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Ein aufwühlender Abenteuerroman ab 12 Jahren über Piraterie an der Küste Somalias Jeden Tag geht der fünfzehnjährige Geedi mit seiner kleinen Schwester Amina an den Strand, um Ausschau zu halten, ob ihr großer Bruder Aayan, der vor vielen Jahren plötzlich verschwunden ist, nicht doch zu ihnen zurückkehrt. Die Familie lebt in Hafun, einem kleinen Fischerort in Nordost-Somalia, fast am östlichsten Punkt des afrikanischen Kontinents. Man schlägt sich so durch – der Vater mit Gelegenheitsarbeiten, die Mutter als Köchin. Eines Tages taucht Aayan tatsächlich wieder auf. Wie gemunkelt wurde, hat er sich den Piraten angeschlossen - und ist kein geringerer als der berühmte und gefürchtete "Geist von Aden" - darum kann er nur kurze Zeit bleiben. Als Aayan in der Nacht wieder verschwindet, versteckt Geedi sich kurzerhand auf der Ladefläche von Aayans Pickup. Zu gern möchte er seinem Vorbild folgen. Doch schnell stellt er fest: Das Piratenleben hat nicht nur Sonnenseiten ... Ein Roman, der die großen Fragen nach dem Richtigen im Falschen und dem Fünkchen Guten im Bösen aufgreift
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Seitenzahl: 228
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Der 15-jährige Geedi traut seinen Augen kaum, als sein lang vermisster großer Bruder Aayan einfach wieder auftaucht. Noch dazu bewahrheitet sich, was schon lange gemunkelt wurde: Er hat sich den somalischen Piraten angeschlossen - und ist nun kein geringerer als der berühmte und gefürchtete „Geist von Aden“. In der Nacht, in der Aayan wieder verschwinden will, versteckt sich Geedi kurzerhand auf der Ladefläche seines Pick-ups, um seinem Vorbild zu folgen. Doch er stellt schnell fest: Das Piratenleben hat nicht nur Sonnenseiten …
Ein literarische Erzählung über die Piraten von heute
1 Das dritte Schiff
2 Über alles, was du siehst, denke nach
3 Ein Bruder ist wie eine Schulter
4 Auch junge Leoparden haben Flecken
5 Fließendes Wasser bewegt stehendes Wasser
6 Im Frieden schmeckt die Milch süß
7 Wer dich nicht rasiert, kann dich nicht schneiden
8 Der Mutige stirbt einen Tod, der Feigling stirbt tausende
9 Das Huhn gräbt die Klinge aus, die es tötet
10 Wo es Verhandlungen gibt, gibt es Hoffnung auf Einigung
11 Wenn du deine eigenen Probleme nicht beheben kannst, kannst du den Krieg nicht beenden
12 Wer die Gelegenheit heute nicht ergreift, wird die morgige auch nicht ergreifen
13 Die Insel
Dank
Nur zwei Schiffe lagen heute vor der Küste. Gestrandet und unbeweglich ruhten sie genau dort, wo doch seit Jahren drei Schiffe gelegen hatten: Im Süden von Hafun, dort, wo der Wolf sein Maul hatte, wie man bei uns sagte. Ich lebte an der Küste einer kleinen Insel im Norden Somalias. Und unsere Insel sah auf einer Karte eben wie der Kopf eines Wolfes aus. Sein Blick war auf das Festland gerichtet und die Alten behaupteten, dass er mit Sorge auf unser Land schaute. Jeden Tag ging ich auf dem Weg zur Schule diesen Strand entlang. Die Sandalen trug ich immer in der Hand, um den heißen Sand unter meinen Füßen zwischen den Zehen zu zerdrücken. Dann ging es über eine Sandbrücke, den Tombolo, zum Festland. Und an jedem dieser Tage sah ich diese großen, verrosteten Schiffe, die meine Schwester Amina und ich »die drei großen Toten« getauft hatten. Denn sie waren verlassen und leblos, und sie waren ganz sicher genauso tot dort angespült worden wie alles andere, was bei uns seit Jahren an Land kam: Halbe Fische, Seeschildkröten und alles andere, was die Hochseefischer nicht brauchen konnten.
