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Durch Geschichte und Gegenwart verfolgt Durs Grünbein in diesem neuen, seinem zwölften Gedichtband seinen Kurs des Poetisch-historischen Gedichts. Als Spurensicherung, Ortsbestimmung versteht der Dichter seine Streifzüge durch Zeiten und Räume, in denen er nicht nur Deutschland, sondern auch dem Gegenpol vieler Deutscher, Italien, und in beiden Ländern sich selbst begegnet.
Immer, hier wie dort, kreuzt Vergangenheit den Weg des Wanderers. Durch Mörderreviere führen seine Verse ebenso wie über Lichtungen, zu Tauchgängen im Mittelmeer wie auf gesamtdeutsche Sandpfade und betonierte Magistralen, zwischen Kiesgruben und Flakbunkern, entlang der Ost-West-Achse des unruhigen, wieder mit Kriegen konfrontierten Kontinents. Dass bei solchen Eindrücken der europäische Gedanke ins Spiel kommt – als Realität und Utopie –, wird niemanden wundern, der Grünbein auf seinen Wegen gefolgt ist. »Für alle Fälle kann Dichtung auch das sein: ein Gerät zum Einfangen der Zukunft.«
In seinen Versen verbindet sich die genaue Betrachtung kleiner Dinge mit der feinen Ironie eines Beobachters, dem gerade das unter den großen Themen oft Verschüttete am Herzen liegt. Mit wenigen Strichen ein Gedicht zu zeichnen, ist seine mit den Jahren gereifte Kunst.
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Durs Grünbein
Äquidistanz
Gedichte
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
Umschlagabbildung: Pixabay/Francesco Foti
eISBN 978-3-518-77392-5
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
I
Nicht der Specht
Spreekanal
Der expressionistische Film
Mörderrevier
Ost-West-Achse
Schlachtensee
Teufelsberg
Reflexion, tränenklar
Landwehrkanal, Schwarzfilm
Dreilinden
Die Kiesgrube
Kugellager
Schotteralarm
Ringbahn
Der Flakturm
Der Ort
In kalten Wasserarmen
Krumme Straße
Schwellen, Portale
Lobus frontalis
II
Postplatz, frühe dreißiger Jahre
Unter den Linden im Festschmuck
Palais am Zoo
Nordseebad Norderney, Sommer 1937
Hamburg, Überseebrücke 1938
Der 23. August 1939
Feldpost, Warschau
Strandbad Wannsee
Die Liebe im Dritten Reich
Flensburg, das Ende
Menschen, gestempelt
Flohmarkt
III
Schneerose
Landschaft in Schwingung
Fensterplatz, Großraumwagen
Berliner Osten
Autobahn durch die Stadt
Das Begräbnis der Ratte
Auch ich kam einmal ins nächste Dorf
Die preußische Nachtigall
Hiddensee
Ostbesucher 1:1
1962
Phantastische Räume
Fünfzig Winter und mehr
Messer im Hirn
Darstellung des Herzens
IV
Poesia metafisica
V
Regentaufe
Unbekannte Maler
Aus den Insektenkriegen
Pisolino
Die letzte im Archipel
Der Hummer
Gallert
Großer Sommertag
Papageien in Rom
Mezzogiorno
Skizze für eine Straßenpinie
Im Tempodrom
Römischer Bogen
Stazione Termini
Rom unter den Füßen
Der schmale Grat
VI
Die Insel, die es nicht gibt
VII
Asteriske
VIII
Hypothese
Erinnerung an Schweden
Im Mohnzimmer
Lady Godiva
Die Zündholzschachtel
Liegender Akt
Uccello
Der weiße Wald
Ja, so blau
Intervall
IX
Prähistorische Sommer
Brennessel, Taubnessel
Verfrühte Heimkehr
Unsichtbarwerden
Das Huhn
Orkus
Materialist
Große Messer, kleine Löffel
Die Keller
Loses Blatt
Aphoristiker
Lumière
Brest, Brest
Zirkus Marxismus
Quantenschaum
Zeichentheorie
Äquidistanz
Informationen zum Buch
Es ist eine schmale Narbe am Fuß,
die sticht, wenn das Wetter umschlägt.
Es ist unterm Jochbein der kleine Krater,
der den Sturz aus der Kindheit markiert.
Es war die Luft im militärischen Sektor,
die schwer auf den Lungen lastete.
Es war nicht der Specht, der allein
einen ganzen Wald verhexen konnte
mit seinem kleinen Maschinengewehr.
Nicht die Stille in den Wartezimmern,
bis die Schwester einen beim Namen rief.
Nicht das Brüllen der Höhlenbewohner,
das in den Tunneln der Städte widerhallte.
Es ist das Muttermal im Genick, am Ende
der Wirbelsäule, mit ihm fing es an.
Die Augen tränen vor Kälte. Unterm Eisregen blitzt
der Walzstahl Fluß zwischen gemauerten Ufern.
Alles ist eingeschmolzen: die Pappeln, Platanen,
Weiden, die ihre Angelruten ins Wasser tauchen.
Historische Wasser, aus vielerlei Zeiten legiert,
mit Toten gefüttert, Revolutionen, von Industrie satt.
Gleichgültig fließen sie an Lagerhallen, Fabrikruinen,
neuen Reihenhäusern vorbei von Schloß zu Schloß.
Sie fließen im Kreis, wie durch alle Haushalte Strom
fließt und die Großstadt erhellt. Modernes recycling:
Als wäre das Unbewußte ein Urstromtal.
Wer bin ich an dieser Stelle der Chronik? Ich gehe,
sehe das Ganze und bin doch nicht mit im Bild.
