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ATLANTIS - DER DRACHENKRIEGER Atlantis, wo die von den Göttern Verstoßenen leben, wo dunkle Magie und Leidenschaften im gefährlichen Wettstreit liegen: Willkommen in Gena Showalters aufregender neuer Fantasy-Serie! Wenn ein Mensch den Drachenherrscher Darius en Kragin erblickt, sind seine Sekunden gezählt. Denn Darius richtet jeden, der das Portal zum versunkenen Atlantis durchschreiten will.Deshalb müsste er auch die rothaarige Menschenfrau töten, die unvermittelt durch eine geheime Pforte in sein Reich tritt. Da entdeckt er das verloren geglaubte Drachenmedaillon an ihrem zarten Hals. Und weil sie das begehrenswerteste Geschöpf ist, das er seit Jahrhunderten erblickt hat, kann Darius nicht anders, als ihr das Leben zu lassen. Ein schrecklicher Fehler? Denn Grace kann nicht nur für ihm zum Verhängnis werden, sondern ganz Atlantis … ATLANTIS - DAS JUWEL DER MACHT Agent Grayson James hat einen Auftrag: das Juwel von Atlantis finden und dafür sorgen, dass es nicht in die falschen Hände gerät - selbst wenn das bedeutet, es zu zerstören. Doch nachdem er die schöne Jewel vor einer Horde Dämonen gerettet hat, scheint seine Mission auf einmal unmöglich. Denn sie ist das Juwel, das jeder in Atlantis beherrschen will. Und er ist der Halbgöttin längst verfallen. Statt sie zu töten, nimmt er es mit Dämonen, Drachen und Vampiren auf - und mit einer Prophezeiung, die sie beide zerstören könnte. ATLANTIS - DER NYMPHENKÖNIG Für eine Berührung des Nymphenkönigs würden Frauen alles tun. Alle, bis auf die Menschenfrau Shaye. Obwohl sie füreinander bestimmt sind, wehrt sie sich mit allen Kräften gegen die magische Bindung, die ihnen vorbestimmt ist. Aber nun, da er sie gefunden hat, wird keine andere Frau ihn jemals wieder zufriedenstellen können. Und Valerian wird erst ruhen, wenn er Shaye in einer sinnlichen Eroberung bezwungen hat und sie wahrhaft die Seine ist … Prickelnd, aufregend, sexy - Showalter übertrifft sich selbst "Sexy, lustig und einfach magisch!" USA TODAY-Bestsellerautorin Katie McAllister
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1381
Gena Showalter
Atlantis - Teil 1-3
Gena Showalter
Atlantis – Der Drachenkrieger
Roman
Aus dem Amerikanischen von Freya Gehrke
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Heart of the Dragon (Atlantis #1)
Copyright © 2005 by Gena Showalter
erschienen bei: Harlequin Nocturne, Toronto
Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II. B.V./S.àr.l
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Daniela Peter
Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
ISBN eBook 978-3-95649-517-5
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Irgendwie habt ihr eine Kindheit mit mir als Babysitterin überlebt. Eine Kindheit voll endloser Qualen und tiefer Erniedrigung, voll schieren Entsetzens und unvorstellbarer Schrecken. Gott sei Dank habe ich ein besseres Ventil für meine Kreativität gefunden.
Für Auston und Casey Dowling. Ich hab euch lieb.
Für Debbie Splawn-Bunch, die mir nicht erlauben wollte, dieses Buch „Liebe extra kross“ zu nennen.
Atlantis
Spürst du es, Junge? Spürst du, wie der Nebel sich bereit macht?“
Darius en Kragin kniff fest die Augen zu, während die Worte seines Mentors in seinem Geist widerhallten. Spürte er es? Bei den Göttern, ja. Selbst mit seinen erst acht Jahreswechseln spürte er es. Spürte die Kälte auf seiner Haut prickeln, spürte die Übelkeit erregende Woge von Magensäure in seiner Kehle aufsteigen, als der Nebel ihn umfing. Er spürte sogar, wie eine täuschend süße, fremdartige Essenz durch seine Adern strömte.
Angestrengt kämpfte er gegen den Drang an, über die Stufen der Höhle nach oben in den Palast zu flüchten, und ballte die Hände an den Seiten zu Fäusten.
Ich muss hierbleiben. Ich muss das schaffen.
Darius zwang sich, langsam die Augen zu öffnen. Erst als er Javars Blick begegnete, entließ er den angehaltenen Atem. Eingehüllt in den dichter werdenden geisterhaften Nebel stand sein Mentor da, die Wände der Höhle im Rücken.
„Das wirst du von nun an immer spüren, sobald der Nebel dich ruft. Es bedeutet, dass ein Reisender in der Nähe ist“, erklärte Javar. „Entferne dich niemals zu weit von diesem Ort. Du darfst oben bei den anderen leben, aber sobald du gerufen wirst, musst du augenblicklich hierher zurückkehren.“
„Ich mag diesen Ort nicht.“ Darius’ Stimme bebte. „Die Kälte macht mich schwach.“
„Andere Drachen schwächt die Kälte, aber nicht dich. Jetzt nicht mehr. Der Nebel wird zu einem Teil von dir werden, die Kälte dein liebster Gefährte. Und jetzt hör hin“, befahl Javar leise. „Hör genau hin.“
Zuerst hörte Darius gar nichts. Dann registrierte er ein schwaches, schriller werdendes Pfeifen – ein Geräusch, das in seinen Ohren widerhallte wie das Stöhnen eines Sterbenden. Wind, versuchte er sich einzureden. Das ist nur der Wind. Der starke Luftzug durchwehte jeden Winkel der Höhle und kam näher. Noch näher. Der Geruch von Verzweiflung stieg ihm in die Nase, von Zerstörung und Einsamkeit, und er wappnete sich für den Zusammenprall. Doch er spürte lediglich eine spöttisch sanfte Liebkosung auf seiner Haut und nicht die niederschmetternde Macht, mit der er gerechnet hatte. Vibrierend erwachte das juwelenbesetzte Medaillon um seinen Hals zum Leben und brannte auf dem Drachentattoo, das ihm erst heute Morgen unter die Haut gestochen worden war.
Mit zusammengepressten Lippen unterdrückte er ein Stöhnen.
Ehrfürchtig breitete sein Mentor die Arme aus. „Dafür wirst du leben, Junge. Das wird dein Daseinszweck sein. Für das hier wirst du töten.“
„Ich will nicht, dass mein Daseinszweck der Tod von anderen ist“, platzte Darius heraus, bevor er sich bremsen konnte.
Javar erstarrte, und ein feuriger Zorn loderte in den Tiefen seiner eisblauen Augen auf, die so ganz anders waren als die von Darius – als die eines jeden Drachen. Abgesehen von Javar hatte ausnahmslos jeder Drache goldene Augen. „Du wirst ein Wächter des Nebels, ein König unter den Kriegern hier“, erklärte er. „Du solltest dankbar sein, dass ich unter allen anderen dich für diese Aufgabe auserwählt habe.“
Darius schluckte hart. Dankbar? Ja, er hätte dankbar sein sollen. Doch stattdessen fühlte er sich seltsam … verloren. Allein. Schrecklich allein und verunsichert. War dies wahrhaftig, was er wollte? War dies das Leben, nach dem er sich sehnte? Er ließ den Blick über seine Umgebung schweifen. Auf dem mit Zweigen und Schmutz übersäten Boden lagen einige zerbrochene Stühle. Die Wände waren schwarz und kahl. Hier gab es keine Wärme, nur die kalte, harte Realität und einen hartnäckigen Schatten der Hoffnungslosigkeit. Um Wächter zu werden, würde er dieser Höhle sein Dasein, seine Seele verschreiben müssen.
Mit zu Schlitzen verengten Augen kam Javar auf ihn zu, seine Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Schmerzhaft fest packte er Darius bei den Schultern. „Deine Mutter und dein Vater wurden abgeschlachtet. Deine Schwestern wurden vergewaltigt, bevor man ihnen die Kehlen aufgeschlitzt hat. Hätte der letzte Wächter seine Pflicht getan, wäre deine Familie noch an deiner Seite.“
Der Schmerz, der Darius durchzuckte, war so überwältigend, dass er sich beinahe die Augen aus den Höhlen gerissen hätte, um die verhassten Bilder auszulöschen, die in seinem Gedächtnis aufstiegen. Seine anmutige Mutter in einem scharlachroten Strom ihres eigenen Blutes. Der bis auf die Knochen zerfetzte Rücken seines Vaters. Seine drei Schwestern … Blinzelnd drängte er die Tränen in seinen Augen zurück. Er würde nicht weinen. Nicht jetzt. Niemals.
Erst vor wenigen Tagen war er von der Jagd zurückgekehrt und hatte seine Familie tot aufgefunden. Auch da hatte er nicht geweint. Genauso wenig hatte er auch nur eine Träne vergossen, als die Eindringlinge, die seine Familie überfallen hatten, in einem Vergeltungsschlag ermordet worden waren. Wer weinte, zeigte Schwäche. Er straffte die Schultern und hob das Kinn.
