Atlantis - Das Juwel der Macht - Gena Showalter - E-Book
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Atlantis - Das Juwel der Macht E-Book

Gena Showalter

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Beschreibung

Agent Grayson James hat einen Auftrag: das Juwel von Atlantis finden und dafür sorgen, dass es nicht in die falschen Hände gerät - selbst wenn das bedeutet, es zu zerstören. Doch nachdem er die schöne Jewel vor einer Horde Dämonen gerettet hat, scheint seine Mission auf einmal unmöglich. Denn sie ist das Juwel, das jeder in Atlantis beherrschen will. Und er ist der Halbgöttin längst verfallen. Statt sie zu töten, nimmt er es mit Dämonen, Drachen und Vampiren auf - und mit einer Prophezeiung, die sie beide zerstören könnte. Praises "Das Buch ist ein wahres Juwel.” —A Romance Review "Sexy, lustig und einfach magisch!" — USA TODAY-Bestsellerautorin Katie McAllister

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EPUB

Seitenzahl: 455

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Zum Buch:

Der Legende nach verfügt das Juwel von Dunamis über eine Macht, die jeden Feind in die Knie zwingt. Finstere Armeen verfolgen bereits seine Fährte – und die Zeit rast für den Agenten Grayson James, der das wertvolle Artefakt aufspüren muss. In Atlantis kommt er dem Ziel gefährlich nahe – bis eine sinnliche Stimme in seinem Kopf ertönt und ihm den Weg weist. Bald erkennt er nicht nur die Wahrheit hinter der Macht des Steins, sondern auch dessen überaus weibliche Gestalt. Denn das Juwel offenbart sich als Frau aus Fleisch und Blut. Eine Frau, von der er sich liebend gerne bezwingen lässt …

„Das Buch ist ein wahres Juwel.“

A Romance Review

Zum Autor:

New York Times-Bestsellerautorin Gena Showalter glaubt, dass Liebe alles überwindet. Früher selbst passionierte Liebesromanleserin, weiß sie ihre Fans mit eigenen Pageturnern voller Humor, Gefahr und heißer Sinnlichkeit zu begeistern. Ihren internationalen Durchbruch feierte sie mit ihrer Paranormal-Serie der „Herren der Unterwelt“.

Lieferbare Titel:

Der Drachenkrieger (Atlantis #1)

Gena Showalter

Atlantis – Das Juwel der Macht

Roman

Aus dem Amerikanischen von Jutta Zniva

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Jewel of Atlantis

Copyright © 2006 by Gena Showalter erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Books II. B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-536-6

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Für Max, meinen Schatz.

Für dieFrauen, die mir helfen, alle meine Träume zu verwirklichen: Tracy Farrell, Donna Hayes, Loriana Sacilotto, Dianne Moggy, Margo Lipschultz, Keyren Gerlach, Marleah Stout und das fantastische Art Department von HQN. (Und für alle anderen, die ich dummerweise ausgelassen habe. Entschuldigung!)

Für Merline Lovelace, eine Frau, deren Großzügigkeit und Selbstlosigkeit von Herzen kommen.

Für Debbie Splawn-Bunch, die mir nicht erlaubt hat, dieses Buch „Seine (harten, prachtvollen) Kronjuwelen“ zu nennen.

PROLOG

Die Götter hatten nie die Absicht gehabt, sie zu erschaffen.

Jahrhundertelang waren sie ruhelos durch die himmlischen Sphären gestreift und hatten ihr Verlangen nach Wesen hinausgeschrien, über die sie herrschen und bestimmen konnten. Sie hatten regelrecht nach einem Königreich gelechzt, in dem es treu ergebene, dankbare und gehorsame Untertanen im Überfluss gab.

Und auf diese Weise war die Idee des Menschen geboren worden.

Der König der Götter wurde geopfert, sein Blut verschmolz mit dem Boden, mit der Luft und dem Feuer, lebendige Wesen wurden erschaffen. Doch die Kraft der Elemente war unberechenbar, ihre Mischung fehlerhaft und das Ergebnis eine Katastrophe. Die Wesen, die sie erschaffen hatten, entsprachen nicht der Vorstellung der Götter – weder in ihrem Aussehen noch ihrem Charakter. Sie waren nicht treu ergeben, auch nicht dankbar und schon gar nicht gehorsam. Diese Drachen, Minotauren, Vampire, Nymphen, Formorier und all die unzähligen anderen Kreaturen waren mächtige Rivalen, die möglicherweise den königlichen Thron der Unsterblichen an sich reißen konnten.

In den himmlischen Sphären machte sich Angst breit.

Von Panik ergriffen, verdammten die Götter die grauenvollen Geschöpfe zu einem Leben unter dem Meer, wo sie ihr Dasein für alle Zeit in einem Reich fristen mussten, das als Atlantis bekannt war. Das Einzige, was an ihre Existenz erinnerte, war Das Buch des Ra-Dracus, in dem die Erschaffung und die Mängel jeder Spezies genau festgehalten waren. Doch auch dieses Buch geriet in Vergessenheit.

Jahrhunderte vergingen.

Wie so oft breitete die Zeit gnädig den Mantel des Vergessens über den Fehler der Götter und begrub ihre Erinnerung daran. Was ihnen blieb, war nur das immer größer werdende Verlangen nach Gesellschaft. Und so versuchten sie zum zweiten Mal, den Menschen zu erschaffen.

Diesmal mit Erfolg. Die Menschheit war geboren.

Bald darauf begann das Zeitalter der Harmonie: Die Götter mischten sich in das Leben der Menschen ein, wann immer sie Lust hatten, und die Menschen beteten die Götter an. Die grundverschiedenen Schöpfungen – Menschen und Bewohner von Atlantis – sollten sich niemals begegnen, sich nie näher kennenlernen und sich nie ineinander verlieben.

Hätte das bloß mal jemand Grayson James gesagt.

1. KAPITEL

Es hatte ein einfacher Auftrag sein sollen. Unkompliziert. Ruck, zuck erledigt.

Sein Boss hatte ihm diesen Mist erzählt, und Grayson James war so dumm gewesen, ihm zu glauben. Als Gray allerdings zum ersten Mal dieses saftig grüne, vom Meer umspülte Land namens Atlantis betrat, wurde ihm klar, dass es leichter gewesen wäre, einem Eskimo einen Kühlschrank zu verkaufen. Einen verdammt teuren noch dazu.

Atlantis.

Kein Mythos. Verflucht. Er hatte gehofft, es wäre einer.

Er verzog missmutig das Gesicht. In einer Hand hielt er ein winziges, piependes GPS-Gerät, das mit den Koordinaten programmiert war, die man auf einer Landkarte gefunden hatte. Einer waschechten Karte von Atlantis, die sein Boss im Geheimversteck eines verschwundenen Millionärs gefunden hatte. Das GPS-Signal wurde gerade vom magnetischen Erdkern reflektiert, was Gray half, sich hier in diesem Dschungel zu orientieren. In der anderen Hand hatte er ein Buschmesser, mit dessen scharfer Silberklinge er sich den Weg durch das dichte Gestrüpp schlug.

Nein, Atlantis war kein Mythos. Es war zufällig die Heimat der abscheulichsten Kreaturen, die er je gesehen hatte. Und als Mitarbeiter des OBI – des Otherworld Bureau of Investigations – hatte er schon eine Menge abscheuliche Kreaturen gesehen.

Langsam fragte er sich, warum er der Behörde überhaupt je beigetreten war.

Allerdings kannte er die Antwort, und die war nicht, dass er als Teenager viele Jahre (heimlich) Star Trek geguckt hatte und Klingonisch sprechen konnte. „Heghlu’meH QaQ jajvam“, seufzte er. Heute ist ein guter Tag zum Sterben.

Als er (zu seinem Entsetzen) erfahren hatte, dass es in den unendlichen Weiten des Weltraums tatsächlich noch Leben auf anderen Planeten gab, hatte er seinen Job als Kripobeamter beim Dallas Police Department aufgegeben und begonnen, sich nach einem Auftrag la Men in Black umzusehen. Als das OBI ihn schließlich kontaktierte, hatte er das Angebot sofort angenommen. Er war überzeugt, dass es notwendig war, die Bewohner dieser anderen Welten zu erforschen und seinen eigenen Planeten vor ihnen zu schützen.

Woher hätte er wissen sollen, dass die furchterregendsten aller Wesen hier lebten, auf seinem eigenen Planeten? Einfach nur begraben unter dem Ozean, geschützt durch eine Art Kristallkuppel?

