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Das Buch bietet eine profunde Einführung in das Phänomen Armut in Deutschland. Der begrifflichen Klärung folgt zunächst der Blick auf die Statistik. Auf dieser Basis werden die individuellen von Armut geprägten Lebenslagen in Deutschland beschrieben. Besonders eingegangen wird auf die Risikogruppen: Arbeitslose, Alleinerziehende, Ältere sowie Kinder und Jugendliche. Auf diese Weise öffnet sich die lebensweltliche Dimension von Armut, denn Armut tangiert Gesundheit, Wohlbefinden, Bildung, soziale Beziehungen und Verhalten. Das Buch bietet so Sozialwissenschaftlern, Sozialarbeitern, Praktikern in Sozialämtern, Job-Agenturen und Sozialverbänden äußerst verdichtet und auf dem aktuellsten Stand fundamentales Wissen für ihre unterschiedlichen Arbeitsfelder.
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Seitenzahl: 200
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Die Autorin
Dr. Eleonora Kohler-Gehrig ist emeritierte Professorin der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen in Ludwigsburg
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1. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
978-3-17-036086-0
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-036087-7
epub: ISBN 978-3-17-036088-4
mobi: ISBN 978-3-17-036089-1
Abkürzungsverzeichnis
1 Begriff der Armut
2 Theorien zur Armutsentwicklung
2.1 Armut von Ländern
2.2 Armut von Personengruppen
3 Armut als Wirtschaftsfaktor und Exportgut
4 Armut in der Bundesrepublik
5 Sozialbudget
6 Armut und Arbeit
6.1 Erwerbsintensität der Haushalte
6.2 Niedriglohnbereich
6.3 Atypische Beschäftigungsformen
6.4 Soloselbständige
7 Armut und Arbeitslosigkeit
8 Armut und Gesundheit
8.1 Krankheitsanfälligkeit
8.2 Gesundheitsverhalten
8.3 Lebenserwartung
8.4 Früherkrankungen
9 Armut und Alleinerziehende
9.1 Beschäftigungssituation
9.2 Wohnverhältnisse
9.3 Unterhaltsansprüche
10 Armut und Alter
10.1 Gesetzliche Rentenversicherung
10.2 Private Vorsorge
10.3 Transferleistungen im Alter
11 Armut und Wohnen
11.1 Wohnungslosigkeit
11.2 Unzureichende Wohnverhältnisse
11.3 Versorgungslücke bei bezahlbarem Wohnraum
11.4 Mietobergrenze
11.5 Sozial-räumliche Segregation
12 Armut und Bildung
12.1 Bildungstrichter
12.2 Hochschulbesuch
12.3 Berufsbildungssystem
12.4 Übergangssystem
12.5 Defizitärer Abschluss
13 Kinder- und Jugendarmut
13.1 Kinderarmut
13.2 Jugendarmut
14 Armut und Migration
15 Linderung der Armut
16 Fazit
Literatur
Register
ArbZG
Arbeitszeitgesetz
AsylG
Asylgesetz
AsylbLG
Asylbewerberleistungsgesetz
AÜG
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz
BAföG
Bundesausbildungsförderungsgesetz
BauGB
Baugesetzbuch
BetrAVG
Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGH
Bundesgerichtshof
BEEG
Bundeserziehungsgeldgesetz
BKK
Bundeskindergeldgesetz
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVG
Bundesversorgungsgesetz
DIW
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
DJI
Deutsches Jugendinstitut
€
Euro
ESchG
Embryonenschutzgesetz
EStG
Einkommenssteuergesetz
EU
Europäische Union
EU-SILC
EU Statistics on Income and Living Conditions
EVS
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
FamRZ
Zeitschrift für Familienrecht
GBE
Gesundheitsberichterstattung des Bundes
GDB
Grad der Behinderung
GG
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
HHG
Häftlingshilfegesetz
HIV
Humane Immundefiziens Virus
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
OECD
Organisation for Economic Co-operation and Development
OEG
Opferentschädigungsgesetz
RGSFV
Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung
SG
Sozialgericht
SGB I
Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil
SGB II
Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitssuchende
SGB III
Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung
SGB V
Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung
SGB VI
Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Rentenversicherung
