Die Falle - Andreas Brettschneider - E-Book
NEUHEIT

Die Falle E-Book

Andreas Brettschneider

0,0

Beschreibung

Was passiert, wenn das Opfer zum Täter wird? Ein außergewöhnlicher Jugendroman über den Versuch, sich gegen Mobber zur Wehr zu setzen Victor leidet schon lange unter Bastian Jussem, dem Tyrannen der Klasse 10A. Auch Martin, der Neue in Victors Klasse, kennt solche Typen nur zu gut. Also greift Martin zu einem ungewöhnlichen Mittel: Beim Orientierungslauf legt er für Bastian eine Bärenfalle aus. Er versichert Victor: "Damit schaffen wir den Jussem ab." Der Plan gelingt und Bastians Stellung als Ober-Mobber gerät ins Wanken. Nach diesem Erfolg beteiligen sich immer mehr an Victors und Martins Widerstand - bis ihre Aktionen aus dem Ruder laufen ... Vielschichtig, literarisch und authentisch – eine Geschichte, die unter die Haut geht! Nominiert für den GLAUSER 2025 Krimipreis des SYNDIKATS in der Kategorie Jugendkrimi

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 335

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Victor leidet schon lange unter Bastian Jussem, dem Tyrannen der Klasse 10A. Auch Martin, der Neue in Victors Klasse, kennt solche Typen nur zu gut. Also greift Martin zu einem ungewöhnlichen Mittel: Beim Orientierungslauf legt er für Bastian eine Bärenfalle aus. Er versichert Victor: »Damit schaffen wir den Jussem ab.« Der Plan gelingt und Bastians Stellung als Ober-Mobber gerät ins Wanken. Nach diesem Erfolg beteiligen sich immer mehr an Victors und Martins Widerstand - bis ihre Aktionen aus dem Ruder laufen …

Ein außergewöhnlicher Jugendroman über den Versuch, sich gegen Mobber zur Wehr zu setzen

INHALT

1. ORIENTIERUNGSLAUF

2. NIEMALS MITMACHEN

3. ERNSTFALL

4. BESTANDSAUFNAHME

5. BÄRENFALLE

6. LÖWENZAHN

7. FLUSS LINKS, BÄUME RECHTS

8. WAS IM WALD IST, BLEIBT IM WALD

9. BLUMEN

10. BADEWANNE

11. UNTEN

12. BUTTERKEKSKRINGEL

13. STILL IN LOVE WITH YOU

14. PAMUKKALE

15. WEIL SIE’S KÖNNEN

16. THERE IS MY MIND

17. KÄSEHOBEL

18. TERRIER

19. SACHSCHADEN

20. ACHT MINUTEN

21. VERSCHWÖRUNG

22. WINKEN

23. EIN COOLER ROCKMUSIKER

24. WÜRSTCHEN UND KARTOFFELSALAT

25. NICHTS ALS DIE HALBE WAHRHEIT

26. RUNDE 2

27. REGÖR

28. WOHNZIMMER

29. RAUCHERBUSCH

30. PICKNICK

31. EHRENWORT

32. MINIGOLF

1

Orientierungslauf

Marvin liegt zusammengekrümmt auf dem Asphalt, auf der Grenze des Dreimeterkreises vor dem Basketballkorb liegt er, im hinteren Drittel des Pausenhofs. Er hält sich die Hände vor die Augen, die Beine hat er fest angezogen, damit Lukas Miebach oder der andere Lukas ihn nicht in den Bauch oder ins Gesicht treten können, damit er das hier überlebt. Vor allem, wenn gleich der Jussem dazukommt, weiß er, ist es wichtig, die lebenswichtigen Organe zu schützen. Denn der Jussem tritt zwar nur ein Mal zu, dafür aber härter als seine Jungs. Er nennt sie »seine Jungs«. Sie prügeln und treten Marvin erst weich, sie bereiten Marvin vor, dann hat der Jussem seinen großen Auftritt und liefert den finalen Tritt ab. Und was immer Marvin falsch gemacht hat – schräg geschaut, blöd gelacht, falsch herumgestanden –, der Jussem wird es ihm dann sagen. Marvin wird beteuern, nie wieder schräg zu schauen oder blöd zu lachen oder falsch herumzustehen, versprechen wird er es, weil der Jussem ein Versprechen will, das ist ihm wichtig. Und weil bis dahin kein Lehrer dazwischengegangen sein wird, weil alle bloß hinschauen oder wegschauen, jedenfalls keinen Lehrer rufen, wird es dann fast vorbei sein. Der Jussem wird Marvin aufhelfen und ihm dann, sobald er steht, noch eins mit der flachen Hand geben. Mit etwas Glück gibt es den Schlag auf den Hinterkopf, meistens aber ins Gesicht.

»Dann merk dir das auch«, wird der Jussem sagen, und Marvin wird leise nicken. Dann werden der Jussem und seine Jungs abziehen und lachen, weil sie wieder einen super Tag in der Schule haben.

Das hat Marvin alles schon bei anderen gesehen, als er selbst hingeschaut oder weggeschaut hat. Auch er hat da keinen Lehrer gerufen, also wird es auch jetzt niemand tun, bloß weil er heute an der Reihe ist. Auch ich sehe hin – meist schaue ich aber weg – und einen Lehrer rufe ich auch nicht.

»Victor?«

Das war mein Name, der hier durch den Raum ging und den alle anderen hörten, nur ich nicht. Die Ersten lachten schon und begannen, mit ihren Sitznachbarn über mich zu reden. Aber auch das bekam ich nicht mit, denn ich war gerade damit beschäftigt, an die Sache mit Marvin zu denken, gerade gestern war das gewesen. So ein Dreck. Ich schaute mich im Klassenraum um und fragte mich, ob das wohl normal war. Ich kannte es ja nur so. Und wenn es normal war: Wie in aller Welt war ich hier nur hineingeraten?

