Arkadien fällt - Kai Meyer - E-Book

Arkadien fällt E-Book

Kai Meyer

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Beschreibung

Rosa und Alessandro wollen ihre Gefühle füreinander nicht länger verbergen. Doch ihre Liebe bringt die Clans der Gestaltwandler gegen sie auf. Nach einer atemlosen Jagd durch die Weiten Siziliens erkennt Rosa, wer wirklich hinter dem Komplott gegen sie steckt: Der Hungrige Mann, der Herrscher aller Dynastien, ist zurückgekehrt – und die Welt der Arkadier wird niemals mehr sein wie zuvor. Die Arkadien-Trilogie Band 1: Arkadien erwacht Band 2: Arkadien brennt Band 3: Arkadien fällt

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Seitenzahl: 539

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Arkadien fällt

Band 3 der Arkadien-Trilogie

Kai Meyer

Copyright © Kai Meyer 2009

Copyright © dieser Ausgabe 2024 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlag- und Farbschnittdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-820-6

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Narben

Abschied

Die Halle der Heiligen

Harpyien

In den Bergen

Die Gaia

Hinterhalt

Die Löcher in der Menge

Das Geschenk

Hotel Paradiso

Das Gesetz des Schweigens

Die Schwestern

Brandung

Sigismondis

Einbruch

Arkadisches Erbe

Florindas Furcht

Im Tunnel

Stabat Mater

Hybriden

Zorn der Götter

Schlange und Panther

Das Konkordat

Köder

Sturm

Arachnid

Heiligtum

Scherbenmeer

Die Trennung

Trostlos

Sünder

Die Versuchung

Massaker

Gräberland

Die Basis

Ausgestopft

Zwillinge

Vater und Tochter

Nathaniel

Untergang

Königsgrab

Die Zeremonie

Ruinen

Lykaon

Kreta

Eines Tages

Drachenpost

Narben

Wären wir Narben, dann wären unsere Erinnerungen die Fäden, die uns zusammenhalten. Du kannst sie nicht zerschneiden. Wenn du das tust, dann reißt es dich entzwei.«

»Aber meine Erinnerungen tun so weh«, sagte sie. »Ich will vergessen. So vieles einfach vergessen.«

»Wie soll das gehen? Alles, was dir im Leben geschehen ist, geschieht auch heute noch. Was einmal begonnen hat, endet nicht. Da oben in deinem Kopf, da endet es nie.«

Abschied

Fundlings Beerdigung.

Zu heiß für einen Mittwoch im März, der Wind zu sandig, die Sonne zu grell. Das karamellfarbene Hügelland flirrte, als hätte sich die Prozession schwarzer Gestalten in eine Luftspiegelung verirrt.

Rosa versuchte die Umgebung auszublenden. Alle Empfindungen bis auf die Berührung von Alessandros Hand in ihrer. Er ging neben ihr über den Friedhof. Sie spürte seine Nähe in jeder Pore.

Zypressen waren die einzigen Bäume zwischen den Gräbern. Neben dem breiten Hauptweg erhoben sich die Gruftkapellen der reichen Großgrundbesitzer, Familien, die dieses Land einst wie Könige regiert hatten. Jetzt gehörte alles hier den Carnevares, ihre Gruft war die größte und prachtvollste. Das Tor stand weit offen.

Rosa und Alessandro gingen gleich hinter dem Sarg und seinen sechs stummen Trägern. Sie hatte ein schlichtes dunkles Kleid ausgewählt, das über ihren Hüftknochen spannte, weitmaschige Strumpfhosen und Schuhe mit flachem Absatz. Alessandros schwarzer Anzug ließ ihn älter aussehen, aber ihm standen Hemd und Krawatte besser als den meisten, die sie kannte. Vermutlich half es, dass jedes Stück maßgeschneidert war.

An der Spitze des kurzen Trauerzuges – außer ihnen nur einige Hausangestellte des Castello Carnevare, die Fundling von klein auf gekannt hatten – tauchte der Priester in den Schatten des Portals. Die Träger hoben den Sarg an goldenen Griffen in eine Maueröffnung. Fundling war kein gebürtiges Mitglied der Familie Carnevare, nur ein Findelkind von unbekannter Herkunft. Aber Alessandro hatte veranlasst, dass ihm die letzte Ehre erwiesen wurde wie einem leiblichen Bruder.

Mit Rosa und Alessandro betrat Iole die Grabkapelle. Sie hatte das sommerliche Weiß, das sie sonst so gern trug, gegen ein dunkles Kostüm eingetauscht. Iole war wunderlich, zu verschroben für ihre fünfzehn Jahre, aber sie wurde von Tag zu Tag hübscher. Ihr kurzes schwarzes Haar umrahmte ein grazil geschnittenes Gesicht, in dem riesige Augen wie Kohlestücke ruhten. Gedankenverloren zeichnete sie mit der Fußspitze ein kleines Herz in den Staub auf dem Marmorboden.

Der Priester begann seine Grabrede.

Seit Tagen wusste Rosa, dass dieser Augenblick kommen würde. Dieses Dastehen und Warten auf den Moment, an dem sich die Endgültigkeit der Ereignisse nicht mehr verleugnen ließ. Sie wollte wütend sein auf die Ärzte, die nicht erkannt hatten, dass Fundling aus dem Koma erwachen und die Kraft besitzen könnte, sich ohne Hilfe aus dem Bett zu ziehen. Auf die Krankenschwestern, die ihn nicht sorgfältig genug beobachtet hatten. Sogar auf die Männer, die ihn schließlich gefunden hatten, nicht weit von der Klinik entfernt, aber tief genug in einer Felsspalte, dass die Suche nach ihm ganze zwei Tage gedauert hatte.

Sie hätte jetzt gern mit Alessandro gesprochen. Mit einem Mal hatte sie Angst, ihn vielleicht niemals wieder hören zu können, weil doch alles so verdammt vergänglich war; war denn das hier nicht ein weiterer Beweis dafür? Erst vor kurzem hatte sie ihre Schwester Zoe verloren und ihre Tante Florinda. Und nun auch noch Fundling. Wer garantierte ihr, dass Alessandro nicht der Nächste war? Und sie standen hier und verschwendeten Zeit.

Der Priester sprach ein letztes Gebet vor dem Grab in der Mauer. Anschließend traten sie einzeln vor, um Abschied zu nehmen.

Rosa kam gleich nach Alessandro an die Reihe. Sie versuchte, sich an etwas zu erinnern, das sie mit Fundling verband, einen Moment, etwas Persönliches, das er zu ihr gesagt hatte.

Was ihr einfiel, war ausgerechnet das, was sie nie verstanden hatte: Hast du dich schon mal gefragt, wer in den Löchern in der Menge geht?

Warum dachte sie ausgerechnet jetzt daran? Weshalb nicht an sein Lächeln – hatte sie ihn überhaupt jemals lächeln sehen? – oder an seine traurigen braunen Augen?

Sie sind immer da. Unsichtbar um uns herum. Nur die Menge macht sie sichtbar.

Sie presste ihre Fingerspitzen an die Lippen und berührte das kühle Holz des Sargs. Es fühlte sich richtig an. Etwas unbeholfen, aber richtig.

Iole legte ein Foto von Sarcasmo, Fundlings schwarzem Mischlingshund, auf den Sargdeckel. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen und verließ mit Rosa und Alessandro die Kapelle. Rosa nahm sie nach kurzem Zögern in den Arm. Das Mädchen legte den Kopf an ihre Schulter. Der Stoff des schwarzen Kleides wurde unter Ioles Wange feucht und warm.

Alessandros Finger drückten Rosas Hand ein wenig fester. »Da drüben.« Er nickte nach links zu drei Gestalten hinüber, die weitab von allen anderen im Schatten einer Zypresse standen. »Sind die wahnsinnig geworden, hier aufzutauchen?«

Durch den Steinwald aus Grabkreuzen und Statuen sah Rosa eine kleine Frau, deren kurzes Haar kaum den Kragen ihres hellbraunen Mantels berührte. Auf ihrer Brust blitzte etwas. Rosa erinnerte sich an einen aufklappbaren Anhänger. Sie hatte die Richterin Quattrini nie ohne ihn gesehen.

Die Frau erwiderte ihren Blick über die Distanz. Ihre beiden Assistenten und Leibwächter, Antonio Festa und Stefania Moranelli, flankierten sie. Unter den offenen Lederjacken der beiden waren die Gurte ihrer Schulterhalfter zu erkennen.

»Was wollen die hier?« Feine schwarze Härchen wuchsen aus Alessandros Kragen am Hals hinauf.

»Sie beobachten nur.« Rosa hoffte, dass sie sich nicht irrte. Als sie Alessandro in die Pathologie begleitet hatte, um Fundlings Leichnam zu identifizieren, war es zu einem heftigen Streit zwischen ihm und der Richterin gekommen. Sie wisse doch genau, wie Fundling gestorben sei, hatte er Quattrini angefahren. Welchen Sinn habe es da gehabt, den Toten zu obduzieren? »Ihn zu zerfleddern wie ein gekochtes Huhn«, hatte er gesagt.

Unter dem Rand des Lakens, mit dem die Rechtsmediziner Fundling bedeckt hatten, war das obere Ende der Wunde zu sehen gewesen. Sie hatten seinen Brustkorb geöffnet und wieder zugenäht. Dabei lag doch auf der Hand, wie er gestorben war. Fundling hatte sich aus der Klinik geschleppt – wie ihm das nach fünfmonatigem Koma gelungen war, wusste niemand so genau – und war in die Felsspalte gestürzt. Dort hatten ihn ausgerechnet Polizisten gefunden.

