Auf deinen Spuren - Johannes Wilkes - E-Book

Auf deinen Spuren E-Book

Johannes Wilkes

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Beschreibung

Wie oft schon hat Karl-Dieter zusammen mit seinem Lebensgefährten Mütze unter dem Sternenhimmel am Strand gestanden und den Wellen gelauscht. Dieser Urlaub aber soll etwas Besonderes werden. Ihr Baby, mit dem eine Leihmutter in den USA schwanger ist, wird bald geboren werden. Auf Spiekeroog wollen sie sich auf die Vaterschaft vorbereiten, bevor sie es holen, hierher auf "ihre" Insel, wo ihr gemeinsames Leben beginnen soll. Sehnsuchtsvoll schaut Karl-Dieter auf das Meer hinaus, schickt liebevolle Grüße auf die andere Seite des Ozeans. Und dann klingelt sein Handy – ein Anruf, der seinen Traum vom Vatersein zu zerstören droht.

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Inhalte

Titelangaben

1 - Samstag

2 - Sonntag

3- Montag

4 - Dienstag

5 - Mittwoch

6 - Donnerstag

7 - Samstag

Info

Johannes Wilkes
Auf deinen Spuren
Spiekeroog-Krimi
Prolibris Verlag
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2023
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelbild: © Bernhard Brügging, Velen
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-254-6
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-244-7
www.prolibris-verlag.de
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Fantasie des Autors. Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Institutionen, Straßen und Schauplätze auf Spiekeroog sowie in den USA und Kanada.
Der Autor
Johannes Wilkes, in Dortmund geboren, als der Pott noch rauchte, entwickelte erste Mordfantasien beim Sezieren einer formalingetränkten Leiche während seines Medizinstudiums in München. Er ist Autor zahlreicher unblutiger Bücher und leidenschaftlicher Strandgänger auf Spiekeroog. Hier spielte sein erster Kriminalroman: »Der Tod der Meerjungfrau«.Und von hier aus startet das erfolgreiche Ermittlerpärchen Karl-Dieter und Mütze in seinem sechsten Fall seine Suche nach einer verschwundenen Leihmutter.
Samstag
Scharf peitschte ein böiger Nordwest und ließ die Kutter im Hafenbecken von Neuharlingersiel auf den Wellen tanzen. Karl-Dieter trotzte dem Wetter. Die Kapuze seines Ostfriesennerzes knatterte im Wind, als er einsam an der Kaimauer stehend auf die bewegte See hinausblinzelte. In die Regenschauer mischten sich Schneeflocken. Oder täuschte er sich? War es die Gischt? Spiekeroog war nicht zu erkennen und auch die Fähre nicht. Die wenigen Fahrgäste hatten sich in die Hafencafés zurückgezogen oder warteten im Fährhaus, so auch Mütze, der sich dort mit einem Grog wärmte.
Karl-Dieter zog das Band seiner Kapuze fester. Man hätte den Kopf darüber schütteln können. Wer von ihnen war nur auf die Idee gekommen, zu dieser Jahreszeit an die Nordsee zu reisen? Anfang Februar wedelte man die Kitz hinunter oder flog dem Frühling entgegen. Aber Spiekeroog? Spiekeroog im Februar war etwas für menschenscheue Melancholiker, für Menschen, die auf einsamen Strandspaziergängen ihren Gedanken nachhingen, oder für wetterfeste Naturliebhaber, die ungestört Seevögel beobachten wollten und nicht an kalten Füßen litten. Karl-Dieter lief ein Kälteschauer über den Rücken. Der Grund, warum Mütze und er dennoch angereist waren, war ein aufregender und zugleich unendlich süßer.