Gut, es lief wohl automatisch. Ich hatte alles einfach mitgemacht, so wie die anderen auch. Da war erst Schultüte gewesen, dann Rechnen, Lesen, Schreiben, und dann ging’s zum Konrad-Heresbach-Gymnasium. Jeden Morgen hingehen, Hausaufgaben machen, melden, Klassenarbeiten schreiben – so, wie das halt lief. Und jetzt saß ich hier in der 10A zwischen all diesen Fremden, die ich doch eigentlich schon seit fünf Jahren kannte. Also, ich war nicht das Opfer in der Klasse – das braucht ihr gar nicht erst denken. Da gab es ja immer noch Kai Klammert und die fette Luise Heimann … Gut, eine Weile lang, so vor zwei Jahren, hatten Lukas Miebach und Nils Rodermund Spaß daran gehabt, mich »Vicky« zu nennen. Und letztes Jahr, kurz vor den Weihnachtsferien, wurde »Vicky« noch mal herausgekramt, als Lukas sich von seinem Vater den Witz mit dem »Vögel-V« abgeguckt und in der Klasse verbreitet hatte. Da war ich dann noch mal »Vicky«. Oder auch »Vicky-Vicky«. Mit Vögel-V. Aber so was ging auch immer schnell vorbei, und die Lukasse und Jussems aus meiner Klasse konzentrierten sich wieder auf die ganz Schwachen. Die meiste Zeit war ich halt irgendwie auch da. Ich war für die nicht interessant genug, um mich zu quälen. So wie Marvin hatte ich noch nicht auf dem Pausenhof gelegen. Ich war aber eben auch nicht interessant genug, um mich zu fragen, ob ich mal Lust auf Kino oder den See hätte. Das störte mich nicht einmal. Ich meine, man musste sich die Leute in meiner Klasse nur mal angucken, da wusste man ja schon Bescheid. Lukas und der andere Lukas waren nur Fußball. Sie hatten sich zu den Prügeljungs von Bastian Jussem gemacht und hatten sich von Ben Kaczmarek das »Als ob!« abgeguckt, was man immer und überall sagen konnte, wenn einem nichts Besseres einfiel. Und denen fiel oft nichts Gutes oder Besseres ein.

Nina: »Der hat geguckt!«

»Als ob!«

Der Lehrer: »Hausaufgabe für Donnerstag …«

»Als ob!«

Nils: »Bendover 3 war megascheiße!«

»Als ob!«

Es nahm einfach kein Ende.

Und auf der anderen Seite waren da so Anna-Lenas oder Tristans, die sich sofort meldeten, wenn es darum ging, geschockt zu sein über das, was zum Beispiel in der Nazizeit mit den Juden gemacht worden war. Dabei war denen das genauso egal wie Lukas oder dem anderen Lukas. Nur hatten die eben von ihren Eltern oft genug gehört, dass man sich in der Schule anstrengen musste. Und sie haben schnell gemerkt, dass Lehrer das super finden, wenn man eine Meinung zu einem Thema hat. Jedenfalls wenn es die richtige ist. Dann muss man nicht einmal erklären, warum genau man diese Meinung hat, das läuft so durch. Da kann man sich halt entscheiden: Entweder du rätst die richtige Meinung, dann ist gut, oder du musst dir irgendwelche Begründungen für deine »falsche« Meinung aus den Fingern saugen, und am Ende hat der Lehrer dann ja doch wieder recht, weil deine Begründung eben nichts war. Aber Betroffenheit kam immer gut an, darauf konnte man sich verlassen. Alles eine große Show. Nur Lizzy, der habe ich das immer geglaubt. Die war anders.

Gut, jetzt sah das halt so aus: Ich war hier jeden Tag sechs, manchmal acht Stunden lang in einem Raum mit Leuten, die entweder zu blöde für alles waren oder denen die Blöden zu blöde waren und die sich lieber darauf konzentrierten, den Lehrern zu gefallen, was am Ende genauso blöde war. Aber es wäre ja jetzt auch eingebildet zu glauben, dass ich der einzige richtige Mensch in dieser verrückten Welt war, der Einzige, der verstanden hatte, wie die Dinge hier liefen, den Nobelpreis schon so gut wie in der Tasche – andere nette Leute gab es ganz sicher auch noch. Nur waren die wahrscheinlich damit beschäftigt, in Deckung zu bleiben. So wie ich.

»Victor!« – Die Stimme war bei mir angekommen. Ich schaute auf und sah in das Gesicht von Frau Schaller, die bis vor Kurzem noch Frau Istas geheißen hatte. Die heirateten hier ja ständig, und man musste sich dann jedes Mal neue Namen merken.

»Entschuldigung, ich habe gedöst«, sagte ich, weil ich fand, man sollte bei solchen Sachen ehrlich sein.

»Das ist mir wohl aufgefallen«, sagte Frau Schaller und lächelte mich an, so als wollte sie sagen: »Das ist auch eine sehr nette Eigenschaft von dir.« Die Lehrer mochten mich. Aber davon kann man sich ja auch nichts kaufen.

»Martin und du, ihr macht zusammen den Orientierungslauf am Freitag. Ist das in Ordnung? Das wollte ich nur von dir wissen.«

»Ah ja, der Orientierungslauf«, antwortete ich verwirrt. Allein die Vorstellung mit einem Partner, einem Kompass und einer Karte in der Hand im Knipprather Wald ausgesetzt zu werden, mit der Aufgabe, zurück zur Schule zu finden, erschien mir mehr als bescheuert. Ich hatte noch immer nicht richtig begriffen, warum wir so etwas tun sollten, während die anderen Klassen bei den Projekttagen Enchiladas kochten oder backten oder frittierten oder was immer man mit denen macht. Andere beschäftigten sich mit Quantenmechanik, töpferten irgendwas oder lernten Dänisch. Selbst Dänisch lernen hätte ich lieber gehabt. Und dann war das auch noch der Knipprather Wald, den wir immer den »Dusterwald« genannt hatten, als wir noch klein waren. Und jetzt hatte ich einen Moment lang nicht aufgepasst, da hatte mir Frau Istas – also Frau Schaller – ausgerechnet Martin als Partner zugewiesen. Ich kannte Martin nicht wirklich. Keiner kannte Martin. Er war erst seit zwei Monaten bei uns in der Klasse, weil seine Mutter mit ihm aus Ibbenbüren hierhergezogen war. Und jetzt dachte meine Klassenlehrerin wahrscheinlich: »Ich tu’ Martin mal was Gutes. Ich lasse ihn mit Victor den Orientierungslauf absolvieren. Denn Victor ist zwar ein Außenseiter, aber keiner von den ganz schlimmen Außenseitern. Dann findet Martin bestimmt auch mal Anschluss, und Victor vielleicht auch. Das ist dann ja gut für beide.«