„So ist es gut“, lobte Javar, der ihn mit einem Funken von Stolz betrachtete. „Verschließ dich deinen Tränen und halte den Schmerz in deinem Inneren fest. Setz ihn ein gegen jene, die in unser Reich eindringen wollen. Töte sie damit, denn sie wollen uns nur schaden.“
„Das will ich ja. Das will ich wirklich.“ Darius wich seinem Blick aus. „Aber …“
„Reisende zu töten ist deine Pflicht“, unterbrach ihn Javar. „Sie zu töten ist dein Privileg.“
„Was ist mit unschuldigen Frauen und Kindern, die versehentlich durch das Portal stolpern?“ Die Vorstellung, eine solche Reinheit zu zerstören – wie die seiner Schwestern –, erfüllte ihn mit Abscheu für das Monster, das zu werden Javar von ihm verlangte. Allerdings nicht so sehr, dass er von dem Kurs abgewichen wäre, den er eingeschlagen hatte. Um seine Freunde zu schützen, würde er alles tun, was von ihm verlangt wurde. Sie waren alles, was er noch hatte. „Darf ich sie in die Oberwelt zurückbringen?“
„Nein, das darfst du nicht.“
„Was sollen denn Kinder unserem Volk anhaben können?“
„Sie würden das Wissen über den Nebel in sich tragen, und damit die Fähigkeit, eine Armee hindurchzuführen.“ Javar schüttelte ihn, einmal, zweimal. „Verstehst du das? Verstehst du, was du tun musst und warum du es tun musst?“
„Ja“, antwortete Darius leise. Er starrte hinab auf ein dünnes blaues Rinnsal, das sich an seinen Stiefeln vorbeischlängelte, voller Sanftheit und Gleichmut. Hätte er doch nur selbst eine solche Gleichmut in sich tragen können. „Ich verstehe.“
„Du bist zu sanftmütig, Junge.“ Seufzend ließ Javar ihn los. „Wenn du nicht stärkere Mauern darum errichtest, dann werden deine Gefühle dein Tod sein – und der all jener, die dir noch am Herzen liegen.“
Darius schluckte gegen den harten Kloß in seinem Hals an. „Dann hilf mir, Javar. Hilf mir, meine Gefühle loszuwerden, damit ich diese Taten vollbringen kann.“
„Wie ich dir bereits erklärt habe, musst du nur deinen Schmerz tief in deinem Inneren vergraben, an einem Ort, den niemand je erreichen kann – nicht einmal du selbst.“
Es klang so einfach. Doch wie sollte er einen solch quälenden Kummer begraben? Solch vernichtende Erinnerungen? Wie sollte er gegen diese entsetzliche Qual ankämpfen? Er hätte alles gegeben, nur um Frieden zu finden.
„Wie?“, fragte er seinen Mentor.
„Die Antwort darauf wirst du allein herausfinden. Sehr viel schneller, als du glaubst.“
Um sie herum verdichtete sich die Macht, die Magie, wirbelte umher, drängte nach irgendeiner Form der Entladung. Die Luft dehnte sich aus, brodelte, und zurück blieb ein schwindelerregender Geruch von Dunkelheit und Gefahr. Ein Schwall Energie schoss wie ein Blitz zwischen den Wänden hin und her, dann zerstob er zu einem farbenfrohen Funkenregen.
Darius erstarrte, als er spürte, wie sich Entsetzen, Furcht, aber auch Vorfreude in ihm ausbreiteten.
„Bald wird ein Reisender das Portal durchschreiten“, verkündete Javar, auch er angespannt und begierig.
Mit zitternden Fingern umklammerte Darius das Heft seines Schwerts.
„Kurz nach dem Austritt sind sie immer desorientiert. Das musst du zu deinem Vorteil nutzen und sie vernichten, sobald sie hervorkommen.“
Konnte er das? „Ich bin noch nicht bereit. Ich kann nicht …“
„Das bist du und das wirst du“, widersprach Javar mit stählernem Unterton. „Es gibt zwei Portale: dieses, das du bewachen wirst, und das meine auf der anderen Seite der Stadt. Ich verlange nichts von dir, was ich nicht selbst tun würde – und bereits getan habe.“
Im nächsten Augenblick trat ein hochgewachsener Mann aus dem Nebel hervor. Er hatte die Augen fest zusammengekniffen, sein Gesicht war blass und seine Kleider zerknittert. In seinem dichten Haar waren silbrige Strähnen, und tiefe Falten zeichneten seine Haut. Er sah aus wie ein Gelehrter, nicht wie ein Krieger oder jemand Böses.
Noch immer zitternd zog Darius sein Schwert. Unter dem Ansturm seiner widersprüchlichen Gefühle wäre er beinahe zusammengebrochen. Ein Teil von ihm schrie ihn ununterbrochen an, er solle die Beine in die Hand nehmen und davonlaufen, diese Aufgabe verweigern, doch er zwang sich, stehen zu bleiben. Er würde es tun, denn Javar hatte recht. Reisende waren Feinde, wer immer sie auch sein mochten, was auch immer sie hierherführte.
Ganz egal, wie sie aussahen.
„Tu es, Darius“, befahl Javar. „Tu es jetzt.“
Abrupt öffnete der Reisende die Augen, und ihre Blicke trafen aufeinander – Drachengold und menschliches Grün. Entschlossenheit und Angst. Leben und Tod.
Darius hob seine Klinge, hielt nur einen Moment inne – Halt, lauf weg, tu es nicht –, dann schlug er zu. Blut spritzte über seine nackte Brust und seine Unterarme wie ein giftiger Regen. Die Lippen des Mannes öffneten sich zu einem gurgelnden Schreckenslaut, dann, unendlich langsam, sank sein lebloser Körper zu Boden.
Mehrere lange, qualvolle Augenblicke stand Darius einfach nur da, wie versteinert angesichts des Resultats seines Handelns. Was habe ich getan? Was habe ich getan?! Er ließ das Schwert fallen und hörte wie von fern, wie das Metall dumpf auf der Erde aufschlug.
Er krümmte sich und übergab sich.
Zu seiner Überraschung verließ ihn mit seinem Mageninhalt auch der Schmerz in seinem Inneren, verließen ihn Reue und Trauer. Eis umschloss seine Brust und alles, was von seiner Seele noch übrig war. Dankbar hieß er die Gefühlslosigkeit willkommen, bis er nichts als eine fremdartige Leere spürte. All die Pein – verschwunden. All sein Leid – fort.
Ich habe meine Pflicht getan.
„Ich bin stolz auf dich, Junge.“ In einer seltenen Geste der Zuneigung klopfte Javar ihm auf die Schulter. „Jetzt bist du bereit, deinen Eid als Wächter abzulegen.“
Als das Zittern nachließ, richtete Darius sich auf und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. „Ja“, erwiderte er nüchtern und entschlossen, begierig nach mehr von dieser Gleichgültigkeit. „Ich bin bereit.“
„Dann tu es.“
Ohne noch einmal zu zögern, sank er auf die Knie. „Ich werde an diesem Ort wachen und jeden Bewohner der Oberwelt auslöschen, der den Nebel durchschreitet. Das schwöre ich bei meinem Leben. Das schwöre ich bei meinem Tod.“ Während er sprach, erschienen die Worte auf seiner Brust und seinem Rücken, schwarze und rote Schriftzeichen, die sich von einer Schulter bis zur anderen zogen und mit einem inneren Feuer glommen. „Ich lebe nur für diese Aufgabe. Ich bin ein Wächter des Nebels.“
Für einen langen Augenblick hielt Javar seinen Blick fest, dann nickte er zufrieden. „Deine Augen haben die Farbe des Nebels angenommen. Du und er seid jetzt eins. Das ist gut, Junge. Das ist gut.“
Dreihundert Jahre später
Lachen ist für ihn ein Fremdwort.“
„Er wird nie auch nur ansatzweise laut.“
„Als Grayley ihm aus Versehen diesen sechszackigen Dolch in den Oberschenkel gerammt hat, hat Darius nicht mal geblinzelt.“
„Ich würde ja sagen, unser Anführer braucht nur mal ein paar Stunden anständigen Matratzensport, aber ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt weiß, wozu sein Schwanz gut ist.“ Auf diesen Kommentar folgte amüsiertes Gelächter aus zahlreichen Männerkehlen.
Darius en Kragin betrat den geräumigen Speisesaal und musterte systematisch seine Umgebung. Das dunkle Ebenholz des Fußbodens glänzte, ein perfekter Kontrast zu den Elfenbeinwänden mit den Drachenschnitzereien, und über ihnen ragte eine kristallene Kuppel, durch die das klare Meerwasser zu sehen war, das ihre Stadt umschloss.
Er ging auf den langen rechteckigen Tisch zu, an dem seine Männer saßen. Beim Näherkommen hätte ihm das verführerische Aroma von süßem Gebäck und Obst in die Nase steigen sollen, doch über die Jahre waren seine Sinne verkümmert, und Geruch, Geschmack und Farben waren nur noch eine blasse Erinnerung.
Er roch nur noch Asche, schmeckte nichts als Luft und sah lediglich schwarz-weiß. Bewusst hatte er all diese Sinne verdrängt. Es war besser, einfacher, in einem Vakuum zu existieren. Nur selten wünschte er, es wäre anders.
Einer der Krieger entdeckte ihn und warnte rasch die anderen. Schweigen packte den Saal mit unerbittlichem Würgegriff. Unvermittelt widmete jeder der anwesenden Männer seine volle Aufmerksamkeit seinem Essen, als sei gebratenes Geflügel neuerdings das Faszinierendste, was die Götter je erschaffen hatten. Die gesellige Stimmung wurde sichtlich düsterer.
Ganz wie seine Männer es beschrieben hatten, nahm Darius ausdruckslos seinen Platz am Kopfende des Tisches ein. Erst nach seinem dritten Kelch Wein setzten seine Krieger ihre Gespräche fort, auch wenn sie sich dabei klugerweise anderen Themen zuwandten. Diesmal sprachen sie über die Frauen, die sie verführt, und über die Kriege, die sie gewonnen hatten. Alles hemmungslose Übertreibungen. Einer der Männer ging sogar so weit, zu behaupten, er hätte vier Frauen auf einmal verwöhnt, während er seine Gegner niedergestreckt hatte. Ein Nymph hätte das vielleicht vollbringen können. Aber ein Drache? Niemals.