Rosa hatte eine Weile dabei zugehört, wie Alessandro und die Richterin sich über den Toten hinweg angeschrien hatten, dann war sie wortlos gegangen. Er hatte sie auf dem Parkplatz eingeholt und war so in Rage gewesen, dass die Streiterei dort draußen weitergegangen war, ohne Quattrini. Rosa und er brüllten einander nicht an, das taten sie nie. Aber beide kannten den Tonfall des anderen gut genug, um zu wissen, wann aus einer Meinungsverschiedenheit ein ernstes Problem zu werden drohte.

Mittlerweile war die Auseinandersetzung vergessen. Aber dass Quattrini und ihre Assistenten ausgerechnet während Fundlings Trauerfeier auftauchten, schien er nicht hinnehmen zu wollen.

Als er sich anschickte, zu der Richterin hinüberzugehen, hielt Rosa ihn zurück. »Tu das nicht.«

»Ich bin der capo der Carnevares. Meine Leute erwarten von mir, dass ich mir das nicht bietenlasse.«

»Wenn du sie beeindrucken willst, setz von mir aus einen größeren Hut auf als sie. Aber lass dich nicht auf so einen Blödsinn ein.«

Iole baute sich vor den beiden auf. »Hört auf zu streiten, oder ich tue so, als ob ich in Ohnmacht falle. Vielleicht schreie ich auch ein bisschen.« Dunkle Bahnen aus verlaufener Wimperntusche trockneten auf ihren Wangen.

Rosa nahm sie in den Arm.

Alessandro wuschelte Iole mit einem leisen Seufzen durchs Haar, gab Rosa einen Kuss in den Nacken und ergriff wieder ihre Hand. »Machen wir, dass wir hier wegkommen.« Das Pantherfell zog sich wieder unter seine Kleidung zurück.

Wenig später erreichten sie das Friedhofstor. Mehrere Fahrzeuge parkten auf dem kleinen Vorplatz. Eine staubige Piste führte in Serpentinen den Hügel hinab. Aus dem Tal stieg der zarte Geruch von Lavendel auf.

Ein wenig abseits stand der Helikopter der Alcantaras; mit ihm war Iole von der Isola Luna eingeflogen worden. Auf dem öden Vulkaneiland im Tyrrhenischen Meer wohnte sie jetzt gemeinsam mit Rosa, ihrer Lehrerin Raffaela Falchi und der Juristin des Clans, Cristina di Santis. Die junge Anwältin hatte mit Elan die Arbeit des ermordeten Avvocato Trevini übernommen. Nach der Zerstörung des Palazzo Alcantara hätte Rosa aus dem gewaltigen Immobilienbesitz ihrer Familie alle möglichen Luxusvillen auswählen können, aber sie mochte die Insel. Außerdem war sie ein Geschenk von Alessandro. Er verbrachte dort viel Zeit mit ihr, sie sahen sich jetzt öfter als zuvor.

Rosa fasste Iole sanft an den Schultern. »Kommst du klar?«

Das Mädchen nickte. »Ich werde gar nicht mehr aufhören Sarcasmo zu knuddeln.«

Rosa gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Morgen bin ich wieder bei euch.«

Iole nickte, dann ging sie zum Hubschrauber hinüber. Der Pilot legte seine Zeitung beiseite und ließ den Motor an. Mit einem Winken verabschiedete er sich von Rosa.

Hand in Hand sahen Alessandro und sie zu, wie der Helikopter abhob und zu einem Punkt am wolkenlosen Himmel wurde. Aus dem Friedhofstor traten weitere Trauergäste. Die Richterin war noch nicht zu sehen. War sie mit ihren Assistenten durch einen Seitenausgang verschwunden?

»Ich hab Fundlings Zimmer durchsucht«, sagte Alessandro unvermittelt.

Während der Monate, die Fundling im Koma verbracht hatte, hatte Alessandro seine Sachen nicht angerührt. Fundlings Zimmer im Castello Carnevare war bis zuletzt verschlossen geblieben.

»Da war allerhand komisches Zeug. Ich hab’s dabei, in einem Karton im Kofferraum.« Sie hatten geplant, gleich nach der Beerdigung für einen Tag von der Bildfläche zu verschwinden, fort von allen Clans und Geschäften; vielleicht in ein Strandhotel im Südosten, auf einen gemeinsamen Tauchgang, ein Abendessen im Sonnenuntergang mit Meerblick und der vagen Ahnung von Afrika im Süden.

Langsam schlenderten sie hinüber zu ihren Wagen. Rosas anthrazitfarbener Maybach glänzte vor dem staubigen Hügelpanorama – den Maserati ihres Vaters rührte sie nicht mehr an, obwohl er wie alle Fahrzeuge der Alcantaras den Brand des Palazzo überstanden hatte.

Die Scheiben waren herabgelassen, weil niemand dumm genug war, das Auto eines Clanoberhaupts zu stehlen. Und falls jemand ihr mit Hilfe einer Autobombe einen vorzeitigen Abgang verschaffen wollte, würden ihn davon auch keine geschlossenen Fenster abhalten.

Ihr Blick fiel auf den Fahrersitz. Ein zerknüllter Zettel lag auf dem schwarzen Leder.

»Ist der von ihr?« Alessandros scharfes Ausatmen klang wie Raubtierfauchen.

Rosa nahm das Stück Papier aus dem Auto, schloss die Faust darum und ging hinter den Wagen, nutzte ihn als Sichtschutz vor den Menschen auf dem Vorplatz. Die meisten schienen es eilig zu haben, von hier zu verschwinden.

Sie glättete das Papier und überflog die wenigen Worte.

»Was will sie?«, fragte er, während sie den Zettel einsteckte.

»Sich mit uns treffen.«

»Kommt nicht in Frage.«

Sie schob herausfordernd das Kinn nach vorn. »Ist das ein Verbot?«

»Nur gesunder Menschenverstand.«

»Wenn sie persönlich hier auftaucht, muss es wichtig sein.« Er wollte ihr ins Wort fallen, aber sie legte einen Finger an seine Lippen. »Sie weiß etwas.«

»Deshalb ist sie Richterin. Sie weiß eine Menge über die Cosa Nostra.«

»Das meine ich nicht. Auf dem Zettel steht der Name eines Ortes und dass sie uns sprechen will. Und Arkadien. Mit einem Fragezeichen.«

Er starrte finster an ihr vorbei zum Friedhof.

»Sie hat das nicht von mir«, sagte Rosa.

»Das weiß ich.«

»Oder –« Sie verstummte und biss sich auf die Unterlippe.

»Was?«

»Der Hungrige Mann. Als ich bei ihm war, im Gefängnis … Es hieß, er wird nicht überwacht, auf Befehl von ganz oben. Aber vielleicht hat sie sich über die Anweisungen hinweggesetzt. Kann sein, dass sie mit angehört hat, worüber wir gesprochen haben.«

Alessandro rieb sich den Nasenrücken. Noch bevor er etwas erwidern konnte, fasste sie einen Entschluss:

»Ich rede mit ihr.«

»Nicht schon wieder.«

»Und du auch.«

Er schnaubte verächtlich.

»Sie weiß Bescheid«, flüsterte sie heftig. »Über uns, über die Dynastien. Willst du denn nicht hören, was sie zu sagen hat?«

Er ballte die Faust und schlug damit kurz und heftig auf das Wagendach. Leise stieß er eine eindrucksvolle Reihe von Flüchen aus.

»San Leo«, sagte sie. »Ist das ein Dorf? Sie will uns an der Kirche treffen.«

»Es gibt ein San Leo oben in den Monti Nebrodi. Das ist zwei Stunden von hier. Anderthalb, wenn wir uns beeilen.«

»Wer fährt?«

»Wer fährt schneller?«

Sie gab ihm einen Kuss, beugte sich noch einmal in den Wagen, zog ihren iPod aus der Halterung und schlängelte sich zurück ins Freie.

»Dein Wagen«, sagte sie. »Aber meine Musik.«

Die Halle der Heiligen

Sie hatten das Städtchen Cesarò lange hinter sich gelassen und folgten der kurvigen Straße höher hinauf in die Nebrodi-Berge, als Rosa sich wieder an Fundlings Sachen im Kofferraum erinnerte.

Keep The Streets Empty For Me von Fever Ray wummerte durch das Innere des schwarzen Porsche Cayenne. Die Bässe hätten gar nicht so tief sein müssen, um das sanfte Motorsurren zu übertönen.

I’m laying down, eating snow

My fur is hot, my tongue is cold.

Rosa regulierte die Lautstärke. »Was genau ist in dem Karton?«

Alessandro sah in den Rückspiegel, länger, als auf dieser einsamen Gebirgsstraße nötig gewesen wäre. Keiner war hinter ihnen.

»In all den Jahren hab ich Fundling nicht öfter als ein- oder zweimal mit einem Buch in der Hand gesehen«, sagte er. »Ich dachte immer, er liest nicht gern. Er hat viel an Autos rumgeschraubt, Dinge repariert … praktische Sachen eben. Ich hab geglaubt, jemand wie er interessiert sich nicht für Bücher.«

»Und jetzt hast du eine Bibliothek in seinem Zimmer gefunden?«

Er schüttelte den Kopf. »Da war eine Handvoll Bücher, aber das ist es nicht. Fundling hat Stapel von Katalogen gesammelt. Buchkataloge. Verzeichnisse von Antiquariaten in ganz Italien. Nicht diese Hochglanzprospekte von irgendwelchen Versandhändlern, sondern fotokopierte Preislisten, sogar ein paar handgeschriebene. Er muss Dutzende kleiner Geschäfte angeschrieben haben, damit sie ihm ihre Inventarlisten schicken.«

»Also hat er irgendwas gesucht. Ein ganz bestimmtes Buch. Oder mehrere.«

»Sieht so aus.«

»Weißt du, welches?«

»Keine Ahnung. Ich hab das meiste von seinem Kram zusammengepackt und mitgebracht. Ich dachte, wir könnten die Sachen in Ruhe zusammen durchgehen. Beim Durchblättern hab ich gesehen, dass er zig Titel angekreuzt hat, manche mehrfach eingekringelt. Vielleicht steckt irgendein System dahinter und wir finden raus, um welche Bücher es ihm besonders ging.«

»Keine Autobildbände oder so ’n Zeug?«

»Überhaupt nicht. Die paar Bücher, die rumlagen, hab ich mit eingepackt. Das sind Sachbücher über antike Katastrophen, der Untergang von Pompeji, das Ende von Sodom und Gomorrha.«

Ihre Blicke kreuzten sich, bevor er in der nächsten Haarnadelkurve wieder nach vorn schauen musste. »Atlantis?«, fragte sie.