Aber wer hatte sich seit fast drei Wochen schon überlegt, wie er es anstellen könnte, dass er mit Lizzy zusammen ein Team bilden könnte, ohne dass das jetzt irgendwie auffallen würde? Wer hatte sich jetzt schon 17 Abende in seinem Bett von links nach rechts und dann wieder nach links und wieder nach rechts gewälzt und sich ausgemalt, wie fantastisch das wäre, wenn Frau Schaller einfach mal wieder die gute alte Junge-Mädchen-Regel anwenden und dann Lizzy und ihn zusammen einteilen würde? – Ich war das! Und da hätte ich dann ja auch gar nichts machen können. Das hätte Frau Schaller dann ja einfach so eingeteilt …

»Victor?« Frau Schaller, schaute mich an und wartete.

»Was? Jaja, das ist schon gut«, sagte ich. Was hätte ich auch sagen sollen? Jetzt war es passiert. Martin war eine Enttäuschung, das stand fest.

Ich schaute hinüber zu ihm und er herüber zu mir, und er hob verlegen die Schultern, so als hätte er mir Saft über die Hose gekippt. Es ist ihm auch unangenehm, dachte ich, und dann auch wieder, dass ihm das gefälligst unangenehm sein sollte. Immerhin hatte er mir die einzige Chance versaut, dass aus diesem bescheuerten Orientierungslauf noch eine große Sache hätte werden können. Aber dann tat er mir auch wieder leid, und ich stellte mir vor, wie er mit Lukas oder dem anderen Lukas im Wald ausgesetzt worden wäre. Mit dem einen oder anderen Lukas, neben denen ich keine fünf Minuten an der Bushaltestelle hätte stehen wollen – an eine dreistündige Höllentour durch den Wald gar nicht zu denken. Jeder von denen würde es fertigbringen, dir noch mitten im Wald plötzlich in den Rücken zu boxen. Das hatte Martin auch nicht verdient. Aber hatte ich es denn verdient, den Neulingsfreund zu machen, nur weil ich kein Volltrottel war?

Dann klingelte es, und wir durften nach Hause. Bei all den Gedanken hatte ich jetzt nicht einmal mitbekommen, wem Lizzy überhaupt zugeteilt worden war. Mann, wie hatte ich das nur übersehen können? Dass ich es nicht war, war ja nur der eine Teil der möglichen schlechten Nachrichten. Noch furchtbarer war doch die Tatsache, dass es dann ja jemand anderes werden würde. Daran hatte ich nicht gedacht. 17 Nächte lang hatte ich mich im Bett hin- und hergerollt, von links nach rechts und wieder nach links und so weiter, und dabei das Grauen glatt übersehen, das direkt vor mir stand: Vielleicht wäre sie ja gezwungen, mit Lukas oder dem anderen Lukas zu gehen. Oder mit dem Jussem. Verdammt! Nicht der Jussem! Die Lukasse waren ja bloß die Assistenzärsche. Doch der Jussem, der war Chefarsch. Also bitte nicht der Jussem! Denn nicht nur, dass er so ein Arsch war – er hatte außerdem schon letztes Jahr, als Nina Kleffner bei der Klassenfahrt in eine Glasscherbe getreten war, sofort den Sani-Kasten in der Hand gehabt. Da hatten alle anderen – also auch ich – noch wie schockgefrorene Volltrottel herumgestanden und nicht gewusst, wohin mit uns, weil gleich alles ganz blutig und ekelig werden würde. Aber nicht der Jussem. Der hatte da schon ihren Fuß in der Hand und klebte Pflaster. Und am nächsten Abend hatten sie nebeneinander beim Lagerfeuer gesessen und waren dann zusammen gewesen. Ein halbes Jahr lang oder auch nur ein paar Monate, so genau weiß ich das nicht mehr. Lange jedenfalls. Ein grausames, schreckliches, ein todbringendes Bild machte sich in meinem Kopf breit. Es war doch ganz klar: Da ist es gruselig im »Dusterwald« und Lizzy wird glauben, dass sie ganz sicher sterben werden, wenn sie den Weg nicht finden. Aber dann ist da Bastian Jussem, das Ding mit den Superkräften.

2

Niemals mitmachen

Verdammt, ist das eine Hitze, dachte ich, während ich mit dem Rucksack auf dem Rücken und den Sport- und Bücherbeuteln unter den Armen Richtung Bushaltestelle kroch. Der Tag hatte mich wirklich geschafft. Und während alle anderen schon Kratzeis im Gesicht hatten und lachten und Sprudelflaschen schüttelten, um sie vor den Gesichtern kreischender Mädchen aufzuschrauben, während alle eben kreischten und lachten, lief mir die Schweißbrühe den Rücken herunter und verklebte mich wahrscheinlich für immer mit meinem Rucksack. Und auch die Beutel würden vermutlich für alle Zeiten unter meinen Achseln kleben bleiben. Mit verschwommenem Blick sah ich vor mir die Bushaltestelle und eine Zukunft, in der ich niemals eine Freundin oder überhaupt Freunde oder eine Arbeit finden würde, weil niemand etwas mit jemandem zu schaffen haben wollte, dem unter den Armen und auf dem Rücken Taschen festgewachsen waren. Ein Freak würde ich sein, ein menschliches Beuteltier. Als Kurierfahrer würde ich mich vielleicht noch eignen, aber das wäre es dann auch schon. Man konnte über den Juli sagen, was man wollte, aber ich hasste das. Noch drei Meter bis zum rettenden Haltestellenhäuschen … noch zwei … noch einer … und endlich Schatten.