Ein Schwanenpaar treibt in der Rinne, die Hälse
abgeschnitten im Spiegel der Dämmerung.
Neujahrsabend, Heimkehr. Das Jahr hat begonnen.
Wir kamen im Dunkeln ans Ziel,
über die Avus. Das grüne Auge
des Funkturms blinkte, als wir
die Stadt vor uns liegen sahen.
Die breiten Straßen griffen alle
strahlenförmig auf eine Mitte zu,
Finger von Stummfilmmonstern,
die sich um eine Gurgel schließen.
Die Fahrt ging an Gruben vorbei,
frischen Baustellen, Häuserlücken,
in denen die Erde ausgeschachtet
wie Schlachtvieh am Haken glänzte.
Unter S-Bahn-Brücken thronten,
in Decken gehüllt, auf Matratzen,
Nachtgestalten aus allen Ländern
Europas, die Fürsten des Alkohols.
Zackige Schatten aus Hinterhöfen
kreuzten sich über Plakaten
für eine Retro mit Ufa-Filmen,
betitelt: Von Caligari zu Hitler.
»Die Mongolen sind an der Reihe,
bei uns zu campieren.«
André Breton, La révolution surréaliste, 1925
Gang durch die wiederbereinigte Stadt.
Am Morgen glänzen die Schaufenster
wie der Reichstag zur Sommerpause.
Auf den Straßen mehr Autos als Menschen.
Der Proletenbaum reicht in die Tiefe
mit rostigen Wurzeln. Bauzäune klappern
im Ostwind, der fließend russisch spricht.
Die Erinnerungen gehen wie Blinde umher.
Hier war es, hier, hier und hier, flüstern
die Stolpersteine vor jedem zwölften Haus.
Manchmal das dumpfe Gefühl, wir betreten
achtlos ein altes Mörderrevier.
Kalt glänzt das Gold in der Wintersonne.
Die Monumente glühen nicht mehr, wie damals
die Rohre der Flakgeschütze, der plumpen Panzer.
Die alte Hauptstadt des Terrors wälzt sich im Schlaf
von einer auf die andere Seite: Ost–West.
Ein großes Lauschohr schwebt in der Luft
über den Tiergarten-Bäumen, ein Trichter, in dem
die Echos der Sieges- und Liebesparaden verhallen.
Menschenleer liegt die Achse, in deren Fluchtpunkt
Krieg und Nachkrieg verschwanden, unheimlich,
das mehrfach gebrochene Rückgrat der Stadt.
Wie klein man sich vorkommt hier, erst recht
nach so vielen Jahrzehnten Lebenszeit an dem Ort,
wo die Toten den Lebenden die Leviten lesen.
Wo Perspektive alles ist und aus Erinnerungen
Jubiläen werden. Wo in der Ferne
die Häuser brummen, über den öligen Wassern
rauschend die Hochbahn passiert.
Unter dem blinden Silberspiegel in der Dämmerung
löst sich das Schwarz, sinkt zurück auf den Grund,
von dem herauf, für das manische Ohr hörbar,
ein versunkener Volksempfänger plärrt.
Von den Ufern her wächst in Blasen das Eis:
Ochsenaugen, ins Weiße verdreht bei der Schlachtung.
Eine Zunge schwebt über den Bäumen, blutrot
gerändert vom Schein der untergehenden Sonne.
Wege in den Morast, und der Waldboden bebt,
als reichte das U-Bahn-Netz bis unter den See.
Tiefer im Dickicht, heißt es, liegt einer der vielen
Bunkereingänge ins Reich der Legende.
Warum die Negativbilder todsicher wiederkehren,
sagt der Wald nicht. Sie haben den Krieg überdauert.
Eine Naturgeschichte der Wörter: Der Abstand
unter den Toten wird mit jedem Lebenden größer.
Vor grauem Himmelsgrund stehen, umwittert,
die zerborstenen Tannenwipfel,
wo sich früher die Kaltfront brach.
Verlassen der konspirative Wald,
Lauschohr ist abmontiert,
das Netzwerk im Trümmerberg schweigt.
Wind pfeift vom Plateau herab,
singt in den Technikruinen,
in Resten von Maschendrahtzaun.
Es ist vorbei. Bye, bye. Im Dornengestrüpp
hängen die toten Larven der Schmetterlinge.
Überall Zeichen, Signale der Tarnung,
die nur die Hunde noch irritieren.
Eichen mit weißgestrichenen Stämmen
markieren den Eintritt ins Schweigereich.
An Nebeltagen schwimmen die Kuppeln
der Radardome über dem Spinnwebwald
am alten Rand der westlichen Welt.
Das Antennenfeld wird nicht mehr bestellt.
Januar wieder. Der Kanal
windet sich durch die Nacht,
tiefschwarz und tiefblau,
eine frische Reptilienhaut.
Rosa, dein Rot ist verblaßt.
Sie hatten, sie hatten die Wahl
und haben den Brand entfacht
und riefen die Asche, das Grau.
Und rissen das Land entzwei
und wohnten sich ein im Verlust.
Leerstellen, wohin man sah …
Dann war der Spuk vorbei.
Hier hab ich einmal – geweint,
als ein Zeitalter Abschied nahm.
Fuhr mit dem Auto rechts ran,
hörte den Nachruf. Ein Stein
fiel mir damals vom Herzen.
Ein Block, Eisenerz, Magnetit,
mit Rändern bis zum Polarkreis,
riß alles im Bröckeln mit.
Shell-Haus, verglaste Front,
in der noch ein Restlicht glimmt:
Schillernder Landwehrkanal,
enggeführt, schließlich verengt.