In genau zehn Tagen war es so weit. Dann würde auf der anderen Seite des Großen Teichs ein kleines Mädchen seine Augenzelte öffnen und sich verwundert umsehen. Ihr Mädchen, ihre Lotte! Diesen Moment wollten sie nicht daheim in Erlangen erleben. Dieser Moment war zu intim, zu persönlich, um ihn mit Bekannten oder Arbeitskollegen zu teilen. So hatten sich die beiden Freunde Urlaub genommen, auch Mütze, um der Welt eine Weile abhanden zu sein. Und wo ging das besser, als auf ihrer Lieblingsinsel? Dass es nicht Lasse, sondern eine Lotte werden sollte, nahm Karl-Dieter mit Freude an. So oder so war es ein Gottesgeschenk.
Wie aus dem Nichts sauste eine Hand auf Karl-Dieters Schulter nieder. Erschrocken sah er sich um. Es war Mütze.
»Fall nicht ins Wasser, Knuffi, ich hab keine Lust, den alleinerziehenden Vater zu spielen.«
* * *
Mächtig fing die Spiekeroog II an zu schaukeln. Sie hatte die schützenden Mauern des Hafenbeckens verlassen und kämpfte sich die von Birkenreisern markierte Fahrrinne entlang, rollend und stampfend, sich gegen Wind und Wellen stemmend. Karl-Dieter spürte, wie sein Magen zu rebellieren begann, tapfer aber unterdrückte er die aufsteigende Übelkeit. Was erst hatte Maggie aushalten müssen, besonders in den ersten Wochen der Schwangerschaft? Maggie war ihre Leihmutter, eine Bezeichnung, die Karl-Dieter selbst in Gedanken vermied, erst recht, sie auszusprechen. Leihmutter! Viel zu technisch klang das. Obwohl Maggie an einer Hyperemesis gelitten hatte, so bezeichnete Doktor Hope die quälende Übelkeit, hatte sie darauf verzichtet, Medikamente gegen das Erbrechen zu nehmen. Auch dafür war Karl-Dieter ihr dankbar. Mit keiner Chemie, mit keinem Gift sollte das unschuldige Wesen in Kontakt kommen, das in ihrem Leib heranreifte: ihre kleine Lotte.
»Lotte, Lotte. Lotte!« Karl-Dieter konnte nicht genug davon bekommen, heimlich ihren Namen zu rufen. Jedes Mal durchrieselte ihn ein unglaubliches Glücksgefühl. Nun würde es bald so weit sein, bald konnte er seiner Kleinen ihren Namen ins Ohr flüstern: »Lotte, kleine Lotte.« Ein wenig aber musste er sich noch gedulden. Nach der Geburt würde Lotte noch für zwei Wochen durch eine Amme gestillt werden, nicht durch Maggie, denn das war gegen die Regularien. Aber bereits am Tag vor dem Geburtstermin wollte er mit Mütze in die USA fliegen, keine Minute wollte Karl-Dieter verpassen. So sehr er sich danach sehnte, ihre Kleine nach Hause zu holen, die Stillzeit musste sein, denn Muttermilch war nun mal unersetzbar, gerade in den ersten Tagen. Lotte sollte den besten Start ins Leben bekommen, den ein Kind haben konnte.
»Und wenn sie sich entscheidet, früher auf die Welt zu kommen?«, sagte Mütze und setzte sein Jever-Fläschchen an. Der süßliche Geschmack des Grogs gehörte dringend weggespült.
»Da passen die Ärzte schon drauf auf.«
St. John’s fertility clinic, die Kinderwunschklinik in Myrtle Beach, South Carolina, hatte den besten Ruf der USA. Doktor Hope, ihr Ansprechpartner, hielt sie ständig auf dem Laufenden. Die Geburt würde genau eine Woche vor dem errechneten Termin eingeleitet, um Lotte per Kaiserschnitt auf die Welt zu holen, das war leider notwendig.
»Weil sie auf dich kommt«, frotzelte Mütze.