SGB VIII
Sozialgesetzbuch Achtes Buch – Kinder und Jugendhilfe
SGB IX
Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen
SGB XI
Sozialgesetzbuch Elftes Buch – Soziale Pflegeversicherung
SGB XII
Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe
SOEP
Sozio – Oekonomisches Panel
StGB
Strafgesetzbuch
StrRehaG
Strafrechtliches Rehabilisierungsgesetz
TzBfG
Teilzeit- und Befristungsgesetz
UhVoschG
Gesetz zur Sicherung des Unterhalts von Kindern alleinstehender Mütter und Väter
UN
United Nations
VAG
Versicherungsaufsichtsgesetz
VVG
Versicherungsvertragsgesetz
WEG
Wohnungseigentumsgesetz
WoGG
Wohngeldgesetz
Viele setzen Armut mit Hunger gleich. Die UN hat im Jahr 2000 die Milleniumsziele proklamiert. Sie hat sich das Ziel gesetzt, dass im Jahr 2015 der Hunger in der Welt gegenüber dem Jahr 1990 halbiert werde, es ab 2030 eine Welt ohne Hunger geben solle. Nachdem über Jahre hinweg die Zahl der hungernden Menschen in der Welt sank, stieg sie von 777 Millionen im Jahr 2015 auf 815 Millionen hungernde Menschen weltweit wieder an. Klimakatastrophen und Kriege haben zu diesem Anstieg beigetragen.
Doch Armut ist mehr als Hunger. Armut ist ein soziales Phänomen. Darunter wird ein Zustand gravierender sozialer Benachteiligungen mit der Folge einer Mangelversorgung mit materiellen Gütern, Dienstleistungen, aber auch einem Mangel an Teilhabe- und Verwirklichungschancen verstanden. Es ist ein normativer Begriff, ein moralisch-politisch wertender Begriff, abhängig vom Standpunkt des Betrachters und seiner Intention.
Zur Messung von Armut wurden verschiedene Indikatoren entwickelt. Eine Seite von Armut ist die wirtschaftliche Armut, die Einkommensarmut. Bei der Betrachtung von wirtschaftlicher Armut gibt es zwei verschiedene Ansätze: Zum einen ist das die absolute Armut, die ein Leben am Rande des Existenzminimums markiert. Zum anderen ist es die relative Armut, bei der ein Einkommen deutlich unter dem mittleren Einkommen eines Landes liegt.
Absolute Armut, auch extreme Armut genannt, ist in Schwellen- und Entwicklungsländern anzutreffen. Sie war nach dem 1. Weltkrieg und ebenso nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland bis 1948 – dem Jahr der Währungsreform – verbreitet. Die Weltbank hat aktuell die monetäre Grenze von 1,90 Dollar pro Tag und Person als Indikator für absolute Armut gesetzt. Dem ist entgegen zu halten, dass mit der absoluten Einkommensarmut weitere essentielle menschliche Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden. Ein sicheres Dach über dem Kopf, der Zugang zu sauberem Wasser, Strom, Brennstoffen, sanitären Einrichtungen, Gesundheitsversorgung sind neben dem Einkommensindikator für die Lebensqualität essentiell. Für die Lebensqualität und Entwicklungschancen von Menschen sind gut funktionierende öffentliche Dienstleistungen im Bereich Bildung, Gesundheit bedeutsam. Bedeutsam sind obendrein Ernährungssicherheit und Infrastruktur.1
Der Begriff der relativen Armut versteht Armut im Vergleich zum jeweiligen sozialen Umfeld eines Menschen. Sie wird in einem Prozentsatz des mittleren Einkommens der Bevölkerung ausgedrückt. Anknüpfungspunkt ist nicht das arithmetische Mittel aller Einkommen, sondern der mittlere Wert in der Einkommensverteilung. Der mittlere Wert in der Einkommensverteilung, auch Median genannt, ist geringer als das arithmetische Mittel. Da die relative Armut aus einem Prozentsatz des mittleren Einkommens abgeleitet wird, erfasst der Begriff der relativen Armut zwangsläufig in jedem Staat einen Teil der Bevölkerung. Selbst in reichen Staaten gibt es eine arme Bevölkerung. »Armut ist hierzulande keine Kalorienfrage« (Heribert Prantl). Armut ist wie Reichtum ein relativer Begriff, der sich am Wohlstandsniveau einer Gesellschaft misst. Sie ist Ausdruck einer Einkommensungleichheit. Der Begriff der relativen Armut besagt nichts darüber aus, ob und welche materiellen Entbehrungen gegeben sind.