Er zuckte die Achseln. »Ja, auch.«

»Du hast mir mal erzählt, dass Atlantis ein anderer Name für Arkadien war.«

»Ich hab gesagt, dass manche Leute das glauben. Beweise gibt es dafür nicht. Atlantis kann alles Mögliche gewesen sein. Keiner weiß wirklich was darüber. Und selbst wenn Arkadien und Atlantis ein und derselbe Ort waren, welche Rolle würde das heute noch spielen? Und warum sollte sich ausgerechnet jemand wie Fundling dafür interessieren? Er war nicht mal Arkadier.«

Sie war Fundling nur wenige Male begegnet. Sonderbar war er gewesen und sie hätte nicht zu sagen vermocht, warum sie ihn trotzdem anziehend fand. Er hatte nicht schlecht ausgesehen, auf eine dunkle, fast ein wenig orientalische Art; aber das war auf Sizilien mit seinen vielen nordafrikanischen Einwanderern nicht ungewöhnlich. Die Ursache für Fundlings besondere Ausstrahlung war es ganz sicher nicht gewesen.

Die Straße verlief entlang steiler Hänge, an deren Felsen sich Kastanienbäume und knorrige Steineichen klammerten. In den Tälern unter ihnen wuchsen Wälder aus Ahorn und Buchen. Immer wieder bogen trazzere, staubige Viehwege, von der befestigten Landstraße ab und verschwanden in Schluchten oder führten in Serpentinen zu abgelegenen Gehöften. Keine schöne Vorstellung, dort nach einem Unfall um Hilfe bitten zu müssen. Zu viele schlechte Filme.

»Du brauchst nicht so schnell zu fahren«, sagte sie, als er wieder einmal eine der engen Kurven schnitt. »Wir können sie ruhig warten lassen, falls sie vor uns dort sind.«

»Ich will das hinter mich bringen. Und dann nie wieder etwas mit Quattrini zu tun haben. Wenn eine der anderen Familien erfährt, dass wir uns mit ihr getroffen haben, sind wir tot.«

Natürlich, die omertà. Das Gesetz des Schweigens. Rosa konzentrierte sich auf einen willkürlichen Punkt in der Gebirgslandschaft. »Was soll’s. Sie wären nicht die Ersten, die es darauf anlegen.«

Er verlangsamte das Tempo auf einer kurzen Geraden. Rechts von ihnen fiel der Hang steil ab. Eine Leitplanke gab es nicht, nur kniehohe Steinblöcke im Abstand von einigen Metern. Weiter unten entdeckte Rosa eine illegale Müllkippe, eine von Tausenden auf ganz Sizilien. Wahrscheinlich entsorgten dort die Bergbauern ihre Abfälle, wenn wieder einmal keine Müllabfuhr in dieser Einöde auftauchte.

Alessandro brachte den Wagen zum Stehen und wandte sich zu ihr. »Wir bringen das hier gemeinsam zu Ende, okay? Quattrini kann mir gestohlen bleiben, aber wenn du glaubst, dass du mit ihr sprechen musst, dann bin ich bei dir.«

Sie lächelte. »Um mich davon abzuhalten, Dummheiten zu begehen?«

»Wenn du etwas tust, das andere für dumm halten, dann hast du wahrscheinlich einen guten Grund dafür.« Er beugte sich zu ihr herüber und küsste sie. Ihre Hand wanderte zu seinem Hinterkopf, grub sich in sein Haar. Sie spürte die Schlangenkälte in sich aufsteigen und bekam sie unter Kontrolle. Mittlerweile hatte sie die Metamorphosen gut im Griff. Keine ungewollten Verwandlungen mehr. Meistens jedenfalls.

Schließlich legte er wieder beide Hände ans Steuer und trat aufs Gas. Gleitend und nahezu lautlos setzte sich der Wagen in Bewegung.

Sie drückte einen Knopf an der Musikanlage. Das Lied begann von neuem. Adler kreisten um die Gipfel der Monti Nebrodi, auf der Jagd nach Futter für ihre Brut.

On a bed of spider web

I think of how to change myself.

Der Porsche Cayenne bog um eine weitere Kurve. Rosa schloss die Augen.

* * *

»Da drüben«, sagte Alessandro. »Das ist es.«

Beim Anblick dieser sattgrünen Berge vergaß sie beinahe die ockerfarbene Ödnis der Carnevare-Ländereien. Es war, als wollte Sizilien an diesem Ort beweisen, dass es so fruchtbar und üppig sein konnte wie jede andere Gegend Europas.

San Leo schmiegte sich an die zerklüfteten Felsen eines beeindruckenden Bergmassivs. Die Rückseiten der äußeren Häuser gingen in eine Steilwand über und verliehen der Ortschaft die Anmutung einer mittelalterlichen Burg.

Von einem gepflasterten Platz mit Steinbrunnen lenkte Alessandro den Cayenne in eine Gasse zwischen hohen Hauswänden. Kaum ein Mensch war zu sehen. An einigen Türen wehten Vorhänge aus bunten Plastikschnüren im Luftzug des vorüberfahrenden Wagens. Selbst die Holzbank vor der einzigen Bar des Ortes war leer; eigentlich hätten hier die alten Männer des Dorfes versammelt sein müssen.

Sie durchquerten das schattige Häusergewirr und verließen San Leo wieder. Nach ein paar Hundert Metern entdeckten sie die Kirche, die sich abseits der Ortschaft zwischen schroffen Felsen erhob. Die Zufahrt war gut ausgebaut. Dahinter gab es eine zweite, breitere Straße, die den nächsten Berghang hinabführte.

Auf dem Vorplatz war eine Tafel befestigt mit Informationen zur Heilwasserquelle, der die Kirche ihren Standort verdankte. Hinter dem Gotteshaus erhob sich eine Art Lagerhalle mit Rolltor.

Vor der Kirche parkte ein schwarzer BMW mit getönten Scheiben, eines der Dienstfahrzeuge der Richterin. Stefania Moranelli lehnte mit verschränkten Armen an der Karosserie und blickte ihnen entgegen. Sie war eine schmale junge Frau, sicher noch keine dreißig. Das lange schwarze Haar hatte sie an manchen Tagen zum Pferdeschwanz gebunden, heute aber floss es offen über ihre abgewetzte Lederjacke. Sie war auf herbe Weise attraktiv, mit ausgeprägten Wangenknochen und drahtigem Körperbau.

Die Richterin selbst und ihr zweiter Begleiter waren nirgends zu sehen.

»Deine Freundin hält sich jedenfalls an kein Tempolimit«, maulte Alessandro, als fühle er sich in seiner Ehre gekränkt, weil Quattrinis Leute ihn abgehängt hatten.

»Wenn sie sich auf Gesetze beruft, passt es dir nicht«, entgegnete Rosa lächelnd, »aber wenn sie sie bricht, ist es dir auch nicht recht.« Sie streichelte seine Hand und stieg aus. Er folgte ihr, schien es aber kurz darauf zu bereuen, als Stefania Moranelli ihre Waffe zog.

»Die Hände auf das Wagendach«, forderte sie.

»Na, toll«, sagte er, folgte aber der Aufforderung und verbrannte sich prompt die Handflächen an dem sonnenerhitzten Metall.

Rosa war ziemlich sicher, dass der Befehl nicht ihr galt, aber damit Alessandro sich nicht noch schlechter fühlte, streckte auch sie die Arme nach vorn und hielt die Hände über das Dach des Wagens. Die Leibwächterin klopfte Alessandro ab, bemerkte dann den Blick, den Rosa ihr zuwarf, und verstand. Sie kam herüber und unterzog auch Rosa einer flüchtigen Durchsuchung.

»Okay«, sagte sie schließlich.

»Danke«, flüsterte Rosa ihr mit halb abgewandtem Kopf zu, so dass Alessandro nicht sehen konnte, wie sich ihre Lippen bewegten.

Über Stefanias Gesicht huschte ein Lächeln. Sie deutete über den Vorplatz. »Die Richterin erwartet euch an der Quelle hinter der Kirche.«

Alessandro blickte düster zu den Gebäuden hinüber. »Warum ausgerechnet hier?«

»Sie kommt her, um zu beten. Einmal die Woche.«

»Um zu –« Er brach mit einem Kopfschütteln ab. Als er Rosa ansah, zuckte sie die Achseln. Sie hatte nicht gewusst, dass Quattrini so gläubig war. Ging sie ja auch nichts an, fand sie.

Stefania blieb bei den Fahrzeugen, während Rosa und Alessandro den stillen Vorplatz überquerten. Von den Felsen hinter der Kirche stieg mit einem empörten Kreischen ein Adler auf. Die Bergwinde heulten in Spalten und Klüften.

An der Rückseite der Kirche nahm Antonio Festa sie in Empfang. Er hatte das Haar millimeterkurz rasiert. Eine Narbe begann unterhalb seines linken Auges und setzte sich auf Höhe der Braue fort. Seine rechte Hand ruhte unter seiner Jacke am Schulterhalfter. Rosa grüßte ihn knapp, Alessandro schwieg. Der eisige Blick zwischen ihm und dem Leibwächter klärte die Fronten.