»Was sie in Europa nicht brauchen können«, ergänzte Vater immer. Dabei waren es nicht nur Italiener oder Griechen oder was weiß ich, die mit ihren riesigen Industrieschiffen dafür gesorgt hatten, dass es für die Fischer aus unserem Dorf in der See nichts mehr zu holen gab. Aber für Vater waren das alles die Europäer. Einmal hatte ich ganz weit draußen auf dem Meer so einen Kutter gesehen, das war vor ungefähr fünf Jahren, als mein großer Bruder Aayan noch bei uns war. Er hatte auf den Horizont gezeigt und gesagt: »Schau, Geedi, die holen unsere Zukunft aus dem Meer.« Lebendige Fische wurden bei uns in Hafun schon seit Ewigkeiten nur noch selten gefangen. »Verkaufe dein Boot und werde Fischer«, hieß es bei uns. Dann konntest du den Strand nach dem absuchen, was das Meer wieder auswarf und noch genießbar war. »Wir fressen ihre Reste. Wie die Hunde«, sagte Vater, wenn wir auf der kleinen Steinmauer vor unserem Haus saßen und sehen konnten, wie die Frauen und Kinder mit Körben die Bucht auf und ab gingen. Dabei biss er sich auf die Lippen und rauchte dann still seine Zigarette. Die drei großen Toten – sie hatten jetzt vier Jahre lang rostig vor unserer Bucht gelegen. Und nun war einer von ihnen einfach fort: Der mit dem blauen Rumpf, der zwischen dem grauen und dem roten gelegen hatte. Wie konnte das gehen?
»Der blaue Tote ist weg!«, rief ich, als ich auf unser Haus zugelaufen kam. »Amina! Komm, das musst du sehen! Der blaue Tote ist verschwunden!« Amina sprang sofort aus dem Haus. Ich warf meine Tasche auf die Erde, als meine Schwester mich im Laufen gleich an der linken Hand fasste und mit sich riss – sie wollte sofort hinunter zum Strand, um zu sehen, ob es wirklich wahr sein konnte.
»Halt! Jetzt wird erst gegessen«, rief uns Mutter hinterher, also blieben wir stehen und drehten uns enttäuscht zu ihr um.
»Aber Mutter, der blaue Tote ist verschwunden«, riefen wir beinahe gleichzeitig. Mutter verstand nicht und sagte: »Der ist nach dem Essen noch genauso verschwunden. Kommt jetzt erst einmal rein und esst.«
Widerwillig folgten wir ihr ins Haus, setzten uns in der Küche an den Tisch und schaufelten das Baasto in uns hinein, als gäbe es kein Morgen. Ich liebte diese Spaghetti. Mutter machte das beste Baasto in ganz Hafun. Normalerweise konnte ich schon vom Strand aus die Gewürze riechen, den Koriander und den Kreuzkümmel, und ich lief schneller und schneller. Dabei hoffte ich immer, dass wenigstens drei Stücke Fleisch in der Soße sein würden und konnte es nie erwarten, endlich zu Hause zu sein. Doch heute war es mir egal. Es musste schnell gehen mit dem Essen, damit wir nur bald wieder loslaufen und die Stelle anschauen konnten, an welcher der große, blaue Tote jetzt nicht mehr war.