Und Martin. Was tat der hier? Der fuhr doch nie Bus! Der kam doch sonst immer – also die zwei Monate jetzt – auf so einem alten Klappfahrrad mit winzigen Reifen zur Schule und arbeitete sich mit letzter Kraft den Berg hinauf. Schlimm sah das aus. Sein Gesicht leuchtete dann so rot, dass Lukas Miebach meinte, Martin könnte sein Praktikum auch als Backbordboje in der Fahrrinne des Hamburger Hafens machen. Hatte der seinem Vater mal wieder einen Witz abgeguckt. Denn eigentlich war das lustig, und Lukas Miebach war nie lustig. Ich hatte sogar erst gelacht und mich dann aber gleich geschämt. Denn es war nicht richtig mitzulachen, wenn Lukas sich über den Neuen lustig machte, wo er mich vor einigen Monaten erst »Vicky mit Vögel-V« genannt hatte. Und es war ja auch irgendwie arm, wenn ich erleichtert war, dass es mich diesmal nicht traf, wenn ich mich beim nächsten Opfer quasi gleich mit ihm verbündete, indem ich seinen Witz auf Martins Kosten lustig fand. Und verbünden wollte ich mich mit Lukas Miebach schon gar nicht. Der hatte am Ende vielleicht noch gedacht, dass ich mich bei ihm einschleimen wollte, weil ich über einen seiner Witze lachte. »Ich hab ihn in der Hand«, wird er sich gedacht haben, und das hatte mich erst richtig geärgert. Na, jedenfalls war Martin trotzdem immer weiter mit dem Klappfahrrad gekommen. Bis heute. Vielleicht hatte er es ja jetzt eingesehen.

Ich stellte mich neben ihn in das Haltestellenhäuschen und überlegte, ob ich jetzt nicht mal was zu ihm sagen sollte, und wenn ja, was. Er schaute rechts die Straße hinauf und hatte mich noch gar nicht bemerkt. Oder auch er fragte sich, ob er »Hallo« oder lässiger »Hi« sagen sollte. Gegenüber auf der anderen Straßenseite gingen Nils und die Lukasse vorbei und zeigten sich ihre Bizepse. Die waren wohl gerade in der »Defi«. Der andere Lukas guckte kurz zu mir oder uns herüber, und nach kurzer Beratung entschieden die drei, dass es wohl am besten wäre, wenn der andere Lukas jetzt »Schwuuuul!« herüberrufen würde, aber ohne dabei in unsere Richtung zu sehen.

»Dummes Stück Scheiße«, hörte ich Martin neben mir leise murmeln. Ich war begeistert und sagte: »Das ist richtig.«

Die meisten anderen sahen das nicht so. Martin war offenbar kein schlechter Mensch. Er schaute jetzt zu mir und dann auf einen Pflasterstein, der vor uns unter dem Mülleimer auf dem Gehweg lag. Ich schaute, wohin er schaute, und dann wieder ihn an.

»Wie weit kannst du werfen?«, fragte er mich, und ich muss ihn wohl arg blöde angeguckt haben, denn er schaute wieder auf den Pflasterstein und sagte: »Na, damit! Glaubst du, du triffst noch einen von denen?«

Ich überlegte – also, jetzt nicht, ob ich das wirklich schaffen könnte, Lukas noch am Hinterkopf zu treffen und dann dabei zuzusehen, wie er zu Boden gehen würde, schreiend und weinend, während ihm das Blut literweise über die Hände, sein T-Shirt und über die Hose lief, und wie dann endlich Ruhe wäre. Gut, ich gebe zu, dass diese Gedanken auch da waren. Aber ich konnte mir den Wurf selbst nicht wirklich vorstellen – ich war nicht der beste Werfer in der Klasse … um ehrlich zu sein, verdankte ich es Lina Mandt, dass ich beim Sportfest nicht den hinterletzten Platz im Schlagballweitwurf belegt hatte. Vom technischen Standpunkt aus gesehen, hätte ich Martins Frage also locker verneinen können. Ich fragte mich eher, ob er das wirklich ernst meinte. Denn wenn ich jetzt gesagt hätte: »Ich glaube nicht – du etwa?«, konnte ich ja nicht wissen, ob Martin es dann fertigbrächte, es auszuprobieren und vielleicht ein Blutbad anrichtete. Das hätte auch ein Lukas nicht verdient, dachte ich.

»Also, ich glaube, das hätte auch ein Lukas nicht verdient«, sagte ich schließlich, und Martin nickte.

»Aber die Vorstellung ist dufte, oder?«

»Dufte«, wiederholte ich.

»Ja«, sagte Martin.

Erst später sollte ich erfahren, dass Martin absichtlich altmodische Wörter wie »dufte« benutzte. Man könne gar nicht besser deutlich machen, dass man mit Leuten wie Nils oder den Lukassen nichts gemeinsam haben will, als ihre saudumme Sprache nicht mitzumachen und sich eben eine andere zu suchen. Ich schlug dann noch vor, man könnte ja auch komplizierte Sätze verwenden, mit zwanzig Nebensätzen mindestens, und Martin gefiel die Idee. Hier an der Bushaltestelle hielt ich ihn aber erst mal für seltsam. Und mir war jetzt auch klar, warum er sofort zum Außenseiter geworden war. Das hatte damals keine zwanzig Minuten gedauert. Der wollte das wohl so. Und dann dachte ich wieder an den Scheiß über Inklusion, den uns Frau Istas, also Frau Schaller, meine ich, erklärt hatte, als der verhaltensauffällige Benny in die D gekommen war. Wie soll so was auch funktionieren, wenn du schon gestorben bist für die anderen, weil du »dufte« sagst. Die Schule ist ein verdammtes Haifischbecken, in dem jeder jeden Tag damit beschäftigt ist, keine Gliedmaßen zu verlieren. Und Martin – der ist einfach nicht mitgeschwommen. Der hat sich so ein Scheiß-Schlauchboot zum Aufblasen besorgt und paddelt über die anderen weg. Einfach so.

»Tut mir leid, das mit dem Orientierungslauf«, unterbrach er mich jetzt in meinen Gedanken.

»Was? Ach so, nee, das ist schon gut so.«

»Ja, sicherlich. Aber du musst zugeben: Begeisterung sieht anders aus.«

Ich versicherte ihm, dass das nichts mit ihm zu tun hatte, und dann versicherte ich es ihm noch mal, und dann sagte ich sogar noch, dass ich mich freuen würde, mit ihm den Orientierungslauf zu machen.

