen, zu Tauchgängen im Mittelmeer wie auf gesamtdeutsche Sandpfade und betonierte Magistralen, zwischen Kiesgruben und Flakbunkern, entlang der Ost-West-Achse des unruhigen, wieder mit Kriegen konfrontierten Kontinents. Dass bei solchen Eindrücken der europäische Gedanke ins Spiel kommt – als Realität und Utopie –, wird niemanden wundern, der Grünbein auf seinen Wegen gefolgt ist. »Für alle Fälle kann Dichtung auch das sein: ein Gerät zum Einfangen der Zukunft.«

In seinen Versen verbindet sich die genaue Betrachtung kleiner Dinge mit der feinen Ironie eines Beobachters, dem gerade das unter den großen Themen oft Verschüttete am Herzen liegt. Mit wenigen Strichen ein Gedicht zu zeichnen, ist seine mit den Jahren gereifte Kunst.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titel

Durs Grünbein

Äquidistanz

Gedichte

Suhrkamp

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

Um Fehlermeldungen auf den Lesegeräten zu vermeiden werden inaktive Hyperlinks deaktiviert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagabbildung: Pixabay/Francesco Foti

eISBN 978-3-518-77392-5

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

I

Nicht der Specht

Spreekanal

Der expressionistische Film

Mörderrevier

Ost-West-Achse

Schlachtensee

Teufelsberg

Reflexion, tränenklar

Landwehrkanal, Schwarzfilm

Dreilinden

Die Kiesgrube

Kugellager

Schotteralarm

Ringbahn

Der Flakturm

Der Ort

In kalten Wasserarmen

Krumme Straße

Schwellen, Portale

Lobus frontalis

II

Postplatz, frühe dreißiger Jahre

Unter den Linden im Festschmuck

Palais am Zoo

Nordseebad Norderney, Sommer 1937

Hamburg, Überseebrücke 1938

Der 23. August 1939

Feldpost, Warschau

Strandbad Wannsee

Die Liebe im Dritten Reich

Flensburg, das Ende

Menschen, gestempelt

Flohmarkt

III

Schneerose

Landschaft in Schwingung

Fensterplatz, Großraumwagen

Berliner Osten

Autobahn durch die Stadt

Das Begräbnis der Ratte

Auch ich kam einmal ins nächste Dorf

Die preußische Nachtigall

Hiddensee

Ostbesucher 1:1

1962

Phantastische Räume

Fünfzig Winter und mehr

Messer im Hirn

Darstellung des Herzens

IV

Poesia metafisica

V

Regentaufe

Unbekannte Maler

Aus den Insektenkriegen

Pisolino

Die letzte im Archipel

Der Hummer

Gallert

Großer Sommertag

Papageien in Rom

Mezzogiorno

Skizze für eine Straßenpinie

Im Tempodrom

Römischer Bogen

Stazione Termini

Rom unter den Füßen

Der schmale Grat

VI

Die Insel, die es nicht gibt

VII

Asteriske

VIII

Hypothese

Erinnerung an Schweden

Im Mohnzimmer

Lady Godiva

Die Zündholzschachtel

Liegender Akt

Uccello

Der weiße Wald

Ja, so blau

Intervall

IX

Prähistorische Sommer

Brennessel, Taubnessel

Verfrühte Heimkehr

Unsichtbarwerden

Das Huhn

Orkus

Materialist

Große Messer, kleine Löffel

Die Keller

Loses Blatt

Aphoristiker

Lumière

Brest, Brest

Zirkus Marxismus

Quantenschaum

Zeichentheorie

Äquidistanz

Informationen zum Buch

I

Nicht der Specht

Es ist eine schmale Narbe am Fuß,

die sticht, wenn das Wetter umschlägt.

Es ist unterm Jochbein der kleine Krater,

der den Sturz aus der Kindheit markiert.

Es war die Luft im militärischen Sektor,

die schwer auf den Lungen lastete.

Es war nicht der Specht, der allein

einen ganzen Wald verhexen konnte

mit seinem kleinen Maschinengewehr.

Nicht die Stille in den Wartezimmern,

bis die Schwester einen beim Namen rief.

Nicht das Brüllen der Höhlenbewohner,

das in den Tunneln der Städte widerhallte.

Es ist das Muttermal im Genick, am Ende

der Wirbelsäule, mit ihm fing es an.

Spreekanal

Die Augen tränen vor Kälte. Unterm Eisregen blitzt

der Walzstahl Fluß zwischen gemauerten Ufern.

Alles ist eingeschmolzen: die Pappeln, Platanen,

Weiden, die ihre Angelruten ins Wasser tauchen.

Historische Wasser, aus vielerlei Zeiten legiert,

mit Toten gefüttert, Revolutionen, von Industrie satt.

Gleichgültig fließen sie an Lagerhallen, Fabrikruinen,

neuen Reihenhäusern vorbei von Schloß zu Schloß.

Sie fließen im Kreis, wie durch alle Haushalte Strom

fließt und die Großstadt erhellt. Modernes recycling:

Als wäre das Unbewußte ein Urstromtal.

Wer bin ich an dieser Stelle der Chronik? Ich gehe,

sehe das Ganze und bin doch nicht mit im Bild.

Ein Schwanenpaar treibt in der Rinne, die Hälse

abgeschnitten im Spiegel der Dämmerung.

Neujahrsabend, Heimkehr. Das Jahr hat begonnen.