»Wer ist verschwunden?«, fragte Vater, der nun in der Tür stand, und Mutter ermahnte uns streng: »Das ist kein Grund, das Essen so herunterzuschlingen!«
»Der blaue, große Tote«, murmelte ich mit vollem Mund, und Mutter ermahnte mich wieder: »Iss nicht mit vollem Mund!«
Wir lachten alle, sodass uns das Essen aus dem Gesicht fiel. Das passierte Mutter immer, wenn sie sich bemühte, eine strenge Mutter zu sein. Und wenn sie dabei scheiterte. Sie war selten streng und scheiterte oft, wenn sie es doch versuchte. Dabei wollte sie es nur den anderen Müttern in Hafun gleichtun. Und diese wollten es ihr gleichtun. Auf dem Markt konnte man ihnen zuhören, wenn sie sich gegenseitig erklärten, wie es zu Hause mit den Kindern zuging: Eine war strenger als die andere. Ich war fest davon überzeugt, dass keine der anderen Mütter wirklich strenger gewesen wäre als meine. Sie redeten es sich ein, ein richtiger Wettbewerb war das, doch am Abend zu Hause scheiterten sie ganz sicher alle genauso wie meine liebe Mutter. Ihr Name war Kilala. Das bedeutete »eins mit den Katzen«, und genau so wäre sie auch gerne gewesen. Unabhängig wollte sie sein und eigensinnig. Einmal hatte sie zwei Tage lang nicht mit Vater gesprochen. Sie hatte sich wieder einmal grundlos wegen etwas Sorgen gemacht und Vater sagte dann zu ihr: »Kilala! Den völlig falschen Namen haben deine Eltern dir gegeben – ›eins mit den Schafen‹, das wäre besser gewesen.« Mutter schmollte und Vater lachte ihr Schmollen einfach so lange weg, bis es ganz verschwunden war. Länger als diese zwei Tage hatte sie es noch nie ausgehalten – meist konnte sie sich schon nach wenigen Stunden nicht mehr gegen Vaters Gutmütigkeit wehren. Denn eigentlich war sie selbst gutmütig, auch wenn sie oft so streng tat. Sie liebte meinen Vater, und Vater liebte sie. So einfach war das.
Wir lachten und aßen weiter, während Mutter schmollte. Schließlich fragte Vater noch einmal: »Wer ist jetzt verschwunden?«
»Der große, blaue Tote«, sagte Amina laut, so als wäre Vater nicht ganz bei der Sache, weil doch eigentlich völlig klar war, was wir gemeint hatten. Sie musste es einfach noch einmal und lauter sagen, damit er endlich verstand. Und Vater verstand.
»Der große, blaue Tote also …«, sagte er. Plötzlich war er ganz still. Er ging zum Fenster und versuchte, in der Bucht etwas zu erkennen. Wir schauten ihn an, wie er nachdenklich aus dem Fenster auf die Küste starrte. Eine ganze Weile stand er so da, dann drehte er sich zu uns herum, schaute erst Amina und mich an, dann Mutter, und schließlich sagte er: »Er war das. Er hat das getan.«
»Wer war was?«, fragte ich mit vollem Mund, doch Mutter schaute nur leise in den Himmel, und auch Vater blieb stumm. Ich schaute Amina an, aber auch sie verstand nicht, was hier vor sich ging.
»Geht schon, ihr zwei«, sagte Vater schließlich, »es ist aufgegessen.«
Ich nahm Amina an die Hand und wir liefen hinunter zur Küste, um uns die zwei großen Toten und den fehlenden dritten anzuschauen. Wir rannten und schwenkten unsere Arme, wir stolperten über unsere eigenen Füße aus dem Ort hinaus, vorbei an den grünen Sträuchern und dann über den Sand. Als wir schließlich am Strand standen, breitbeinig, die Füße in den Sand gestemmt, und ungläubig das graue und das rote Schiff anstarrten, hatte auch ich plötzlich das schlechte Gefühl unserer Eltern. Hier war etwas nicht in Ordnung. Der fehlende große Tote hatte etwas zu bedeuten. Nur was war das?