Solche Geschichten hatte Darius schon unzählige Male gehört. Er schluckte einen nach nichts schmeckenden Bissen Fleisch hinunter und fragte den Krieger an seiner Seite: „Irgendwelche Neuigkeiten?“
Brand, sein erster Offizier, bedachte ihn mit einem grimmigen Lächeln und zuckte die Achseln. „Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.“ Das helle Haar hing ihm in dicken Zöpfen ums Gesicht, und einige davon strich er sich hinter die Ohren. „Die Vampire benehmen sich merkwürdig. Sie verlassen die äußeren Ringe der Stadt und sammeln sich hier im Zentrum.“
„Normalerweise kommen sie nur selten her. Habt ihr herausfinden können, was los ist?“
„Für uns kann es jedenfalls nichts Gutes bedeuten, was es auch ist“, schaltete sich Madox in das Gespräch ein. „Ich würde sagen, wir töten diejenigen, die unserem Palast zu nahe kommen.“ Er war der größte unter den anwesenden Drachen und immer für einen Kampf zu haben. Die Unterarme flach auf dem Tisch, in beiden Händen ein großes Stück Fleisch, saß er am gegenüberliegenden Ende der Tafel. „Wir sind zehnmal stärker und fähiger als die.“
„Wir müssen ihre gesamte Art auslöschen“, meldete sich der Krieger zu seiner Linken zu Wort. Renard war die Art Mann, die man in einer Schlacht in seinem Rücken wissen wollte. Im Kampf konnten es nur wenige mit seiner Entschlossenheit aufnehmen, er war absolut loyal und hatte dazu noch die Anatomie einer jeden Spezies in Atlantis verinnerlicht, sodass er genau wusste, wo er zuschlagen musste, um den größtmöglichen Schaden anzurichten. Und den größtmöglichen Schmerz zuzufügen.
Vor Jahren waren Renard und seine Frau von einer Gruppe Vampire gefangen genommen worden. Er war an eine Wand gekettet und gezwungen worden, zuzusehen, wie sie seine Frau vergewaltigt und ausgesaugt hatten. Als er sich befreit hatte, war jede der verantwortlichen Kreaturen seinem brutalen Rachefeldzug zum Opfer gefallen, doch das hatte seinen Schmerz nicht gelindert. Er war ein anderer geworden, sein früher so ansteckendes Lachen und seine Nachsicht waren verschwunden. Noch schlimmer war, dass eine Gruppe abtrünniger Drachen das Ganze nachgeahmt und das Gleiche dem König der Vampire angetan hatte, der nicht für Renards Tragödie verantwortlich war, aber nun Darius die Schuld an der seinen gab. Und so war es zum Krieg zwischen den Rassen gekommen.
„Vielleicht können wir Zeus anrufen, dass er sie ausrottet“, antwortete Brand.
„Die Götter haben uns doch längst vergessen“, entgegnete Renard achselzuckend. „Davon abgesehen ist Zeus in vielerlei Hinsicht genau wie Cronus. Vielleicht sagt er Ja, aber wollen wir das wirklich? Wir alle sind Schöpfungen der Titanen, auch jene, die wir hassen. Wenn Zeus eine Rasse vernichtet, was sollte ihn davon abhalten, auch die anderen auszulöschen?“
Brand stürzte seinen letzten Schluck Wein hinunter, einen stählernen Glanz in den Augen, als er den Kelch abstellte. „Dann fragen wir ihn eben nicht. Wir schlagen einfach zu.“
„Es ist an der Zeit, dass wir denen den Krieg erklären“, stimmte Madox grollend zu.
Bei dem Wort „Krieg“ leuchtete auf vielen Gesichtern ein Lächeln auf.
„Ich stimme euch zu, dass die Vampire ausgelöscht werden müssen. Sie verursachen Chaos und haben allein dafür schon den Tod verdient.“ Darius sah jedem einzelnen Krieger in die Augen, einem nach dem anderen, starrte sie an, bis sie die Blicke senkten. „Aber es gibt eine Zeit für Krieg und eine Zeit für strategisches Denken. Dies ist die Zeit für die Strategie. Ich schicke eine Patrouille los, um herauszufinden, was die Vampire vorhaben. Und schon bald werden wir wissen, wie wir am besten vorgehen.“
„Aber …“, setzte einer der Männer an.
Mit einer Handbewegung schnitt Darius ihm das Wort ab. „Den letzten Krieg gegen die Vampire haben unsere Vorfahren geführt, und auch wenn wir gewonnen haben, waren unsere Verluste zu hoch. Familien wurden zerstört und die Erde mit Blut getränkt. Meine Männer werden sich nicht Hals über Kopf in irgendwelche Gefechte stürzen.“
Enttäuschtes Schweigen breitete sich aus, legte sich um den Tisch und kroch an den Wänden empor. Darius war sich nicht sicher, ob sie über seine Worte nachdachten oder einen Aufstand in Erwägung zogen.
„Was kümmert es dich, wenn Familien zerstört werden, Darius? Man sollte meinen, einem herzlosen Bastard wie dir käme ein Kampf gerade recht.“ Diese trockene Feststellung ertönte von der anderen Seite des Tisches, wo Tagart sich auf seinem Stuhl fläzte. „Bist du etwa nicht begierig darauf, noch mehr Blut zu vergießen? Gleichgültig, ob es nun das von Vampiren ist oder das von Menschen?“ Erbostes Gemurmel erhob sich, und mehrere Krieger fuhren zu Darius herum und sahen ihn erwartungsvoll an. Als rechneten sie damit, dass er den Mann erschlagen würde, der laut ausgesprochen hatte, was sie alle gedacht hatten. Tagart lachte bloß, eine Herausforderung an alle Anwesenden, ihn für seine Worte zur Rechenschaft zu ziehen.
Halten sie mich wirklich für herzlos? fragte sich Darius. Herzlos genug, um einen seiner Artgenossen für etwas so Banales wie eine Beleidigung umzubringen? Er war ein Mörder, ja, aber nicht herzlos.
Ein herzloser Mann fühlte nichts, aber er war durchaus zu Emotionen fähig. Wenn auch nur leicht. Er wusste seine Gefühle eben zu beherrschen, wusste, wie er sie tief in seinem Inneren vergraben konnte. So war es ihm am liebsten. Intensive Empfindungen führten immer zu Aufruhr, und Aufruhr zog seelenzerfetzende Qualen nach sich. Seelenzerfetzende Qualen riefen Erinnerungen auf den Plan … Unwillkürlich umklammerte er die Gabel fester und musste sich zwingen, seinen Griff zu lockern.
Lieber empfand er gar nichts, als den Schmerz seiner Vergangenheit noch einmal zu durchleben – den Schmerz, der nur zu leicht Teil seiner Gegenwart werden konnte, wenn er auch nur eine Erinnerung Wurzeln schlagen und ihre giftigen Zweige sprießen ließ.
„Atlantis ist meine Familie“, antwortete er schließlich ruhig. „Um sie zu beschützen, tue ich, was immer nötig ist. Wenn das bedeutet, dass ich mit einer Kriegserklärung warten muss und damit jeden Einzelnen meiner Männer verärgere, dann ist es eben so.“
Als Tagart erkannte, dass Darius sich nicht provozieren lassen würde, zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder seinem Essen zu.
„Recht hast du, mein Freund.“ Brand schlug Darius breit grinsend auf die Schulter. „Krieg macht nur dann Spaß, wenn wir auch als Sieger daraus hervorgehen. Natürlich befolgen wir deinen Rat zu warten.“
„Wenn du ihm noch tiefer in den Arsch kriechst“, murmelte Tagart, „ist bald nicht nur deine Nasenspitze braun.“
Abrupt erlosch Brands Grinsen, und das Medaillon um seinen Hals glomm auf. „Was hast du gesagt?“, fragte er leise und drohend.
„Sind deine Ohren genauso schwach wie der Rest von dir?“ Tagart stemmte sich hoch, die Hände fest auf die glänzende Tischplatte gestützt. Über die Entfernung starrten die beiden Männer einander wütend an, dass die aufgeladene Luft zwischen ihnen knisterte. „Ich habe gesagt: Wenn du ihm noch tiefer in den Arsch kriechst, ist bald nicht nur deine Nasenspitze braun.“
Knurrend warf Brand sich über den Tisch, dass Geschirr und Essen nur so durch die Gegend flogen. Noch im Sprung wuchsen Reptilienschuppen auf seiner Haut, und mächtige Schwingen schossen aus seinem Rücken. Sein Hemd und seine Hose rissen, als er vom Mann zur Bestie wurde, die mit einem Schwall Feuer alles in unmittelbarer Nähe versengte.
Tagart vollzog die gleiche Verwandlung, und in einem Gewirr von Klauen, Zähnen und Rage gingen die beiden Kreaturen zu Boden und rollten ineinander verkeilt über das Ebenholzparkett.
Drachenkrieger waren in der Lage, sich zu jedem gewünschten Zeitpunkt in echte Drachen zu verwandeln, doch wann immer sie von aufwühlenden Emotionen überwältigt wurden, geschah die Transformation von allein. Darius selbst hatte keine Verwandlung mehr durchgemacht – weder beabsichtigt noch unfreiwillig –, seit er vor über dreihundert Jahren seine Familie ermordet aufgefunden hatte. Mittlerweile glaubte er sogar, dass seine Drachengestalt verkümmert und verloren war.