In den EU-Mitgliedstaaten bestimmt sich das relative Armutsrisiko als Anteil der Personen in Haushalten, deren bedarfsgewichtetes Netto-Äquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Mittelwertes aller Einkommen beträgt.
Beim Äquivalenzeinkommen werden alle Einkommen eines Haushalts addiert. Dieses Gesamteinkommen des Haushalts wird durch die Zahl aller Mitglieder dividiert, wobei die Mitglieder nicht gleich gewichtet werden. Nach einer OECD-Skala wird für die erste erwachsene Person 1 angesetzt, für die zweite und jede weitere Person über 14 Jahren 0,5 und für jedes Kind bis zum 14. Lebensjahr 0,3. Dieser Skalierung liegt der Gedanke zugrunde, dass die Kosten der Haushaltsführung eines jeden nicht so hoch sind, wenn sich mehrere Personen einen Haushalt teilen, und die Kosten der Lebensführung für Kinder geringer sind als für Erwachsene. Größere Haushalte benötigen mehr Wohnraum, Lebensmittel, Kleidung. Hingegen teilen sich mehrere Personen Küche, Bad, Versicherungen.
Aus dem Netto-Äquivalenzeinkommen werden unterschiedliche Aussagen für relative Armut abgeleitet:
• 60 % des Äquivalenzeinkommens gilt als Armutsrisiko(-quote), auch Armutsschwelle genannt
• 50 % des Äquivalenzeinkommens steht für Armut und
• 40 % des Äquivalenzeinkommens wird als strenge Armutbezeichnet.
2016 belief sich laut dem Statistischen Bundesamt die Armutsschwelle in der Bundesrepublik
• 969 € für eine Einzelperson
• 2036 € für zwei Erwachsene mit 2 Kindern unter 14 Jahren.
Dem relativen Armutsbegriff wird entgegengehalten, dass Geld nicht alles sei. In einer Gesellschaft, in der die Teilhabe an Waren und Dienstleistungen an Geld geknüpft ist, geht nichts ohne Geld – auch wenn daneben noch andere ideelle Werte wie Gesundheit, Lebensfreude, Zufriedenheit, kulturelle Teilhabe maßgeblich für das Hier und Heute sind. Ohne finanzielle Mittel lassen sich diese Werte schwerlich schaffen und erhalten.
Diese statistischen Werte besagen wenig über die konkrete Lebenslage: Sparsame Menschen, Menschen auf dem Land oder in einem Netzwerk von Verwandten und Freunden verankert haben mehr zur Verfügung als andere mit gleichem Einkommen, die in teuren städtischen Mietwohnungen mit hohen Nebenkosten leben. Kranke und behinderte Menschen haben zusätzliche Ausgaben für Medikamente, Diäten, Hilfsmittel. Bei gleichem Einkommen wie gesunde Menschen sind sie trotzdem schlechter gestellt. Armut ist mehr als ein Mangel an finanziellen Mitteln. Wohlergehen kann nicht allein mit Einkommen erklärt werden. Jedoch bedarf es der absoluten und der relativen Armut als Richt- und Vergleichsgröße. Sie sind Indikatoren für Armut und nicht mehr. In einer Gesellschaft, in der Teilhabe regelmäßig über Geld erkauft wird, führt kein Weg an finanziellen Größen vorbei. Verwirklichungschancen werden weithin mit Geld realisiert. Neben dem Einkommen können und müssen weitere Kriterien herangezogen werden.
Relative Armut macht sich obendrein durch sozio-kulturelleVerarmung bemerkbar, wobei der Mangel an Teilhabe an bestimmten sozialen Aktivitäten als Folge des finanziellen Mangels gemeint ist. Stehen nur wenige finanzielle Mittel zur Verfügung, können selten oder gar nicht kulturelle Veranstaltungen besucht werden. Schon die Fahrtkosten zu einem Konzert, ins Theater, ins Kino stellen eine finanzielle Belastung dar. Dies wird erweitert um den Lebenslagenansatz, wonach Armut neben dem Mangel an Einkommen und Vermögen ein Mangel an Teilhabe- und Verwirklichungschancen ist. Zum menschlichen Wohlergehen zählen obendrein Erwerbstätigkeit, Gesundheit, Bildung, Wohnen, familiäre Beziehungen, soziale Netzwerke, politische Chancen und Partizipation.