Hinter der Kirche befand sich ein zweiter Platz. Rechts wurde er durch die Mauer der Lagerhalle begrenzt, links durch das Gotteshaus; seine Stirnseite endete an einer Felswand. Aus einem Steinbecken in Brusthöhe plätscherte Bergquellwasser in ein größeres Becken am Boden. Davor kniete die Richterin, hatte die Hände gefaltet und den Blick gesenkt. Sie sprach ihr Gebet zu Ende, erhob sich und kam herüber. Alessandro reagierte kühl, aber höflich auf die Begrüßung. Rosa hoffte, dass es ihnen gelang, dieses Treffen zivilisiert über die Bühne zu bringen.

Quattrini wies ihren Leibwächter an, draußen zu warten, dann führte sie Rosa und Alessandro durch einen Seiteneingang ins Innere der Lagerhalle. Festa sah nicht glücklich darüber aus, dass seine Schutzbefohlene mit den beiden allein sein wollte. Aber er fügte sich ihrem Befehl, zog demonstrativ die Waffe und ging hinaus, um die Zufahrtswege im Auge zu behalten.

In der Halle roch es nach Sägespänen und Farbe. Unter Bahnen aus klarer Plastikfolie standen riesige Heiligenfiguren aus Holz und Pappmaché, aufgereiht wie eine schweigende Kompanie. Die meisten waren auf sänftenähnlichen Konstruktionen errichtet worden, manche bis zu drei Meter hoch, mit zum Himmel gewandtem Leidensblick und gefalteten Händen. Schon vom Eingang aus sah Rosa den gekreuzigten Heiland in mehrfacher Ausführung und vier Muttergottesfiguren, mal mit, mal ohne Kind; die meisten anderen erkannte sie nicht, vermutlich lokale Heilige, die die tiefgläubigen Menschen Siziliens während ihrer alljährlichen Mysterienprozessionen durch die Straßen trugen. Rosa hatte noch keinen dieser Festtage miterlebt, kannte sie nur aus Berichten im Fernsehen und aus Erzählungen. Tausende Menschen schoben sich dann im Gefolge der Statuen durch die geschmückten Gassen der Städte und Dörfer.

»Ziemlich eindrucksvoll, nicht wahr?« Quattrini führte die beiden tiefer in die Halle der Heiligen. »Hier werden die Prozessionsfiguren aller umliegenden Ortschaften aufbewahrt.«

»Warum in San Leo?«, fragte Rosa.

»Wegen der Quelle. Ihrem Wasser wird seit Jahrhunderten eine heilende Wirkung nachgesagt. Vor Jahren war der Papst persönlich in San Leo und hat den Ort und seine Kirche geweiht. Seitdem reißen sich alle Nachbargemeinden darum, ihre Figuren hier lagern zu dürfen. Dafür nehmen sie sogar die langen Transportwege durch die Berge in Kauf. Für den Ort ist das eine gute Einnahmemöglichkeit.«

»Hilft es denn?«, wollte Alessandro wissen.

»Was?«

»Das Wasser. Deswegen kommen Sie doch her. Sagen Sie nicht, Sie hätten es nicht schon ausprobiert.«

Falls sein Tonfall Quattrini ärgerte, ließ sie sich nichts anmerken. »Ein paar Tropfen Wasser allein sind nicht genug, um eine Seele vor dem Fegefeuer zu bewahren. Nicht meine, nicht deine.« Ihre Hand berührte den Anhänger auf ihrer Brust.

»Warum sind wir nun hier?« Rosa hatte keine Lust auf einen weiteren Streit der beiden. Die Szene im Leichenschauhaus war ihr lebhaft genug in Erinnerung. »Sie haben mein Gespräch im Gefängnis abgehört, oder? Falls der Hungrige Mann –«

»Ihr nennt ihn tatsächlich noch immer so.« Quattrini presste die Lippen aufeinander, vielleicht ein humorloses Schmunzeln. »Es hat schon Bosse mit weniger klangvollen Spitznamen gegeben. Was aber das Abhören angeht: Ich könnte kein Wort davon vor Gericht verwenden.« Sie blieb am Fuß einer Madonnenfigur stehen, die unter ihrem durchsichtigen Plastikschleier beinahe doppelt so groß war wie sie selbst. »Ein Dokument des Justizministers verbietet mir, derart hochkarätige Gefangene ohne seine persönliche Genehmigung zu überwachen. Für manche Herren in der Regierung steht einiges auf dem Spiel, wenn ein ehemaliger capo dei capi schmutzige Wäsche wäscht.«

Rosa konnte den Blick nicht von der riesenhaften Muttergottes abwenden. Irgendwo unter dem Hallendach gurrten Tauben. Flügel flatterten und schlugen gegen das Holzdach. »Sie haben es trotzdem getan.«

Die Richterin nickte. »Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, dass wir hier auf Sizilien ohne Unterstützung aus Rom auskommen müssen. Zu viele meiner Kollegen haben mit ihrem Leben für ihre Hörigkeit bezahlt. Ich bin noch nicht so weit. Ich habe der Cosa Nostra den Krieg erklärt, und die Waffen habt ihr gewählt.«

Alessandro verzog keine Miene. Von Kind an war ihm die Überzeugung eingeimpft worden, dass Richter wie Quattrini seine Todfeinde waren. Und Rosa verstand ihn. Stunde um Stunde im Polizeiverhör, das erste mit gerade mal zwölf – sie kannte das. Ihre Abneigung gegen all jene, die Gesetz und Moral für sich reklamierten, war kaum geringer als seine.

Und trotzdem mochte sie Quattrini. Die Richterin hatte sie mehrfach vor der Justiz beschützt. Im Austausch hatte Rosa ihr Unterlagen ihrer Tante zugespielt, den Menschenhandel ihrer Familie mit illegalen Einwanderern aus Afrika beendet und die Drogengeschäfte der Alcantaras unterbunden.

Quattrini ging langsam auf Alessandro zu, der ihr finster entgegensah. »Hast du Der Leopard gelesen, von Tomasi di Lampedusa?«

Er schüttelte den Kopf.

»Darin empfiehlt er allen jungen Männern, Sizilien spätestens mit siebzehn zu verlassen. Ihr Charakter werde sonst ein Opfer der ›sizilianischen Schwäche‹.« Sie blieb vor ihm stehen, einen guten Kopf kleiner als er. »Du bist als Siebzehnjähriger nach Sizilien zurückgekehrt. Was sagt das über dich aus? Und was muss noch geschehen, bis du begreifst, dass du die Mafia nicht beherrschen kannst? Rosa weiß das längst, ob sie es zugibt oder nicht. Willst du sie mitreißen, wenn du untergehst?«

Er wollte widersprechen, aber Quattrini gab ihm keine Chance und fuhr fort: »Ich habe Rosa mehr als einmal gebeten, mir Informationen über dich zu geben. Sie wäre lieber gestorben, als dich zu hintergehen. Aber was du tust, Alessandro, ist auch eine Art von Verrat. Man setzt einen Menschen, den man liebt, nicht solchen Risiken aus.«

Kurz sah es aus, als könnte er sich nicht beherrschen. Rosa war bereit, notfalls dazwischenzugehen. Unter seiner Haut rumorte es, während das Pantherfell darum kämpfte, an die Oberfläche zu gelangen. Manchmal war die Metamorphose zum Raubtier wie eine Explosion und nicht aufzuhalten. Aber Alessandro behielt sich in der Gewalt. Ein dünner Schweißfilm glänzte auf seiner Stirn, als er seine aufkochenden Emotionen niederkämpfte.

»Was wollen Sie von uns?«, fragte er leise. »Weshalb sollten wir herkommen?«

Aber Quattrini war noch nicht fertig, und allmählich fragte sich Rosa, ob sie sich getäuscht hatte. Ob das Wort Arkadien in ihrer Botschaft nicht nur ein Köder gewesen war, um ihnen ins Gewissen zu reden wie zwei widerspenstigen Kindern. Damit hatte sie nicht viel Erfahrung.

»Ihr seid ohne eure Väter aufgewachsen«, sagte die Richterin, »der eine tot, der andere viel zu beschäftigt damit, Verbrechen zu begehen, als dass er sich für seinen Sohn interessiert hätte. Wollt ihr, dass es euren Kindern genauso ergeht? Euren Enkeln? Schaut euch doch um in den Reihen der Clans. Wie viele Männer werden Großvater, bevor eine Kugel sie erwischt oder sie bis zu ihrem Lebensende hinter Gittern verschwinden? Wollt ihr bis zuletzt andere durch euer Schweigen schützen, nur um schließlich selbst von irgendwem ans Messer geliefert zu werden? Capi mögen eine Weile lang mächtig sein, aber sie haben ein großes Problem: Sie sind austauschbar. Was ist aus euren Vorgängern und Vorgängerinnen geworden? Wie viele sind eines natürlichen Todes gestorben? Und wie vielen ist es gelungen, ihr Leben bis zum Schluss mit dem Menschen zu verbringen, den sie geliebt haben?«

Rosa hatte die Kiefer so fest aufeinandergepresst, dass ihre Zähne zu schmerzen begannen. Eigenartigerweise musste sie ausgerechnet jetzt wieder an Fundling denken – ein Tod mehr, den sie in den wenigen Monaten auf Sizilien miterlebt hatte.

Alessandro trat einen Schritt zurück, als hätte er an Quattrini einen ansteckenden Ausschlag entdeckt. Aber Rosa bemerkte, dass die Härte aus seinem Blick verschwunden war. Für einen Augenblick sah es aus, als würde er einlenken.