Tagart fauchte, als Brand ihn gegen die nächstgelegene Wand schleuderte, wo das unbezahlbare Elfenbein unter der Wucht des Aufpralls splitterte. Rasch hatte er sich jedoch wieder aufgerappelt und schlug mit der gezackten Schwanzspitze nach Brands Gesicht, in dem er eine ausgefranste, blutige Wunde hinterließ. Schärfer als jede Klinge schnitt ihr wütendes Knurren und Grollen durch die Luft, die erhitzt war von den Wellen an Feuer, mit denen sie sich bekämpften. Wieder und wieder bissen und hieben sie nacheinander, fuhren zurück, zogen wachsame Kreise und stürzten sich dann wieder aufeinander.
Jeder Krieger außer Darius war mittlerweile aufgesprungen, und eilig wurden Wetten auf den potenziellen Sieger abgeschlossen. „Acht goldene Drachmen auf Brand“, verkündete Grayley.
„Zehn auf Tagart“, rief Brittan.
„Zwanzig, wenn sie sich gegenseitig umbringen“, warf Zaeven aufgeregt ein.
„Das reicht“, sagte Darius in ruhigem, beherrschtem Tonfall. Die zwei Raufbolde sprangen auseinander, als hätte er den Befehl geschrien und mit einer Drohung unterstrichen. Keuchend standen sie einander gegenüber, jederzeit bereit, erneut anzugreifen.
„Hinsetzen“, forderte Darius sie im selben ruhigen Tonfall auf.
Doch statt ein weiteres Mal zu gehorchen, knurrten die beiden einander an. Der Rest der Anwesenden dagegen setzte sich wieder. Auch wenn sie sicher gern weiterhin Wetten abgeschlossen und die Kämpfenden angefeuert hätten, war Darius ihr Anführer, ihr König, und sie wussten es besser, als sich ihm zu widersetzen.
„Ihr seid ebenfalls gemeint“, wandte er sich erneut mit nur minimal erhobener Stimme an Tagart und Brand. „Beruhigt euch, und setzt euch hin.“
Beide Drachen starrten ihn aus schmalen Augen an. Unbeeindruckt zog er eine Augenbraue hoch und machte eine Geste mit den Fingern, die deutlich ausdrückte: „Greift mich ruhig an. Erwartet bloß nicht, mit dem Leben davonzukommen.“
Sekundenlang herrschte angespannte Stille, bis die schwer atmenden Krieger schließlich wieder menschliche Gestalt annahmen. Ihre Flügel zogen sich zurück, ihre Schuppen verblassten, sodass nur nackte Haut zurückblieb. Da Darius in jedem Raum des Palasts Ersatzkleidung bereithalten ließ, konnten beide sich eine Hose von den Haken an der Wand nehmen und anziehen, ehe sie ihre Stühle wieder aufstellten und sich darauf niederließen.
„Ich dulde keine Zwistigkeiten in meinem Palast“, beschied Darius ihnen.
Brand wischte sich das Blut von der Wange und warf Tagart einen wütenden Blick zu. Der bleckte zur Antwort die Zähne und ließ ein schneidendes Knurren hören.
Sie standen schon wieder kurz vor der Verwandlung, wurde Darius klar.
Er rieb sich mit einer Hand über das stoppelige Kinn. Nie war er dankbarer gewesen, dass er ein so geduldiger Mann war, und zugleich war er nie unzufriedener mit dem System gewesen, das er für seine Krieger entwickelt hatte. Seine Drachen waren in vier Einheiten unterteilt. Eine davon patrouillierte im Außenring der Stadt, eine weitere innerhalb der Mauern. Die dritte Einheit durfte sich frei bewegen, sich mit Frauen vergnügen, sich in Wein ertränken oder sonstigen Lastern nachgehen. Die letzte hielt sich hier auf und trainierte. Alle vier Wochen wechselten sich die Einheiten ab.
Diese Männer waren seit zwei Tagen hier – erst seit zwei Tagen –, und schon jetzt waren sie rastlos. Wenn er sich nicht schnell etwas einfallen ließ, um sie abzulenken, war es gut möglich, dass sie einander umbringen würden, bevor die vier Wochen um waren.
„Was haltet ihr von einem Wettstreit im Schwertkampf?“, fragte er.
Gleichgültig zuckten einige der Männer die Schultern. Andere stöhnten: „Nicht schon wieder.“
„Nein“, antwortete Renard und schüttelte den Kopf, „du gewinnst jedes Mal. Davon abgesehen gibt es nichts zu gewinnen.“
„Wonach steht euch dann der Sinn?“
„Frauen“, rief einer der Männer. „Bring uns ein paar Frauen her.“
Darius runzelte die Stirn. „Ihr wisst, dass im Palast keine Frauen gestattet sind. Sie sind eine zu große Ablenkung, verursachen zu viele Feindseligkeiten zwischen euch. Und nicht die Art läppischer Zankerei wie von vor ein paar Minuten.“
Bedauerndes Raunen war die einzige Antwort auf seine Worte.
„Ich habe eine Idee.“ Brand wandte sich ihm zu, und ein träges Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus und überstrahlte alle anderen Emotionen, die ihn eben noch beherrscht hatten. „Ich möchte einen neuen Wettbewerb vorschlagen. Einen, bei dem es nicht um körperliche Kraft geht, sondern um Klugheit und List.“
Mit einem Mal galt ihm die Aufmerksamkeit aller im Saal. Selbst Tagarts zornverzerrte Miene verblasste, und Interesse leuchtete in seinen Augen auf.
Ein geistiges Kräftemessen klang harmlos. Nickend bedeutete Darius seinem ersten Offizier fortzufahren.
Brands Lächeln wurde breiter. „Der Wettbewerb ist ganz einfach. Der Erste, der Darius dazu bringt, die Beherrschung zu verlieren, hat gewonnen.“
„Ich verliere nie …“, setzte Darius an, doch Madox fiel ihm aufgeregt ins Wort.
„Und was genau hat der Gewinner davon?“
„Die Befriedigung, uns alle übertrumpft zu haben“, erwiderte Brand. „Und mit Sicherheit eine Tracht Prügel von Darius.“ Mit einem ungerührten Schulterzucken ließ er sich in die samtenen Polster seines Stuhls zurücksinken und legte die Füße auf den Tisch. „Aber ich schwöre bei den Göttern, es wird jede Blessur wert sein.“
Acht Augenpaare richteten sich auf Darius und durchbohrten ihn mit unangenehm interessierten Blicken. Wägten Optionen ab. Spekulierten. „Ich werde nicht …“, setzte er erneut an, doch wie zuvor wurde er wieder unterbrochen.
„Der Gedanke gefällt mir“, warf Tagart ein. „Ich bin dabei.“
„Ich auch.“
„Und ich.“
Bevor ihn noch jemand so einfach übergehen konnte, sagte Darius ein einziges Wort. Simpel, aber effektiv. „Nein.“ Er schluckte einen faden Bissen Geflügel hinunter und aß geruhsam weiter. „Und jetzt erzählt mir mehr von den Vampiren.“
„Was ist, wenn man ihn zum Lächeln bringt?“, fragte Madox, der vor Eifer aufgesprungen war und sich über den Tisch zu Brand lehnte. „Zählt das auch? Das ist ein Zeichen von Emotionen und genauso selten wie sein Zorn.“
„Absolut.“ Brand nickte. „Aber es muss einen Zeugen geben, sonst kann niemand zum Gewinner erklärt werden.“
Einer nach dem anderen murmelten die Männer: „Einverstanden.“
„Das Thema ist beendet, ein für alle Mal“, erklärte Darius entschieden. Wann war ihm die Kontrolle über diese Unterhaltung entglitten? Die Kontrolle über seine Männer? „Ich …“ Abrupt schloss er den Mund. Düsternis und Gefahr begannen in seinem Blut zu pulsieren, und seine Nackenhaare stellten sich auf.
Der Nebel macht sich bereit für einen Reisenden.
Resignation erfüllte ihn, gefolgt von kalter Entschlossenheit. Er erhob sich, und sein Stuhl schrammte geräuschvoll über das Parkett.
Alle Stimmen verstummten. Alle Blicke richteten sich neugierig auf ihn.
„Ich muss gehen“, erklärte er mit ausdrucksloser, leerer Stimme. „Bei meiner Rückkehr werden wir über den Wettstreit im Schwertkampf sprechen.“
Zielstrebig durchschritt er den Saal, doch Tagart sprang über den Tisch und stellte sich ihm in den Weg. „Ruft der Nebel nach dir?“, fragte der Krieger, lässig in den Türrahmen gelehnt, womit er den einzigen Ausgang versperrte.
Darius zeigte keinerlei Reaktion. Aber wann tat er das schon? „Geh mir aus dem Weg.“
Unbeeindruckt hob Tagart eine Augenbraue. „Zwing mich doch.“
Hinter ihm lachte jemand.
Es sah ganz danach aus, als hätte das Spiel begonnen, auch ohne seine Zustimmung. Das sah seinen Männern gar nicht ähnlich. Ihnen musste langweiliger sein, als er gedacht hatte.
Mühelos hob Darius seinen Herausforderer bei den Schultern in die Höhe und warf ihn an die gegenüberliegende Wand. Keuchend sackte Tagart zu Boden und rang nach Atem. Ohne die anderen anzusehen, fragte Darius: „Sonst noch jemand?“
„Ich“, ertönte es ohne Zögern. Im nächsten Augenblick blitzten schwarzes Leder und silberne Messer in seinem Augenwinkel auf, und Madox stand an seiner Seite. Aufmerksam beobachtete er seinen Anführer und versuchte offensichtlich, seine Reaktion einzuschätzen. „Ich will dich aufhalten. Macht dich das wütend? Willst du mich anschreien und auf meinen Platz verweisen?“
In Tagarts Augen glomm ein unheilvolles Funkeln, als er sich hastig aufrappelte. Er legte die Finger um das Heft des nächsten greifbaren Schwertes und näherte sich Darius erneut mit langsamen, bedachten Bewegungen. Ohne auch nur eine Sekunde über die Dummheit seines Tuns nachzudenken, richtete er die rasiermesserscharfe Spitze der Klinge auf Darius’ Hals.