Von der statistischen Definition des relativen Armutsrisikos unterscheidet sich das soziokulturelle Existenzminimum, das in der Bundesrepublik im Sozialrecht abgesichert ist und das auf tatsächlichen Verbrauchsausgaben basiert. Diese bekämpfeArmut erfasst Personen, die existenzsichernde Leistungen des Staates erhalten. Der Erhalt dieser Leistungen zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums kann ihnen im Einzelfall Einkünfte über der Armutsgrenze sichern und kann in einem anderen Fall deutlich darunter liegen. Gleichwohl ist der Erhalt solcher Leistungen ein Armutsindikator. Haushalte mit Kindern können mit staatlichen Transferleistungen über die 60 %-Schwelle gelangen. Kinderlose Haushalte, die existenzsichernde Leistungen erhalten, bleiben eher unter der 60 %-Schwelle.2
Es gibt eine Vielzahl staatlicher Transferleistungen, die auf viele verschiedene Leistungsträger, Behörden und Ämter verteilt sind. Manche stehen nebeneinander, andere schließen sich gegenseitig aus und nochmals andere werden aufeinander angerechnet. Der Weg durch das Leistungslabyrinth ist mehr als verwirrend. Er verschlingt viel Zeit und Energie, bindet Arbeitskräfte und treibt die Kosten der Verwaltung in die Höhe.
Nicht alle Menschen, die Anspruch auf staatliche Transferleistungen zur Minderung der Armut haben, machen diesen Anspruch geltend. Sie empfinden es erniedrigend, zum »Amt« zu gehen, wollen nicht als Bittsteller gelten. Andere glauben, dass sich das nicht lohne. Wieder andere wissen nicht um ihre Rechte. Erhebungen über die Inanspruchnahme von Sozialleistungen weisen diese verdeckte Armut, die Dunkelziffer der Armut, nicht aus.
Armut kann zeitweise oder dauerhaft vorhanden sein. Die vorübergehende, sogenannte transitorischeArmut gleicht sich für den Betroffenen im Verlauf der Zeit wieder aus. Das ist der Fall, wenn zu bestimmten Zeiten die Grundbedürfnisse befriedigt werden können, zu anderen Zeiten nicht. Das kann zyklisch schwanken wie saisonale Arbeitslosigkeit oder auch azyklisch wie bei Katastrophen. Die Situation Alleinerziehender mit ihren Kindern kann von transitorischer Armut geprägt sein, solange sie sich nicht verstetigt.
Mangelarmut, auch Deprivation genannt, liegt vor, wenn mindestens drei von neun Mangellagen vorliegen:
• Finanzielle Probleme, Miete, Darlehen für Immobilienerwerb, Versorgungsrechnungen nicht bezahlen zu können
• Finanzielle Probleme, die Wohnung angemessen zu beheizen
• Finanzielle Probleme, unerwartete Ausgaben aus eigenen Mitteln bestreiten zu können
• Finanzielle Probleme, jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder gleichwertige vegetarische Mahlzeit zu essen
• Finanzielle Probleme, jährlich eine Woche Urlaub außerhalb der eigenen Wohnung zu machen
• Fehlen eines Autos im Haushalt aus finanziellen Gründen
• Fehlen einer Waschmaschine im Haushalt aus finanziellen Gründen
• Fehlen eines Farbfernsehers im Haushalt aus finanziellen Gründen
• Fehlen eines Telefons im Haushalt aus finanziellen Gründen.
Treffen gar vier der neun genannten Lagen zu, liegt eine erhebliche materielle Entbehrung vor. 2015 waren 12 % der Bevölkerung von materieller Deprivation und 5 % von erheblicher materieller Deprivation betroffen.3 Dieser Indikator untersucht primär individuelle Mangelsituationen und fragt weniger nach der finanziellen Ausstattung eines Haushalts.