Karl-Dieter stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. Anspielungen auf sein Gewicht nahm er persönlich. War es nicht wunderbar, dass Lotte so kräftig war? Je höher das Geburtsgewicht, desto gesünder das Kind, hatte er gelesen. Und das Gewicht war ja auch gar nicht schuld an der Entscheidung für die Operation. Trotz der stolzen acht Pfund könnte sie auf normalem Weg zur Welt kommen, läge sie nicht falsch herum, also mit dem Becken nach unten. In solch einem Fall, hatte ihnen Doktor Hope erklärt, entscheide man sich vorsichtshalber für eine Sectio. Das wiederum hatte den Vorteil, dass sie jetzt schon ihren Geburtstermin kannten.
»Prost, Knuffi«, sagte Mütze.
»Prost, Mütze«, erwiderte Karl-Dieter mit gequältem Lächeln und nippte vorsichtig an seinem Teebecher, der überzuschwappen drohte.
* * *
Auf Spiekeroog anzukommen, wenn der Regen über den Deich fegt, ist eine erfrischende Angelegenheit. Die Rollkoffer hinter sich herziehend, kämpften sich die beiden Freunde Richtung Inseldorf. Die Regenschirme hatten sie zu Hause gelassen, die Dinger hätten ihnen auch wenig geholfen. Der friesische Regen nämlich hatte eine diebische Freude daran, waagrecht über Land und Meer zu fegen. Was sollte da ein Schirm?
Nicht einmal ein Hagelsturm aber hätte Karl-Dieters Laune verderben können. Eine Auszeit auf Spiekeroog, in der schnuckligen Ferienwohnung bei der alten Kirche. Genau hier würden sie sich einstimmen auf den großen, den heiligen Moment. Was konnte es Größeres geben? Die Linde, das altehrwürdige Inselhotel, schlummerte noch dem Frühling entgegen, so hatten sie sich für die Wohnung entschieden, die sie bereits von ihrem ersten Aufenthalt kannten. Wie oft waren sie nun schon auf der Insel gewesen? Fünfmal? Sechsmal? Jedes Mal hatte es einen Mord gegeben, dieses Mal aber würden sie hier der Geburt eines Menschenkindes entgegenfiebern. Das war mindestens so spannend und natürlich viel schöner.
»Sauwetter«, fluchte Mütze, als sie den Deich hinabliefen. Wie konnte Karl-Dieter nur so fröhlich vor sich hin pfeifen?
Sie hatten gerade die Teetied umrundet und waren in das Norderloog eingebogen, als sie einem alten Bekannten in die Arme liefen. Ahsen! Der Inselpolizist sah sie mit großen Augen an, während sein Dackel Hubert freudig an Mütze emporsprang.
»Euch schickt der Himmel!«
»Wieso?«
»Der Kapitän …«
»Welcher Kapitän?«
»Er ist weg!«
* * *
Der Kapitän! Tatsächlich! Mütze und Karl-Dieter schauten über den grünen Lattenzaun des Restaurants Gezeiten, zwischen den einladenden Tischen klaffte eine Lücke. Jahrelang hatte der Seebär hier gesessen, Pfeife rauchend und tiefenentspannt. Und nun war er weg.
»Gestern ist er noch da gewesen, er muss in der Nacht entführt worden sein.«
»Geklaut, meinst du«, sagte Mütze.
»Geklaut, entführt, egal. Jedenfalls ist er weg.«
»Schon eine Spur?«
»Nicht die kleinste. Er wiegt locker einen Zentner, der Dieb muss Muckis haben.«
»Oder Helfer.«
»Oder beides.«
»Die gute Nachricht aber ist doch, er wird Spiekeroog kaum verlassen haben.«
Bei diesen Worten hellte sich das Gesicht des Inselpolizisten etwas auf. Mütze hatte Recht! Das war das Schöne auf Spiekeroog, keiner konnte unbemerkt entkommen.
»Na dann, viel Glück bei der Verbrecherjagd. Wir werden die Augen offen halten«, sagte Mütze, dem das Wasser in die Sneakers troff.
