Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
„Irgendeiner muss es tun. Putin muss weg!" Da sind sich Olek, Juri und Sascha einig, drei Russen, die in Deutschland leben. Im Wodkarausch bestimmen sie, wer den Job machen soll. Das Los fällt auf Sascha. Putin geht jedes Jahr in Sibirien auf Bärenjagd. Dort will Sascha ihm auflauern. Er fliegt nach Moskau, doch bevor er mit der Transsib weiter Richtung Sibirien fährt, will er noch einmal seine große Liebe Katja wiedersehen. Auf seiner Reise findet er in dem Straßenhund Jabba einen treuen Begleiter, stößt auf alte Bekannte und allerlei Hindernisse.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 166
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Johannes Wilkes
Wie ich loszog, die Welt von Putin zu befreien
Roman
Putin, Wodka und der wilde Bär Olek, Juri und Sascha, drei Russen, die schon lange in Deutschland wohnen, haben die Nase endgültig voll. Der grässliche Diktator ihres Heimatlandes stürzt nicht nur die Ukraine ins Unglück, er terrorisiert die ganze Welt. Mit einer einzigen Kugel wäre der Schrecken zu Ende, davon sind die drei überzeugt. Im Wodkarausch stecken sie eine Patrone in ihren Revolver und zielen der Reihe nach auf ihr Spiegelbild. Als Sascha abdrückt, zersplittert das Glas: Er ist der Auserwählte. Also bricht er auf, die Welt von Putin zu befreien. Aber der Tyrannenmord erweist sich als schwieriger als gedacht. Die Reise nach Sibirien, wo Putin am letzten Wochenende im Oktober traditionell auf Bärenjagd geht, ist voller Abenteuer und Gefahren. Und dann gibt es da noch Katja, Saschas große Liebe. Er will sie unbedingt noch einmal sehen, bevor er sich aufmacht, seine Tat zu vollenden …
Johannes Wilkes, Jahrgang 1961, lebt in Bayern. Der Autor von Romanen, Krimis und Reisebüchern ist mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet worden, seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Twitter: @GmeinerVerlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2023 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Sloth Astronaut / shutterstock
ISBN 978-3-8392-7644-0
Nach der zweiten Flasche Wodka – echtem russischen Wässerchen natürlich, nicht dieser deutsche Supermarktfusel – waren wir uns einig: Putin muss weg. Es war doch vollkommen hirnrissig, dass sich unsere russischen und ukrainischen Freunde zu Tausenden weiter das Licht ausbliesen, während eine einzige Kugel dem Spuk ein Ende machen konnte. Die ganze Aufregung, die Flüchtlinge, die Sanktionen, der Kältekrieg, die Waffenlieferungen, alles völlig überflüssig, wenn man Putin erledigte. Da gab es nicht die geringste Diskussion. Wenn es Wladimir Wladimirowitsch erwischte, brach der Krieg in sich zusammen. Klare Kiste. Welcher Apparatschik ihm auch immer nachfolgte, keiner würde es wagen, Putins unsinnigen Krieg fortzuführen.
»Du meinst, seine militärische Spezialoperation.«
Das Wort »Spezialoperation« glitt Juri nur mit einigen Ausrutschern über die Lippen, sodass wir grinsen mussten.
Unsere Analyse jedenfalls war messerscharf. Nun brauchte es nur noch jemanden, der den Plan ausführte. Da sich keiner von uns freiwillig meldete, sollte das Los entscheiden, schlug Juri vor.
»Das Los? Wie unwürdig für einen Helden!«, rief Oleg.
»Schlag was Besseres vor«, lallte Juri.
»Russisches Roulette«, erwiderte Oleg, und seine Lippen umspielte ein wissendes Lächeln.
Russisches Roulette? War er völlig durchgeknallt? Wie sollte jemand Putin umnieten, der sich zuvor selbst die Kugel durch den Schädel gejagt hat?