Es waren wenigstens zweihundert Meter ins Meer hinein bis zu der Sandbank, an der die Schiffe lagen, und trotzdem hätte ich jedes von ihnen bis ins kleinste Detail beschreiben können, nachdem ich sie schon so lange und so oft angeschaut hatte. Wenn ich die Augen beinahe ganz schloss, war auch das fehlende Schiff wieder da. Zwischen den beiden anderen konnte ich es sehen: Die hellblaue Farbe des Rumpfes, die rot-braunen Roststreifen, die von oben nach unten liefen und die wie ein kleines, umgedrehtes Gebirge aussahen, mit spitzen Gipfeln, die nach unten zeigten. Am hinteren Teil hatte das Schiff einen Aufbau, das Führerhaus, in dem der Steuermann gestanden haben musste. Braun lackiertes Metall, ein weißes Dach. Auf den Seiten am Bug stand in Weiß der Name des Schiffes: Yusra. Das bedeutete »Erfolg«. Traurig hatte ich den Namen immer schon gefunden, ich meine, für ein gestrandetes Schiff, das über Jahre in der Sonne und der Gischt verrotten sollte. Wie war es überhaupt hierhergekommen? Ich konnte mich nicht erinnern. Irgendwann waren es eben drei Schiffe gewesen. Und heute waren es wieder nur zwei. Vielleicht war es ja jetzt irgendwo auf dem Meer und suchte genau den Erfolg, den sein Name ihm versprochen hatte.
»Meinst du, es war Aayan?«, fragte Amina plötzlich.
»Was? Das mit dem großen Toten? Nein, Aayan ist schon lange fort«, sagte ich, »er ist zu den Piraten gegangen, und wahrscheinlich ist er tot.«
»Sag das nicht!« Amina schaute mich böse an.
»Na, aber sonst hätten wir doch irgendwann einmal etwas von ihm gehört. Aber es gab nichts, Amina, nicht einmal Gerüchte. Vergiss Aayan«, sagte ich.
»Aber das dritte Schiff«, erwiderte Amina, »das war auch schon tot. Und jetzt ist es wieder auf hoher See.«
»Wer weiß«, sagte ich, »vielleicht treibt es auch nur auf dem Meer und weiß nicht, wohin es soll.«
»Dann ist es doch trotzdem nicht tot.« Amina gab nicht nach. »Oder weißt du, wohin du sollst?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich.
»Eben. Und doch lebst du.«
Meine kluge, kleine Schwester, dachte ich. Manchmal fand ich es ungerecht, dass meine Eltern sich die Schule nur für einen von uns beiden leisten konnten, und dass die Wahl ausgerechnet auf mich gefallen war. Sie war so schlau, und doch ging ich in die Schule, während sie bei den Vorbereitungen für die großen Feste helfen musste, die Mutter für die Großen und Wichtigen des Majerteen-Clans regelmäßig veranstaltete. Die hatten hier das Sagen, also brachten uns die Feste Geld – für das größte Haus in Hafun, für Kleidung, Nahrung und für meine Schule. Ich hatte einfach Glück: Das Glück, als Junge geboren worden zu sein. Ich hätte dumm wie ein Bündel Khat sein können oder sogar so dumm wie einer, der schon jahrelang auf diesem Zeug herumgekaut und jetzt ein Hirn so groß wie eine Dattel hatte. Trotzdem wäre ich in die Schule gegangen und Amina hätte Mutter geholfen. Gut, es war unsere Tradition. Die war wichtig, das sah ich ja ein. Und doch fand ich es manchmal nicht gerecht. Außerdem wäre ich auch gern zusammen mit Amina den Strand entlang über den Tombolo zur Schule gegangen.
»Geedi, du bist mit dem Kopf wieder in den Wolken«, sagte Amina jetzt und schaute mich an.
»Es tut mir leid«, sagte ich und sah, wie sie mich anlächelte. Sie war schon immer viel zufriedener mit der Welt gewesen, als ich es war. Wir schauten wieder auf das Meer hinaus, und Amina fragte: »Meinst du, mit einem Fernglas könnten wir den Blauen noch irgendwo sehen?«
»Nein«, sagte ich, »ich glaube nicht. Der Blaue ist weg.«
»Er hat das getan …«, wiederholte Amina Vaters Worte und überlegte. »Wen hat er sonst damit gemeint, wenn nicht Aayan?«
»Ich weiß es nicht, und er wird es uns ganz sicher nicht sagen.«
»Komm, wir gehen wieder heim«, sagte Amina nach einer Weile, »ich muss für Mutter zum Markt gehen, und du hast doch sicher noch Hausaufgaben zu machen.«
»Die könntest du viel besser als ich.«
»Natürlich!«, lachte sie und boxte mir auf die Schulter, »aber du kannst sie auch.«
Am Abend saß Vater auf der kleinen Steinmauer vor unserem Haus. Er rauchte und starrte noch immer in die Dämmerung auf das Meer. Wir saßen oft zusammen dort und ich erzählte ihm von meinem Tag. Heute setzte ich mich zu ihm und wartete ab, ob er vielleicht etwas sagen wollte. Doch er sprach kein Wort, also saßen wir lange so da und schauten gemeinsam auf die See. ›Er war das.‹ Ich erinnerte mich wieder an seine Worte und fragte mich, ob Amina wohl recht hatte. Hatte Aayan wirklich etwas mit dem Verschwinden des blauen Toten zu tun?