»Keiner«, sagte er, »und ich wiederhole, keiner freut sich auf den Orientierungslauf!« Dann grinste er und stieg in seinen Bus. Ich schaute ihm hinterher und fragte mich noch immer, ob er die Sache mit dem Klappfahrrad jetzt wohl aufgegeben hatte.

Am Abend rief Jan mich an. »Bist du in Ordnung? Was machst du denn für Sachen?«, wollte er wissen. Ich schaute mich in meinem Zimmer um, guckte an mir herunter, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen.

Hatte ich heute etwas Falsches, Schlechtes oder Gemeines getan, weswegen es sich lohnen würde, anzurufen und so eine Frage zu stellen? Ich erinnerte mich nicht daran, überhaupt irgendetwas getan zu haben. Ich war nach Hause gekommen, hatte Mittag gegessen, auf die Frage meiner Mutter, wie die Schule war, mit dem üblichen »Gut!« geantwortet, das musste reichen, und dann hatte ich mir den Rest des Tages überlegt, was nur werden sollte, wenn der Jussem am Ende wirklich mit Lizzy durch den Wald gehen durfte. Wie lange es wohl dauern würde, seine Leiche im Wald zu vergraben, hatte ich mir überlegt, und ob man damit wohl durchkommen würde, wenn man erklärte, man habe Bastian mit zwei älteren Männern in Anzügen weggehen sehen, sich aber nichts dabei gedacht, weil man davon ausging, die würden sicher zu FBI, CIA oder so was gehören. Aber das alles konnte Jan doch unmöglich wissen. Er war mein bester, oder eher mein einziger richtiger Freund, aber Gedanken lesen konnte er ganz sicher nicht. Ich und meine Gedanken – das war’s! In meinem Kopf war ich doch alleine. Das ginge doch wirklich zu weit, wenn Freunde sich da auch noch herumtreiben würden.

»Was soll denn die Frage?«, fragte ich also zurück.

»Geht’s dir denn gut?«

»Ich muss mit Martin zum Orientierungslauf, Lizzy geht ganz sicher mit dem Jussem, und ich plane einen hinterhältigen Mord im Wald, aber sonst … nein … sonst geht’s mir gut. Was fragst du denn?«

»Poah, bin ich froh. Dann ist ja gut. Es war nur, weil … ich hab mal gelesen, dass Leute, die sich umbringen, vorher alle Spuren aus dem Leben löschen. Instagram-Account und all das. Und heute nach der Schule guck ich bei Instagram rein, und bei Tik-Tok … nichts! Du bist überall weg!«

Das war richtig. Gestern hatte ich mir »Hab dich lieb!« und »Du bist so schön!« und den ganzen Scheiß angeguckt und gedacht, dass das doch auch alles nichts bringt. Und dann verbrachte ich eine ganze letzte Stunde damit herauszufinden, wie ich meine Accounts richtig löschen konnte. Mit ein paar Klicks war ich dann weg. Und jetzt fragte mich mein bester einziger Freund, ob ich mir die Pulsadern aufgeschnitten hätte. Wegen Instagram. Wahnsinn.

»Und jetzt fragst du mich, ob ich mir die Pulsadern aufgeschnitten hab? Wegen Instagram?«, sagte ich also.

»Na ja, so genau hatte ich mir das jetzt noch nicht vorgestellt – aber du bist auch eher der Typ, der sich vor den Zug wirft.«

»Was? Wieso das denn?«

»Ist dramatischer. Und außerdem denkst du doch selbst beim Selbstmord noch daran, was du damit deinen Eltern antust, wenn sie dich dann so finden … überall Blut und so.«

»Du bist ein echter Freund!«, sagte ich, und dachte, er sollte mich doch besser kennen. Ich hatte ja viel zu große Angst vor dem Tod, als dass ich es wagen würde, mich umzubringen. Und Züge mochte ich auch nicht. Außerdem: Wer sich umbringt, denkt Sachen nicht zu Ende. Ich meine, das mit dem Sterben kommt doch noch früh genug … also viel zu früh … also im Sinne von überhaupt … Und da soll man sich umbringen, und dann war’s das? Soweit ich das einschätzen kann, kommt nach dem Tod nämlich gar nichts. Überhaupt nichts. Kein Himmel, keine Hölle, keine Wiedergeburt oder Seelenwanderung, nichts. Und dann kann man nicht einmal mehr doof gucken, weil man nicht einmal mehr denken kann, dass es vielleicht ein Fehler war, sich an der Kellerdecke aufzuhängen. Oder man kann nicht einmal mehr merken, dass man im Abschiedsbrief vergessen hat zu erwähnen, dass die ganze heimliche Streiterei der Eltern und das »Nicht vor den Kindern, Schatz!« eine einzige große Scheiße war. Als ob man so bescheuert wäre, nicht mitzukriegen, dass gerade was gewaltig schiefläuft zwischen denen. Und dann steht das da nicht in dem Brief, und man selbst hängt an der Decke, was man dann auch nicht einmal mehr weiß, weil man ja tot ist. Nein, den ganzen Kram muss man schon im Leben erledigen, so viel steht fest.

»Glaubst du auch, dass nach dem Tod einfach nichts mehr ist?«, fragte ich also.

»Poah, was weiß ich denn? Was ist denn das für eine Frage jetzt? Ist ja gruselig!«, kam es aus dem Telefon.