Ahsen und Mütze waren nicht nur Kollegen, sie waren alte Freunde. Zusammen hatten sie die kniffligsten Fälle gelöst, das verbindet. Schnell verabredeten sich die beiden noch auf acht in Sir George’s Pub. Karl-Dieter hatte nichts dagegen, im Gegenteil, so konnte er in Muße ihre Ferienwohnung aufhübschen. Sollten die beiden nur einen feuchtfröhlichen Abend verbringen und Pläne schmieden, um dem Dieb des Kapitäns auf die Schliche zu kommen, er würde in aller Ruhe die Koffer ausräumen und ihrer Ferienwohnung mit kleinen Handgriffen eine persönliche Note verleihen. Wozu war er Bühnenbildner?
»Moin, Ahsen!«
»Moin, ihr beiden!«
* * *
Der Abend war gekommen. Mit einer heißen Dusche, seinem 1000-Watt-Föhn und den mitgebrachten Frotteehandtüchern – aus reiner Baumwolle, seine Haut vertrug kein Mischgewebe – hatte sich Karl-Dieter wieder aufgewärmt. Während Mütze zum Pub aufgebrochen war, begann er, sich innerlich auf den Inselaufenthalt vorzubereiten.
Eigentlich gehörte es zum Inselbegrüßungsritual, zum Strand aufzubrechen und der offenen See Hallo zu sagen, angesichts des Wetters aber hatten die Freunde beschlossen, dem Blanken Hans erst nach dem morgigen Frühstück ihre Reverenz zu erweisen. Mit einem stillen Lächeln zog Karl-Dieter aus seiner Jacketttasche ein Foto hervor, das er immer bei sich trug. Es war eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, ein Ultraschallbild. Verliebt strich er über das zarte Wesen.
War sie nicht bezaubernd, seine Lotte? Sie kam auf ihn, eindeutig auf ihn. Weder besaß sie Mützes prominentes Kinn noch dessen hohe Stirn. Natürlich behauptete Karl-Dieter gegenüber Mütze das Gegenteil, nämlich dass sie auf Mütze käme. Heimlich aber und zu seinem stillen Vergnügen stellte er fest: Der genetische Vater war eindeutig er. Zugleich jedoch tadelte er sich wegen der empfundenen Freude. Was für eine kleinliche Haltung! War es nicht egal, wessen Spermien sich durchgesetzt hatten? Kam es denn darauf an, auf die Biologie? War nicht viel mehr entscheidend, dass sie sich beide auf ihre Vaterrolle freuten? Ja, auch Mütze! Ganz bestimmt tat er das. Außerdem: Für die Zeugung eines Kindes war nicht ein einziges Spermium entscheidend. An einer Zeugung waren viele Hundert Keimzellen beteiligt. Mindestens. Ohne die Mitarbeit der anderen, hätte das letztlich erfolgreiche Spermium keine Chance gehabt. Gemeinsam hatten sie die Hülle durchdringen, gemeinsam die Eizelle sturmreif schießen müssen. Erst dann war sie bereit für die Vereinigung gewesen.
Karl-Dieter schmunzelte, als er das Ultraschallfoto an die Wand über dem Esstisch pinnte. Konnte gut sein, dass Mützes Spermien den Weg freigekämpft hatten und am Ende ein gemütliches Karl-Dieter-Spermium die Krone errungen hatte. Wie hieß es so schön? Die Letzten werden die Ersten sein.
Karl-Dieter schaute zum Fenster hinaus. Der Regen hatte nachgelassen. Ob er nicht doch noch einen Spaziergang zum Meer machen sollte?
* * *
»Noch ’ne Runde?«
»Aber hallo!«
Die beiden Herren Kommissare stießen zum wiederholten Male auf das Wiedersehen an und je öfter sie anstießen, desto mehr spürten sie, wie sie sich vermisst hatten. Gemeinsam erinnerten sie sich noch einmal der Mordfälle, die sie zusammen gelöst hatten.
»Der Tod der Meerjungfrau!«
»Junge, Junge und die Sache mit dem Strandkorb 513.«
»Und der Muschelkäfer, der nicht morden wollte.«
»Heirate nie auf Spiekeroog.«
»Zumindest nicht nachts im Watt!«