»Ach, ihr Trottel«, sagte Oleg und köpfte die dritte Flasche, »wir zielen doch nicht auf unsere Köpfe, nur auf unser Spiegelbild.«
In der alten Kellerbar in der Südstadt, wo wir uns samstagabends immer trafen, gab es einen mannshohen Spiegel, darin hatte sich einst das junge Volk betrachtet, das sich auf der in Ehren verstaubten Tanzfläche ausgetobt hatte.
»Der Reflektor ihrer Ekstase«, sagte Oleg grinsend.
Oleg ließ gelegentlich raushängen, was für ein Bildungsriese er war, dabei war er ein einfacher Elektriker wie wir. Als müsste er seine Belesenheit betonen, trug er stets ein zerfleddertes Taschenbuch mit sich, ein Roman von Dostojewski. Sonst aber war er zum Glück völlig normal und ein feiner Kerl. Er stammte aus Kaliningrad, dem alten Königsberg, und war schon Jahre vor uns nach Deutschland gekommen.
Wir stellten uns in die Mitte der Tanzfläche, über der noch eine Discokugel hing, und schauten uns im Spiegel an, drei blässliche Gestalten in Jeans und karierten Hemden. Am gesündesten sah noch Juri aus mit seinen runden Bäckchen, obwohl er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte.
»Ich fang an«, lallte er und streckte die Hand verlangend nach dem Revolver aus, den sich Oleg hinter den Gürtel geklemmt hatte.
Woher Oleg die Knarre hatte und wozu er sie brauchte, fragten wir nicht. Solche Themen waren tabu. Oleg war okay und kein Verbrecher, wozu hätten wir Fragen stellen sollen? Jeder hatte so sein Hobby, vielleicht fühlte er sich mit dem Ding in der Hose einfach besser. Nürnberg war nicht wirklich die Bronx, dennoch, in der Südstadt konnte man schon in Situationen hineinrutschen, die sich am unkompliziertesten mit einem kleinen Spielzeug regeln ließen.
Ohne groß zu diskutieren, zog Oleg das Ding hervor, klappte die Trommel auf und drückte die Patronen heraus. Auf der offenen Hand hielt er sie uns hin, wie um zu beweisen, dass er nicht mit Tricks arbeitete. Dann steckte er eine Patrone wieder zurück und ließ die Trommel mehrmals im Kreis sausen, uns dabei nicht aus den Augen lassend.
»Juri, leg los!«
Kaum hatte Juri die Waffe in der Hand, stand er plötzlich viel sicherer auf den Beinen. Er schwankte kaum noch, kniff ein Auge zu und streckte den Arm aus, um sein Spiegelbild zu fixieren. Dann drückte er ab.
Ein metallisches Klicken ertönte, das war’s. Juri zuckte mit den Achseln und gab den Revolver Oleg zurück. Der aschblonde Schlacks sagte keinen Ton, stellte sich breitbeinig hin, grinste ein weiteres Mal sein gutmütiges Oleg-Grinsen und drückte ab.
Wieder nur ein Klicken. Sechs Patronenschächte besaß der Revolver. Vier waren noch übrig, in einem steckte die Patrone. Wahrscheinlichkeit 25 Prozent, sagte ich still zu mir. Hab’ ich schon gesagt, dass ich nicht zum Helden geboren bin? Würde mir überhaupt nichts ausmachen, in Nürnberg gemütlich Leitungen zu verlegen, während Oleg loszog, den Tyrannenmord zu begehen. Oder Juri. Juri besaß die größte Motivation, Putin umzunieten, kein Zweifel. Seit die Sache mit seinem Schwager passiert war, nagte der Hass in ihm. Dennoch, um Juri hätte ich mir Sorgen gemacht, er war so schnell aus der Fassung zu bringen. Ganz anders Oleg. Er war die coolste Socke von uns dreien, und zwar mit Abstand.
Nun aber war die Reihe an mir. Ich trat vor, zögerte nicht lange, zielte und drückte ab. Der Spiegel zersplitterte in 1.000 Scherben.
Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem Schädel vom Format eines Höhlenbären. Verdammt, was war nur los? Wodka vertrage ich üblicherweise ohne Problem, besonders wenn wir ihn, so wie gestern, auf russische Art trinken, also mit einer salzigen Sardelle nach jedem Gläschen. Ich steckte den Kopf ins Waschbecken und ließ kaltes Wasser drüber laufen. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Nachdem ich den Spiegel zertrümmert hatte, hatten wir noch die dritte Flasche geleert, wobei die Freunde fröhlich auf mein Wohl angestoßen hatten. Sie seien überzeugt, ich sei der Richtige für diesen Job. Mit diesem Spiegel sei auch Putins Ende eingeläutet, der Rächer sei unterwegs.
Ich überlegte keine Sekunde, wie ich aus der Kiste wieder rauskam, glauben Sie mir. Ich steh zu meinem Wort. Nur einmal habe ich es gebrochen, mit Scham gestehe ich es. Das wird mir kein zweites Mal passieren. Zugegeben, an diesem Morgen hatte ich keine Ahnung, wie ich es anstellen sollte, aber dass ich es versuchen wollte, stand für mich fest. Unumstößlich. Es ging auch nicht anders, es kam nur einer von uns Russen infrage. So einen Job durfte man keinem Ausländer anvertrauen, sonst war nichts gewonnen, sonst drohte die Gefahr, dass sich unser geschundenes Volk am Ende noch mit seinem Peiniger solidarisierte. Kein Ukrainer, erst recht kein CIA-Agent oder ein wiedererstandener James Bond, nur ein gebürtiger Russe durfte die Welt von dem selbst ernannten Zaren erlösen.
Lange hatten wir in der Nacht noch diskutiert, wie ich es am besten anstellen sollte. Die Sache wurde dadurch verkompliziert, dass Putin scheu war wie ein Häschen. Zwar posierte er in den lächerlichsten Posen – nackt auf einem Pferd, am Steuer eines Rennboots, verwegen die Angel auswerfend in einem Wildbach. Im Grunde aber war er ein feiger Schisser.
»Denkt nur an den lächerlichen Tisch, an dem er seine Gäste empfängt«, hatte Juri ausgerufen, »geschätzte 300 Meter Abstand zu seinem Gesprächspartner. Und das nur, damit ihn kein Virus erwischt.«
Napoleon war noch mit seinen Truppen mitmarschiert, der alte Fritz war sogar vorangeprescht mit den Worten: »Hunde, wollt ihr ewig leben?« Der heldenhafte Putin aber bunkerte sich ein und sah aus sicherer Ferne zu, wie die jungen Soldaten, die er ins Unglück schickte, der Reihe nach zersiebt wurden.
»Und denk daran, er hat mindestens drei Doppelgänger. Erwisch ja nicht den Falschen!«
Tolle Tipps hatten sie auf Lager, meine lieben Brüderchen! Wie ich bitte schön den richtigen erkenne? »An seiner schwarzen Seele«, hatte Oleg gelacht. »Frag ihn, was Angela Merkel zuletzt für ein Kostüm getragen hat«, hatte Juri gewitzelt. Wer braucht Feinde, wenn er solche Freunde hat? Zu ihrer Ehrenrettung aber muss gesagt werden, sie haben mir durchaus auch nützliche Ratschläge gegeben. Besonders Juri. Eine zentrale Frage war ja, wie kam ich an Putin ran. Wo hielt er sich auf? Würde er jeden Morgen über den Roten Platz in den Kreml spazieren, ja, dann wäre alles viel einfacher. Gerüchten zufolge soll er sich außerhalb Moskaus in einer mondänen Villa verschanzt haben. »Spiel einfach den Schornsteinfeger und klingle an der Tür!« Wieder so eine spaßige Bemerkung von Oleg. Juri hingegen war konstruktiver. Juri kam aus dem tiefen Osten Russlands, aus Oljokminsk, einem Kaff in Jakutien. Er würde einen alten Schulfreund kennen, Nikolai, der arbeite in einer Kohlemine. Nikolai ginge im Herbst als Treiber auf die Jagd. Auf Bärenjagd. Regelmäßig müssten sie im November den dicksten Bären an das Ufer eines Arms der Lena treiben, direkt vor die Flinte von Putin, damit sich dieser mit einer neuen Trophäe brüsten könne. Die genaue Stelle am Fluss sei ein großes Geheimnis, nur wenige würden es kennen. Wenn es gelänge, das Geheimnis zu lüften, würde sich eine Riesenchance ergeben.