Er wich einem Ast aus. „Atlantis“, brummte er zähneknirschend. „Codename: Hölle.“

Nachdem er durch ein gallertartig waberndes Portal geschritten war, das das OBI in Florida unter Wasser entdeckt hatte, fand er sich in einem gigantischen Kristallpalast wieder, der von riesigen, Schwerter tragenden Männern bewacht wurde. Zum Glück war es ihm gelungen, sich unbemerkt an ihnen vorbeizuschleichen und in diesen Dschungel vorzudringen.

Dann hatte sich das Glück, dieser launische Geselle, abrupt verabschiedet.

In den letzten beiden Nächten war er von einem Begrüßungskomitee aus einem blutsaugenden Vampir, einem feuerspeienden Drachen und einem geifernden, geflügelten Dämon gejagt worden, die in Gedanken vermutlich schon die Messer für das Festmahl gewetzt hatten.

Eine wundervolle Erinnerung …

Mittlerweile kannte er sich aus. In weniger als einer Stunde würde es Nacht werden und diese … Dinger würden wieder auftauchen. Würden ihn jagen. Würden ihn am liebsten mit Haut und Haaren verschlingen. Aber nicht aus Liebe.

Diese Vorstellung ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren, und nicht einmal die heiße feuchte Luft konnte ihn wärmen. Seit 58 Stunden saß er nun schon in diesem nicht enden wollenden Labyrinth fest, und vierzehn davon waren nach immer gleichem Muster verlaufen: die Monster spüren ihn auf, Gray versucht ihnen zu entkommen.

In der ersten Nacht hatte er versucht, sie mit seiner Beretta zu erschießen. Es war ihm gelungen, dem Drachen eine Kugel zwischen die Augen zu verpassen, aber seine anderen Verfolger waren den Schüssen schnell und mühelos ausgewichen und hatten sich verzogen.

Als in der zweiten Nacht die beiden übrig gebliebenen Kreaturen wiederaufgetaucht waren, hatte Gray sich seine Kampffertigkeiten zunutze gemacht und dem Vampir die Kehle aufgeschlitzt. Ein wahres Vergnügen, wie er zugeben musste. Ganz unversehrt hatte er es allerdings nicht überstanden. Seinen Hals und einen Oberschenkel zierten jetzt fünf tiefe Kratzund Beißspuren, die ständig schmerzhaft pochten. Sie eiterten zwar nicht, verheilten aber auch nicht richtig.

Wie er danach dem Dämon entkommen war, wusste er nicht. Verwundet und schwach wie er war, wäre er leichte Beute gewesen. Mann, sein blutender Körper hätte doch ein leckeres Abendessen abgegeben. Gray hatte sich viele Male gefragt, ob der Dämon ihn absichtlich hatte entwischen lassen, weil er den Kick, den ihm die Jagd bescherte, noch länger auskosten wollte.

Tja, der Dämon war nicht der Einzige, der heute Abend Spaß haben würde. Über Grays Gesicht huschte ein Grinsen voller Vorfreude. Jetzt, da er schlauer war, würde er sich nicht mehr überrumpeln lassen. Außerdem hatte er sich schon einen Plan zurechtgelegt. Operation Kill die Bestie. Wenn sich KDB erfolgreich umsetzen ließ, würde der Dämon schon bald seinen blutsaugenden Freunden in der Hölle Gesellschaft leisten. Wenn nicht, tja, dann würde Gray auf Plan B zurückgreifen: Operation Oh Shit. Er würde davonlaufen, so schnell er konnte, und sich verstecken, bis die scheinbar lebendige Kuppel über ihm wieder Licht ausstrahlte.

Er schaute zur Kuppel hinauf. Hier gab es keinen Himmel, sondern meilenweit nur glitzernde Kristallwände. Über die Außenseite der Kuppel spülten ständig Wellen, und jenseits von ihr sah er Meerestiere aller Farben und Formen schwimmen. Die nackten Meerjungfrauen gefielen Gray am besten.

Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als ihm ein Zweig scharf über eine Wange streifte, seine Haut aufriss und so seine ohnehin immer länger werdende Liste der Grässlichkeiten noch umfangreicher machte. Grays Stimmung war endgültig auf dem Tiefpunkt angelangt. Wenigstens hatten die Insekten aufgehört, um ihn herumzuschwirren. Ein echter Lichtblick, dachte er verbittert. Er hätte diesen Job nie übernehmen sollen.

Er wandte sich gerade nach links, als seine Armbanduhr zu vibrieren anfing. Abrupt blieb er stehen. „Das hat mir gerade noch gefehlt“, murmelte er. Es war Zeit, sich in der Heimat zu melden.

Er ließ seinen Rucksack fallen, kramte darin herum, nahm schließlich ein kleines schwarzes Funkgerät heraus und schaltete es ein. Wenn er sich nicht wenigstens ein Mal am Tag meldete, würde die Kavallerie hier einfallen und seinen Auftrag zu Ende bringen. Er hatte noch nie bei einem Einsatz versagt und würde auch diesmal nicht scheitern.

„Santa an Mutter“, sagte er. Seinen Codenamen auszusprechen war ihm peinlich. Seine Abteilung hatte den Namen wahnsinnig witzig gefunden und erklärt, Gray würde genau wie der Weihnachtsmann anderen Welten einen Kurzbesuch abstatten und dort ein paar Geschenke hinterlassen (wie etwa Bomben und Leichen), und so war ihm der Spitzname geblieben. „Kannst du mich hören?“

Es rauschte ein paar Sekunden, dann hörte er: „Auf Empfang, Santa.“ Gray erkannte die Stimme seines Bosses, Jude Quinlin.

„Ich habe das Paket immer noch nicht, aber es läuft alles gut.“

„Verstanden.“

„Over.“ Er beendete das Funkgespräch, steckte das Gerät in seinen Rucksack und marschierte weiter. Um Operation KDB lebend zu überstehen, musste er eine kleine Lichtung finden, auf der genug Platz war, um geschickt auszuweichen oder in Deckung zu gehen. Bis jetzt hatte er noch kein Glück gehabt. Und langsam wurde die Zeit knapp. Seine Uhr tickte gnadenlos.

An einem Dickicht, das ihm den Weg versperrte, schwenkte er nach rechts ab, doch das GPS begann schrill und hektisch zu piepsen – ein Zeichen, dass er die falsche Richtung eingeschlagen hatte. Knurrend drehte Gray sich um und ging zurück, bis das kleine Gerät sich wieder beruhigt hatte. Schweißtropfen liefen ihm über die Schläfen und tropften auf seinen Tarnanzug.

Sein Urlaub war fällig gewesen, verdammt. Endlich Gelegenheit, seine Brüder und seine Schwester wiederzusehen, die er seit über zwei Jahren nicht besucht hatte. Klar, er rief sie regelmäßig an, aber das war nicht das Gleiche, wie sie zu umarmen oder mit ihnen zu lachen. Mit ihnen zusammen zu sein. Er wollte mit Katies Kindern spielen. Wollte sich davon überzeugen, dass ihr Mann Jorlan wusste, was für ein Hauptgewinn sie war, und sie entsprechend behandelte.

Die Arbeit für das OBI – die im Prinzip darin bestand, ständig durch galaktische Schlupflöcher von Planet zu Planet zu springen – erlaubte einem keine häufigen Fahrten nach Hause. Scheiße, für das OBI zu arbeiten, erlaubte überhaupt keine Reisen irgendwohin – außer zu fremden Planeten. Und jetzt in ein Reich unter dem Meer. Wofür man ganz bestimmt keine Gelegenheit hatte, waren Dates und Sex. Es sei denn, man hatte Lust auf einen One-Night-Stand mit einer dreiäugigen, blauhäutigen, schleimigen Alien-Frau.

Hatte er aber nicht.

1. Er hatte One-Night-Stands nie gemocht, bevorzugte mehrere Nächte mit mehreren Orgasmen.

2. Drei Augen? Schleimige Haut? Ekelhaft.

3. Hatte er schon erwähnt, dass er sich mit einer Frau gern Zeit ließ? Dass er es auskostete, jede Stelle ihres Körpers zu streicheln, in ihrem Duft zu schwelgen und genießerisch mit seinen Lippen über ihre Haut zu streifen? Dass er gern hörte, wenn sie in seiner Muttersprache stöhnte, wie unglaublich seine erotischen Künste waren?

Bei dem Gedanken an die „unglaublichen erotischen Künste“ musste er grinsen.