Lachend ließen sie die Gläser klirren. Sie mieden Whiskey und Guinness und hatten sich für die klassische Steinpilzkur entschieden: Auf jeden Steinhäger, der die Speiseröhre zum Glühen brachte, folgte ein Pils, das den Brand löschte und Mütze die bedrohlich näher rückende Vaterschaft vergessen ließ. Mit einem Mal aber wurde Ahsens Gesicht ernster und eine betrübte Falte bildete sich zwischen seinen gutmütigen Augen.
»Was ist denn?«, fragte Mütze.
»Der Kapitän, was für eine Sauerei«, murmelte Ahsen kopfschüttelnd.
»Ach komm, den finden wir schon wieder.«
»Ich weiß nicht«, sagte Ahsen, »ich hab ein ungutes Gefühl.«
* * *
Karl-Dieter war kein Sportler. Er hatte viele Qualitäten, kochte ausgezeichnet, war kreativ, ein verlässlicher Freund, aber ein Sportler? Weiß Gott nicht! Umso erstaunlicher war der Sprint, den er jetzt zurücklegte. Nachdem er Mützes Pyjama gefaltet aufs Bett gelegt hatte, war er tatsächlich noch zum Strand aufgebrochen. Mit ausgebreiteten Armen hatte er die offene See begrüßt, an deren westlichem Rand seine kleinen Lotte danach drängte, das Licht der Welt zu erblicken. Ganz allein hatte er auf dem weiten Strand gestanden, in der Dunkelheit, und die hellen Säume der Wellen waren auf ihn zu gelaufen, als wären es Grüße von ihr, von Lotte.
Bei dem Brausen der brechenden Wogen, beim Sausen des Windes hätte er es fast überhört, das Klingeln seines Handys. Oh, hätte er es doch überhört, hätte es das Klingeln nicht gegeben! Im Augenblick der größten Freude, der größten Erwartung, hatte es ihn aus seinen Träumen gerissen, hatte ihn ein Tsunami überrollt, hatte ihn mitgerissen, ihn untergetaucht, ihm die Luft zum Atmen geraubt.
Mütze! Mensch, Mütze! Was für ein Unglück, was für eine Katastrophe! Mütze, jetzt kannst nur du uns noch helfen!
Mit einem Knall wurde die Tür von Sir George’s Pub aufgerissen, mit schreckensbleichem Gesicht stürzte Karl-Dieter hinein und lief auf den Tresen zu, an dem die Polizisten saßen. Erschrocken sah Mütze den Freund an.
»Mein Gott, was ist denn, Knuffi?«
»Lotte. Lotte ist weg!«
* * *
Die Polizeiwache von Spiekeroog befand sich in einer ehemaligen Kneipe am Tranpad. Sie bestand aus einem Büroraum und einer kleinen Arrestzelle, die allerdings aus Mangel an Ganoven meist als Abstellkammer diente. Die drei Freunde nahmen um den Schreibtisch Platz. Der Inselpolizist schraubte die Flasche Küstennebel auf, es dauerte drei Gläschen, bis Karl-Dieter sich so weit beruhigt hatte, dass man aus seinem Gestammel schlau wurde.
»Ein Missverständnis, sicher ist alles nur ein einziges Missverständnis«, sagte Mütze, den Freund in den Arm nehmend.
Karl-Dieter aber schüttelte den Kopf. Was sollte daran ein Missverständnis sein? Maggie war verschwunden und mit ihr seine Lotte.
Die diensthabende Schwester, die ihr das Mittagessen aufs Zimmer bringen wollte, hatte sich zunächst nichts gedacht, als sie Maggie nicht angetroffen hatte, als diese aber nach einer Stunde nicht wieder zurückgekehrt war, hatte sie Doktor Hope alarmiert. Zunächst ging man davon aus, Maggie habe einen Schwächeanfall erlitten, sei vielleicht sogar ohnmächtig geworden, was bei Schwangeren kurz vor der Geburt durchaus vorkommen könne. Hektisch hatte man das Klinikgelände durchsucht, vergeblich.
»Auch an ihr Handy geht Maggie nicht, es ist ausgeschaltet. Sie ist getürmt, verstehst du Mütze? Sie ist weggelaufen und keiner weiß, wohin.«