Der Lebenslagenansatz misst Armut an den verfügbaren Handlungsspielräumen von Menschen hinsichtlich Ernährung, Kleidung, Wohnung, Gesundheit, Arbeitsplatz, Bildung, Teilhabe an Kommunikation, Transport, kulturelle Aktivitäten.4 Weitergehend ist das Konzept des Mangels an Verwirklichungschancen nach Amartya Sen5. Diese Chancen stehen in Zusammenhang mit individuellen Chancen wie Einkommen, Gesundheit, Bildung und gesellschaftlich bedingten Chancen wie Zugang zur Bildung, zu sozialer Sicherheit. Der Staat soll diese Chancen gewährleisten. Es sind Mindeststandards zu definieren, deren es zur Verwirklichung dieser Chancen bedarf.6
StrukturelleArmut liegt vor, wenn eine Person einer gesellschaftlichen Randgruppe angehört, deren Mitglieder unter die Armutsgrenze fallen, mit geringen Chancen, in ihrem Leben aus dieser Randgruppe auszubrechen. In Verbindung damit wird häufig von einem Armutskreislauf gesprochen. Die Nachkommen der in struktureller Armut lebenden Menschen laufen Gefahr, ebenfalls ihr Leben lang arm zu bleiben. Einmal Hartz IV, immer Hartz IV. Die Armut wird von Generation zu Generation weitergegeben.
Armut muss nicht immer unfreiwillig erlitten werden. Sie kann sogar als Tugend aufgefasst werden, als bewusste Entsagung zur Sinnsuche und spirituellen Erbauung. Franziskaner und buddhistische Mönche haben sich der freiwilligen Armut verschrieben. FreiwilligeArmut gibt es im Kontext der Askese oder einem Leben in Freiheit, frei von Bedürfnissen wie Diogenes oder frei von äußeren Zwängen, wie es das Bild des glücklichen Vagabunden zeichnet. Aus freiem Entschluss jedoch ohne tugendhafte Ziele leben Menschen am Rande der Gesellschaft, die mit Zwängen im Alltag, am Arbeitsplatz oder Enttäuschung über ihre Mitmenschen nicht klarkommen. Sie ziehen Entbehrungen zwischenmenschlichen Enttäuschungen, den Zwängen des Alltags vor. Dabei bleibt offen, wieweit es sich wirklich um Freiwilligkeit handelt.
Von gefühlterArmut betroffen empfinden sich Menschen durch Vergleich mit ihrer Umgebung oder weil sie sich nicht den gewünschten Lebensstandard leisten können. Sie ist nicht unbedingt einkommensarm.7 Gefühlte Armut kann obendrein für Angst vor sozialem Abstieg stehen, wie er derzeit in der Mittelschicht und in der Diskussion über Altersarmut anzutreffen ist.
Weit verbreitet ist der Allgemeinplatz: Geld macht nicht glücklich. Menschen mit gutem Einkommen und Vermögen neigen dazu, sich mit anderen zu vergleichen. Das kann dazu führen, dass sie unzufrieden sind oder noch mehr erwerben wollen, um im Vergleich besser da zu stehen. Der Allgemeinplatz darf keinesfalls umgekehrt werden in: Arme Menschen sind glücklicher. Wer arm ist, hat nur weniger zu verlieren, und manche verlieren ihr Leben, weil sie in Armut leben.
Der Weltglücksbericht 2018 der UN hat in 156 Ländern das Glücksgefühl der Menschen erfragt. Es kann nicht verwundern, dass auf den letzten 50 Plätzen kein einziges Land anzutreffen ist, das nur annähernd als reiches Land bezeichnet werden kann. Hingegen führen ausschließlich reiche Länder die Liste an. Die Bundesrepublik befindet sich auf Platz 15.8 Geld macht vieles einfacher, wenn grundlegende Bedürfnisse erfüllt sind.
Das Phänomen der Armut wird in vielen Sprichwörtern und Geschichten verharmlost wie »Armut ist keine Schande noch Unehre«, »Wer barfuß geht, den drücken keine Schuh«, »Die Armen sind die Reichen der anderen Welt«, »Der wahre Bettler ist doch einzig und allein der wahre König« (Gotthold Ephraim Lessing), »Armut und Demut führen zum Himmel« (Märchen nach Gebrüder Grimm). Diese sozial-romantische Verklärung mag Armut im Blick des Betrachters wenig einschneidend erscheinen lassen, verharmlost diese. Die Verweisung auf eine himmlische Belohnung vertröstet die Armen, verspricht ihnen Belohnung im Jenseits. Sie ändert jedoch für die von Armut betroffenen Menschen nichts im Hier und Heute und ändert nichts an der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung.