Erneut streifte ein Zweig seine Wange, und Gray verging das Grinsen. Selber schuld. Du hättest dich eben nicht von deiner schmutzigen Fantasie ablenken lassen dürfen. Wie wahr. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, an Sex und Frauen zu denken. Oder Sex mit Frauen zu haben. Er gab der Hitze die Schuld an seinem kleinen Gedankenausflug. Der Hitze und dem Umstand, dass er schon seit langer, langer Zeit nicht mehr mit einer Frau geschlafen hatte.

Viel zu lange nicht.

Warum sonst konnte er sich denn nicht auf das Wesentliche konzentrieren – sein Überleben –, sondern stellte sich lieber eine nackte Frau vor. Eine nackte Frau mit langen, zarten Beinen, die sich um seine Hüften schlangen und …

Und schon wieder streifte ihn ein Zweig. Diesmal erwischte es sein Auge. Wie oft denn noch? „Konzentrier dich, Junge.“ Schließlich litt er ja nicht an ADHS. Du bist aus einem bestimmten Grund hier, James. Nur daran darfst du denken.

Ein einziger unachtsamer Moment konnte eine Mission zum Scheitern bringen. Er wusste das, und es überraschte ihn, wie leicht er derzeit abzulenken war. Vielleicht war es ihm ja nicht aufregend genug, von einem menschenfressenden Dämon gejagt zu werden. Wenn dem so war, würde er sich körperlich und psychologisch gründlich durchchecken lassen müssen. Und zwar möglichst bald.

„Der Auftrag. Denk nur an den Auftrag.“ Ihm fielen zum tausendsten Mal die Worte ein, die ihm sein Boss zum Abschied mit auf den Weg gegeben hatte. Wir haben ein Buch gefunden, Gray. Das Buch schlechthin sogar. Es heißt Ra-Dracus. Darin geht es um Drachen, Vampire und ähnlichen Blödsinn, aber die wahre Botschaft ist zwischen den Zeilen versteckt. In Geheimsprache.

„Das mit den Drachen und Vampiren ist Blödsinn“, äffte er seinen Boss nach. Im Nachhinein war man immer klüger, aber was half ihm das jetzt?

„Als wir den Code dieser Sprache geknackt haben“, hatte sein Boss hinzugefügt, „konnten wir alles über das sogenannte Juwel von Dunamis lesen, einen Edelstein, der über derartige Kräfte verfügt, dass man mit ihm einen Blick in die Zukunft werfen kann oder erkennt, wer lügt und wer die Wahrheit sagt. Wer ihn in der Hand hält, kann jeden Feind vernichten, jede Armee besiegen.“

Kein Wunder, dass seine Regierung so versessen darauf war, den Stein zu besitzen.

Gray sollte das kostbare Juwel finden, es stehlen und dann nach Hause bringen. Falls seine Mission in irgendeiner Form gefährdet war, musste er den Stein zerstören, damit ihn kein anderer in die Finger bekam.

So einfach war das.

Einfach? Ja, ungefähr so einfach wie eine Operation am offenen Gehirn. Gray blieb kurz stehen und nahm einen Schluck aus seiner Feldflasche, in der das mit Vitaminen angereicherte Wasser zusehends weniger wurde. Die kühle Flüssigkeit glitt seine ausgedörrte Kehle hinunter und gab ihm den dringend nötigen Energieschub, den er brauchte.

Eine gefühlte Ewigkeit lang kämpfte er sich unermüdlich weiter durch den Dschungel, denn ihm war klar, was ihn erwartete, wenn er keine gute Stelle fand, um Operation KDB durchzuführen. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, deren digitales rotes Licht unter dem verdreckten Glas kaum zu erkennen war. Zwanzig Minuten noch, dann war wieder Showtime. Er musste also sofort einen geeigneten Platz finden. Seine Miene verfinsterte sich, und …

Pass auf den Treibsand auf.

Gray sah sich hastig nach der Frau um, die er gerade sprechen gehört hatte. Er ging weder in Deckung, noch hielt er an. Besser, er blieb in Bewegung. Außerdem wollte er sie nicht durch irgendeine unerwartete Handlung erschrecken. So etwas konnte einen Finger am Abzug schnell zum Zucken bringen.

Seine Hand schloss sich fester um den Griff seines Buschmessers. Die Chancen standen 50 zu 50, dass die Frau eine Waffe hatte, und sogar noch höher, dass sie davon Gebrauch machte. Man konnte nicht vorsichtig genug sein.

Hörst du mir nicht zu? Ich sagte, du sollst auf den Treibsand aufpassen.

Wieder drang die rauchige Frauenstimme mit dem starken Akzent in seine Gedanken ein, und sie klang so ungeheuer sinnlich, dass Gray unwillkürlich eine Erektion bekam – ehe er plötzlich in einer großen Senke voller Treibsand stecken blieb.

„Was zum Teufel …?“ Instinktiv versuchte er, seine Füße zu heben, was nur dazu führte, dass er noch schneller und tiefer einsank. Er hörte auf, sich zu bewegen, starrte nach unten und sah, wie der Treibsand langsam über seine Füße stieg … seine Knöchel bedeckte.

Na toll. Ihre Stimme klang genervt. Möglich, dass sie sogar Vollidiot gemurmelt hatte, aber er war sich nicht sicher. Ich habe versucht, dich zu warnen.

„Wo bist du?“, fragte er so sanft und freundlich wie möglich, während er den Blick suchend über die saftig grünen Büsche und Sträucher schweifen ließ. Die Blätter hier waren dicker als alle, die er jemals gesehen hatte, und bewegten sich trotz des leichten Windes kaum.

Nichts deutete darauf hin, dass sich jemand im Gebüsch versteckte. Man hörte weder Rascheln noch Zweige knacken. Sie hatte versucht, ihn vor dem Treibsand zu warnen, also wollte sie ihm hoffentlich nichts Böses. Und, bei Gott, er konnte im Moment jede Hilfe brauchen.

„Du kannst rauskommen“, sagte er. „Ich tu dir nichts. Versprochen.“

Denk mal kurz nach, Gray. Du hörst mich nicht mit deinen Ohren, sondern in deinem Kopf.

„Woher weißt du, wie ich heiße?“, fragte er scharf. Dann blinzelte er, schüttelte den Kopf und blinzelte wieder. Die Stimme war noch immer da. Ihr Echo hallte durch die Windungen seines Gehirns. Sie hatte recht. Ihre Worte waren tatsächlich in seinem Kopf.

Wie war das möglich?

Wie zum Teufel war das möglich?

„Ich bin schizophren“, sagte er laut. Die Erkenntnis war zu schockierend und surreal, um sie für sich zu behalten. „Jetzt bin ich endgültig übergeschnappt.“ Er hatte in seinem Leben ziemlich viel verrücktes Zeug zu sehen bekommen, aber diese Stimme in seinem Kopf war der Tropfen, der das Fass gerade zum Überlaufen gebracht hatte.

Er hätte es wissen müssen, dass sich der Wahnsinn bei ihm in Form einer gespaltenen Persönlichkeit zeigen würde. Mit einer verdammt erotischen weiblichen Persönlichkeit noch dazu. Ihre rauchige, sinnliche Stimme … Er hatte noch nie etwas dermaßen Erregendes gehört.

Er sank immer tiefer. Jetzt steckte er bereits bis zu den Unterschenkeln im feuchten, zähflüssigen Sand. Es roch nach abgestandenem Wasser und nach Fäulnis. Er rümpfte angeekelt die Nase. Was da vor sich hinfaulte, wollte er lieber nicht so genau wissen.

Selbst wenn er verrückt geworden war, er hatte nicht zwei qualvolle Tage überlebt, um jetzt im stinkenden Sand zu sterben. Was immer er dafür tun musste, er würde sein Leben – oder besser, seine Leben – retten und aus diesem Schlamassel wieder herauskommen.

Verdammt.

Da er kein einziges Teil seiner Ausrüstung verlieren wollte, warf er sein GPS und das Buschmesser auf den trockenen Boden. Vorsichtig und bemüht, sich bloß nicht zu viel oder zu schnell zu bewegen, nahm er seinen Rucksack herunter und warf ihn zu dem Messer. Er wünschte, er hätte beim Kampf mit dem Begrüßungskomitee nicht sein Seil verloren.

Seine Miene verfinsterte sich zum wahrscheinlich tausendsten Mal in gefühlt ebenso vielen Stunden. Der Gesichtsausdruck spiegelte seine Meinung über Atlantis wider. Unterdessen sank er immer weiter ein, ganz langsam, und der nasse Sand arbeitete sich über seine Knie bis zu den Oberschenkeln hoch. Die groben, feuchten Sandkörner waren kalt, und seine Körpertemperatur sank rapide. Das Einzige, was stieg, war sein Blutdruck.