„Würdest du Angst zeigen, wenn ich schwören würde, dich umzubringen?“, spie der aufgebrachte Mann ihm entgegen.
„Du gehst zu weit“, knurrte Brand, der sich zu der kleinen Gruppe um Darius gesellte.
An Darius’ Kehle rann ein Blutstropfen hinab. Der kleine Schnitt hätte wehtun sollen, doch er spürte nichts, keinerlei Empfindung drang zu ihm durch. Da war nichts außer dieser ewig anhaltenden Gleichgültigkeit.
Zuerst stand Darius völlig reglos da, Tagarts Angriff scheinbar widerstandslos hinnehmend, doch innerhalb eines Herzschlags hatte er sein Schwert gezogen und auf Tagarts Kehle gerichtet. Der Krieger riss überrascht die Augen auf.
„Steck dein Schwert weg“, befahl Darius ihm, „oder ich töte dich. Mir ist es gleich, ob ich lebe oder sterbe, aber du hängst an deinem Leben, glaube ich.“
Mehrere Sekunden verstrichen in angespannter Stille, ehe Tagart mit schmalen Augen die Klinge senkte.
Auch Darius senkte sein Schwert, immer noch keine Gefühlsregung zeigend. „Esst weiter – ihr alle –, und dann geht in den Übungsbereich. Ihr werdet trainieren, bis ihr euch nicht mehr auf den Beinen halten könnt. Das ist ein Befehl.“ Ohne ein weiteres Wort marschierte er aus dem Saal und war sich durchaus bewusst, dass er seinen Männern nicht die Reaktion gegeben hatte, nach der sie gierten.
Darius stieg die Treppe zur Höhle hinab, vier Stufen auf einmal nehmend. Er hatte es eilig, seine Pflicht zu tun und sich dann in Ruhe wieder seinem Abendessen zu widmen. Rasch zog er sich das schwarze Hemd aus und warf es in eine Ecke. Das Medaillon um seinen Hals und die Tattoos auf seiner Brust glühten wie winzige Funken, voller Erwartung auf die Erfüllung seines Eids.
Emotionslos im Angesicht seiner Aufgabe zog er sein Schwert, positionierte sich links vom Nebel … und wartete.
Grace Carlyle hatte immer gehofft, sie würde an überwältigender Lust sterben, während sie Sex mit ihrem Ehemann hatte. Tja, verheiratet war sie nicht, und Sex hatte sie auch noch nie gehabt, aber sterben würde sie trotzdem.
Und nicht an überwältigender Lust.
An Überhitzung? Vielleicht.
Vor Hunger? Gut möglich.
An ihrer eigenen Dummheit? Aber so was von.
Sie irrte allein und orientierungslos durch den Dschungel des Amazonas.
Schweiß rann ihr über die Brust und den Rücken, während sie an verschlungenen grünen Ranken und hoch aufragenden Bäumen vorbeischritt. Durch das Blätterdach über ihr drangen dünne Lichtstrahlen herab und ermöglichten ihr eine eingeschränkte Sicht. Kaum ausreichend, aber besser als nichts. Die Gerüche von faulender Vegetation, altem Regen und Blumen bildeten eine widersprüchliche Mischung aus süß und sauer. Sie rümpfte die Nase.
„Ich wollte doch nur ein bisschen Aufregung“, murmelte sie. „Und stattdessen lande ich pleite und ohne Ausweg in dieser moskitoverseuchten Sauna.“
Bei ihrem Glück rechnete sie außerdem jeden Moment damit, dass der Himmel seine Schleusen öffnen und eine Sintflut auf sie niedergehen lassen würde.
Das einzig Gute an ihrer aktuellen Situation war, dass sie bei all dem Wandern und Schwitzen vielleicht ein paar Pfunde loswerden würde – sie hatte eindeutig zu viele Kurven. Nicht dass es ihr irgendetwas gebracht hätte, Gewicht zu verlieren, wenn man demnächst nur noch ihre Leiche finden würde.
Mit finsterer Miene erschlug sie einen Moskito auf ihrem Arm, der sie auszusaugen versuchte – obwohl sie mehrere Schichten Ucuru-Öl aufgetragen hatte, um Stichen von diesen Mistviechern vorzubeugen. Wo zum Teufel steckte Alex? Mittlerweile hätte sie ihrem Bruder längst über den Weg laufen sollen. Oder wenigstens einer Touristengruppe. Ein Stamm von Eingeborenen wäre ihr auch recht!
Hätte sie nur nicht diesen langen Urlaub genommen. Dann hätte sie sich nun hoch oben am Himmel befunden, tiefenentspannt dank des hypnotischen Summens der Düsentriebwerke.
„Dann wäre ich jetzt in einer G-IV mit Klimaanlage“, murrte sie und schlug mit der Hand durch das dichte grüne Blätterwerk wie mit einer Machete. „Und würde Vanilla Coke trinken.“ Wieder ein Hieb. „Und meinen Kolleginnen dabei zuhören, wie sie sich über Schuhe, teure Dates und unglaubliche Orgasmen austauschen.“
Und wäre trotzdem unglücklich und würde mich an irgendeinen anderen Ort wünschen.
Abrupt blieb sie stehen und schloss die Augen. Ich will doch einfach nur glücklich sein. Ist das denn zu viel verlangt?
Offensichtlich.
In letzter Zeit hatte sie so oft gegen ein Gefühl der Unzufriedenheit ankämpfen müssen, gegen den Wunsch, so viel mehr zu erleben. Ihre Mutter hatte versucht, sie davor zu warnen, wozu eine solche Unzufriedenheit führen würde, wenn sie versuchte, etwas dagegen zu unternehmen. „Das kann nur schiefgehen“, hatte sie gesagt. Aber hatte Grace auf sie gehört? Neeein. Stattdessen hatte sie sich auf den Rat ihrer Tante Sophie verlassen. Tante Sophie, um Himmels willen! Die Frau, die Leggings mit Leopardenprint trug und sich mit Postboten und Strippern vergnügte. „Ich weiß, dass du ein paar spannende Sachen gemacht hast, Liebes, aber das allein macht Leben nicht aus. Irgendetwas fehlt dir, und wenn du das nicht findest, dann endest du als verschrumpelte alte Schachtel wie deine Mutter.“
Es fehlte wirklich etwas in Graces Leben. Das wusste sie, und im Bemühen, dieses mysteriöse Etwas ausfindig zu machen, hatte sie es schon mit Speeddating, Onlinedating und Singlebars versucht. Als das ohne Erfolg geblieben war, hatte sie es mit der Abendschule versucht, aber der Schminkkurs dort hatte ihr nichts gebracht. Ihre wilden roten Locken hätten selbst die besten Stylisten der Welt nicht bändigen können. Danach hatte sie Autorennen und Stepptanz ausprobiert. Sie hatte sich sogar den Bauchnabel piercen lassen. Nichts hatte geholfen.
Was war nötig, damit sie sich endlich erfüllt und vollständig fühlen würde?
„Jedenfalls nicht dieser Dschungel, so viel ist sicher“, grummelte sie und setzte sich wieder in Bewegung. „Kann mir bitte mal jemand verraten“, sagte sie gen Himmel gerichtet, „warum Erfüllung und Zufriedenheit immer ein wenig außerhalb meiner Reichweite liegen? Das würde mich wirklich interessieren.“
Es war immer ihr Traum gewesen, um die Welt zu reisen, und der Beruf als Stewardess bei einem Charterunternehmen war ihr wie die perfekte Wahl erschienen, um diesen Traum zu leben. Ihr war damals nicht klar gewesen, dass sie eine Kellnerin der Lüfte sein würde, immer auf dem Sprung von einem Hotel zum nächsten, ohne eine Gelegenheit, den Staat, das Land oder das Höllenloch zu genießen, in dem sie sich gerade befand. Sie hatte zwar Berge erklommen, Wellen geritten und war aus einem Flugzeug gesprungen, doch die Freude jener Abenteuer hielt nie lange an. Wie bei allem, was sie versuchte, war sie hinterher nur noch unzufriedener.
Aus diesem Grund war sie hierhergekommen: um etwas Neues auszuprobieren. Etwas, das ein wenig mehr Spannung versprach. Ihr Bruder war Angestellter bei „Argonauts“, einer archäologischen Firma, die kürzlich den Gleiter entdeckt hatte, den Dädalus konstruiert hatte – eine Entdeckung, die sowohl die Welt der Mythologie als auch die der Wissenschaft in ihren Grundfesten erschüttert hatte. Tag und Nacht verbrachte Alex damit, sich durch die Mythen der Weltgeschichte zu wühlen und sie zu entzaubern oder zu beweisen.
Mit einem so erfüllenden Job musste er sich keine Gedanken machen, er könnte ein vertrockneter alter Greis werden. Nicht so wie ich.
Grace wischte sich den Schweiß von der Stirn und legte einen Zahn zu. Vor etwa einer Woche hatte Alex ihr ein Päckchen geschickt, in dem sich sein Tagebuch und eine umwerfend schöne Halskette mit zwei ineinander verschlungenen Drachenköpfen als Anhänger befunden hatten. Da sie gewusst hatte, dass er in Brasilien war und nach einem Portal suchte, das in die versunkene Stadt Atlantis führen sollte, hatte sie beschlossen, zu ihm zu fliegen, und ihm eine Nachricht mit ihrer Ankunftszeit auf die Mailbox gesprochen.