1 Drèze & Sen (2014), S. 66, 81, 205.
2 Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (2016), S. 11.
3 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (2017), 5. Armuts- und Reichtumsbericht, S. 573.
4 Hauser (2018), S. 154.
5 Amartya Sen, indischer Wirtschaftswissenschaftler.
6 Hauser (2018), S. 153.
7 Mordfall Jakob von Metzler; Täter Magnus Gäfgen.
8 United Nations (2018), S. 23 ff.
Das Phänomen der Armut betrifft in manchen Ländern den überwiegenden Teil der Bevölkerung. Armut kann in einem Land aber auch nur einzelne Personen, Personengruppen treffen. Sie kann selbst in reichen Ländern anzutreffen sein.
Selbst der Reichtum an Rohstoffen schützt in manchen Ländern nicht vor weitverbreiteter Armut, wie das an Kupfer reiche Sambia oder das an Erdöl reiche Nigeria belegen. Ressourcenreichtum auf der einen Seite kann auf der anderen Seite bedeuten, dass andere Wirtschaftsbereiche, für die keine Notwendigkeit gesehen wird, nicht entwickelt werden. Fallen die Rohstoffpreise am Markt, führt das zu drastischen Einschnitten. Fallende Rohstoffpreise in Sambia in den 1970er Jahren führten zu einer hohen Staatsverschuldung und letztlich zur Privatisierung der Kupferminen in ausländischer Hand. Befindet sich die Förderung der Rohstoffe nur in wenigen Händen, kommen die Erträge nur wenigen zugute. Sind Regierungsmitglieder an den Erträgen beteiligt, und sei es nur über Bestechungsgelder, haben sie kein Interesse an der Erhebung von Steuern auf diese Erträge und an einer Verteilung der Erträge. Statt die Erträge im Inland anzulegen zur Förderung der Wirtschaft, wandert sie in sichere Länder ab.
Rohstoffe können Anlass für Konflikte sein. Erdölvorkommen im Süden des Sudans war der Anlass des Sezessionskrieges des Südsudans, und mittels der Erträge aus dem Erdölvorkommen wird der Bürgerkrieg im Südsudan finanziert. Nur wenige Menschen profitieren von der Erdölförderung in Nigeria. Vielmehr hat die Erdölförderung im Nigerdelta massiv Wasser, Luft und Boden geschädigt und weite Gebiete unbewohnbar gemacht. Sabotageakte und Angriffe auf Unternehmen und staatliche Stellen sind die Folge. Mit der Förderung von Diamanten werden Kriege und damit das Elend der Bevölkerung im Kriegsgebiet finanziert: Mit Blutdiamanten wurden Konflikte in Angola, Liberia und Sierra Leone bezahlt. Im Kongo führen reiche Vorkommen an Gold, Diamanten, Kobalt und Coltan zu Übergriffen von Milizen, fördern den Bürgerkrieg.
Die 14 ärmsten Länder der Welt liegen in Afrika. Hierzu zählen die Zentralafrikanische Republik, Niger, Kongo, Tschad, Sierra Leone, Eritrea, Burkina Faso, Burundi, Guinea, Mosambik, Guinea-Bissau, Mali, Liberia, Malawi und Äthiopien. Diese Länder haben das Erbe des Kolonialismus nicht überwunden. Doch die Armut in diesen Ländern beruht nicht alleine auf diesem Erbe. Als sich hunderttausende Menschen aus Afrika auf den Weg nach Europa machten, trat verstärkt ins Bewusstsein, dass das Problem der Armut in Afrika ein Problem Europas ist.