Dann aber entgegnete er mit einer Abneigung, die sogar sie erschreckte: »Sie reden und reden, aber in Wahrheit sagen Sie nichts, das uns weiterhelfen könnte. Als würden Sie zu einem Kranken sagen: Warum wirst du nicht einfach gesund? Aber so simpel ist es nicht, und gerade Sie sollten das wissen, Richterin. Was haben Sie erwartet? Dass Sie uns ein wenig gut zureden und wir sofort sagen: Ja, richtig, warum haben wir das nicht gleich genauso gesehen? Sie stellen sich hin und halten eine Ansprache, reden ein bisschen über Anstand und Verantwortung, über Moral und das, was Sie für das Falsche und das Richtige halten. Aber Sie vertreten nur das Gesetz, und dieses Gesetz ist nicht unseres. Es ist im Norden gemacht worden, in Rom und Mailand und all den Städten, die reich geworden sind, indem sie das Land hier im Süden ausgebeutet haben. Ihr Gesetz ist das Gesetz des Siegers, und es ist überheblich, arrogant und es interessiert sich einen Scheiß dafür, wie die Menschen auf Sizilien jahrhundertelang überlebt haben. Mein Vater hat Verbrechen begangen, furchtbare Verbrechen, das ist richtig – aber muss ich deshalb werden wie er? Muss ich dieselben Fehler machen? Und erwarten Sie ernsthaft, dass ich meine Familie im Stich lasse und irgendwo neu anfange?«

Quattrini hielt seinem Blick stand und lächelte. »Aber ich weiß doch, dass du selbst schon längst mit diesem Gedanken spielst. Was ist mit den hunderttausend Euro, die du abgehoben hast? Und den beiden Tickets für die Fähre? Eines für dich und eines für Rosa.« Sie schaute von ihm zu Rosa, blickte dann wieder entschieden in seine Augen. »Ja, Alessandro, ich weiß davon. Ich bin Richterin. Es gehört zu meinem Job, über diese Dinge Bescheid zu wissen.«

Rosa berührte ihn an der Hand. »Ist das wahr?«

Er hatte sich die Unterlippe aufgebissen, und sie hoffte nur, dass der Geschmack des Blutes nicht doch noch eine Verwandlung herbeiführen würde. Er senkte kurz den Blick, dann nickte er. »Nach allem, was im Palazzo passiert ist, Micheles Angriff auf dich und –« Er verlor den Faden, verstummte und begann von neuem. »Ich hab das Geld und die Tickets in einem Versteck deponiert. Für den Fall, dass wir keine andere Wahl mehr haben, als zu verschwinden.«

»Und wann hättest du mir davon erzählt?«

»Wenn es nötig geworden wäre. Es war nur für den Notfall gedacht. Falls irgendwann alles ganz schnell gehen muss.«

Quattrini nickte. »Das ist die Wahrheit, Rosa. Die Tickets, die er gekauft hat, sind nicht datiert. Und sie sind auf dieselben Namen ausgestellt, die auch auf den falschen Pässen stehen, die er für euch beide hat anfertigen lassen. Bei einem äußerst begabten Fälscher aus Noto namens Paolo Vitale.«

Alessandros Miene war wie versteinert.

»Aber«, fuhr Quattrini fort, »das alles interessiert mich gar nicht so sehr. Auch nicht, wo du das Geld und die Papiere versteckt hast. Es beweist mir nur, dass du längst erkannt hast, wie es um euch steht. Dass du dir sehr wohl im Klaren darüber bist, dass ihr keine Chance habt, als capi eurer Clans zu überleben. Früher oder später wird jemand –«

Sie wurde durch ein Quietschen unterbrochen, nicht besonders laut, aber durchdringend wie Kreide auf einer Schultafel. Das Geräusch drang von oben zu ihnen herab, vom Dachstuhl der Halle, acht Meter über ihnen, begleitet vom aufgebrachten Flattern der Tauben.

Eine der metallenen Dachluken war mit kreischenden Scharnieren geöffnet worden. Vor dem hellen Rechteck des Himmels stand eine schmale Gestalt, eine Frau mit langem Haar.

Als sie sich mit ausgebreiteten Armen in die Tiefe stürzte, sah Rosa, dass sie keine Kleidung trug.

Noch in der Luft verformten sich ihre Glieder, braunes Gefieder zog sich über ihre Haut, die Füße krümmten und teilten sich zu Klauen so groß wie Heckenscheren.

Als sie Quattrini erreichte und unter sich begrub, war aus der Frau eine riesige Eule geworden.

Harpyien

Das Biest thronte mit ausgebreiteten Schwingen über Quattrini, warf den Kopf zurück und grub seinen Hakenschnabel knirschend ins Brustbein der Richterin.

Alessandro ließ sich nach unten wegsacken und verschwand aus Rosas Blickfeld. Im nächsten Moment war er bereits zum Panther geworden. Fetzen seines schwarzen Anzugs segelten zu Boden, eine Pranke trat die Krawatte in den Staub. Er sprang nach vorn, rammte mit aller Kraft den Leib des Riesenvogels und riss ihn von Quattrini fort. Unter Gebrüll und wildem Flügelschlagen prallten Eule und Panther gegen die hohe Marienstatue, warfen sie um und wurden unter ihr begraben. Doch die Figur aus Gips und Sägespänen war nicht so schwer, wie sie aussah. Alessandro glitt bereits darunter hervor, während die Eule zwei, drei Sekunden länger brauchte, um ihre Schwingen zu befreien.

Rosa hatte gerade entschieden, sich nicht zu verwandeln und sich stattdessen um die Richterin zu kümmern, als aus der Höhe ein erneuter Flügelschlag ertönte, zu laut für die panischen Tauben im Dachstuhl. Sie blickte hoch und sah einen zweiten mannsgroßen Raubvogel auf sie niederstürzen. Die riesigen Klauen schlossen sich schon um sie, als sie zur Schlange wurde und dem zupackenden Griff entging. Blitzschnell glitt sie zur Seite, hob fauchend das bernsteinfarbene Schlangenhaupt und holte zu einem Biss in Richtung der Angreiferin aus. Die aber fegte sie kurzerhand mit einem Flügel, größer als zwei Autotüren, beiseite. Rosa bekam Gefieder zwischen die Zähne, schnappte zu, verlor jedoch den Halt, als sie nach hinten geschleudert wurde. Sie rutschte über den Boden und kollidierte mit einem plastikverhüllten Heiligen, verhedderte sich in der Folie und war für einige Sekunden außer Gefecht gesetzt.

Als sie sich aus dem Wirrwarr befreit hatte und den Kopf hob, sah sie, wie weitere Figuren umstürzten und in Wolken aus Gipsstaub zerbarsten. Überall flatterten jetzt Tauben. Alessandro und die erste Angreiferin lieferten sich einen wilden Kampf, umgeben von weißem Dunst, Taubenfedern und zerfetzter Plastikfolie.

Die zweite Eule aber saß triumphierend über Quattrini. Die Richterin hob den Kopf, blickte verständnislos auf ihre blutüberströmte Brust, dann auf die Bestie. Die Kralle des Vogels grub sich in ihr Fleisch. Aus Quattrinis aufgerissenem Mund kam kein Laut, als die Eule sie emporriss, wieder zu Boden stieß und erneut in die Höhe zerrte.

Rosa schlängelte sich vorwärts, schnellte hoch und landete auf dem Rücken des Raubvogels. Ihre goldbraunen Reptilienschuppen rieben über borstige Federn. Sie schmeckte fremdes Blut und verfluchte, dass ihre Fangzähne keine Giftdrüsen besaßen. Noch immer wusste sie nicht, wen sie da eigentlich bekämpfte.

Die Eule ließ Quattrini los, kam aber weder mit ihren Klauen noch mit den Flügeln an Rosa heran. Die grub die Zähne noch tiefer in das Rückengefieder, vermochte aber die Haut darunter nur zu ritzen, zu dick war das schützende Federkleid ihrer Gegnerin.

Sie wurde abgelenkt, als Alessandro mit einem zornigen Fauchen durch eine weitere Statuenreihe geschleudert wurde, mit dem Rücken auf Trümmerstücke prallte und endlose Sekunden lang liegen blieb. Die erste Eule tauchte aus den Gipswolken auf, schleppte sich am Boden heran, die Flügel ausgebreitet wie einen Umhang, sichtlich angeschlagen, aber nicht tödlich verletzt.

Rosa verlor ihren Halt und rutschte auf den Boden, entging einem weiteren Schwingenschlag und war einen Moment später bei Alessandro. Schützend richtete sie ihre vordere Hälfte neben ihm auf, den Schlangenschädel anderthalb Meter über dem Boden. Ihr Blick zuckte von einer Eule zur anderen, ihr Zischen klang aggressiver als jemals zuvor. Sie würde bis zum letzten Atemzug für ihn kämpfen.

Aber da bewegte er sich wieder, rappelte sich hoch und stand gleich darauf an ihrer Seite.

Die Rieseneulen kamen nicht mehr näher. Die eine blieb mit gesträubtem Gefieder im Staubnebel stehen, während ihre Brust vor Anstrengung pumpte. Die andere blickte auf die Richterin hinab, schlug jedoch kein weiteres Mal zu.

Quattrini lebte nicht mehr. Ihre aufgerissenen Augen starrten ins Leere. Auf der dunklen Blutlache um ihren Körper trieben Federn und Gipsschlieren.

Die Eule stieß einen schrillen Ruf aus, dann erhob sie sich vom Boden und stieg zur Dachluke auf. Die zweite folgte mit einem leichten Schlingern, bekam ihren Flug unter Kontrolle und verschwand durch die Öffnung ins Freie. Einen Augenblick später polterte es dort oben, sie erschien erneut am Rand der Luke, griff flink mit einer Kralle eine Taube aus der Luft und flog mit ihrer Beute davon.