»Verstehst du«, hatte Juri gesagt, »während Putin mit seinem Gewehr am anderen Flussufer wartet, schleichst du dich an und machst ihn kalt.«
Nikolai arbeite in einer Kohlengrube, die sich Elga-Mine nenne.
»Du findest die alte Saufnase schon, richte einfach schöne Grüße von mir aus, er wird sich an mich erinnern. Und bring ihm ein Fläschchen französischen Cognac mit, Remy Martin am besten, dafür tut er alles.«
Jakutien. Gott im Himmel, niemals zuvor bin ich dort gewesen. Tiefste Provinz, dazu ein Riesenland, groß wie Indien. Zum Glück lag die Mine nicht allzu weit im Norden, nicht im Permafrost, wo sich die Eisbären herumtreiben. Ich hab’s nicht so mit der Kälte.
Natürlich hatte ich nicht die lächerliche Knarre von Oleg mitgenommen. Überhaupt keine Waffe. Ein Gewehr bekäme ich von Nikolai, überhaupt kein Problem, hatte Juri gemeint. Ich solle damit nur zuvor ein bisschen in den Wäldern üben gehen, am besten ein paar Eichhörnchen von den Ästen holen. Wer ein Eichhörnchen erwischt, der erwischt auch einen Menschen. Ich habe genickt. Heimlich aber beschloss ich, statt auf Eichhörnchen auf Tannenzapfen zu ballern. Wegen Putin soll kein Eichhörnchen verbluten. Er hat schon zu viele Opfer auf dem Gewissen. Komisch, ich bin kein ausgesprochener Tierfreund, aber tief schockiert hat mich das Foto eines ukrainischen Straßenhundes, dem unsere Soldaten das Z auf die Stirn gebrannt hatten.
Der Ausdruck »unsere Soldaten« geht mir nur schwer über die Lippen, und doch ist es so, es sind unsere Soldaten. Schließlich bin ich Russe, genau wie all die Männer in Uniform, die Putin die schmutzige Arbeit machen lässt. Auch für sie mache ich das. Nicht nur für unsere Brüder in der Ukraine. Ich habe tatsächlich Brüder dort oder doch zumindest Verwandte. Großvater hatte einen Bruder, der in Kiew den Bahnhofskiosk betrieben hat. Seine Kinder und Enkel leben in der ganzen Ukraine verstreut. Die Kontakte sind seit dem Beginn der Invasion spärlich geworden. Nicht nur wegen der miesen Kommunikationsmöglichkeiten. Der Krieg hat viele Familien zerrissen oder sprachlos gemacht. Die Sprachlosigkeit war vielleicht das Schlimmste. Jedes Wort wurde auf die Goldwaage gelegt, bloß nichts Falsches sagen. Auch das bin ich leid, aber so was von leid. Das sollte ihm nicht gelingen, Wladimir Wladimirowitsch, dem Schuft im Kreml, uns auch noch zum Verstummen zu bringen. Ein Ende musste gemacht werden.
Eine Weile hatten wir darüber diskutiert, wie ich das mit der Reise hinbekam. Direkte Flugverbindungen gab es ja schon seit vielen Monaten nicht mehr. Russische Passagiermaschinen aber verkehrten noch mit der Türkei, mit Istanbul, Antalya und Izmir. Nach Istanbul flog man täglich von Nürnberg aus, und so saß ich nun im Flieger. Unter mir drehte sich Fürth weg, der graue Fleck musste Erlangen sein, mein geliebtes Erlangen. Dann nur noch Wolkenfetzen, und ich sah nichts mehr. Den Anschlussflug nach Moskau würde ich erst in Istanbul buchen. Das erschien mir sicherer. Seit dem Beginn des Krieges machte man sich in Deutschland ja verdächtig, wenn man nach Russland wollte. Wie hätte ich es auch anstellen sollen? Einfach ins Reisebüro spazieren und sagen: »Hey, hier ist der Typ, der die Welt von Putin säubert, her mit den Tickets.« Das Gesicht der Touristikdame konnte ich mir vorstellen.