Der expressionistische Film

Wir kamen im Dunkeln ans Ziel,

über die Avus. Das grüne Auge

des Funkturms blinkte, als wir

die Stadt vor uns liegen sahen.

Die breiten Straßen griffen alle

strahlenförmig auf eine Mitte zu,

Finger von Stummfilmmonstern,

die sich um eine Gurgel schließen.

Die Fahrt ging an Gruben vorbei,

frischen Baustellen, Häuserlücken,

in denen die Erde ausgeschachtet

wie Schlachtvieh am Haken glänzte.

Unter S-Bahn-Brücken thronten,

in Decken gehüllt, auf Matratzen,

Nachtgestalten aus allen Ländern

Europas, die Fürsten des Alkohols.

Zackige Schatten aus Hinterhöfen

kreuzten sich über Plakaten

für eine Retro mit Ufa-Filmen,

betitelt: Von Caligari zu Hitler.

Mörderrevier

»Die Mongolen sind an der Reihe,

bei uns zu campieren.«

André Breton, La révolution surréaliste, 1925

Gang durch die wiederbereinigte Stadt.

Am Morgen glänzen die Schaufenster

wie der Reichstag zur Sommerpause.

Auf den Straßen mehr Autos als Menschen.

Der Proletenbaum reicht in die Tiefe

mit rostigen Wurzeln. Bauzäune klappern

im Ostwind, der fließend russisch spricht.

Die Erinnerungen gehen wie Blinde umher.

Hier war es, hier, hier und hier, flüstern

die Stolpersteine vor jedem zwölften Haus.

Manchmal das dumpfe Gefühl, wir betreten

achtlos ein altes Mörderrevier.

Ost-West-Achse

Kalt glänzt das Gold in der Wintersonne.

Die Monumente glühen nicht mehr, wie damals

die Rohre der Flakgeschütze, der plumpen Panzer.

Die alte Hauptstadt des Terrors wälzt sich im Schlaf

von einer auf die andere Seite: Ost–West.

Ein großes Lauschohr schwebt in der Luft

über den Tiergarten-Bäumen, ein Trichter, in dem

die Echos der Sieges- und Liebesparaden verhallen.

Menschenleer liegt die Achse, in deren Fluchtpunkt

Krieg und Nachkrieg verschwanden, unheimlich,

das mehrfach gebrochene Rückgrat der Stadt.

Wie klein man sich vorkommt hier, erst recht

nach so vielen Jahrzehnten Lebenszeit an dem Ort,

wo die Toten den Lebenden die Leviten lesen.

Wo Perspektive alles ist und aus Erinnerungen

Jubiläen werden. Wo in der Ferne

die Häuser brummen, über den öligen Wassern

rauschend die Hochbahn passiert.

Schlachtensee

Unter dem blinden Silberspiegel in der Dämmerung

löst sich das Schwarz, sinkt zurück auf den Grund,

von dem herauf, für das manische Ohr hörbar,

ein versunkener Volksempfänger plärrt.

Von den Ufern her wächst in Blasen das Eis:

Ochsenaugen, ins Weiße verdreht bei der Schlachtung.

Eine Zunge schwebt über den Bäumen, blutrot

gerändert vom Schein der untergehenden Sonne.

Wege in den Morast, und der Waldboden bebt,

als reichte das U-Bahn-Netz bis unter den See.

Tiefer im Dickicht, heißt es, liegt einer der vielen

Bunkereingänge ins Reich der Legende.

Warum die Negativbilder todsicher wiederkehren,

sagt der Wald nicht. Sie haben den Krieg überdauert.

Eine Naturgeschichte der Wörter: Der Abstand

unter den Toten wird mit jedem Lebenden größer.

Teufelsberg

Vor grauem Himmelsgrund stehen, umwittert,

die zerborstenen Tannenwipfel,

wo sich früher die Kaltfront brach.

Verlassen der konspirative Wald,

Lauschohr ist abmontiert,

das Netzwerk im Trümmerberg schweigt.

Wind pfeift vom Plateau herab,

singt in den Technikruinen,

in Resten von Maschendrahtzaun.

Es ist vorbei. Bye, bye. Im Dornengestrüpp

hängen die toten Larven der Schmetterlinge.

Überall Zeichen, Signale der Tarnung,

die nur die Hunde noch irritieren.

Eichen mit weißgestrichenen Stämmen

markieren den Eintritt ins Schweigereich.

An Nebeltagen schwimmen die Kuppeln

der Radardome über dem Spinnwebwald

am alten Rand der westlichen Welt.

Das Antennenfeld wird nicht mehr bestellt.

Reflexion, tränenklar

Januar wieder. Der Kanal

windet sich durch die Nacht,

tiefschwarz und tiefblau,

eine frische Reptilienhaut.

Rosa, dein Rot ist verblaßt.

Sie hatten, sie hatten die Wahl

und haben den Brand entfacht

und riefen die Asche, das Grau.

Und rissen das Land entzwei

und wohnten sich ein im Verlust.

Leerstellen, wohin man sah ‌…

Dann war der Spuk vorbei.

Hier hab ich einmal – geweint,

als ein Zeitalter Abschied nahm.

Fuhr mit dem Auto rechts ran,

hörte den Nachruf. Ein Stein

fiel mir damals vom Herzen.

Ein Block, Eisenerz, Magnetit,

mit Rändern bis zum Polarkreis,

riß alles im Bröckeln mit.

Shell-Haus, verglaste Front,

in der noch ein Restlicht glimmt:

Schillernder Landwehrkanal,

enggeführt, schließlich verengt.