Rosa und Alessandro standen in einer Lichtsäule aus rieselndem Staub und Sägemehl. Nach kurzem Atemholen wechselten sie zurück in ihre Menschengestalt. Beide waren nackt und Alessandro mit dem Blut der Richterin besudelt. Flüchtig vergewisserte sich Rosa, dass er bis auf einige Schrammen unverletzt war, dann eilte sie schwankend zu Quattrinis Leichnam und sank davor auf die Knie. Die schrecklichen Wunden zogen ihre Blicke an. Sie wehrte sich vergeblich dagegen; so wollte sie die Richterin nicht in Erinnerung behalten.

Alessandro fluchte. »Das waren Malandras.«

»Wer ist das?«

»Aliza und Saffira Malandra. Harpyien. Die beiden sind Schwestern. Keiner gibt sich gern mit ihrer Familie ab – es sei denn, man heuert sie als Auftragskiller an.«

Ihr Kopf ruckte nach oben. »Was ist mit Festa und Moranelli?«

Sie hatte es kaum ausgesprochen, als die Seitentür der Halle aufgerissen wurde. Antonio Festa stürzte mit gezogener Pistole herein, nass geschwitzt, als hätte er selbst gerade einen Angriff abwehren müssen.

»Die Vögel … sie sind völlig durchgedreht«, keuchte er. »Wir mussten uns in die Kirche –«

Er brach ab, als er die beiden nackten, blutbespritzten Teenager neben der reglosen Richterin entdeckte.

Mit einem wütenden Ausruf brachte er die Waffe in Anschlag. »Zurück! Los, weg von ihr!«

Alessandro wollte Rosa unter die Achsel greifen, um sie hochzuziehen, aber sie sprang bereits auf. »Wir waren das nicht!«

»Zurück!«, brüllte der Leibwächter erneut. Er kam jetzt langsam auf sie zu und starrte den Leichnam an. »Was habt ihr mit ihr … Mein Gott!« Er ächzte, als er die Wunden sah.

»Das waren wir nicht«, wiederholte Rosa, während sie und Alessandro langsam einen weiteren Schritt zurück machten.

»Auf den Bauch! Die Hände über den Kopf!« Er rief den Namen seiner Kollegin. »Stefania!«

Die Schritte der jungen Polizistin näherten sich draußen auf dem Platz. Als sie die Halle betrat, starrte sie erst Rosa und Alessandro an, verständnislos angesichts ihrer Nacktheit und des vielen Blutes. Dann entdeckte sie Quattrini am Boden. »Nein«, flüsterte sie. Mehrere Tauben stießen sich vom Dachstuhl ab und flogen an ihr vorbei ins Freie. »Was habt ihr getan?«

»Wir haben versucht ihr zu helfen!« Rosa kam zornig auf die beiden zu. »Während Sie da draußen –«

Ein Schuss peitschte, riss eine Kerbe in den Betonboden unmittelbar vor ihren Füßen und pfiff als Querschläger davon.

»Keinen Schritt!«, schrie Festa sie an. »Und legt euch endlich hin, verdammte Scheiße!«

Alessandro berührte Rosa am Arm. »Komm, tun wir, was er sagt.« Er ging in die Hocke und legte sich flach auf den Bauch. Sie kam kaum gegen ihre Empörung an, ließ sich aber nach kurzem Zögern neben ihm nieder.

Stefania war neben der Richterin auf die Knie gesunken und schloss ihr mit der flachen Hand die Augenlider. »Warum habt ihr das getan?«, fragte sie leise, ohne einen der beiden anzusehen. »Sie hat es nur gut mit euch gemeint.«

»Wir haben damit nichts zu tun«, widersprach Alessandro. »Das waren –«

»Vielleicht die Vögel?«, fiel ihm Festa ins Wort. Der Leibwächter würde ihnen niemals glauben.

Alessandro drehte den Kopf ein wenig, bis er Rosa in die Augen sehen konnte. Sie wartete auf sein Signal. Sich vor den Polizisten zu verwandeln war der allerletzte Ausweg.

»Hast du Handschellen?«, rief Festa zu seiner Kollegin hinüber.

»Im Auto.« Stefania löste den Blick nicht von der Toten. Ihr Gesicht bebte vor Trauer und Wut.

»Hol du sie. Ich pass auf die beiden auf.«

Sie schüttelte den Kopf, dann erhob sie sich und zog mit links ihr Handy aus der Hosentasche. »Ich rufe Verstärkung. Bis die hier ist, sollte keiner von uns mit ihnen allein bleiben.«

»Ich werde schon mit denen fertig«, entgegnete Festa.

Alessandros Blicke sagten: Warte noch. Gleich.

Stefania schaute wieder auf die Verletzungen der Richterin. »Die hat ihr doch keiner mit bloßen Händen zugefügt.« Ihr Kopf fuhr herum, sie starrte in Rosas Richtung. »Und was ist mit euren Sachen passiert?«

»Die wollten sie entsorgen«, kam Festa Rosa zuvor. Ihm war anzusehen, dass er liebend gern abgedrückt hätte.

Rosa deutete mit einem Nicken auf die Überreste von Alessandros Anzug. »Und vorher haben wir sie in Stücke gerissen, um – was zu tun? Sie zu verschlucken?«

Festa betrachtete die Stofffetzen. Bei aller Härte, die er zur Schau stellte, war doch offensichtlich, dass Quattrinis Tod ihn ebenso getroffen hatte wie seine Kollegin.

»Was ist mit den Eulen?«, fragte Rosa. »Sie haben sie doch selbst gesehen.«

Der Polizist neigte den Kopf. »Und?«

»Das Scheißvieh war zwei Meter groß!«

Die Leibwächter wechselten einen Blick, als zweifelten sie nun erst recht an Rosas Zurechnungsfähigkeit.

»Ihre Totems«, flüsterte Alessandro. »Die Malandras haben ihnen ein paar gewöhnliche Raubvögel auf den Hals gehetzt. Harpyien können das. So wie du mit den Schlangen im Glashaus sprechen konntest und ich mit den Raubkatzen im Zoo.«

Shit. Nicht gut.

»Pass auf sie auf«, sagte Stefania zu Festa, tippte auf ihrer Handytastatur und ging nach einem letzten Blick auf Quattrini zur Seitentür.

Alessandro unternahm noch einen Versuch. »Jemand wollte, dass es so aussieht, als hätten wir die Richterin getötet.« Er hob den Kopf, um zu Festa aufzuschauen. »Deshalb haben sie uns nicht gleich mit umgebracht.«

Es war nicht schwer zu erraten, aus welcher Richtung dieser Angriff kam. Jemand innerhalb des Alcantara- oder Carnevare-Clans hatte es satt, Befehle von Achtzehnjährigen zu befolgen.

»Halt den Mund!« Festa klang jetzt erschöpft, die Aggressivität war fast völlig aus seiner Stimme gewichen. Er wandte den Kopf und rief über die Schulter: »Bring die verdammten Handschellen mit.«

Nur ein Rascheln, nichts sonst.

Als Festa wieder nach vorn blickte, fegte ihm ein schwarzer Panther entgegen, schleuderte ihn nach hinten und grub die Zähne ins Handgelenk des Polizisten. Der stieß einen Schrei aus, ließ die Pistole fallen und war für Sekunden gelähmt vor Entsetzen.

Außerhalb seines Sichtfeldes wurde Rosa zur Schlange und glitt an einer Reihe unversehrter Heiliger vorbei zum Ausgang. Als Stefania hereinstürzte, von dem Aufschrei alarmiert, war Rosa bereits an der Wand, schlängelte sich in Windeseile an den Beinen der Leibwächterin nach oben, wickelte sich um sie und stürzte zusammen mit ihr zur Seite. Die Waffe war noch immer in Stefanias Hand, aber sie war von den Reptilienschlingen so fest umschlungen, dass sie nicht damit zielen konnte.

Festa bäumte sich unter Alessandro auf. Der ließ ihn ein Stück weit hochkommen und stieß dann mit einem imposanten Raubtierbrüllen beide Vorderpranken gegen den Brustkorb des Mannes. Der Polizist wurde zurückgeworfen, sein Hinterkopf krachte auf Beton. Augenblicklich erschlaffte seine Gegenwehr.

Alessandro schmolz zurück in seine Menschengestalt. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, zu viele und zu rasche Verwandlungen kosteten Kraft. Rosa musste sich konzentrieren, um die Spannung ihres Schlangenleibs aufrechtzuerhalten. Stefania würde sich nicht befreien, aber sie hielt noch immer die Pistole und Rosa kam einfach nicht mit dem Maul an die Waffe heran.

Alessandro legte die Fingerspitzen an Festas Halsschlagader, atmete auf und griff nach dessen Pistole. Rosas Schlangenschädel schwebte unmittelbar vor Stefanias Gesicht. In den Augen der Polizistin stand blankes Entsetzen.

Alessandro kam heran, löste die Waffe aus Stefanias Hand und sagte zu Rosa: »Halt sie noch einen Moment fest.«

Er lief zurück zu Festa, zog ihm die Jacke aus, kramte nach dem Schlüsselbund und rannte damit ins Freie. Kurz darauf kehrte er mit den Handschellen aus dem Wagen der Polizisten zurück, befestigte den bewusstlosen Festa mit einem Arm an der Sänfte einer Heiligenfigur und kam herüber zu Rosa. Die lockerte ihre Schlingen so weit, dass er Stefanias Hände auf dem Rücken aneinanderfesseln konnte. Dann richtete er ihre Pistole auf die Gefangene.

Rosa glitt zu Boden und verwandelte sich zurück, nicht so überhastet wie vorhin, damit der Schmerz sich in Grenzen hielt.