Jan war halt doch eher der einzige Freund, und weniger der beste, dachte ich. Er denkt gleich an Selbstmord, weil ich online ausgestiegen bin, aber so richtig stellt er sich dann die Frage mit dem Leben und dem Tod auch wieder nicht. Ich kannte ihn aus dem Gitarrenunterricht, und er war schon in der elften Klasse. Ich hätte also gedacht, dass er bei so was ein bisschen weiter dachte. War anscheinend keine Altersfrage. Was er sich wohl davon versprochen hatte, hier anzurufen? Und was, wenn ich mich wirklich für den Keller und den Strick entschieden hätte? Hatte er es einfach nur als Erster wissen wollen? Hatte er sich für diesen Fall vorgestellt, dass er hier anruft und »Ist Victor da?« fragt, meine Mutter dann heulend ins Telefon schreit »Er ist tot! Tot!«? Ich glaube, er hat sich gar nichts vorgestellt, dachte ich dann, aber auch, dass es immerhin gut von ihm war, mich anzurufen, um zu hören, ob ich tot war. Er hätte ja auch einfach eine blöde Nachricht schicken können. Also sagte ich: »Ach, ist egal. Nett, dass du anrufst, aber ich lebe. Und wir müssen mal überlegen, wie wir am Freitag die Leiche vom Jussem beseitigen können.«

»Steht das denn fest, dass der mit Lizzy geht?«

»Das haben wir doch gelernt. Weißt du noch, wie ich mal vor dem Gitarrenunterricht meinte: ›Der bringt’s noch fertig, und wir müssen heute vor der Gruppe, die nach uns dran ist, vorspielen?‹ Und was war? Scheiße, die passieren kann, passiert auch. Das ist Murrays Gesetz.«

»Murphy!«

»Was?«

»Das Gesetz. Ist von Murphy. Captain Edward A. Murphy, genauer gesagt. Hat der festgestellt, als irgendein Mitarbeiter ein arschteures Experiment vergeigt hat, weil er irgendwelche Sensoren falsch angeschlossen hat, und dann war alles für die Katz.«

»Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.«

»Na ja, eigentlich hat er gesagt: Wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, eine Aufgabe zu erledigen, und eine davon in einer Katastrophe enden oder sonst wie unerwünschte Konsequenzen nach sich ziehen würde, dann wird es jemand genau so machen.«

»Das war wohl zu kompliziert, was? So merkt sich das ja keiner. Na, ›jemand‹ ist in meinem Fall jedenfalls ganz klar Frau Schaller … Istas … nee, Schaller … ach, verdammt, egal!«

»Ja, genau so istas!«

Jetzt gab es doch noch mal was zu lachen – das hatte heute irgendwie gefehlt. Und Jan, der war schon auch einer von den Guten. Bevor er auflegte, versprach er, sich heimlich vom Enchiladabacken abzusetzen und uns im Knipprather Wald einzuholen. Allein bekämen Lizzy und ich die Leiche vom Jussem ja nicht einmal bis zum ersten Steinpilz gezogen. Ich wollte ihm noch ins Telefon hinterherrufen, dass ich ihm wegen der blöden roten Bohnen einen grausamen Blähtod wünschte, aber da hatte er schon aufgelegt. Manchmal ist man einfach zu langsam, und so wirklich lustig war es eh nicht.

3

Ernstfall

Am Freitagmorgen packte ich hektisch alles zusammen, was man in der Wildnis womöglich brauchen konnte. Gut, den Kompass und den ganzen anderen Orientierungskram sollten wir in der Schule bekommen, aber für den Fall, dass wir verloren gingen, musste man ja ausgerüstet sein. Aus dem Verbandskasten im Auto nahm ich ein paar Mullbinden, Pflaster und diese Aluminiumfoliendecken. Es war Mitte Juli, das hatte ich nicht vergessen, aber man weiß ja nie. Dann hatte ich mir den Artikel »Überleben in der Wildnis – 10 Dos und Don’ts« von Wildnisexperte Karl Rubinski ausgedruckt. Den steckte ich jetzt auch in die Tasche, obwohl mir der Artikel nicht besonders seriös vorkam und ich mich fragte, was Karl Rubinski wohl getan haben musste, um ›Wildnisexperte‹ zu werden. Immerhin gab es darin aber Bilder von Beeren und Pilzen, die man auf gar keinen Fall essen sollte. Für die ersten ein bis zwei Tage, bis man uns finden würde, nahm ich einen Liter Wasser mit und schmierte Brote mit Marmelade – die wurden nicht schlecht. Ein Taschenmesser, ein Feuerzeug und zwei Blöcke vom Grillanzünder steckte ich auch ein – ich war ja kein Trottel und wusste genau, dass das mit dem Feuermachen auf Anhieb niemals klappen würde, wenn man mit Holzstöckchen und Reisig rummacht, ohne das jemals ausprobiert zu haben. Das Flugzeugquartett packte ich auch ein – wenn man dank der Grillanzünder schnell ein Feuer angemacht bekommt, wird es ja auch schnell mal langweilig. Mein Rucksack war voll bis an den Rand. Gestern in der Schule hatte ich erfahren, dass Lizzy mit der fetten Luise Heimann gehen musste, und jetzt fühlte sich dieser Orientierungskram auf einmal doch ein bisschen abenteuerlich an.

Vor der Schule traf ich Martin, der einen irre großen Wanderrucksack auf dem Rücken trug. 32 Liter Fassungsvermögen. Mindestens. Plötzlich fühlte ich mich gar nicht mehr so gut vorbereitet, wie ich es eben noch von mir gedacht hatte. Martin stand vor seinem Klappfahrrad und winkte.

»Hallo, Martin! Doch wieder mit dem Rad da? Ich dachte vorgestern noch, du wärst auf den Bus umgestiegen.«

»Grüß dich, Victor. Nee, war nur ein Platten. Hab ich gestern geflickt.«

»Was hast du denn da alles eingepackt? Ich meine, mein Rucksack ist schon bis oben hin voll.«

»Geduld, Geduld, das zeige ich dir unterwegs.«

»Von mir aus«, sagte ich beiläufig. Er will geheimnisvoll wirken, dachte ich, aber auf der anderen Seite war ich schon auch neugierig, was er da alles in seinen Rucksack gestopft hatte. Ob er wohl ein Zelt dabeihatte? Oder ein Gewehr zum Zusammenbauen, falls wir gezwungen wären, zu jagen? Es war jetzt doch alles aufregend, und da konnte Martin sagen, was er wollte – ich freute mich tatsächlich auf diesen Orientierungslauf mit ihm.