Während der blubbernde, gurgelnde Sog ihn weiter hinunterzog, schaute Gray sich erneut um. Diesmal nach einem Rettungsanker. Kein Ast, kein Zweig in der Nähe. Nur ein große, weißer Felsbrocken, doch der war zu weit weg, um ihn zu fassen zu kriegen.

Zieh dein Hemd aus, sagte die sinnliche Ich-will-dich-nacktin-meinem-Bett-Stimme.

Er schnaubte verächtlich. Der Tod hatte ihn praktisch schon auf der Schippe, und seine neue weibliche Persönlichkeit wollte, dass er sich auszog. Warum überraschte ihn das nicht?

„Soll ich die Hose auch ausziehen?“, fragte er trocken. Wenigstens hatte er ein scharfes Nympho-Girl als Gefährtin im Geist gewählt und keinen näselnden alten Mann.

Idiot, schnaubte sie, mit einem Hauch Verlegenheit in der Stimme. Zieh dein Hemd aus, nimm in jede Hand einen Ärmel und wirf den Stoff über den Felsbrocken.

Er riss erstaunt die Augen auf, während er die Entfernung zu dem Stein erneut abschätzte. Das konnte tatsächlich klappen. Zum ersten Mal seit Tagen lachte er wirklich. Er mochte schizophren sein und kurz davor, völlig durchzudrehen, aber er war auch ein verdammtes Genie.

Die Frau – es war auf Dauer schwer, eine so deutliche, echt wirkende Stimme nur als Erweiterung seiner selbst zu betrachten – seufzte. Warum mussten die Götter ausgerechnet dich aussuchen?

Ihre Verzweiflung ließ sein Lächeln breiter werden. „Das Gleiche könnte ich mich auch fragen, Schätzchen.“

Er zog den Kragen seines Hemds über den Kopf. Dann nahm er einen Ärmel in die rechte Hand, den anderen in die linke, beugte sich vor und warf das Hemd wie ein Lasso über den Felsbrocken. Daneben.

Er versuchte es noch einmal. Wieder daneben.

Okay, er musste sich eindeutig mehr Zeit für sein Geschicklichkeitstraining nehmen.

Der Sand stand ihm jetzt bis zum Bauch. Gray versuchte weiter, das Hemd über den Felsbrocken zu werfen, und schließlich schaffte er es. Er hielt sich fest und hörte auf zu sinken.

Jetzt zieh.

„Ich weiß, was zu tun ist.“ Er zog, so fest er konnte. Seine Armmuskeln brannten, so sehr strengte er sich an. Der Sand hielt ihn fest im Griff und gab keinen Millimeter nach.

Unter Aufbietung all seiner Kräfte zog er weiter. Die Wunde an seinem Bein schmerzte, und die Bissspuren an seinem Hals pochten. Möglich, dass die Haut dort sogar aufgeplatzt war, denn er spürte etwas Warmes, Nasses seinen Hals hinunterrinnen.

Nur noch ein paar Zentimeter, dann hatte er es geschafft. In dem Moment, als er bereits den Stoff seines Hemds reißen hörte, gelang es ihm, seinen Körper mit letzter Kraft auf den trockenen, festen Boden zu hieven. Er schnaufte erleichtert.

Und jetzt lauf weg. Schnell. Der Dämon ist schon in der Nähe.

Gray ignorierte sie, drehte sich auf den Rücken und setzte sich dann auf. Während er einen Blick auf seine Armbanduhr warf, spürte er eine sanfte, salzige Brise an sich vorbeistreifen, die ihn an den Urlaub erinnerte, den er so dringend nötig hatte. Dieser Ort hier war vermutlich so gut wie jeder andere, überlegte er. Wenn er weiter nach der idealen Stelle suchte, lief ihm die Zeit davon.

„Dann lassen wir Operation KDB mal beginnen.“ Er zog sein Hemd an, machte seinen Rucksack auf und kramte darin herum.

Was soll das? Lauf weg, du Dummkopf.

„Du brauchst einen Namen“, sagte er, ohne ihre Aufforderung zu beachten, und wühlte weiter in seinem Rucksack. Hatten die Stimmen, die Schizophrene im Kopf hörten, nicht immer einen Namen? Wenn er schon wahnsinnig wurde, dann auch richtig. Fürs Erste zumindest. Sobald er wieder zu Hause war und dem Captain von seiner neuen Freundin erzählte, würde er mit so vielen Nadeln gestochen werden, dass die wissenschaftliche Untersuchung eines Alien-Körpers eine zarte Massage dagegen war.

Vielleicht würde er sie Bunny nennen. Oder Bambi.

Bitte, rief sie. Du musst dich verstecken. Sonst wird man dir wieder wehtun und …

„Ich werde nirgendwohin laufen. Ich werde ihn töten.“

Sie schwieg und schien darüber nachzudenken, was er gesagt hatte. Hör zu, Gray, du bist nicht verrückt. Ich bin kein Produkt deiner Fantasie oder eine Stimme in deinem Kopf. Ich bin echt, und ich kann dir helfen. Ich kenne Atlantis und die Geschöpfe, die hier leben. Hör auf mich, dann überlebst du vielleicht noch einen Tag.

Jetzt war er es, der schwieg und nachdachte. Das, was sie gesagt hatte, ergab auf eine merkwürdige Art und Weise Sinn. Im Laufe der Jahre hatte er alle möglichen seltsamen Dinge erlebt. Fast hätte er „Kannst du das beweisen?“ gefragt, doch er verkniff es sich.

Obwohl er es nicht laut ausgesprochen hatte, stöhnte sie genervt. Typisch Mensch. Beweis dies, beweis das. Tss! Ich rede doch mit dir, oder nicht?

Mehrere Alien-Spezies kommunizierten auf mentaler Ebene miteinander. Gray wusste also, dass es funktionierte, er hatte nur nicht gewusst, dass Telepathie auch bei ihm funktionierte. Er war ziemlich erleichtert, dass er nicht völlig den Verstand verloren hatte.

„Wo bist du?“

Im Hades, wie es aussieht.

Er grinste. „Ach ja? Ich auch. Magst du mir sagen, woher du weißt, wie ich heiße?“ Er fing wieder an, in seinem Rucksack zu kramen. „Und wie kommst du in meinen Kopf?“ Das beunruhigte ihn nämlich, sehr sogar, aber im Moment gab es zu viele andere Dinge, über die er sich Sorgen machen musste.

Willst du darüber wirklich jetzt diskutieren? Die Zeit arbeitet gegen dich.

Wieder einmal hatte sie recht. Er hatte wirklich nicht mehr viel Zeit, vielleicht fünf oder zehn Minuten, und jede Sekunde zählte. „Dann will ich mal nicht so sein und ziehe die Fragen zurück. Aber da gibt es etwas, was ich einfach wissen muss: Warum hilfst du mir?“

Schweigen. Es wäre eine Schande, wenn dein hübsches Gesicht verunstaltet würde.

Gute Antwort. Dem war nichts entgegenzusetzen.

„Weißt du, wie man einen Dämon außer Gefecht setzt?“ In Sagen wurde immer behauptet, es ginge mit Knoblauch, einem Pfahl durchs Herz oder Weihwasser. Moment. Damit brachte man Vampire um. Was zum Teufel funktionierte bei Dämonen? Im Buch des Ra-Dracus hatte höchstwahrscheinlich eine genaue Anleitung gestanden, doch auf solche Dinge hatte er nicht geachtet. Er hatte die Texte bloß als Tarnung für den Geheimcode mit den Infos über das magische Juwel aufgefasst. Dumm gelaufen.

Es gibt keinen Grund zu kämpfen. Ich kann dich in Sicherheit bringen.

„Gift? Dynamit?“ Er zog besagte Dinge aus seinem Rucksack.

In seinem Kopf herrschte Schweigen.

„Ich gehe nirgendwohin, Süße. Also kannst du es mir genauso gut verraten.“

Sein Hals, sagte sie schließlich mit bebender Stimme. Du musst … tja, du weißt schon.

„Ja, ich fürchte, ich weiß, worauf es hinausläuft.“ Er ließ die Handgranaten im Rucksack. Die würde er vielleicht später noch brauchen. Stattdessen nahm er vier Stangen Dynamit und seine Nachtsichtbrille heraus.

Das Dynamit wird dir nichts nützen. Dämonen werden durch Feuer nur noch stärker.

„Ich hoffe darauf, dass der Typ durch den Druck der Explosion langsamer wird, sodass ich nahe genug an ihn rankomme, um … du weißt schon.“ Er schob ein Magazin in seine Pistole und lud durch. Das hier war seine letzte Munition, also musste er sie bestmöglich nützen.