»Was, zum Teufel, seid ihr?«, brachte Stefania heiser hervor.

Alessandro achtete nicht auf sie. »Wir müssen sie mitnehmen.«

Rosa starrte ihn an. »Wohin?«

»Sie hat Verstärkung angefordert. Festa wird denen wirres Zeug von einem Panther und einem Vogelangriff erzählen, das verschafft uns vielleicht ein wenig Zeit. Er hat nicht mit angesehen, wie wir uns verwandelt haben. Wahrscheinlich hat er höllische Kopfschmerzen, wenn er aufwacht, und er wird selbst nicht ganz sicher sein, was genau ihm da eigentlich zugestoßen ist.«

»Ihr seid keine Menschen«, raunte Stefania.

Alessandro schien drauf und dran, ihr eine Erklärung zu geben, ließ es dann aber bleiben. Er wandte sich wieder an Rosa. »In spätestens einer Stunde suchen sie uns überall auf der Insel.«

»Wir können nicht vor der ganzen sizilianischen Polizei davonlaufen. Romeo und Julia ist ja in Ordnung, aber Bonnie und Clyde?«

»Ihr müsst euch stellen«, sagte Stefania.

»Wir haben der Richterin kein Haar gekrümmt!«, fuhr Rosa sie an. »Und das ist die Wahrheit.«

»Dann werden sich Beweise für eure Unschuld finden.«

Alessandro verzog verächtlich das Gesicht. »Ihre Leute suchen seit Monaten nach etwas, das sie uns anhängen können. Das hier ist ein gefundenes Fressen für sie. Und ich seh’s Ihnen doch an: Sie glauben auch, dass wir sie umgebracht haben.«

»Wir können sie nicht mitnehmen«, sagte Rosa.

»Das wäre eine Entführung«, stimmte die Polizistin zu.

Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel. »Wir sind die Mafia. Schon vergessen?«

»Ich hab keine Ahnung, was ihr beiden seid. Jedenfalls nicht dumm. Und es wäre wirklich verdammt dämlich, mich zu verschleppen. Geiselnehmer jagt die Polizei noch unerbittlicher als –«

»Die vermeintlichen Mörder einer Richterin?« Er winkte ab. »Halten Sie einfach den Mund, okay?«

»Alessandro«, sagte Rosa beschwörend.

»Ich geh nicht ins Gefängnis«, sagte er bestimmt und brachte das Kunststück fertig, trotz allem sanft zu klingen. »Erst recht nicht für etwas, das ich nicht getan habe. Und du auch nicht, dafür sorge ich.«

»Das hier ist nicht allein deine Entscheidung, sondern auch meine.« Sie ging hinüber zu der Stelle, an der sie sich zum ersten Mal verwandelt hatten. Dabei vermied sie es tunlichst, einen weiteren Blick auf Quattrini zu werfen.

Rosas Kleidung lag unversehrt da, der Vorteil einer Lamia. Mit bebenden Fingern zog sie sich ihren Slip an und das schwarze Kleid. Zum Glück hatte sie am Morgen keine hochhackigen Schuhe ausgewählt. Sie sah sich schon in ihrem Trauer-Outfit in den Zeitungen: Mafia-Prinzessin auf der Flucht! Wundervoll.

Anschließend eilte sie zurück zu Alessandro, nahm eine der Pistolen und deutete auf den reglosen Festa. »Zieh dir seine Klamotten an. So fliehe ich mit dir ganz bestimmt nirgendwohin.«

Er brachte ein Lächeln zu Stande, gab ihr auch die zweite Waffe, vertraute darauf, dass sie Stefania in Schach hielt, und machte sich daran, dem Polizisten Jeans und T-Shirt auszuziehen. Zuletzt streifte er sich die Lederjacke über. Keines der Kleidungsstücke passte ihm hundertprozentig, aber sie waren besser als nichts.

»Erst mal müssen wir hier weg«, sagte er.

Stefanias Tonfall wurde immer eindringlicher. »Unsere Leute werden euch jagen.«

»Ein Grund mehr, von hier abzuhauen.« Er berührte Rosa sanft am Arm. »Wenn wir ihr beweisen können, dass die Harpyien existieren, hilft sie uns vielleicht.«

Stefania nickte in Richtung seiner Waffe. »Und du glaubst, damit erreichst du, dass ich dir vertraue?«

Rosa musterte die junge Polizistin. Der Schock über den Tod der Richterin stand ihr ins Gesicht geschrieben. Zudem war nicht abzusehen, was geschehen würde, wenn sie erst Zeit hatte, über die Verwandlungen nachzudenken.

Noch einmal ging Rosa zu Quattrini, berührte ihre kalte Stirn, dann zärtlich die rechte Hand. Zuletzt fiel ihr Blick auf den kleinen Anhänger, der an seinem Kettchen zwischen Kopf und Schulter zu Boden gerutscht war und dort im Blut lag. Sie nahm ihn mit Daumen und Zeigefinger auf und dachte kurz daran, hineinzusehen. Stattdessen aber öffnete sie den Verschluss der Kette, rieb das Medaillon an ihrem Kleid sauber – nicht am Mantel der Richterin, das war ihr wichtig – und legte es sich um den Hals.

Zuletzt strich sie der Toten über das Haar. »Danke für alles«, flüsterte sie.

Als sie sich erhob, spürte sie die Blicke der anderen auf sich. Stefania wirkte verunsichert, während in Alessandros Augen Verständnis lag. Rosa schob sich den Anhänger in den Ausschnitt und spürte ihn warm auf ihrer Haut.

Alessandro küsste sie flüchtig, als sie wieder bei ihm war. Er roch nach frischem Blut, und gegen ihren Willen erregte das die Schlange in ihrem Inneren.

»Fahren wir«, sagte sie.

In den Bergen

Es ist meine Schuld«, sagte Rosa nach einer Weile. »Ich hab Trevini gezwungen, den Drogenhandel meiner Leute zu stoppen. Er hat mich gewarnt, dass sie sich das nicht gefallen lassen würden.«

Das war nicht alles. Sie hatte die Geschäfte mit den afrikanischen Flüchtlingen auf Lampedusa auffliegen lassen und zumindest den Versuch gemacht, den Waffenhandel einzuschränken. Aus ihrer Sicht waren das legitime Entscheidungen eines Clanoberhaupts. Für ihre Familie aber bedeutete es Verrat. Jetzt präsentierte man ihr dafür die Rechnung.

»Es könnten ebenso gut Carnevares dahinterstecken.« Alessandro saß am Steuer und lenkte den schwarzen Geländewagen eine schmale Gebirgsstraße hinab in ein bewaldetes Tal. »Es gibt viele, die mich loswerden wollen. Cesare war nur der Ehrlichste von ihnen, er hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass die Familie seiner Meinung nach ohne mich besser dran wäre. Die anderen kriechen erst jetzt aus ihren Löchern.«

Auf dem Rücksitz saß Stefania mit Handschellen an Händen und Füßen. Sie hatten in Quattrinis Wagen ein weiteres Paar gefunden und es der Polizistin vor der Abfahrt angelegt. Sie verlor kein Wort über die Verwandlungen. Vielleicht lernte man so etwas auf der Polizeischule. Ruhig bleiben selbst in den aberwitzigsten Situationen.

»Erklärt mir etwas«, rief sie von hinten. »Wenn eure eigenen Familien euch lieber heute als morgen abservieren wollen, warum habt ihr dann nicht auf Quattrini gehört und seid ausgestiegen? Was habt ihr davon, die Zielscheibe für eine Horde Auftragskiller abzugeben und euch dabei selbst strafbar zu machen? Ist es das Geld, all der Luxus? Teure Autos wie das hier? Ich versteh’s nicht.«

Rosa begriff es selbst nicht so recht. Sie war nach Sizilien gekommen, um ein paar Tausend Kilometer Atlantik zwischen sich und ihre Vergangenheit zu bringen. Nur dass die Vergangenheit hier auf der Insel bereits auf sie gewartet hatte. Statt das Trauma ihrer Vergewaltigung und der Abtreibung zu überwinden, hatte sie sich der Geschichte ihrer Familie stellen müssen. Ohne sich darum zu reißen, hatte sie sich nach der Ermordung ihrer Tante Florinda in der Rolle des Clanoberhaupts wiedergefunden. Damit nicht genug: Wie ein Familienfluch hatte sie das größte Verbrechen ihrer Großmutter Costanza eingeholt, der geheime Pakt mit TABULA. Schließlich hatte Rosa entdeckt, dass ihr tot geglaubter Vater Davide womöglich noch am Leben war und persönlich ihre Vergewaltigung durch Tano Carnevare angeordnet hatte. Und nicht zuletzt war da ihr Erbe als Mitglied der Arkadischen Dynastien, ihre unverhoffte Fähigkeit, die Gestalt einer drei Meter langen Riesenschlange anzunehmen.

Der ganze verdammte Atlantik war nicht breit genug gewesen, um sie ihre Probleme vergessen zu lassen. Und nun hatte sie eine Unzahl neuer Sorgen am Hals, die sie alle ihrer Abstammung verdankte. Stefanias Frage war also berechtigt: Warum tat sie sich das an? Weshalb hatte sie nicht längst einen Schlussstrich gezogen und Sizilien verlassen?

Sie hatte wohl schlichtweg den Zeitpunkt verpasst, an dem sie von dem fahrenden Zug hätte abspringen können. Vermutlich schon an dem Tag, als sie zum ersten Mal in Alessandros smaragdgrüne Augen geblickt hatte. Und sie dachte nicht im Traum daran, diese Liebe zu opfern. Auch nicht im Austausch gegen ein Leben ohne die Mafia – ein Leben ohne ihn.