»Warum werden so viele von uns Piraten?«, fragte ich Vater schließlich, auch wenn ich ahnte, dass er mir wieder das sagen würde, was er immer zu sagen hatte, wenn es um die Piraten ging, denn er verachtete die Piraten: Wir hätten es doch verhältnismäßig gut hier in Puntland, würde er sagen, im Vergleich zu dem Wahnsinn, der im Süden Somalias vor sich ging. Denn wir waren hier recht sicher, die Soldaten der Al-Shabaab-Rebellen hatten hier nichts zu suchen. Und wenn man sich genug bemühte, konnte man auch hier etwas erreichen und das Land verändern, würde er sagen. Und dass es gar nicht mutig war, Pirat zu werden, dass Piraten Feiglinge waren, die sich für ein paar lumpige Dollar um die Verantwortung für ihr Land drückten. All das würde er mir wieder einmal erklären. Am Schluss würde er, wie immer, meine Hände nehmen, mir tief in die Augen schauen und sagen: »Versprich mir, dass du niemals … niemals zu den Piraten gehst. Du musst es versprechen!« Und ich nickte stumm. Damit hatte ich jetzt wieder zu rechnen. Ich bereute die Frage schon, als ich sie stellte.
Doch dann schaute er mich mit großen, traurigen Augen an und sagte: »Wir vermissen Aayan so unglaublich, Mutter und ich.« Dabei wischte er sich durch das Gesicht, dann legte er die Hand auf meine Schulter: »Weißt du? Ein halbes Jahr nachdem er zu den Piraten gegangen war, tauchte plötzlich dieses blaue Mutterschiff vor unserer Küste auf. Nichts hatten wir von ihm in diesem halben Jahr gehört. Mutter betete, dass es sein Werk war, dass er lebte und dass er bald zurückkehren würde. Doch das erste Jahr verging, und auch das zweite, so wie all die Jahre vergingen. Ich sollte dir das alles gar nicht sagen, damit du nicht, genauso wie Mutter und ich, der falschen Hoffnung folgst, Aayan könnte noch leben. Aber als ich heute mit eigenen Augen sehen konnte, dass das blaue Schiff verschwunden war, da wusste ich: Dein Bruder lebt. Ich weiß, es ist eine Träumerei – ein Schiff ist verschwunden, das ist alles. Aber so, wie ich weiß, dass Allah existiert, so sicher wusste ich auch in diesem Moment, dass Aayan zurückkommt.« Er wischte sich wieder mit der Hand durch sein Gesicht.
»Aber warum weinst du dann, Aabaha?«
»Weil ich glücklich bin. Und unglücklich.«
»Wie geht das?«
»Ich bin glücklich, weil das Gefühl so wunderbar ist und weil ich mir so sicher bin. Und unglücklich bin ich, weil ich weiß: So sicher darf ich mir gar nicht sein.«
Ich sah ihn fragend an.