Seufzend tastete sie nach der Drachenkette um ihren Hals. Als Alex sie nicht am Flughafen abgeholt hatte, hätte sie zurück nach Hause fliegen sollen. „Aber neeein“, sagte sie voller Selbstverachtung und wurde sich plötzlich bewusst, wie staubtrocken ihr Mund war. „Ich musste ja einen Fremdenführer anheuern und versuchen, Alex aufzuspüren. ‚Sí, senhorina‘“, ahmte sie den Mann nach. „‚Natürlich, senhorina. Was immer Sie wünschen, senhorina.‘“
„Mistkerl“, murmelte sie.
Heute, nach zwei elenden Tagesmärschen, hatte ihr zuvorkommender Lassen-Sie-mich-Ihnen-helfen-Führer ihr den Rucksack gestohlen und sie hier sitzen lassen. Jetzt hatte sie kein Essen, kein Wasser und kein Zelt. Was sie allerdings hatte, war eine Waffe. Eine Pistole, mit der sie dem Mistkerl in den Hintern geschossen hatte, als er sich davongemacht hatte. Bei der Erinnerung verzogen ihre Mundwinkel sich zu einem trägen Lächeln, und liebevoll tätschelte sie den Revolver, der im Bund ihrer schmutzigen Leinenhose steckte.
Lange hielt das Lächeln allerdings nicht an in der quälenden Mittagshitze. Nicht in ihren wildesten Träumen hatte ihre Sehnsucht nach Erfüllung in so etwas geendet. Sie hatte sich Lachen ausgemalt und …
Etwas Hartes krachte gegen ihren Kopf und ließ sie einige Schritte nach vorn stolpern. Fluchend rieb sie sich den pochenden Schädel, während ihr das Herz bis zum Hals schlug, und blickte sich suchend nach dem Grund für ihre Schmerzen um.
Oh, danke, danke! rief sie innerlich aus, als sie den Übeltäter – eine rosafarbene Frucht – entdeckte. Bei dem Anblick des Safts, der aus den zermatschten Überresten rann, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Ob das Zeug giftig war? Interessierte sie das überhaupt? Sie leckte sich die Lippen. Nein, es war ihr gleichgültig. Tod durch Vergiftung erschien ihr immer noch allemal besser, als diesen unerwarteten Schatz einfach liegen zu lassen und langsam zu verhungern.
Gerade als sie sich bückte, um die Frucht aufzuheben, krachte ein weiteres Geschoss gegen ihren Rücken.
Keuchend fuhr sie hoch und suchte mit zusammengekniffenen Augen die umstehenden Bäume ab. Auf einem Ast in etwa fünf Metern Höhe entdeckte sie einen kleinen Affen, der in jeder Hand eine weitere Frucht hielt. Ihr fiel die Kinnlade herunter, und ungläubig starrte sie ihn an. War das etwa ein Lächeln auf seinem Gesicht?
Das Tier holte mit beiden Armen aus und schleuderte die Früchte nach ihr. Sie war zu überrumpelt, um sich zu rühren, und stand nur da, während das Obst schmerzhaft auf ihren Oberschenkeln zerplatzte. Lachend und offensichtlich unheimlich zufrieden mit seiner Leistung sprang der Affe auf und ab und wedelte dabei wild mit den Gliedmaßen.
Sie wusste, was das Vieh dachte: Haha, du kannst gar nichts machen. Das war zu viel. Ausgeraubt und im Stich gelassen, und dann auch noch von einem Affen angegriffen, der Pitcher bei den Yankees hätte sein können. Mit den Nerven am Ende, hob sie eine der Früchte auf, gönnte sich zwei köstliche Bissen, hielt inne, gönnte sich noch zwei und schleuderte dann die Reste des Obsts auf den Affen. Zielsicher traf sie ihr Opfer am Ohr. Das wischte ihm das Lächeln aus dem Gesicht.
„Ich kann also nichts machen, ja? Tja, nimm das, du stinkendes Fellknäuel.“
Ihr Triumph war nur von kurzer Dauer. Im nächsten Augenblick prasselten aus allen Richtungen Früchte auf sie ein. Überall in den Baumkronen hockten Affen! Grace sah ein, dass sie hoffnungslos unterlegen war, schnappte sich so viel Obst, wie sie tragen konnte, und nahm die Beine in die Hand. Rannte, ohne zu wissen, wohin. Rannte, bis sie glaubte, ihre Lungen würden jeden Moment kollabieren.
Als sie sich schließlich in Sicherheit wähnte, lief sie langsamer, holte tief Luft und biss in ihre Beute. Holte noch einmal Luft und nahm noch einen Bissen von dem Obst, und immer so weiter im Wechsel. Als der süße Saft durch ihre Kehle rann, seufzte sie genüsslich.
Das Leben ist schön, dachte sie.
Bis eine weitere Stunde verstrichen war. Bis dahin hatte ihr Körper vergessen, dass sie überhaupt etwas zu sich genommen hatte, und Lethargie überfiel sie, bis sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ihre Knochen schienen sich zu verflüssigen, und ihr Mund war trockener als Sand. Doch sie ging weiter, sagte mit jedem Schritt ein Mantra in ihrem Kopf auf. Finde. Alex. Finde. Alex. Finde. Alex. Er war irgendwo hier draußen, auf der Suche nach diesem dämlichen Portal, ohne auch nur den blassesten Schimmer davon zu haben, dass sie hier war. Warum hatte er nicht an den Koordinaten sein können, an denen er seinem Tagebuch zufolge hätte sein sollen? Wo zum Teufel war er?
Je länger sie durch den Dschungel streifte, desto mehr verlief sie sich. Die Bäume und Lianen verdichteten sich, genau wie die Dunkelheit. Wenigstens verflüchtigte sich der Fäulnisgeruch, bis nichts als eine sinnliche Ahnung von wilden Helikonien und taubenetzten Orchideen in der Luft zurückblieb. Aber wenn sie nicht bald einen Unterschlupf fand, würde sie zusammenbrechen, wo auch immer sie sich gerade befand, der Natur hilflos ausgeliefert. Auch wenn sie mit den Impfungen auf dem neuesten Stand war, verabscheute sie Schlangen und Insekten weit mehr als Hunger und Erschöpfung.
Einige Meter, einen Tapir und zwei Capybaras weiter war sie nicht wirklich vorangekommen. Ihre Arme und Beine waren mittlerweile bleischwer, und sie ließ sich kraftlos zu Boden sinken. Wie sie dort so lag, drang das sanfte Singen der Insekten an ihre Ohren und … das leise Plätschern von Wasser? Sie blinzelte und horchte genauer hin. Ja, stellte sie aufgeregt fest. Sie hörte tatsächlich das herrliche Rauschen von Wasser.
Hoch mit dir, befahl sie sich. Hoch jetzt, los, los, los!
Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, stemmte sich auf Hände und Knie hoch und kroch in ein dichtes Gewühl von Pflanzen, wo das Geräusch herkam. Um sie herum pulsierte das Leben des Waldes und verhöhnte ihre Schwäche. Vor ihr teilten sich leuchtend grüne feuchte Blätter, und der Boden wurde nasser und nasser, bis er in eine unterirdische Quelle mit klarem, türkisfarbenem Wasser überging.
Zitternd vor Durst formte sie eine Schale mit den Händen, schöpfte das kühle, himmlische Nass und trank in großen Schlucken. Jeder frische, köstliche Tropfen war eine Wohltat für ihre spröden Lippen … Bis sich ein Brennen in ihrer Brust ausbreitete, das sich so anfühlte, als würde sie Lava schlucken. Bloß dass die Empfindung von außerhalb ihres Körpers kam, nicht von innen.
Die Hitze wurde so unerträglich, dass Grace aufschrie und hochfuhr. Ihr Blick blieb an dem Medaillon hängen, das an der silbernen Kette um ihren Hals baumelte. In beiden Drachenköpfen glühten die rubinbesetzten Augen in einem strahlenden, unheimlichen Rot.
Hastig versuchte sie, sich die Kette über den Kopf zu ziehen, wurde jedoch unvermittelt von einer unsichtbaren Kraft nach vorn gezogen. Wild um sich schlagend, brach sie durch eine dichte Wand aus Pflanzen. Das Licht wich einer gedämpften Dunkelheit, während sie keuchend und strampelnd mehrere Meter weitergezerrt wurde, bevor sie endlich zum Stehen kam und das Medaillon an ihrer Brust wieder erkaltete.
Ihre Augen weiteten sich, als sie ihre neue Umgebung musterte. Irgendwie war sie in eine Art Höhle geraten. Tropf, tropf. Wasser tröpfelte auf den felsigen Boden. Vor Erleichterung wurden ihr die Knie weich, als eine herrlich kühle Brise ihr Gesicht küsste. Die Stille der Umgebung strömte in sie hinein, half dabei, ihren hämmernden Herzschlag und ihren schweren Atem zu beruhigen.
„Jetzt brauche ich nur noch die Dosenbohnen und den Kaffee aus meinem Rucksack, und dann kann ich glücklich sterben.“
Zu erschöpft, um sich darum zu scheren, was sie drinnen erwarten mochte – und vielleicht nur darauf wartete, dass ein leckerer Mensch sich hierher verirrte –, stolperte sie tiefer in den Durchgang, der steil abfiel. Die Decke wurde niedriger, je weiter sie in die Dunkelheit vordrang, bis Grace sich bücken und schließlich sogar auf Knien weiterkriechen musste. Wie lange, wusste sie nicht. Minuten? Stunden? Sie wusste nur, dass sie eine trockene, ebene Fläche zum Schlafen finden musste. Plötzlich drang ein Lichtstrahl durch das Dunkel, lugte lockend um die Ecke. Sie folgte seinem Ruf.