War das die Antwort auf Stefanias Frage? Eine Antwort?

Alessandro hatte eine andere: »Mein Vater hat zugelassen, dass meine Mutter ermordet wurde«, sagte er. »Dann ist er selbst getötet worden, von seinem engsten Vertrauten. Nur deswegen bin ich zum capo der Carnevares geworden. Und jetzt ist auch noch Fundling gestorben. Ich kann nicht einfach aufgeben, sonst wäre das alles sinnlos gewesen.«

Rosa musterte von der Seite sein schönes Gesicht im Wechsel von Licht und Schatten der einsamen Waldstraße. Vielleicht war das die einzige Facette seines Charakters, die sie niemals ganz verstehen würde: sein vehementes Beharren darauf, dass er die Carnevares anführen musste. Dass es zugleich Geburtsrecht wie Verpflichtung war. Er hatte zu hart dafür gekämpft, an die Spitze seines Clans zu gelangen.

»Was ist mit den falschen Papieren?«, fragte Stefania. »Sind das denn keine Tickets für ein neues Leben?«

»Die sind nur für den Notfall.«

Hatte er eigentlich je vorgehabt, mit Rosa darüber zu sprechen? Hätte er sie überhaupt in diese Entscheidung mit einbezogen, ehe es zu spät war?

Die Polizistin lachte leise. »Und wann soll dieser Notfall eintreten, wenn nicht jetzt?«

Seine Hand schloss sich hart um den Schaltknüppel, dann trat er unvermittelt auf die Bremse. Rosa wurde vorwärts in den Gurt geworfen.

»Hey!«, stieß sie aus.

»Tut mir leid«, murmelte er und sprang ins Freie. Rosa fürchtete, Stefania könnte versuchen, durch die offene Fahrertür zu entkommen. Hastig riss sie die Pistole aus dem Fußraum vor ihrem Sitz und wirbelte herum. Über den Lauf hinweg starrten sie und die Polizistin sich an.

»Du erschießt mich nicht«, sagte Stefania. »Du bist keine Mörderin.«

»Wo wollen Sie hin, mitten im Gebirge, mit Handschellen an Händen und Füßen? Ich muss nicht auf Sie schießen, um Sie aufzuhalten. Sie können hier nicht weg. Also lehnen Sie sich wieder zurück und halten Sie den Mund.«

Alessandro öffnete die Heckklappe und kramte in einer Kiste. Daraus hatte er vor ihrer Abfahrt bereits einen Wechselsatz gefälschter Nummernschilder hervorgezaubert.

Einen Moment später war er bei Stefania auf dem Rücksitz, mit einem Lappen und einer Rolle Klebeband in der Hand. Sie protestierte heftig, als er sie knebelte, sorgfältig darauf bedacht, dass sie durch die Nase frei atmen konnte.

»Muss das wirklich sein?«, fragte Rosa.

»Sollen wir uns das etwa die ganze Fahrt über anhören?«

»Dann hätten wir sie nicht mitnehmen dürfen.«

Er schloss für einen Moment die Augen, als wollte er sich zur Ruhe zwingen. »Wir tun ihr nichts«, sagte er dann. »Sie ist die Einzige, die uns glauben wird, wenn wir den Beweis dafür liefern, dass die Malandras Quattrini getötet haben. Sie hat gesehen, was wir sind.«

»Wenn es nur das ist – das können wir auch allen anderen zeigen.«

»Dann werden sie erst recht glauben, dass wir es waren. Sie werden mit dem Finger auf uns zeigen und schon mal den Scheiterhaufen anheizen.« Er deutete auf Stefania. »Sie scheint ganz in Ordnung zu sein. Vielleicht geht sie mir auf die Nerven, aber sie ist nicht zwangsläufig unser Feind.«

Rosa verzog den Mund. »Und deshalb knebelst du sie?«

Stefania brummelte etwas in das Tuch, hob protestierend die Arme mit den Handschellen und ließ sie gleich darauf in den Schoß sinken.

»Das übersteht sie«, sagte er und nahm wieder Platz hinterm Steuer.

Rosa warf einen resignierenden Blick nach hinten, verstaute die Waffe und ließ sich in den Sitz sinken. Der Wagen rollte an und nahm Fahrt auf.

»Was sollte das mit den Tickets und den Pässen?«, fragte sie nach einer Weile. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

»Weil ich nicht wollte, dass es so kommt wie jetzt. Dass zwischen uns die Entscheidung im Raum steht, ob wir fortgehen oder nicht.«

»Du willst doch gar nicht davonlaufen.«

»Ich lasse mich nicht einfach fortjagen. Ich hab Quattrini Unrecht getan, und das tut mir leid. Aus irgendeinem Grund hatte sie einen Narren an dir gefressen. Und jetzt ist sie tot, weil man uns beiden die Schuld dafür in die Schuhe schieben will. Das war keine spontane Aktion. Die haben das von langer Hand geplant.«

Stefania brachte ein wütendes Ächzen zu Stande und legte sich längs auf die Rückbank. Offenbar hatte sie beschlossen, sich vorerst mit ihrem Schicksal abzufinden.

»Warum haben sie das wohl getan?«, fragte er.

»Um uns loszuwerden.«

»Sie hätten uns einfach umbringen können. Vielleicht hätten das sogar die beiden Malandras vorhin geschafft. Und es hätte noch hundert andere Möglichkeiten gegeben.«

»Sie wollen uns loswerden, aber nicht töten?« Rosa schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn.«

»Deshalb hätte ich gern eine Erklärung dafür.«

Sie fühlte sich schuldig am Tod der Richterin und sie brannte vor Wut auf die Mörder. Zum ersten Mal glaubte sie zu begreifen, was Alessandro die ganze Zeit über angetrieben hatte. Erst Rache für den Tod seiner Mutter und für Cesares Verrat. Dann Rache an Rosas Vergewaltigern. Sein Drang zur Vergeltung war ihr immer ein wenig fremd gewesen, aber nun, mit dem getrockneten Blut der Richterin unter ihren Fingernägeln, verstand sie ihn endlich.

»Fuck«, entfuhr es ihr.

»Was ist?«

»Iole und die anderen. Falls es Alcantaras waren, die hinter alldem stecken … Falls da gerade wirklich so was wie ein Umsturz abläuft, dann sind sie auf der Isola Luna nicht mehr sicher.«

»Keiner von deinen Leuten interessiert sich für Iole«, sagte er beruhigend.

»Aber für Cristina di Santis! Sie kennt alle Geschäfte, alle Abkommen, sämtliche Einnahmequellen der legalen und illegalen Alcantara-Unternehmungen. Und sie ist bei Iole und der Falchi auf der Isola Luna.«

»Im Handschuhfach liegt ein Handy. Ruf sie an und sag ihnen, dass sie aufpassen sollen.«

Rosa öffnete die Teakholzklappe und zog eines von Alessandros iPhones hervor; er besaß mehrere, keines ließ sich zu ihm zurückverfolgen. Ungeduldig ließ sie es in der Inselvilla klingeln, bis eine automatische Ansage die Verbindung beendete. Aus dem Kopf tippte sie Ioles Handynummer ein.

Das Rufzeichen ertönte zweimal, dann nahm Iole den Anruf an.

Rosa atmete auf. »Ich bin’s.«

»Ich hab immer die Kühlschranktür zugemacht«, plapperte Iole los. »Und ich hab Sarcasmo keine Schokolade gegeben – nicht viel jedenfalls. Ich hab auch keine Sachen übers Internet bestellt, also heute noch nicht. Und ich war wirklich höflich zu Signora Falchi, auch wenn sie mal wieder das Gegenteil behauptet. Noch irgendwas, das ich falsch gemacht haben könnte?«

»Iole, hör mir jetzt genau zu. Du bist wieder auf der Insel, oder?«

»Seit einer Viertelstunde.«

»Ist noch jemand da? Außer Cristina und Signora Falchi und den Sicherheitsleuten?«

»Hab keinen gesehen.«

»Bist du im Haus?«

»Im Erdbeerzimmer.«

»Kannst du ans Fenster gehen? Von dort aus schaust du übers Meer nach Süden.«

»Warte … Ja, jetzt.«

»Ist da was zu sehen? Schiffe? Hubschrauber? Irgendwas?«

Mehrere Herzschläge lang herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung.

»Iole?«

»Drei Boote. Sie kommen ziemlich schnell näher.«

»Fuck.«

Alessandro blickte sorgenvoll herüber. »Was ist los?«

»Iole, sieh jetzt ganz genau hin. Kommen sie wirklich auf die Insel zu? Genau auf die Isola Luna?«

»Sieht so aus. Der Postbote ist das nicht, oder? Ich warte auf ein Paket mit –«

»Weißt du, wo Signora Falchi und Cristina gerade sind?«

»Die Falchi läuft aufgekratzt draußen rum und sucht mich.« Ioles Mädchenlachen klang gelöst wie eh und je. »Ich hab sie reingelegt. Ein bisschen immerhin. Und Cristina liest in irgendwelchen Papieren.« Sie betonte das, als hätte sie die Rechtsanwältin der Alcantaras bei etwas Sittenwidrigem erwischt. »Sie liest immer, den ganzen Tag. Wenn sie nicht gerade telefoniert.«

»Hör zu. Du musst mir was versprechen. Ich meine wirklich versprechen. Beim Leben von Sarcasmo und deinem Onkel und –«

»Ich bin kein Baby, Rosa. Ich weiß, was versprechen heißt.«

»Lauf in die Küche und pack alle Lebensmittel zusammen. Alles, was man essen kann, ohne es zu kochen. Und Wasser. So viel Wasser, wie du tragen kannst. Dann schnappst du dir Cristina und Signora Falchi und versteckst dich mit ihnen.«

»Cool.«