»Weil es uns umbringen würde, Mutter und mich, wenn es wieder eine verlorene Hoffnung wäre.«
Ich umarmte ihn und hielt ihn lange fest, bevor ich in mein Zimmer ging. Vater verachtete die Piraten nicht. Außerdem wusste er genau, dass es nicht nur um ein paar lumpige Dollar ging. Hunderttausende von Dollar konnte ein Pirat verdienen, wenn er gut war, so erzählte man sich. So wie der legendäre Nidar. Er war der größte Pirat aller Zeiten, so hieß es. Über zwanzig Frachter hatte er schon gekapert. Dabei hatte er nicht einen Menschen getötet, und auch Geiseln hatte er nie genommen, so wie es viele andere taten, weil das Lösegeld viel mehr einbrachte als nur die Beute. Nein, Nidar war ein Ehrenmann, und bislang war es niemandem gelungen, ihn zu fangen. Er war wie ein Gespenst, daher nannten sie ihn auch den Geist von Aden, und die Leute sagten, er wäre sogar noch größer als damals in Europa Henry Morgan. Der war eine Legende, von der man sich selbst bei uns hier in Puntland noch heute erzählte. Nein, Vater hasste die Piraten nicht. Das dachte er sich alles aus, denn er vermisste Aayan so sehr. Und mir fehlte er auch.
Eine Woche war nun vergangen, seitdem das blaue Schiff verschwunden war, doch Aayan kam nicht. Vater hatte seit dem Abend auf der Steinmauer kein Wort mehr gesprochen. Und Mutter? Sie weinte die ganze Nacht hindurch, und tagsüber bereitete sie wie ein Uhrwerk das Essen zu. Sie hielt das Haus sauber, versorgte die Tiere. Aber leblos war sie – Kummer und Arbeit, sonst war nichts mehr. Ich dachte daran, wie es war, als Aayan plötzlich verschwunden war. Ich war ja gerade einmal elf Jahre alt gewesen, doch ich erinnerte mich noch genau: Den einen Abend ging ich schlafen, so wie immer. Es war ein schöner Tag gewesen. Aayan war am Abend sogar ein wenig mit Amina und mir auf der Straße gewesen, wir hatten Ball gespielt. Das tat Aayan sonst nie, denn er durfte schon mit den Männern aus Hafun zusammensitzen. Sie diskutierten viel und tranken Tee. Doch an diesem Abend spielte er mit uns. Er war wieder mein großer Bruder, so wie früher. Überglücklich ging ich schlafen, und am Morgen war er einfach fort. Ich konnte es nicht begreifen und niemand wollte es mir erklären: Wie konnte er einfach so verschwinden? Wie konnte er plötzlich nicht mehr da sein, wo er doch gestern noch gelacht hatte, als ich ihm den Ball abnahm? Damals war es wochenlang genau dasselbe gewesen wie heute. Mutter weinte in der Nacht, Vater schwieg. Und ich – ich vermisste ihn jetzt auch wieder genauso schlimm wie an dem Morgen, an dem ich in das Wohnzimmer kam und er nicht dort saß, wo er sonst immer gesessen hatte.
Darum war ich froh, heute in die Schule gehen zu können, weil ich wenigstens ein paar Stunden am Tag abgelenkt war. Ich musste Mutter und Vater nicht dabei zusehen, wie sie litten, auch wenn das bedeutete, dass ich Amina damit allein ließ.
Auf dem Rückweg von der Schule legte ich meine Tasche auf einen Felsen am Meer. Ich mochte noch nicht heimgehen, also setzte ich mich in den Sand und schloss die Augen beinahe ganz: Die drei großen Toten konnte ich jetzt wieder verschwommen im flackernden Sonnenlicht sehen, das Meer war eine ganz ruhige, riesige und türkis-blaue Masse hinter dem schimmernden weißen Sand. Der Wind kam von der See, wehte die salzige, kühle Luft durch mein Gesicht, durch meine Haare.
Da bewegte sich etwas auf der Yusra. Nur kurz. Es war etwas Weißes, das für einen kleinen Moment hinter dem braunen Führerhaus hervorschaute und dann wieder verschwand. Konnte das sein? Ich kniff die Augen noch ein bisschen weiter zusammen, und dann noch ein bisschen …
Plötzlich stand ich mit den Füßen im Wasser.