Und entdeckte das Paradies.
Strahlendes Licht fiel auf ein kleines Becken voll … Wasser? Die eisblaue Flüssigkeit wirkte dicker als Wasser, beinahe wie ein transparentes Gel. Doch statt am Boden zu liegen, hing das Becken aufrecht da, leicht nach vorn geneigt wie ein Gemälde an der Wand. Da war nur keine Wand, an der etwas hätte hängen können.
Warum läuft da nichts über? fragte sie sich benommen. In ihrem umnebelten Hirn ergab der bizarre Anblick keinen Sinn. Zarte Nebelschwaden umhüllten diese Oase der Stille. Einige streckten sich wie Fühler bis zur Decke der Höhle, wirbelnd und kreisend, bevor sie wieder herabschwebten.
Ihr entfuhr ein nervöses Lachen, und das Geräusch hallte von überallher wider.
Vorsichtig streckte Grace die Hand aus, um die seltsame Substanz zu untersuchen. Bei der Berührung durchfuhr sie ein heftiger Stich, und es fühlte sich an, als würde sie in ein Vakuum gesogen, das von allen Seiten zugleich an ihr zog und zerrte.
Die Welt brach auseinander, Stück für Stück, bis sie schließlich aufhörte zu existieren. Entsetzen machte sich in Grace breit, überrollte sie. Sie fiel, stürzte hinab in die Leere. Mit ausgestreckten Armen suchte sie verzweifelt nach einem festen Halt, doch ihre Handflächen trafen auf nichts Greifbares.
Schreie durchdrangen die Stille. Schrille Schreie, als würden tausend kreischende Kinder um sie herum toben. Sie hielt sich die Ohren zu, um das Geräusch auszusperren. Doch das Geschrei wurde nur noch lauter. Durchdringender.
„Hilfe!“, rief sie verzweifelt.
Um sie herum barsten Sterne wie ein Feuerwerk, und sie wurde wild umhergewirbelt. Übelkeit ergriff in Wogen von ihr Besitz.
Plötzlich legte sich Stille über alles.
Ihre Füße berührten eine harte Fläche, und sie schwankte, fiel aber nicht. Langsam ebbte die Übelkeit ab. Vorsichtig schob sie die Füße tastend über den Boden, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich auf festem Untergrund stand.
Ein. Aus. Erleichtert holte sie tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. Ein. Aus. Als sich der Aufruhr in ihrem Inneren gelegt hatte, öffnete sie die Augen einen Spaltbreit. Noch immer stieg Nebel von dem Becken empor wie glitzernder Feenstaub. Das Einzige, was die Schönheit dieses Anblicks störte, war die Düsternis der Höhle – einer Höhle, die sich deutlich von der unterschied, die Grace zuerst betreten hatte.
Unwillkürlich runzelte sie die Stirn. Hier waren die Wände von seltsamen farbigen Zeichen bedeckt. Und … waren das Blutspritzer dazwischen? Erschaudernd wandte sie den Blick ab. Der Boden war feucht, übersät von seltsam geformten Zweigen, Steinen und Stroh. In einer Ecke standen einige grob zusammengezimmerte Stühle.
Anstelle der elenden feuchten Hitze des Dschungels atmete sie plötzlich eine Luft so kalt wie Eis. Die Wände der Höhle waren höher und breiter. Und als sie hier gelandet war, hatte das Becken sich zu ihrer Rechten befunden, nicht links.
Wie hatte ihre Umgebung sich so abrupt und so drastisch verändern können, obwohl Grace sich nicht von der Stelle gerührt hatte? Sie erbebte. Was ging hier vor? Ein Traum oder eine Halluzination konnte es nicht sein. Dafür war es zu real, zu beängstigend. War sie tot? Nein. Das hier war ganz sicher nicht der Himmel, und für die Hölle war es zu kalt.
Was also war passiert?
Bevor sie sich mit der Frage befassen konnte, knackte ein Zweig, und Grace riss den Kopf herum. Ihr Blick traf auf den zweier eisblauer Augen, die kalt auf sie herabblickten. Überwältigt schnappte sie nach Luft. Der Eigentümer dieser außergewöhnlichen Augen war der maskulinste Mann, den sie je gesehen hatte. Von seiner linken Augenbraue zog sich eine Narbe bis hinab zum Kinn. Seine Wangenknochen über dem kantigen Kiefer waren scharf geschnitten, und das einzig Weiche an seinem Gesicht war sein herrlich voller Mund, der ihm auf eigenartige Weise die hypnotische Schönheit eines gefallenen Engels verlieh.
Riesig ragte er vor ihr auf, mindestens eins fünfundneunzig groß und ein schierer Muskelberg. Sein nackter Oberkörper gestattete ihr einen großzügigen Blick auf einen Sixpack. Der Nebel umspielte ihn und setzte sich in schimmernden Perlen auf seiner gebräunten, tätowierten Brust ab.
Diese Tattoos glühten, doch nicht nur das: Sie wirkten lebendig. Ein Drache breitete seine roten Flügel aus und schien geradewegs aus seiner Haut herauszufliegen, wie ein 3-D-Bild, das zum Leben erwacht war. Der Schwanz des Drachen zog sich bis unter den Bund der schwarzen Lederhose ihres Gegenübers. Um den Körper des Tiers wanden sich schwarze Runen, die sich über sein Schlüsselbein und um seine Oberarme herum erstreckten.
Der Mann selbst wirkte noch wilder als der Drache auf seiner Haut. In der rechten Hand hielt er ein langes, bedrohliches Schwert.
Eine Woge der Angst durchströmte sie, doch das hielt sie nicht davon ab, ihn anzustarren. Bei seinem Anblick kam ihr ein eingesperrtes wildes Tier in den Sinn. Bereit, anzugreifen. Alles an ihm schrie nach Gefahr – von seinen kristallklaren Raubtieraugen bis hin zu den Messern, die an seinen Stiefeln befestigt waren.
Mit einer lässigen Bewegung des Handgelenks wirbelte er das Schwert um seinen Kopf.
Langsam wich sie zurück. Er hatte ja wohl nicht vor, das Ding zu benutzen. Oh Gott, er hob es höher, als wollte er tatsächlich … „Okay, Moment mal.“ Sie brachte ein zittriges Lachen zustande. „Steck das lieber weg, bevor du noch jemanden verletzt.“ Mich zum Beispiel.
Er wirbelte die tödliche Waffe erneut. Die Muskeln seines Waschbrettbauchs tanzten unter seiner Haut, als er auf sie zukam und das scharfe Metall mit starker, sicherer Hand durch die Luft schneiden ließ. In seiner Miene war nicht der Hauch einer Emotion zu erkennen. Kein Zorn, keine Furcht, keine Bosheit – nichts, das Grace verriet, warum er es für nötig hielt, hier vor ihr Schwertkampftechniken zu trainieren.
Er starrte sie an. Sie starrte zurück und redete sich ein, es läge nur daran, dass sie zu viel Angst hatte wegzusehen.
„Ich will dir nichts Böses“, brachte sie krächzend hervor. Unendlich langsam strich die Zeit dahin, in der er keine Antwort von sich gab.
Entsetzen packte sie, als sein Schwert auf ihren Hals zuraste. Er würde sie umbringen! Instinktiv riss sie die Pistole aus ihrem Hosenbund. Ihr angehaltener Atem brannte in ihrer Kehle, als sie den Abzug drückte. Klick, klick, klick.
Nichts geschah.
Scheiße. Scheiße! Das Magazin war leer. Grace musste all ihre Kugeln an den Mistkerl von einem Führer vergeudet haben. Mit bebenden Händen hielt sie die Waffe auf den Mann gerichtet, während sich Entsetzen um sie legte wie die Kälte eines Schneesturms. Ihr Blick suchte die Höhle nach einem Fluchtweg ab. Der Nebel war der einzige Ausgang, doch den Weg dorthin versperrte jetzt der große, kräftige Körper des wilden Kriegers.
„Bitte“, wisperte sie. Was sonst hätte sie auch tun oder sagen sollen?
Entweder verstand der Mann sie nicht oder ihm war egal, was sie sagte. Sein scharfes tödliches Schwert näherte sich unerbittlich ihrem Hals.
Grace kniff fest die Augen zusammen.
Darius stieß einen scharfen Fluch aus und ließ sein Schwert dicht vor der Frau vorbeisausen, ohne sie damit zu berühren. Durch die Bewegung tanzte ein zarter Luftzug durch die Strähnen ihres roten Haars. Die Tatsache, dass er die Farbe tatsächlich wahrnahm – ein karminrotes Leuchtfeuer, das ihre Schultern umspielte –, brachte ihn weit genug aus der Fassung, dass er davor zurückschreckte, die Eigentümerin einer solchen Pracht auszulöschen.
Er bezwang seinen Schock und umklammerte die Waffe an seiner Seite, versuchte, seine Gliedmaßen dazu zu bringen, ihr Werk der Zerstörung zu tun. Versuchte, eisige Entschlossenheit in seine Blutbahn zu zwingen und jeden Gedanken an Gnade oder Bedauern weit wegzuschieben. Er wusste, was er zu tun hatte. Zuschlagen. Zerstören.
Das hatte er geschworen.