Sei vorsichtig. Bitte sei vorsichtig.

In ihren Worten schwangen so viele Gefühle mit. Angst, Bedauern, Hoffnung. Sorge. Gefühle, die er nicht verstand, und ihm fehlte die Zeit, darüber nachzudenken.

Versprich es mir.

„Ich gebe dir mein Wort“, sagte er, dann blendete er sie komplett aus. Er wollte sich bei seinem Vorhaben nicht von ihr ablenken lassen. Wenn er gewinnen wollte, musste er voll konzentriert sein – und bleiben.

Ich rede erst wieder mit dir, wenn das Ganze vorbei ist, sagte sie, als würde sie spüren, was er im Moment brauchte.

Gray steckte die Dynamitstangen im Kreis neben die riesigen Baumstämme. Der Wind wurde stärker, und die einbrechende Dunkelheit legte sich über das Dickicht. Während Gray seine Nachtsichtbrille aufsetzte, die die Welt in schwaches Rot und Grau tauchte, spürte er Adrenalin durch seinen Körper schießen.

Dynamit an Ort und Stelle. Check.

Pistole in der Hand. Check.

Patronen geladen. Check.

Das Messer. Er hob das Buschmesser auf und befestigte es an seinem Hosengürtel. Check.

Jetzt musste er sich nur noch mit Blättern tarnen, damit ihn der Dämon nicht sah. Doch als er sich bückte, um das erste Blatt aufzuheben, hörte er dicht an seinem Ohr ein Zischen, gefolgt von einem nach Schwefel stinkenden Windstoß und höhnischem Gelächter.

Zu spät.

Der Dämon war da.

Gray warf sich leise fluchend auf den Boden und umklammerte seine Waffe. Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn auf die Brille, sodass er für einen Moment nur verschwommen sehen konnte. Er bewegte den Kopf langsam hin und her, sah nach links und rechts und hielt Ausschau nach verräterischen Bewegungen. Wo zum Teufel war der Dämon? Komm schon, zeig dich.

Da weit und breit nichts auf das Monster hindeutete, schaute Gray kurz nach oben … und sah, wie ein Wesen im Sturzflug auf ihn zukam. Näher und immer näher. Er geriet nicht in Panik. Im Gegenteil, er war gespannt. Konnte es kaum erwarten.

Gleich war es da. Einen Sekundenbruchteil, bevor es ihn traf, rollte Gray sich zur Seite. Der Dämon krachte auf den Boden, und ein böses Zischen ertönte in der Dunkelheit. Unglücklicherweise war die Kreatur schon wieder auf den Beinen und im Wald verschwunden, ehe er einen Schuss abfeuern konnte.

„Du willst Verstecken spielen?“, rief er. „Nur zu! Komm und fang mich, du hässlicher Mistkerl.“ Die Pistole geradeaus gerichtet sprang Gray auf und lief los. Er rannte auf die erste Sprengladung zu und betete, dass der Dämon ihm folgte. Als er das Rascheln eines Umhangs hörte und den warmen Atem im Nacken spürte, lächelte er triumphierend.

Oh ja, der kleine Scheißer lief ihm hinterher.

Als Gray an dem Baum vorbei war, drehte er sich blitzschnell um und zielte. Bumm! Die Patrone traf das Dynamit und der Baum explodierte. Die Druckwelle schleuderte Gray auf den Boden und sog ihm förmlich die Luft aus den Lungen. Dem Dämon ging es nicht anders, und während er vor Schmerz und Zorn aufheulte, prasselten Holzsplitter und verkohlte Blätter auf ihn nieder.

Dem habe ich einen Denkzettel verpasst, dachte Gray und rang nach Luft. Aber war der Dämon auch langsamer geworden?

Eine Wolke aus schwarzem Rauch und beißendem Gestank umgab Gray, als er aufstand. Er sprintete los, auf die zweite Dynamitstange zu. Wieder nahm der Dämon die Verfolgung auf, jetzt nicht mehr ausgelassen und spöttisch, sondern voller Wut. Speichel tropfte von seinen zu weißen, zu scharfen Zähnen auf Grays Nacken herab.

Gray fuhr herum und schoss. Bumm! Die zweite Ladung explodierte und erleuchtete das Dunkel mit orange-goldenen Flammen. Eine Welle reiner Hitze fegte über ihn hinweg, und Gray wurde wieder in die Luft geschleudert. Diesmal war er allerdings darauf gefasst und rollte sich beim Aufprall geschickt ab. Der Dämon taumelte gegen einen anderen Baum, brüllte wieder vor Zorn und Schmerz und stieß wilde Flüche in einer Sprache aus, die Gray nicht verstand.

Gray sprang auf und begann zu laufen.

Jetzt! rief die Frauenstimme in seinem Kopf. Jetzt schieß!

Er war noch nicht an der dritten Sprengladung vorbei, sondern befand sich direkt davor. Wenn er jetzt schoss, würde er sich möglicherweise selbst grillen. Er zielte trotzdem, drückte ab und warf sich auf den Boden.

Bumm!

Die Explosion schleuderte ihn nach hinten, und er legte die Hände schützend auf seinen Kopf. Wellen brennend heißer Luft fegten über ihn hinweg, noch heißer als zuvor, und versengten seine Kleider und seine Haut. Ein lautes, dumpfes Krachen, gefolgt von einem Röcheln dröhnte ihm in den Ohren.

Gray sprang auf, griff nach seinem Buschmesser und stürmte auf den Dämon zu. Die hässliche Bestie war in einen anderen Baum geknallt und konnte sich kaum noch aufrecht halten. Ihre Augen glühten rot und unheimlich. Aus ihrem schuppigen Körper ragten überall Hörner hervor. Ohne zu zögern, hob Gray die Klinge und schlug zu. Das Blut spritzte nur so.

Ohne seine Position zu verändern, schaute Gray zur Lichtung hinüber. Der Rauch war jetzt dichter und dunkler und hüllte die übrig gebliebenen Bäume wie eine unheilvolle Wolke ein. Immer noch fielen Rindenstücke und Blätter zu Boden. Irgendwann hatte Gray während des Kampfes seine Nachtsichtbrille verloren, und seine Augen tränten. Der Rauch brannte in der Nase, doch was ihm am meisten wehtat, waren die Gelenke.

Er riss sich das Halstuch, das er um den Kopf gebunden hatte, herunter und hielt sich den weichen Stoff vor Nase und Mund, um die stinkende heiße Luft nicht einzuatmen.

Du hast gewonnen, sagte die Frau. In ihren Worten schwangen Bewunderung und Freude mit. Du hast tatsächlich gewonnen.

„Ich habe nie daran gezweifelt“, log er. Ohne sich irgendwelche Emotionen anmerken zu lassen, dehnte und streckte er sich vorsichtig. Ihm tat der Rücken weh. Langsam wurde er zu alt für diesen Job.

Nachdem er sich das Tuch wieder um die Stirn gebunden hatte, durchwühlte er den Schutt, bis er sein GPS, seine Brille und seinen Rucksack wiederfand. Es war alles ein bisschen angesengt, aber ansonsten noch in Ordnung. Er legte den Sicherungshebel seiner Pistole um, schob sie in das Holster an seinem Gürtel und schulterte schließlich seinen Rucksack. Als das erledigt war, reinigte er sein Messer und steckte es ebenfalls in den Gürtel.

„So“, sagte er im Bewusstsein, dass sein Adrenalinrausch sich bald legen würde. Am besten, er klärte die Sache mit dieser Frau, bevor er vor Erschöpfung nicht mehr klar denken konnte. Er lehnte sich an einen dicken Baumstamm und rieb sich die pochende Wunde an seinem Hals. „Wir beide sollten uns mal ein bisschen unterhalten. Okay? Ich möchte wissen, wer und wo du bist. Ich will den wahren Grund wissen, warum du mir geholfen hast. Ich gebe es zwar nur ungern zu, aber es muss mehr dahinterstecken, als dass dir mein Aussehen gefällt.“

Sie seufzte schwer. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.

„Klar ist jetzt der richtige Zeitpunkt.“ Geduld war etwas für Priester. Gray war ganz bestimmt kein Priester, das stand fest.

Ich sage dir alles, was du wissen willst. Später.

„Das hast du vorhin auch gesagt. Und übrigens, ich weiß nicht, ob mir dieser Rollentausch gefällt, der hier abläuft. Frauen reden doch sonst wahnsinnig gern und wollen dir jedes Detail aus ihrem Leben mitteilen. Männer nicht. Aber bei uns? Ich will mit dir reden, und du schließt mich aus.“

Tut mir leid. Es ist bloß … Gray?