»Ich habe einen! Hier, schau!«, rief ich nach hinten, und da stand Aayan und riss stolz die Arme in die Luft, bevor er zu mir hergelaufen kam. Wir legten den Fisch in einen Eimer, und Aayan drückte mich mit dem rechten Arm an sich. Mit der linken Hand wühlte er durch meine Haare und sagte: »Gut gemacht, großer Mann, dein erster Fisch!« Sein Hemd strahlte hell in der Sonne und er lachte laut. Wir lachten beide und hielten den Eimer wie einen Pokal in die Luft. Dann lief ich, so schnell ich konnte, nach Hause, um Mutter davon zu berichten, während Aayan mir folgte und den Eimer mit meinem ersten Fang trug. Er war sicher bei ihm, darüber musste ich mir keine Sorgen machen. Auf halbem Weg zu unserem Haus blieb ich jedoch stehen und drehte mich um: Aayan war verschwunden. Auch der Eimer war fort.
»Komm zurück, Aayan! Wo bist du?«, rief ich, als ich wieder aufwachte. Ich sah mich um, doch da war niemand. Damals, als Aayan noch bei uns gelebt hatte, war es fast genauso passiert wie jetzt in meinem kurzen Traum: Ich hatte einen Fisch gefangen und wir waren nach Hause gelaufen. Nur folgte mein Bruder mir bis nach Hause und zeigte Mutter stolz meinen ersten Fisch, den wir am Abend über der Feuerstelle garten. Damals hatten wir keine Hemden getragen, nur T-Shirts mit großen Löchern darin. Doch wir waren an den Strand gegangen, wie wir es oft getan hatten. Mein erster Fang war das, und mein großer Bruder war stolz auf mich gewesen. Jetzt war der Strand menschenleer. Nur Sand und Plastikmüll, ein altes Fass, das schon halb im Sand versunken war, und Wellen, die kurz aus dem Meer kamen und sich wieder dorthin zurückzogen. Auch die Yusra war verschwunden. Ich schaute wieder hin, schloss die Augen halb, bis ich sie wieder sehen konnte. Doch sosehr ich mich auch konzentrierte, da war niemand. Gar nichts bewegte sich auf dem Schiff, da brauchte ich mir nichts vorzumachen. Und selbst das Schiff stellte ich mir ja nur vor. Doch ich war sicher, dort jemanden gesehen zu haben. Ich war ganz sicher, Aayan dort gesehen zu haben, so sicher wie … na ja … wie Vater sich vor drei Tagen sicher gewesen war, dass mein Bruder zurückkommen würde. Ich stand auf, klopfte mir den Sand aus den Kleidern und hängte mir meine Schultasche um. Langsam ging ich weiter, blickte aber immer wieder zurück zur Yusra und kniff die Augen zusammen. Vielleicht war Aayan ja doch noch einmal zu sehen. Doch da war nichts mehr.
Am liebsten hätte ich Vater und Mutter gleich erzählt, was ich gesehen hatte. Es war doch ein gutes Zeichen, oder nicht? Und sie könnten wieder Hoffnung haben, endlich wieder lachen. Doch ich wusste, sie würden mir nicht glauben. Ich hatte nur wieder den Kopf in den Wolken. Und selbst wenn sie mir glauben würden, dürfte ich ihnen trotzdem nicht davon erzählen – es wäre ein Verbrechen, da war ich mir sicher. Niemals würden sie mir verzeihen, wenn es dann doch nichts zu bedeuten hatte. Wenn ich ihnen wieder eine falsche Hoffnung machen würde. Das musste mein Geheimnis bleiben.