Ewig hatten wir im Wodkarausch noch herumgetüftelt, wie ich die entlegene Kohlemine am besten erreichen konnte. Jakutien klebte dem russischen Bären am Hintern. Zum Glück streifte die Transsib den südlichen Rand Jakutiens. Von Moskau aus wollte ich die Fahrt wagen, unbedingt von Moskau aus, auch wenn Oleg ständig auf der Karte herumklopfte. Er schlug einen Flug von Istanbul über Rostow vor, von dort dann weiter nach Jakutsk. Sei schneller. Für mich aber kam nur eine Route über Moskau infrage. Aber das mussten weder Oleg noch Juri wissen. Ich hatte einen gewichtigen Grund dafür. Einen süßen Grund.
Hab’ ich schon erzählt, dass ich gerne zu Fuß unterwegs bin? Egal wie groß die Stadt ist, ich laufe jede Strecke. Kann man eine Stadt besser kennenlernen? Am schlimmsten sind U-Bahnen. Völlig orientierungslos steigt man aus den Schächten. So spazierte ich nun auch durch Istanbul. Ich hatte ja auch jede Menge Zeit, denn der nächste Flug nach Moskau, für den ich ein Ticket hatte ergattern können, ging erst in zwei Tagen. Zwei Tage, die ich in Istanbul totschlagen durfte. Der Portier meines kleinen Hotels im Schatten des Galata-Turms wusste ein Café, wo sich Russen trafen, dahin war ich nun unterwegs. Ich hatte Istanbul vielleicht doch etwas unterschätzt. Sie platzte aus allen Nähten, die Bosporus-Metropole. Ich hielt mich dicht am Ufer des Bosporus, wo die Boote schaukelten und manch edler Klub die Reichen und Schönen anzog, und nahm dann die Galata-Brücke, die über das Goldene Horn führte, hinüber nach Eminönü, der Halbinsel, auf dem der älteste Teil Istanbuls lag. Nachdem ich die lange Brücke passiert hatte, hielt ich mich geradeaus und geriet in das Gassengewirr des Großen Basars, auf dem dicht an dicht alle Gewürze des Orients angeboten wurden. Zwar hatte ich vor, nicht auf Google Maps zu schauen, es blieb mir aber nichts anderes übrig. Trotz meines guten Orientierungssinnes hätte ich mich hoffnungslos verlaufen. Endlich hatte ich aus dem Gewühl wieder hinausgefunden, sah die Hagia Sophia zu meiner Linken strahlen, prächtig angestrahlt, hielt mich rechts und gelangte so in ein ruhigeres Viertel.
Das Russen-Café befand sich in einer engen Seitenstraße. Die Nacht war mild, die Bänke vor der Tür waren gut besetzt. Schon von Weitem schallte mir russisches Sprachgewirr entgegen, lauter Exilanten, Leute, die vor Putin geflohen waren aus den unterschiedlichsten Gründen. Die einen wollten nicht zum Militär, andere waren Künstler oder Wissenschaftler, auch Journalisten waren darunter. Trotz der beschissenen Lage war die Stimmung keineswegs depressiv, sondern eher fröhlich aufgekratzt. Nichts anderes jedoch hatte ich erwartet, wir Russen lassen uns unseren Kummer nicht anmerken.