Mütze schüttelte den Kopf. »Wo soll sie denn hin? Die amerikanischen Kollegen werden sie sicher finden. Eine Frau im hochschwangeren Zustand bleibt doch nicht verborgen. Bestimmt ist sie nach Hause oder zu einer Freundin.«
»Wenn jetzt die Wehen einsetzen, wenn sie irgendwo herumirrt und die Fruchtblase platzt. Weißt du, was das bedeutet, Mütze? Dann kann ihr kein Kaiserschnitt helfen, dann ist unser Lottchen in höchster Gefahr.«
Karl-Dieter vergrub sein Gesicht in den Händen. Die Polizisten sahen sich ratlos an. Was konnten sie schon tun? Man musste auf die Amerikaner hoffen, auf den FBI. Drüben war man doch auf Zack, alles wurde mit Kameras überwacht, man würde das Umfeld dieser Maggie kontaktieren, irgendjemand würde schon von ihr wissen, eine Freundin, jemand aus der Verwandtschaft.
»Wo wohnt sie denn eigentlich?«, fragte Mütze.
»Was weiß ich«, sagte Karl-Dieter und versuchte, tapfer zu wirken, »irgendwo in Virginia, hieß es mal.«
»Kannst du mal den Computer anwerfen, Ahsen?«
»Aber sicher.«
Der Polizeicomputer war ein älteres Modell, das ein Weilchen brauchte, um warmzulaufen. Neben dem Bildschirm hockte eine Möwe auf einer Spiralfeder und sah die Männer böse an.
Mütze rollte den Bürostuhl näher heran und klickte auf Google Maps. Dann gab er St. John’s fertility clinic, Myrtle Beach, South Carolina ein. Die Ostküste der USA flammte auf, ein roter Punkt, den Mütze näher heranzoomte. Myrtle Beach ist ein Küstenstädtchen, das hauptsächlich vom Tourismus lebt, von den Städtern aus New York und Umgebung. Um den heißen Sommern zu entkommen, brechen sie in den Süden auf und suchen Erholung an den ausgedehnten Sandstränden. Viele kommen auch, um einen der zahlreichen Golfplätze zu nutzen. Die Kinderwunschklinik liegt am nördlichen Rand des kleinen Städtchens. Myrtle Beach besteht im Grunde nur aus einer langen Hauptstraße, die ein paar Nebenstraßen füttert. Die Hauptstraße verläuft parallel zur Küste, eine halbe Meile von dieser entfernt, um vor Sturmfluten geschützt zu sein.
Mütze zoomte wieder zurück, bis die Staatsgrenzen der USA erschienen. Nach Virginia war es nicht weit. Myrtle Beach klebt an der Grenze zu North Carolina, der nächste Staat nördlich davon ist Virginia. Je nachdem, wo Maggie in Virginia wohnte, waren es vielleicht vier, fünf Stunden Autofahrt, allenfalls sechs bis sieben. Mütze versetzte der Holzmöwe einen Stoß, sodass sie wild nach ihm zu hacken begann.
Die unangenehmste aller Fragen war, wie ernst die Amis die Sache nahmen. Mütze traute sich nicht, Karl-Dieter anzuschauen. Ob die amerikanischen Kollegen überhaupt eine Suchaktion starteten? Man konnte es ihnen kaum verdenken, wenn sie die Sache beiseiteschoben. Denn: Was für ein Verbrechen lag überhaupt vor? Mit dem amerikanischen Recht kannte sich Mütze nicht aus, von einer Kindesentführung aber konnte man sicher nicht sprechen, nicht solange das Kind nicht geboren war. Es lag also allenfalls ein Delikt vor, das tief unten in der Bewertungsskala anzusiedeln war, deshalb blieb unklar, welche Maßnahmen man ergreifen würde. Vielleicht konnte er seine Stellung als Kommissar nutzen, den Fahndungsdruck der amerikanischen Kollegen zu verstärken.
»Hast du die Nummer von Doktor Hope?«
Karl-Dieter nickte und zog sein Handy hervor.