Als ich in den Weg zu unserem Haus einbog, wehte ein kräftiger Wind durch Hafun. Der heiße Staub und der Sand der Straße brannten in meinem Gesicht. Jeder Schritt schien mir länger und schwerer zu sein als der ganze restliche Weg zur Schule. Langsam arbeitete ich mich die Straße herauf, vorbei an den Holzhäusern, in denen die meisten hier wohnten. Wir waren eine von drei Familien im Ort, die ein Haus aus Stein und Beton gebaut hatten. Der Geruch von Rauch aus den Feuerstellen drang aus den Häusern und vermischte sich mit dem Sand in der Luft. Es war der Geruch meiner Straße: Der Rauch, der Sand, der Staub und die Gewürze. Es brannte in meinem Gesicht, also schloss ich die Augen und drehte den Kopf zur Seite. Da war ein Lachen im Wind. Es war deutlich zu hören und es kam aus unserem Haus. Träumte ich schon wieder? Vermutlich war auf dem Schiff ja auch niemand gewesen. Das Schiff selbst war ja schon nicht echt. Und Lachen in unserem Haus? Das konnte nicht sein. In unserem Haus wurde nicht gelacht. Schon seit einer Woche nicht. Doch je näher ich kam, desto lauter und deutlicher konnte ich es hören. Es waren viele Stimmen zu hören, lautes Lachen und Gläser, die klirrten. Da war Vaters Stimme, das konnte ich jetzt genau erkennen, und Amina quiekte, so wie sie es tat, wenn ich sie kitzelte. Das war keine Einbildung. Diesmal nicht. Ich lief schneller. Was ging bei uns zu Hause nur vor sich? Als ich um die Ecke bog, konnte ich nun sehen, dass vor unserem Haus die Kinder aus dem Dorf aufgeregt herumsprangen. Die Frauen standen auch davor und diskutierten laut.
»Unglaublich!«, hörte ich Vater lachen, als ich zur Tür hereinkam und meine Tasche in die Ecke warf. Ich stürmte in die Küche und begrüßte Mutter.
»Was ist denn hier los?«, fragte ich.
»Geh schon ins Wohnzimmer«, sagte sie gut gelaunt, während sie an der Feuerstelle Tee kochte, »und schau selbst nach!«
Normalerweise würde ich zuerst die Hose ausziehen und mir den Macawis umwickeln – ich mochte Hosen nicht so sehr, denn sie waren viel zu warm und eng. Doch wenn man in die Schule ging, musste man Hosen tragen. Für einen Hosenwechsel war jetzt aber keine Zeit. Gespannt lief ich ins Wohnzimmer. Auf dem Boden saß Amina, auf den Stühlen und dem Sofa saßen die Männer aus dem Dorf. Sie alle hörten zu, was Vater zu sagen hatte – Vater und ein Mann, der beinahe wie mein Bruder Aayan aussah.
Stärker und größer war er. Er trug eine hellbraune Stoffhose, ein weißes, gebügeltes Hemd, und seine nackten Füße steckten in Leinenschuhen. Eine goldene Armbanduhr glänzte am Handgelenk, und an jeder Hand trug er drei große, goldene und silberne Ringe. Das war nicht mein Bruder, wie ich ihn kannte, aber er war es. Er war tatsächlich zurück und machte eine heile und glückliche Familie aus uns, indem er einfach am Wohnzimmertisch saß, auf dem Platz, an dem er früher immer gesessen hatte. Indem er den Tee trank, den Mutter hereinbrachte. Indem er … einfach wieder da war. Ich konnte es nicht glauben und riss die Augen weit auf, so als könnte er gleich wieder verschwinden, wenn ich sie schlösse. Ich musste sicher sein, dass ich nicht wieder träumte.
»Geedi! Was schaust du mich denn so an?« Die Männer hatten mich jetzt bemerkt, und Aayan sprang vom Sofa auf.
»Ist das zu glauben?«, rief Vater. »Es ist wirklich wahr!«
Aayan riss mich an sich und hob mich in die Luft. »Mensch, Geedi, du kleiner Kameltreiber!«, rief er. Erst jetzt begriff ich und konnte mich bewegen. Meine Arme flogen um seinen Körper und pressten ihn so fest an mich, als könnte ich mich in ihn hineindrücken, damit wir eins würden und nichts auf der Welt uns wieder trennen würde.
Tränen flossen mir über das Gesicht, verschmierten sich mit dem Staub der Straße, und Aayan wischte mir mit seinen großen Händen über die Wangen, als er mich wieder abgesetzt hatte.
»Ach, Geedi, das ist doch schön, wieder bei euch zu sein. Was gibt es denn da zu weinen?«