Aber ihr Haar … Er weidete sich an der ersten Wahrnehmung von Farbe seit über dreihundert Jahren. Es juckte ihn in den Fingern, sie zu berühren. Seine Sinne gierten danach, sie zu erforschen. Er hätte diesen Drang verfluchen sollen. Er hatte schließlich gewollt, dass diese Sinne verkümmerten. Doch bei ihrem Anblick hatte er an die Familie denken müssen, die er einst geliebt hatte, und seine Entschlossenheit war ins Wanken geraten. Dieser winzige Riss in der Oberfläche hatte gereicht, um seine Sinne zum Leben zu erwecken.
Töte sie, forderte sein Verstand. Tu es!
Er presste die Kiefer zusammen, und sein ganzer Körper spannte sich an. In seinem Kopf hallte die Stimme seines Mentors wider: „Reisende zu töten ist deine Pflicht. Sie zu töten ist dein Privileg.“
Es gab Momente wie diesen, in denen er die Dinge verabscheute, die er tat, doch nie zuvor hatte er gezögert, das zu tun, was notwendig war. Er hatte einfach weitergemacht, Mord für Mord, denn er hatte gewusst, dass es für ihn keine Alternative gab. Der Drache in ihm hatte schon vor langer Zeit seine sterbliche Seite überwältigt. Er hatte zwar ein Gewissen, doch das war kläglich verkümmert in all den Jahren, die er es ignoriert hatte.
Warum also zögerte er jetzt, bei dieser Reisenden? Er musterte sie. Auf jedem Zentimeter ihrer Haut tanzten Sommersprossen, und eine Spur von Dreck zog sich über ihren Kiefer. Ihre Nase war klein und schmal, ihre Wimpern dicht, rußschwarz und so lang, dass sie Schatten über ihre Wangen warfen. Langsam öffnete sie die Augen, und scharf sog er den Atem ein. Ihre Augen waren grün, durchzogen von blauen Sprenkeln, und Entschlossenheit und Angst sprachen aus ihrem Blick. Diese neuen Farben hypnotisierten ihn, verzauberten ihn. Riefen sämtliche Beschützerinstinkte in ihm auf den Plan. Schlimmer noch …
Es hätte nicht sein dürfen, doch in ihm ballte sich Begehren zusammen, eine Empfindung, die sich nicht zurückdrängen lassen wollte.
Als der Frau aufging, dass die Spitze seines Schwerts auf den Boden zeigte, ging sie beinahe unmerklich in die Knie und umklammerte dabei einen seltsam geformten Metallgegenstand. Sie fürchtete sich zwar, zeigte ihm aber mit dieser Angriffsstellung, dass sie sich mit aller Kraft gegen ihn zur Wehr setzen würde, um zu überleben.
Konnte er eine solche Tapferkeit wirklich auslöschen?
Ja. Das musste er.
Und er würde es tun.
Vielleicht war er tatsächlich die herzlose Bestie, als die Tagart ihn dargestellt hatte. Nein, das kann nicht sein, dachte er im nächsten Augenblick. Dieselben Taten, die ihn in etwas Böses verwandelten, machten ihn auch zu einem Bewahrer des Friedens und dienten dem Schutz all jener, die in Atlantis lebten.
Es gab keinen anderen Weg.
Und doch fühlte er sich wie eine Bestie, als er diesen jüngsten Eindringling so betrachtete, sie wirklich ansah. Sie wirkte so arglos, so engelhaft, und eine unbekannte Emotion regte sich in ihm. Besorgnis? Bedauern? Scham?
Eine Kombination aus allen dreien?
Das Gefühl war so neu, dass er Schwierigkeiten hatte, es zu identifizieren. Was unterschied diese Reisende so sehr von allen anderen, dass er zögerte – und, bei den Göttern, sogar Verlangen verspürte? Die Tatsache, dass sie wirkte wie eine zarte Feenkönigin? Oder dass sie all das ausstrahlte, wonach er sich insgeheim immer gesehnt hatte – Schönheit, Sanftheit und Freude –, während er gleichzeitig wusste, dass ihm das jedoch nie vergönnt sein würde?
Unwillkürlich nahm er ihren Anblick in sich auf. Hochgewachsen war sie nicht, doch ihre königliche Haltung verlieh ihr den Anschein von Größe. Ihre Haut war dreckverschmiert und schweißüberströmt, was ihrer Anziehungskraft aber keinerlei Abbruch tat. Enge Kleider schmiegten sich perfekt um ihre üppigen Kurven und unterstrichen ihre Schönheit.
Weitere unerwünschte Empfindungen durchströmten ihn, undefinierbare Empfindungen. Verhasste Empfindungen. Er hätte nichts fühlen sollen, hätte gleichgültig bleiben sollen. Doch er fühlte; war nicht gleichgültig. Er sehnte sich danach, mit den Fingerspitzen über ihren Körper zu fahren, sich in ihrer Weichheit zu verlieren, in dem bunten Strahlen zu baden, das sie umgab. Gierte danach, sie zu kosten, alles von ihr zu schmecken und den Geschmack der Leere zu vertreiben.
„Nein“, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr. „Nein.“
Er musste sie töten.
Sie hatte das Gesetz des Nebels gebrochen.
Vor vielen Jahren hatte ein Wächter seine Pflicht nicht erfüllt, hatte Atlantis nicht beschützt und damit den Tod vieler Menschen verursacht – Menschen, die Darius geliebt hatte. Er konnte, würde nicht einmal dieser Feenkönigin gestatten zu überleben.
Erfüllt von diesem Wissen blieb Darius trotzdem reglos stehen. In seinem Inneren kämpfte seine kalte, harte Logik mit seinem wilden männlichen Hunger. Hätte die Frau doch wenigstens den Blick abgewandt … Doch Sekunden dehnten sich zu Minuten, und ihre Augen blieben auf ihn gerichtet, musternd. Vielleicht sogar anerkennend.
In einem verzweifelten Versuch, ihren Bann zu brechen, forderte er: „Wende den Blick ab, Weib.“
Langsam, unendlich langsam schüttelte sie den Kopf, wobei rote Strähnen um ihre Schläfen wehten. „Tut mir leid. Ich verstehe dich nicht.“
Selbst ihre Stimme war unschuldig, weich und melodisch, eine Liebkosung für seine Sinne. Und doch hatte er keinen Schimmer, was sie gesagt hatte.
„Verdammt noch mal“, murmelte er.
Er befahl sich noch, ihr gegenüber gleichgültig zu bleiben, während er schon sein Schwert in die Scheide schob und den Abstand zu ihr überbrückte. Es gab keinen Grund, zu tun, was er gleich tun würde, doch er konnte nicht anders. Sein Handeln war nicht länger kontrolliert von seinem Verstand, sondern beherrscht von einer Macht, die er weder verstand noch anerkennen wollte.
Sie schnappte nach Luft, als er sich ihr näherte. „Was tust du da?“
Ohne zu antworten, drängte er sie zurück, pferchte sie ein, bis sie an die felsige Wand stieß. Noch immer hielt sie den Metallgegenstand auf ihn gerichtet, und das alberne Ding klickte wieder und wieder. Glaubte sie wirklich, mit so einem nutzlosen Apparat könnte sie sich gegen einen Drachenkrieger verteidigen? Mühelos nahm er ihr das Ding ab und warf es über die Schulter hinter sich. Doch sie gab sich nicht geschlagen, sondern schlug und trat nach ihm wie ein rasender Dämon.
Er packte sie bei den Handgelenken und hielt ihre Arme über ihrem Kopf fest. „Hör auf damit“, befahl er. Als sie sich weiter wand, seufzte er und wartete einfach, bis ihre Kräfte sie verlassen würden. Es vergingen nur wenige Minuten, bis ihre Bewegungen langsamer wurden und schließlich ganz aufhörten.
„Dafür kommst du ins Gefängnis“, keuchte sie nach Luft ringend.
Warm liebkoste ihr Atem seine Brust, und die berauschende Süße darin stahl sich in seinen Kopf. Eine weitere sanfte Erinnerung an die Familie, die er nie ganz aus seinen Gedanken verdrängen konnte. Beinahe wäre er vor ihr zurückgezuckt, doch ihn hüllte der Duft von Angst und Orchideen ein. Schon so lange hatte er nichts als Asche gerochen – so lange, dass er nicht anders konnte, als in diesem neuen Duft zu baden. Tief einatmend drückte er sich an sie, berührte ihren Körper mit seinem, löschte jede Andeutung von Abstand zwischen ihnen aus. Das überwältigende Bedürfnis, sie zu berühren, egal welchen Teil von ihr, ließ ihn einfach nicht los.
Sie erschauerte. Wegen der Kälte? fragte er sich. Oder weil sie ein Verlangen verspürte, das ähnlich aufwühlend war wie seines? Durch ihr Oberteil hindurch spürte er ihre aufgerichteten Brustwarzen an seinen Rippen, eine erotische Liebkosung, und als er sah, wie sie an ihrer weichen Unterlippe knabberte, wurde seine Lust auf sie zu einem tosenden Sturm. Einem so intensiven Sturm, dass er sich anfühlte wie eine übernatürliche Präsenz. Pochend, heiß und verzehrend strömte sein Drachenblut in seinen Schwanz.
Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln voller Selbstverachtung. Sobald ihm klar wurde, dass er wahrhaftig lächelte, runzelte er jedoch die Stirn. Was hätten seine Männer gelacht, hätten sie dieses zarte Wesen zur Siegerin ihres Wettstreits krönen dürfen. Doch das war ihm seltsamerweise egal. Bei den Göttern, nie zuvor hatte er etwas so Perfektes, so Richtiges gespürt.
Blinzelnd sah seine Gefangene auf, und ihre Blicke trafen aufeinander. Wären in diesem Augenblick sichtbare, weißglühende Funken der Erkenntnis um sie herum aufgesprüht, es hätte ihn nicht überrascht.