Die gute Laune hörte allerdings sofort auf, eine gute Laune zu sein, und wurde zu einer Scheißlaune der Extraklasse, als wir – also Martin, ich und all die anderen – uns zum sogenannten Appell versammeln mussten. Jetzt war Orientierungslauf, da hieß das dann auch »Appell«. Frau Schaller ging die Anwesenheitsliste durch, und es stellte sich heraus, dass Luise Heimann ein Attest eingereicht hatte, in dem es hieß, sie könne wegen eines Herzklappenfehlers den Orientierungslauf nicht mitmachen. Keiner hatte jemals etwas von einem Herzklappenfehler bei ihr gehört, also lachten alle. Und dann wurde noch einmal gelacht, als Lukas Miebach die Arme konvex … oder hieß das konkav? … na, jedenfalls nach außen gewölbt an seinen Körper hielt, um Luise Heimanns Figur zu imitieren. Der andere Lukas war ein weniger kreativer Drückeberger gewesen – von ihm gab es nur eine Entschuldigung wegen Unwohlseins. Was hieß hier ›Unwohlsein‹? Uns war doch allen nicht wohl. Seit Wochen schon. Seitdem klar war, dass wir diesen bescheuerten Orientierungslauf veranstalten mussten, hatte ich jedenfalls das größte denkbare Unwohlsein, wenigstens solange ich noch davon ausgegangen war, dass Lizzy vom Jussem vor einem Bären gerettet werden und dann für immer in ihn verliebt sein würde. Und trotzdem stand ich hier mit meinem Rucksack und spielte »Appell«. Aber die fette Luise Heimann fehlte, und auch der andere Lukas, und da war sie, die ›sonst wie unerwünschte Konsequenz‹, also die Katastrophe.

Frau Schaller erklärte, dass unter diesen Umständen Bastian und Lizzy ein Team würden bilden müssen, ob das wohl in Ordnung sei? Das war auf gar keinen Fall in Ordnung. Nichts war in Ordnung. Bastian Jussem mit Lizzy in einem Team – das war völlig uninordnung! Ich hatte es kommen sehen, und jetzt war es da. In jedem noch so blöden Roman passiert an dieser Stelle etwas Unerwartetes, eine überraschende Wendung: Martin ist krank, und ich darf mit Lizzy gehen. Oder Lizzy ist krank, und nach dem Orientierungslauf fahre ich mit Martins Klappfahrrad zu ihr, um zu sehen, wie es ihr geht. Und dann zeige ich ihr die Fotos. Oder gar nichts passiert – alle sind da, machen diesen Orientierungslauf mit, gehen nach Hause, und am Montag sitzen wir wieder in der Schule, so wie immer. Egal wie, es wäre anders. So gehen Geschichten! Aber das hier war eine einzige, große Scheiße.

Frau Schaller selbst ging natürlich nicht mit in den Knipprather Wald. Ihre Aufgabe bestand darin, in der ›Home Base‹ den Notdienst zu übernehmen. Übersetzt hieß das, sie würde zu Hause im Wohnzimmer auf ihrem Sofa herumsitzen und fernsehen. Sie wäre in der Lage, ihren Arm auszustrecken und ans Handy zu gehen, falls doch etwas Unerwartetes passierte. Bislang war aber nur Erwartetes passiert, Befürchtetes, mit blanker Angst Abgewartetes. Frau Schaller winkte, wünschte uns einen schönen Tag, und vor uns baute sich Lars auf, der für dieses Event gebuchte Wildnisexperte. Noch ein Experte, dachte ich.

Grässliche Gore-Tex-Sandalen hatte er an. Darin waren knochige behaarte Füße mit großen gelben Fußnägeln. Darüber noch behaartere dürre Beine, die wie abgebrannte Bäume in Outdoor-Shorts verschwanden, an denen mindestens dreihundert Taschen und Schlaufen mit Überlebenszeugs wie Messer, Kompass und anderem Kram angebracht waren. Der Mann brauchte keinen Rucksack – er hatte eine Hose. Und er musste in der Wildnis auch viel im Schatten herumgelaufen sein, denn er war weiß wie die Wand unserer Schule, vor der er jetzt stand. Was für ein komischer Zwerg. Das hinderte ihn aber nicht daran, uns jetzt mit Militärgebrüll und »MORGEN, ZUSAMMEN!«-Lautstärke zu kommen. Ging so was nicht auch anders? Das war wie bei den Sportlehrern. Sobald irgendwas mit Bewegung und draußen zu tun hatte, musste immer wie Krieg getan werden. Hatten die Angst, wir würden nicht richtig mitmachen, uns einfach in die Wiese setzen und Gänseblümchen pflücken, wenn wir vorher nicht ordentlich zusammengeschrien wurden? Was wollten die nur?

Es war erst zwanzig nach neun, und trotzdem lief mir der Schweiß schon wieder wie eine Armee von Ameisen über das Gesicht und den Rücken hinunter. Während Lars brüllte, stand ich nur da und fühlte mich wie eins dieser Rehe, die, wenn sie im Dunkeln vom Fernlicht angestrahlt werden, mitten auf der Straße erstarren. Lizzy und der Jussem hatten sich jetzt schon einmal zusammen aufgestellt. Ich stand am anderen Ende des Halbkreises, den wir um Lars gebildet hatten, konnte keinen Schritt mehr tun, keinen Finger bewegen und starrte bloß zu ihnen hinüber.

Sie standen eng zusammen und schauten sich jetzt das Taschenmesser an, das der Jussem dabeihatte, so ein großes Markendings mit einer Säge auf der Rückseite, und Lizzy sollte mal fühlen, wie scharf es war. Jetzt legte sie ihren Zeigefinger auf die Klinge, schaute ihn an und nickte … WERDET IHR IN KLEINGRUPPEN MIT DIESEN BUSSEN ZU VERSCHIEDENEN AUSGANGSPOSITIONEN IM WALD GEFAHREN … und er schaute sie an. Und ihr Finger lag noch immer auf der Klinge. Das Messer war scharf, und der Jussem auch. Verdammt, dieser Arsch! Warum kam er nicht direkt zu mir herüber und rammte mir sein blödes Messer in die Brust. Dann könnte er zu ihr hinüberrufen: »Guck, sooo scharf ist das!« Und Lizzy könnte begeistert in die Hände klatschen und »Waaahnsinn!« rufen … NEHMT IHR DEN TRAIL AUF … Jetzt nahm er ihre Hand, um zu schauen, ob sie sich vielleicht an der scharfen Klinge verletzt hatte. Was mit Nina Kleffner funktioniert hatte, konnte ja bei Lizzy nicht verkehrt sein. Und verdammt, er inspizierte ihren Zeigefinger wie ein beschissener Chefarzt, aber Lizzy guckte gar nicht hin. Die guckte nur, wie er guckte … KOMPASS BENUTZT IHR, INDEM IHR … Das konnte doch alles nicht wahr sein. Ein einziges Mal hatte ich bislang ihre Hand berührt, aber das war mehr aus Versehen gewesen, weil ich letztes Jahr die zwei Euro für die Klassenkasse eingesammelt hatte, und als sie mir die Münze in die Hand drückte, berührten meine Finger kurz und sanft ihre Hand. Das war’s. Mehr nicht. Und dieser Jussem hielt jetzt schon seit bestimmt zwei Stunden, wenn nicht länger, ihre Hand in seiner, wegen einer Schnittwunde, die nicht da war. Und Lizzy schien das auch noch zu gefallen. Das war schlimmer als die Sache mit den Pulsadern oder der Kellerdecke oder dem Zug. Der Jussem war der Zug. Der war alle Züge. Und die rollten jetzt nacheinander über mich, bis nichts mehr von mir übrig war … NADEL ZEIGT IMMER NACH NORDEN! NOCH FRAGEN?