„Ja?“, fragte er, als sie nicht weiterredete, und trat unbehaglich von einem Bein auf das andere. Ihm gefiel nicht, wie schnell ihre Stimme ihren fröhlichen Klang verloren hatte.

Das war erst der Anfang.

2. KAPITEL

Das war erst der Anfang.

Die geheimnisvollen, unheilvoll klingenden Worte ließen Gray aufhorchen. Er vergaß sein Bedürfnis, die Frau darüber auszufragen, wie sie hieß und warum sie ihm half. „Was meinst du damit?“

Hier lauern immer noch Gefahren. Du musst es bis zur Straße schaffen. Dort bist du sicher.

„Welche Gefahren?“

Andere Dämonen. Auch Vampire. Wenn sie erfahren, dass ihr Freund tot ist, wirst du wieder zum Gejagten.

Sofort meldete sich das Kind in ihm. Super, dachte es, ich kann noch mehr Zeug in die Luft jagen. Sein erwachsenes Ich stöhnte frustriert auf. Es war plötzlich erschöpft, hatte keine Lust mehr auf Spielen und wollte bloß noch sein Spielzeug einsammeln und nach Hause.

„Dieser Dschungel hier ist ein richtiges Who is Who des Gesindels von Atlantis, weißt du das?“ Wie befürchtet verflüchtigte sich sein Adrenalinrausch zusehends, die Explosionen und die Hitze forderten ihren Tribut. Er musste einen sicheren Platz zum Schlafen finden.

Aus irgendeinem idiotischen Grund wollte er jedoch nicht, dass die Frau merkte, wie erledigt er war. Er wollte, dass sie ihn für stark und unbesiegbar hielt. Also atmete er langsam und gleichmäßig ein und aus, hielt die Schultern gerade und bemühte sich um einen energischen Gesichtsausdruck.

„Kannst du mich aus diesem Labyrinth hinausführen?“ Seine Finger schlossen sich fest um den Griff seines Messers.

Norden. Geh Richtung Norden.

Mit schweren, müden Beinen stapfte er durch die Asche und den Schutt, bis er zu einem Wäldchen aus weißen Bäumen kam. Sie schwangen hin und her wie Geister. Gray konnte sich nicht erinnern, sie vorhin gesehen zu haben, und riss im Vorbeigehen ein weißes Blatt ab. Wenig später fand er Fußspuren. Irgendjemand musste diesen Weg also schon einmal gegangen sein.

Das sind deine Fußspuren.

„Unmöglich.“

Sieh sie dir an.

Er beugte sich vor und betrachtete die Spuren. Tatsächlich, das war seine Schuhgröße, und das Profil der Sohle stimmte ebenfalls. Er runzelte die Stirn. Er war also schon einmal hier gewesen, aber offensichtlich in die falsche Richtung gegangen. „Wie weit ist es bis zur Straße?“

Das wirst du schon sehen, lachte sie.

Fünf Minuten später war er dort.

Gray fluchte leise. Er stand am Beginn eines gepflasterten Weges, der sich vom Wald wegschlängelte. So einfach. So leicht. Es wurde immer dunkler, doch da hier keine riesigen Äste die Sicht nach oben blockierten, konnte man das sanfte, goldene Schimmern der Glaskuppel sehen.

Er runzelte die Stirn, ließ das Messer los, die Arme hängen und ballte die Fäuste. Es hatte nur drei schreckliche Tage, drei Explosionen und eine verdammte Unsichtbare gebraucht, um aus diesem Labyrinth herauszukommen.

„Das hätte ich selber auch finden können“, murmelte er im Versuch, sich einen letzten Rest von Selbstachtung zu bewahren.

Die Frau lachte wieder. Es klang so erotisch, dass sein Körper sofort reagierte. Höchstwahrscheinlich hätte sie ihn zur Hölle schicken können und sie hätte ihn trotzdem scharf gemacht. Steif werden lassen vor Lust, sie zu berühren. So sexy hörte sie sich an.

Es gefiel ihm nicht, wie schnell und leicht sie ihm unter die Haut ging. Er war, ehrlich gesagt, an so etwas auch nicht gewöhnt. Sosehr er Frauen mochte und schätzte und sosehr er es auch genoss, sie zu verwöhnen – es waren sonst immer sie, die auf ihn zukamen, die sich anstrengen mussten, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. So stark wie jetzt hatte er noch nie auf eine bestimmte Frau reagiert, es waren einfach immer zu viele gewesen, zwischen denen er wählen konnte.

Der einzige Weg, wie du ohne mich aus diesem Dschungel rausgekommen wärst, ist als Leiche im Maul eines Dämons.

„Klugscheißerin“, sagte er, musste aber unwillkürlich grinsen.

Die Monster hätten dich nie gefunden, wenn du dich nicht mit Insektenschutz eingesprüht hättest.

„Machst du Witze? Dieses Insektenspray ist angeblich geruchlos.“

Für Insekten vielleicht.

Sein Grinsen erstarb. Wenn auf dem Etikett ein Wort, ein einziges verdammtes Wort gestanden hätte, dass sich Dämonen oder Vampire von dem Spray angezogen fühlten, hätte er es nie verwendet. Entrüstet blieb er stehen und nahm einen Schluck aus seiner Feldflasche. Das kalte Wasser war eine Wohltat für seine Kehle, die vom Einatmen der Asche wie ausgetrocknet war.

„Und wohin gehe ich jetzt? Ich brauche eine warme Mahlzeit …“ Der Energieriegel in seinem Rucksack würde es diesmal nicht wirklich bringen. „… ein Bad und ein weiches Bett.“ Eine anschmiegsame Frau wäre auch nicht verkehrt. Vorzugsweise die, die seine Gedanken lesen konnte.

Sie räusperte sich. Verstehe. Tja, folge einfach dem Verlauf dieses Weges.

Er lachte leise und setzte sich in Bewegung. Vielleicht war es dumm von ihm, ihr so uneingeschränkt zu vertrauen, aber er vertraute ihr tatsächlich. Sie hatte ihm das Leben gerettet. Sogar zwei Mal.

Und selbst wenn das Teil irgendeines diabolischen Plans sein sollte, das war ihm egal. Im Moment hätte sie ihn direkt zu einem großen brodelnden Suppenkessel führen können, und er wäre bereitwillig hineingeklettert.

Er trat mit einem Stiefel auf ein Häufchen Kieselsteine, rutschte aus und stolperte. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, rieb er sich die Verletzung an seinem Oberschenkel. Jede Bewegung machte den Schmerz dort schlimmer.

Du musst diese Wunde desinfizieren und auch die an deinem Hals.

„Wenn ich einen Platz zum Schlafen gefunden habe, hole ich den Verbandskasten aus meinem Rucksack.“ Allerdings würde die antibakterielle Salbe nicht viel bringen. Er verwendete sie seit zwei Tagen ohne Erfolg.

Du hast diese Wunden seit gestern, nicht wahr? Von dem Vampir?

„Ja.“

Und sie sind seitdem nur schlimmer geworden? Das ist nicht gut. Gar nicht gut.

Ihm war nicht entgangen, dass sie leicht beunruhigt klang. „Muss ich mir Sorgen machen, dass ich mich in ein blutrünstiges Geschöpf der Nacht verwandle?“

Seine Ungerührtheit brachte sie auf die Palme. Du solltest besser keine Witze über etwas machen, das dermaßen ernst ist. Hat dich der Dämon heute gebissen oder gekratzt?

„Soll das ein Witz sein? Der Typ hat es ja kaum geschafft, in meine Nähe zu kommen.“

Sie seufzte. Dann hat keiner von uns beiden Grund zur Sorge. Vorerst. Abgesehen von deinem aufgeblasenen Ego sollte mit dir alles in Ordnung sein.

Außer, dass er müde war. Meine Güte, war er müde. Er hatte nicht gelogen. Er brauchte wirklich möglichst bald etwas zu essen und ein Bett, sonst konnte er sich nicht mehr lange auf den Beinen halten. Das heiße Bad und die Frau waren im Moment sekundär.

Eine kühle Brise streifte ihn, sanft, angenehm und eine wahre Wohltat für seine verkrampften Muskeln. Bald würde es so finster sein wie in einer Gruft, und er würde nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen.