Im Kongo arbeiten bereits 7-jährige Kinder in Kobaltbergwerken. Kobalt findet insbesondere in der Elektronikbranche Verwendung. Die Sicherheitsstandards in den Bergwerken sind unzureichend, die Arbeit kann zu Lungenerkrankungen führen. Arbeitszeiten von bis zu 12 Stunden lassen keine Zeit für Schulbesuch zu. Kinderarbeit in indischen Steinbrüchen und der pakistanischen Textilindustrie ist weithin bekannt. Weniger gegenwärtig ist die zunehmende Kinderarbeit in der Landwirtschaft und hier vor allem in Afrika und in Asien. Kinder ernten in Kaffeeplantagen und auf Cashew-Feldern, bringen Pestizide aus, klettern auf Kokospalmen, lösen verhakte Fischernetzte im Tauchgang, schneiden Zuckerrohr mit scharfen Messern. Gesundheit und Schulbesuch bleiben auf der Strecke und vertiefen die Armut.
Kinder in armen Ländern haben oftmals schlechte Bildungschancen. Hinzu kommt, dass diese Kinder zumeist keinen Zugang zum digitalen Netz haben. Die zunehmende Digitalisierung in den Industriestaaten und der fehlende Zugang von Kindern zum digitalen Netz in armen Ländern werden die Kluft zwischen armen und reichen Ländern in puncto Bildung, Ausbildung und Berufschancen verschärfen. Ein sinnvoll genutzter Internetzugang vermag Bildungschancen zu fördern. Digitales Lernen eröffnet Mädchen Bildungschancen in Ländern, in denen ihnen der Schulbesuch aus politischen, religiösen oder anderen Gründen verwehrt ist. Digitaler Unterricht, digitale Bücher können Kinder erreichen, denen in Kriegsgebieten, Flüchtlingslagern kein regulärer Schulbesuch möglich ist.
Ursache von Armut können ungünstige geographische Bedingungen sein. Der Republik Tschad fehlt es an einem direkten Zugang zum Meer, der für Handel und Wirtschaft wichtig ist. Das Land ist von Wüstengebieten, Dornstrauch- und Trockensavannen geprägt als Folge geringer Niederschlagsmengen und hohen Temperaturen. Die Menschen leben überwiegend von Landwirtschaft, die in erster Linie der Selbstversorgung dient. In Anbetracht der Dürre, die sich mit verheerenden Regenfällen abwechseln kann, ist die Nahrungsmittelversorgung nicht stabil. Nur wenige Gebiete sind landwirtschaftlich nutzbar. Hier ist ein Verteilungskampf zwischen den Ackerbauern und den Viehnomaden um Wanderkorridore und Wasser entbrannt.
Die Industriestaaten tragen mittelbar zur Armut in anderen Ländern, insbesondere in Ländern der Dritten Welt, bei. Die Emission von Treibhausgasen treibt die Klimaerwärmung voran. Industrie- und Autoabgase, Viehzucht und Ernährung fördern diese Entwicklung. Steigende Temperaturen führen andernorts zu höherer Luftfeuchtigkeit, Niederschlägen, Stürmen und Überschwemmungen, wie sie in Asien zu verzeichnen sind. Menschen werden aus ihren angestammten Lebensräumen vertrieben, verlieren ihre Lebensgrundlage. Die Infrastruktur bricht zusammen und ausländische Investoren ziehen sich zurück, die für ihre Produktion auf die Infrastruktur angewiesen sind. Heftige Regenfälle und Überschwemmungen vernichten die Ernte, schwemmen die Erde von den Feldern. Das Schmelzen der Polareiskappen bewirkt die Erhöhung der Meeresspiegel und dadurch versinken niedrig gelegene pazifische Inselstaaten wie in Mikronesien und den Salomonen. Im ohnehin dicht bevölkerten Bangladesch gehen ganze Landstriche verloren, weil der Meeresspiegel ansteigt. Dies verstärkt Armut, Gewalt und Flucht. Noch bevor die Inseln im steigenden Meeresspiegel versinken, bricht die Süßwasserversorgung zusammen. Das steigende Meerwasser dringt in die Süßwasserlinien der Inseln ein, das Süßwasser versalzt zunehmend. Es fehlt an Trinkwasser und Wasser für die Bewässerung der ohnehin bescheidenen Landwirtschaft. Die Inseln werden bereits unbewohnbar, bevor sie versinken.