4

Bestandsaufnahme

Es gab keine Fragen mehr, und wir gingen zu den Kleinbussen, die uns zu unterschiedlichen Stellen im Wald fahren würden. Martin war irgendwie schon klar, dass ich von Lars’ Gebrüll nicht viel mitbekommen hatte, und darum erklärte er mir auf dem Weg zu den Bussen alles noch einmal: Sechs Leute, also drei Gruppen pro Bus. Erst geht Gruppe eins los, dann eine halbe Stunde später Gruppe zwei und so weiter, damit man auch wirklich nur zu zweit diesen Trail aufnimmt.

»Die letzten neun Jahre durften wir ausschließlich zu dritt unterwegs sein, das mussten wir sogar immer von unseren Eltern unterschreiben lassen, das war in Ibbenbüren genauso wie hier, das ist überall so. Und jetzt auf einmal auch zu zweit«, bemerkte Martin noch. Aber mir waren solche Beobachtungen egal. Mir kam das alles völlig irre vor. Ich wünschte, ich hätte mich in meinem Leben schon einmal besoffen, denn genau so unwirklich stellte ich mir das vor. So ein bisschen wie im letzten Jahr, als ich 40 Grad Fieber hatte – alles war irgendwie schon drei Häuserecken weiter als ich. Und jetzt konnte ich das nicht einmal mit einem Vollrausch vergleichen, weil ich den noch nicht gehabt hatte. Ich nahm mir fest vor, das bald zu überprüfen.

Ich merkte, wie Martin mich am Griff hinten an meinem Rucksack durch die Leute zerrte, und zwar genau zu dem Bus, vor dem Lizzy und der Jussem schon standen. Was sollte das? Wollte Martin mich fertigmachen? Kurz überlegte ich noch, ob Martin mit dem Jussem irgendwas aushandeln wollte, sodass er dann mit ihm gehen würde. Oder anders: Ob er dann mit Lizzy gehen könnte – vielleicht mochte Martin sie ja auch. Oh Mann, das Schwein! Ich konnte aber nichts sagen, nicht einmal klar denken konnte ich, also stolperte ich einfach hinterher. Er schob noch zwei andere Rucksäcke zur Seite, und dann waren wir im Bus in der zweiten Sitzreihe, vor uns Jonas und Kai, das Traumpaar hinter uns.

Eine Dreiviertel-Ewigkeit lang war es nicht auszuhalten. Die ganze Fahrt über lachte und flüsterte es hinter mir, sodass ich am liebsten in den Gang gekotzt hätte. Noch lieber hätte ich jetzt diesen Pflasterstein von der Bushaltestelle in der Tasche gehabt. Rausholen, umdrehen, dem Jussem das Ding mitten in die Zähne schlagen, so zwei, drei Mal, immer auf die gleiche Stelle, und dann wär Ruhe gewesen. Martin war auch keine große Hilfe – der starrte nur aus dem Seitenfenster und grübelte über irgendwas. Aber was hätte er auch sonst machen sollen?

Nach einer halben Stunde ging es von der Landstraße runter, und der Bus schubste uns über Waldwege in den »Dusterwald«. Ab und zu konnte ich mich mit einem getrockneten Wasserfleck auf der Scheibe ablenken – das hatte ich als Kind immer schon gemacht, wenn wir nach Italien gefahren waren. Der Wassertropfen war dann wie ein kleines Raumschiff, und ich konnte es nach oben und unten steuern, indem ich den Kopf hoch oder runter bewegte. Dann flog mein Tropfencruiser über die Büsche und Bäume und was da am Straßenrand sonst noch so vorbeirauschte. Ich versuchte immer, so nah wie möglich über die Hindernisse zu fliegen. Weiß nicht, ob ihr das auch gemacht habt. Aber so war ich jedenfalls ein bisschen abgelenkt, schaute an Martin vorbei durch die Scheibe auf mein Schiff und steuerte es über die Büsche, bis hinter mir wieder lauter gelacht wurde und ich zusammenzuckte. Und dann waren da wieder Hass, Wut, Verzweiflung und all das, weil dieser Jussem dabei war, mir Lizzy wegzunehmen. Meine Lizzy! Das konnte und das durfte doch nicht funktionieren. Ich meine, Lizzy war stark und aufrichtig. Irgendwie gelang es ihr, von allen gemocht zu werden, obwohl sie immer ihre Meinung sagte und die Schwachen verteidigte. Ich wusste nicht, wie sie das machte. Jedenfalls passte sie so gar nicht zum Jussem. Und trotzdem nahm es kein Ende, das Lachen. Lizzys wunderbares Lachen, das immer so aussah, als würden die kleinen Sommersprossen auf ihrer Nase auf und ab springen oder tanzen oder so. Mit jedem Spaß in meinem Nacken wusste ich genau, wie das aussah. Wie die rotblonden Haare in ihr Gesicht fielen, über ihre Schultern, das kleine Grübchen am Kinn. Verdammt. Ich schaute weiter durch den Regentropfen in die Büsche.