In einiger Entfernung bemerkte er einen länglichen weißen Fleck in der Landschaft, der sich von den Schatten abhob. Nach ein paar Sekunden wurde ihm klar, dass es sich in Wahrheit um ein Wesen handelte, das langsam und kaum zwanzig Schritte vor ihm in die gleiche Richtung wie er selbst unterwegs war. Gray griff nervös nach seiner Pistole, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Er hatte noch zwei Patronen im Magazin.

Er würde nur eine brauchen.

Du kannst dich entspannen, Gray. Der Nymph tut dir nichts.

„Nymph?“ Er stutzte und blieb einen Moment lang stehen. „Meinst du etwa eine Nymphe? Ein weibliches Wesen mit so starkem Sexualtrieb, dass ihre Partner vor Lust ins Koma fallen?“

Kannst du nicht wenigstens ein Mal ernst sein?

„Bin ich doch. Kennst du sie? Kannst du sie mir vorstellen?“

Sie knurrte. Zu deiner Information: Die Sagen, die ihr in der Oberwelt kennt, sind falsch. Die meisten Nymphen sind männlich.

Männlich? „Niemals!“

Schau genau hin und überzeug dich selbst.

Er betrachtete das Geschöpf von hinten und studierte jedes Detail. Breite Schultern. Ein maskuliner Gang. Unter dem Saum des Umhangs guckten zwei große Männerstiefel hervor.

Gray lief ein Schauer über den Rücken, und seine Vorstellung von lustvollen Komazuständen löste sich in Luft auf. „Allein dafür, dass er meine Fantasien zerstört hat, verdient dieser Mann den Tod.“

Er wird sich nicht so leicht töten lassen wie der Dämon. Nymphe sind die besten Krieger im ganzen Land. Sie sind sogar stärker als Drachen. Allerdings greifen sie nie als Erste an. Solange du sie in Ruhe lässt, wird euch beiden nichts geschehen.

„Ich werd’s mir merken.“ Bei jedem Schritt, den Gray dem Nymph näher kam, merkte er, wie groß dieses Geschöpf war. Sogar größer als er selbst. Was erstaunlich war, wenn man bedachte, dass Gray mit seinen eins sechsundneunzig für gewöhnlich alle überragte, mit denen er zu tun hatte. Während er den Nymph überholte, hielt er für alle Fälle großzügig Abstand und das Messer fest im Griff.

Das imposante männliche Wesen mit dem weißen Umhang schnitt eine Grimasse, guckte kurz zu ihm hinüber und wedelte mit einer Hand vor seinem überraschend femininen und äußerst schönen Gesicht hin und her. Gleichzeitig brummte er mit tiefer, kehliger Stimme irgendetwas vor sich hin.

„Was hat er gesagt?“, fragte Gray, als er in sicherer Entfernung war.

Dass du nach Asche und Tod stinkst.

„Heute haben’s wohl alle auf mich abgesehen.“ Fast bei lebendigem Leib gefressen und jetzt auch noch wegen seines Geruchs beleidigt. Er schnupperte an sich und verzog das Gesicht. Gut, er roch tatsächlich ein wenig streng.

Er marschierte weiter voran in die Dunkelheit und horchte auf verdächtige Schritte oder das Laden einer Waffe. Wie seine Gefährtin im Geiste vorhergesagt hatte, ließ ihn der Nymph in Ruhe.

Entspannen konnte er sich allerdings erst nach einer guten Meile. Er atmete tief durch und ließ den Blick schweifen. Die Schönheit der Landschaft hier faszinierte ihn. Auf den glänzenden grünen Blättern der Büsche und Bäume glitzerten die Tautropfen wie Diamanten. Das flüsternde, rhythmische Rauschen der Wellen hörte sich an wie eine Melodie, und die Luft war erfüllt vom Duft nach Ananas und Kokosnuss. Jetzt noch ein gemütlicher Fernsehsessel, ein Kühlschrank voll mit eiskaltem Bier und ein Dutzend Hula-Tänzerinnen – nackt natürlich –, und er wäre im siebten Himmel.

Kannst du eigentlich an nichts anderes denken als an Frauen und Sex?

„Klar doch.“ Er sprang über einen Steinhaufen, ohne seine Schritte zu verlangsamen. „Warum ziehst du nicht alle deine Klamotten aus und sagst mir, wer du bist und warum du mir hilfst?“

Zuerst schnappte sie nur empört nach Luft. Was hätte Gray dafür gegeben, ihren Gesichtsausdruck sehen zu können. Sie zu sehen. Er nahm an, dass sie errötet war. Bekam sie nur rote Bäckchen oder würde sich die Röte ausbreiten, bis zu den Schlüsselbeinen … und den Brüsten?

Er hatte plötzlich einen Kloß im Hals.

Das können wir später besprechen, sagte sie schließlich.

„Das sagst du immer wieder, und ich kann es, ehrlich gesagt, nicht mehr hören. Ich weiß nicht mal, wie du heißt.“

Schweigen.

„Ein Name ist doch nichts Schwieriges. Bestimmt kannst du mir deinen sagen.“

Ich kann nicht.

„Sicher kannst du. Mach einfach den Mund auf und lass Worte rauskommen. Versuch’s mal. Vielleicht findest du Gefallen daran.“

Nein, ich kann dir meinen Namen wirklich nicht sagen. Weil, nun ja … weil ich keinen habe, gab sie nach kurzem Zögern verlegen zu.

Er runzelte die Stirn. Sie hatte keinen Namen? Jeder und alles hatte doch einen Namen. Log sie vielleicht? Nein, dachte er sofort. Ihre Verlegenheit wirkte echt. Blieb noch die Frage: Warum hatte sie keinen Namen?

Anstatt sie weiter mit Fragen zu löchern, sagte er: „Warum nenne ich dich nicht einfach Babe? Das ist kurz, einfach und passt perfekt zu dir.“

Ich bin kein Kind mehr, entgegnete sie gekränkt.

„In deinem Fall bedeutet das Wort scharf und sexy.“

Oh. Ohhh. Er stellte sich vor, wie sie gerade verträumt lächelte. Mir wäre trotzdem etwas weniger Zweideutiges lieber. Nenn mich doch … Jane Doe.

„Damit bin ich jetzt nicht einverstanden.“ Er lachte leise. „Ich nenne dich doch nicht so, wie man unidentifizierte Frauenleichen bezeichnet.“

Sie seufzte. Warum sagst du dann nicht Jewel zu mir?

Dass sie sich ausgerechnet diesen Namen ausgesucht hatte, überraschte und schockierte ihn regelrecht. Schließlich war ein Juwel der einzige Grund, warum er hier war. Hatte sie ihn deshalb gewählt?, überlegte er misstrauisch. Möglich. Sie konnte nicht nur ihre Stimme irgendwie in seinen Kopf bringen, sondern zweifellos auch seine Gedanken lesen. Er musste beim Denken vorsichtiger sein. „Gut, dann also Jewel.“ Er sprach den Namen leise aus und ließ ihn sich auf der Zunge zergehen. Ihr Gesicht hatte er zwar noch nicht gesehen, aber jeder, der eine so unglaublich erotische Stimme hatte, verdiente auch einen unglaublich erotischen Namen. Jewel passte perfekt.

Er wich einem Steinhaufen aus. „Warum hast du mir geholfen, Jewel?“

Sie atmete langsam aus, und das zarte Vibrieren der Luft streichelte über seine Nervenenden wie die kitzelnde Spitze einer Feder. Ich brauche deine Hilfe. Sie klang verlegen. Unsicher.

„Hilfe wobei?“

Mich zu retten. Ich bin wieder eingesperrt worden, und ich …

„Wieder?“ Er blieb abrupt stehen, und sein Rucksack schlug hart auf seine Wirbelsäule. „Wofür denn?“

Dafür, dass ich ich bin. Ich glaube, ihr Oberweltbewohner würdet sagen, dass alle etwas von mir wollen.

Er musste über ihren vorwurfsvollen Ton lachen. „Ich würde dir gern helfen, Babe, aber ich stehe zeitlich ziemlich unter Druck.“

Ich weiß. Sie klang verbittert. Du bist auf der Jagd nach dem

Juwel von Dunamis.

Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, verspannte sich Grays Schultermuskulatur. Oh, es überraschte ihn nicht, dass sie Bescheid wusste. Schließlich konnte sie seine Gedanken lesen. Aber es tatsächlich aus ihrem Mund zu hören … Er wollte sie nicht suchen und – für immer – zum Schweigen bringen müssen, weil sie etwas wusste, was sie nicht wissen durfte. Weil sie es jemandem erzählen konnte, der es nicht wissen durfte.