Als Folge der steigenden Temperaturen tritt Dürre auf wie in Niger, im Sudan und in Tansania. Wasserarmut verschlimmert dann die Not. Ursache für Wasserarmut der Bevölkerung ist, dass enorme Mengen an Süßwasser zum Anbau von Exportgütern wie Ananas, Bananen und Kaffee benötigt werden. Für ein Kilo Kakaobohnen werden 27.000 Liter Wasser benötigt. Das weltgrößte Anbaugebiet für Spargel ist Peru. Spargelanbau ist bewässerungsintensiv. Ein von Wasserknappheit betroffenes Land versorgt die Märkte wohlhabender Staaten mit bewässerungsintensiven Lebensmitteln. In armen Ländern werden erlesene Nahrungsmittel für die Märkte wohlhabender Staaten angebaut und die Grundnahrungsmittelproduktion für die eigene Bevölkerung eingeschränkt.
Umweltkatastrophen sind nicht einzig und allein auf den Klimawandel zurückzuführen. Der Klimawandel tut nur ein Übriges dazu, so dass Umweltkatastrophen häufiger und heftiger werden. Die gegenwärtigen Umweltkrisen und -katastrophen treffen arme Menschen am härtesten. Arme Haushalte sind sozioökonomisch verwundbarer. Naturkatastrophen treffen Entwicklungsländer und ihre Bevölkerung wirtschaftlich mit voller Wucht. Hier fehlt es an Ressourcen für den Wiederaufbau, die Behebung der Schäden. Schäden sind nur in seltenen Fällen von Versicherungen abgedeckt.
Auf riesigen Anbauflächen in Südeuropa werden von der EU subventionierte Tomaten im Überfluss gepflanzt und geerntet. Die Überschüsse werden in andere Länder außerhalb der EU transportiert. Sie überschwemmen dort die Märkte. In Ghana hat es dazu geführt, dass der Tomatenanbau im eigenen Land nicht mehr konkurrenzfähig ist. Der Anbau von Tomaten in Ghana ist arbeitsintensiv und wenig ertragreich. Trotzdem bildete er die bescheidene Lebensgrundlage für die Kleinbauern. Die Produkte der Tomatenbauer Ghanas können mit den hochsubventionierten Tomaten aus der EU nicht konkurrieren; die Lebens- und Existenzgrundlage dieser Bauern geht verloren. Ghanaer, die bislang vom Tomatenanbau im eigenen Land lebten, zieht es nach Südeuropa, um dort Tomaten zu ernten. Mehrere Hundertausend ausländische Erntehelfer, zumeist Flüchtlinge, arbeiten in Süditalien. Die Fabriken zur Produktion von Tomatenmark in Ghana haben die Arbeit eingestellt. Das Tomatenmark kommt billiger aus der EU. Dasselbe gilt für Michpulver aus Dänemark und Tiefkühlhühner aus Deutschland.
Manches gut gemeinte (Entwicklungs-)Hilfeprojekt fördert die Passivität und den Fatalismus der armen Bevölkerung, die sich auf Zuwendungen verlässt und eigene Initiativen aufgibt. So haben Lieferungen aus Altkleidersammlungen zum Zusammenbruch der Textilproduktion in manchen Ländern geführt. Entwicklungshilfe vermag korrupte Regimes am Leben zu halten, die sich an diesen Mitteln bedienen. Sie enthebt sie der Sorge um das Wohl der armen Bevölkerung, weshalb der Wirtschaftsnobelpreisträger von 2015, August Deaton9, provozierend dazu aufrief, die Entwicklungshilfe einzustellen.
Es wurden verschiedene Theorien entwickelt, die die Gründe für Armut von Personengruppen innerhalb einer Gesellschaft erklären sollen. Diese Theorien vermögen allenfalls, die Ursachen, Lebenslagen und Schicksale der Armut einzelner Menschen zu deuten. Keine der Theorien vermag das Phänomen Armut vollumfänglich zu erklären. Dazu ist das Phänomen zu vielschichtig. In Einzelschicksalen können sich mehrere der Theorien wiederspiegeln. Andere Einzelschicksale haben nichts mit den Theorien gemeinsam. Diese Theorien sind nicht mehr als punktuelle Erklärungsansätze. Manche Theorien sagen mehr über die Philosophie ihrer Vertreter aus als über die beschriebenen Personen.
Theorien zur ungleichen Verteilung von Vermögen und Produktionsmitteln besagen, dass die einen immer reicher werden und sich die Schere zwischen arm und reich immer mehr auftut. Dieses Auseinandertriften von arm und reich sei im System angelegt. Laut Karl Marx10