Er holte tief Luft und atmete langsam aus. „Was ich hier tue, geht dich nichts an.“

Ich kann dich zu dem Juwel führen, Gray. Deshalb habe ich Jewel als Namen gewählt. Ich bin die Einzige, die dich hinbringen kann.

„Oh, bitte. Ich finde alles. Überall. Deshalb hat mein Boss mich ja für diesen Auftrag ausgesucht. Außerdem arbeite ich allein.“ Er sprach jedes Wort übertrieben deutlich aus, damit es bloß keine Missverständnisse gab. „Immer.“

Sie ließ nicht locker. Ohne mich findest du es nie. Das kann ich dir versprechen.

Er schüttelte den Kopf, und das Tuch, das er um die Stirn gebunden hatte, verrutschte. „Dieses kleine Ding sagt, ich kann.“ Er tätschelte das GPS, das an seinem Gürtel hing. Das leise, rhythmische Piepsen war beruhigend.

Sie schnaubte. Dieses kleine Ding hat dir also den Weg aus dem Dschungel gezeigt? Echt? Dieses kleine Ding hat dir geholfen, einen Dämon zu besiegen? Lass dir eines gesagt sein: Ohne mich wirst du dich in Atlantis nicht zurechtfinden und hier nicht überleben.

Bei dieser Warnung – und versteckten Drohung – ballte er unwillkürlich die Fäuste. „Du würdest mir doch das Blaue vom Himmel erzählen, um deinen Willen durchzusetzen.“

Ja, gab sie zu seiner Überraschung offen zu. Das würde ich. In dieser Angelegenheit spiele ich allerdings keine Spielchen. Wir brauchen einander.

Er verzog verärgert das Gesicht und kickte mit der Stahlkappe seines Stiefels einen großen weißen Stein weg. Jewel hatte sich bis jetzt als vertrauenswürdig erwiesen, aber er verließ sich lieber nur auf sich selbst. Der letzte Partner, den das OBI ihm zur Seite gestellt hatte, hatte ihn gleich beim ersten Anzeichen von Ärger in einem riesigen Waffenlager im Stich gelassen. Gray war ganz allein der Wut eines außerirdischen Warlords ausgeliefert gewesen und nur mit viel Glück entkommen. Mit Glück und einer ein Kilo schweren Ladung C4-Sprengstoff.

Aber wenn Jewel die einzige Möglichkeit war, das Juwel zu finden, brauchte er sie. Punkt. Er hatte bereits kostbare Zeit verschwendet, weil er nicht auf sie gehört hatte. Und Gray hasste Zeitverschwendung fast genauso sehr wie das Gefühl der Hilflosigkeit.

Geht mir genauso.

„Ich kann auf deine Kommentare gut verzichten“, entgegnete er trocken.

Vergiss nicht, dass ich dir das Leben gerettet habe. Zwei Mal.

„Das kann man so oder so sehen“, sagte er, obwohl er vor ein paar Sekunden noch das Gleiche gedacht hatte.

Wenn sie bei ihm war, konnte er dafür sorgen, dass sie niemandem von seinem Auftrag erzählte und ihn dadurch gefährdete. Aber was war, wenn er sie rettete und sie dann einfach „vergaß“, ihm bei der Suche nach Dunamis zu helfen? Was, wenn sie versuchte, ihm etwas anzutun oder ihn aufzuhalten …? Er seufzte.

Ich würde dir nie wehtun.

Er würde sie befreien, und er wusste es. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Er würde sie retten und, wenn nötig, zwingen, ihm zu helfen. Und seine Gründe hatten nichts zu tun mit ihrer Ich-warte-darauf-dass-du-mich-findest-und-indein-Bett-holst-Stimme.

Darauf warte ich gar nicht!

Ihr empörter Aufschrei besänftigte ihn ein wenig. Wenn er ehrlich war, freute er sich darauf, Jewel zu sehen und ihre Stimme außerhalb seines Kopfes zu hören. Jewel, die Frau, die seine Gedanken lesen konnte.

Der Weg machte eine scharfe Biegung nach links, und Gray fand sich in einer Umgebung wieder, in der es heller war und er nirgendwo in Deckung gehen konnte. Er beschleunigte seine Schritte, bis er sich wieder im Schutz der Dunkelheit befand. Der Weg vor ihm erstreckte sich noch meilenweit.

Vielleicht hatte er ja Glück, und es tauchte irgendwo am Wegrand ein Massagesalon auf. „Muss ich diese ganze Strecke laufen, um zu dir zu kommen?“

Eine Weile sagte sie nichts. Dann: Heißt das, du hilfst mir?

„Wir helfen uns gegenseitig. War das nicht der Deal?“

Ja. Ja! Oh, ich danke dir vielmals. Du wirst es nicht bereuen.

Sie klang überrascht, froh und aufgeregt, und er stellte sich vor, dass sie gerade vor Freude tanzte … dort, wo zur Hölle sie gerade war. Mit einem Lächeln im Gesicht. Und sie trug nichts als ein knapp sitzendes Bustier aus schwarzem Leder.

Wieder Schweigen. Hm, sagte sie schließlich. Wenn du es unbedingt wissen musst, ich trage ein langes weißes Gewand, das mich von Kopf bis Fuß bedeckt.

„Bravo. So schnell kann man einem Mann seine Fantasie vermiesen und dafür sorgen, dass Soldat Happy nicht mehr strammsteht.“ Er bemühte sich, ernst zu klingen, aber es gelang ihm nicht ganz. Noch nie hatte er so viel Spaß daran gehabt, eine Frau zu necken. „Ich glaube, wir haben den falschen Namen für dich ausgesucht. Wenn du so prüde bist, sollte ich dich besser Prudence nennen.“

Wenn du das tust, macht dein Soldat Happy Bekanntschaft mit meinem Knie.

Er musste lachen. „Ach, Pru, wir müssen dich etwas lockerer machen. Dir zeigen, wie nett es ist, ein bisschen unanständig zu sein. Ich werde das auf meine To-do-Liste setzen.“

Sie wechselte das Thema. Okay, also, du kannst in zwei Tagen hier sein.

„In zwei Tagen?“ Er hatte so gar keine Lust darauf, noch zwei Tage in Atlantis zu verbringen.

Geh einfach um den Hügel da drüben herum, an der Schaffarm vorbei …

„Über den Fluss und durch den Wald, und dann den gelben Backsteinweg entlang bis in die Smaragdstadt, ja ja.“ Er seufzte. „Eins nach dem anderen, Babe. Immer schön eins nach dem anderen.“ Vielleicht waren zwei Tage ja gar nicht so übel. Er hätte die Chance, sich auszuruhen und wieder zu Kräften zu kommen. „Die warme Mahlzeit, das heiße Bad und das weiche Bett brauche ich trotzdem dringend.“

Drei Stunden später begann die Dunkelheit sich zurückzuziehen, und Gray erreichte die Farm. Er machte eine kleine Erkundungstour und entdeckte den Besitzer schlafend in seinem Bett. Der Mann – das Ding – hatte den Oberkörper eines Menschen und die untere Hälfte eines rotbraunen Pferdes samt Schweif und Hufen. Ach, du lieber Gott.

Tu ihm nichts, bitte.

Leise nahm Gray eine Betäubungspistole aus seinem Rucksack und betäubte den Pferdemann mit einem schnellen Schuss in den Hals. Das Geschöpf zuckte zusammen und blieb dann völlig reglos liegen. Das war das einzige Betäubungsmittel, das Gray mitgebracht hatte, und es gefiel ihm gar nicht, es jetzt verwenden zu müssen. Aber an diesem Punkt hätte er es für eine ungestörte warme Mahlzeit sogar seinem eigenen Vater verpasst.

Als Gray sicher sein konnte, dass das Geschöpf erst in ein paar Stunden wieder aufwachen würde, schlenderte er in die Küche und ließ seinen Rucksack auf den frisch gebohnerten Holzboden fallen. Das Haus erinnerte ihn an ein einfaches Landhaus aus seiner Welt, mit Strohbetten, Holzofen und dem Duft nach Selbstgebackenem in der Luft.

Er füllte eine Lehmschüssel mit Wasser, zog sich nackt aus und wusch sich, so gut es ging. Dann trug er die antibakterielle Salbe auf seine Wunden auf und legte Verbände an.

Nicht so grob, bitte. Das tut einem ja beim Zuschauen weh.

Er zog eine Augenbraue hoch. „Kannst du mich etwa sehen?“

Nur durch deine Augen.

Wie keusch sie klang, dachte er grinsend. Dann guckte er an sich herunter.

Sie japste nach Luft.

Er lachte leise. „Ich glaube, General Happy mag dich.“