Mischa war hier, weil er schwul war. Schwule Russen gab es eigentlich nicht. Der echte Russe ritt mit nacktem Oberkörper durch die Taiga und raubte jeden Abend einem anderen Mädchen die Unschuld. So war das nun mal in Russland. Mischa war also ein unechter Russe. Er hockte im hintersten Eck des Cafés, eine halb geleerte Flasche Rotwein vor sich, und kritzelte etwas in ein Skizzenheft. Wie sich später herausstellen sollte, war er Karikaturist. Alle anderen Plätze waren bereits besetzt. Er hatte nichts dagegen, dass ich mich zu ihm setzte. So kamen wir ins Gespräch. Er ließ mich von seinem Rotwein probieren. Er schmeckte nach Rauch und Eiche, und so bestellte auch ich eine Flasche. Mischa war so ziemlich der Einzige im Lokal, der ein finsteres Gesicht zog. Seine Stirn war umwölkt, sein Blick trübe. Seit drei Wochen schon wartete er vergeblich auf seinen Freund Ossip, der es über die georgische Grenze außer Landes schaffen wollte. Offenbar aber steckte er in Schwierigkeiten. Seit letzten Donnerstag gab es kein Lebenszeichen. Vielleicht hatten ihn die Grenzer geschnappt, vielleicht hatten sie ihn ins Lager gesteckt. Mischa hatte keine Ahnung. Im günstigsten Fall hatte Ossip nur sein Handy weggeworfen, damit seine Häscher ihn auf der Flucht nicht orten konnten. Viele machten das so. Zwischen den offiziellen Grenzübergängen, die scharf bewacht wurden, um Männer zu erwischen, die nicht eingezogen werden wollten, lag in Georgien eine lange grüne Grenze. Auch dort patrouillierte Grenzpolizei, dennoch war die Chance nicht schlecht, heimlich hinüberzumachen. Darauf hoffte Mischa. Abend für Abend kam er zum vereinbarten Treffpunkt und wartete. Mischa schob mir sein Handy hin, ein Foto von Ossip. Ich sah einen durchtrainierten Mann mit dem Gesicht eines Knaben. Kopf und Oberkörper passten auf groteske Weise nicht zusammen, jedenfalls aus meiner Sicht. Aber natürlich habe ich die Klappe gehalten und das Foto nicht kommentiert, sondern nur freundlich genickt. Mein Rotwein kam, wir stießen an, bald waren die Flaschen geleert, und wir orderten zwei neue. Mischa hatte für verschiedene Zeitschriften gearbeitet, eine nach der anderen war verboten worden, so hatte er zuletzt nichts mehr zu tun gehabt. Um sich mit irgendetwas zu beschäftigen, zeichnete er an einem Science-Fiction-Comic, den er zu einer Serie ausbauen wollen, eine Art russischem Star Wars. Im Zentrum stand die Mir, ein völlig verrostetes Raumschiff, das den Auftrag hatte, irgendeine im Weltall gestrandete Kiste mit Wodkaflaschen zu finden.
Zunächst hatte er nach Armenien auswandern wollen, nach Eriwan. Dort aber war alles hoffnungslos überlaufen, jede noch so kleine Wäschekammer war zu Mondpreisen vermietet.
»Die Armenier pressen uns aus wie Zitronen«, knurrte Mischa.
In Istanbul kam man mit seinen Rubeln gerade noch hin, selbst wenn sich die türkische Lira auf steiler Talfahrt befand. Ich deutete auf Mischas Skizzenbuch, und er ließ mich einen Blick hineinwerfen. Ich machte große Augen. Ich hatte mit Raumschiffen gerechnet, mit Außerirdischen, auf allen Seiten aber war nur eine Figur zu sehen, Wladimir Putin. Die Nase grotesk überzeichnet, die Nasenwurzel auf einen Punkt verkürzt, die Augen kalt und stechend, erkannte man ihn sofort. Mischa beobachtete mich genau. Wollte er meine Reaktion testen? Ich wusste nicht, ob ich erschrecken oder lachen sollte. Niemals zuvor hatte ich eine Sammlung solch furchtbarer Folterszenen gesehen: Putin, wie er von Selenskyj durch den Fleischwolf gedreht wird; Putin, wie ihn der schwere Konferenztisch so heftig an die Wand quetscht, dass ihm die Zunge bis auf die Tischplatte hinunterfiel; Putin, wie ihm … Nein, daran will ich mich nicht erinnern, die Szene auf dem Herrenklo war zu abscheulich. Nicht, dass ich plötzlich Mitleid mit Putin bekommen hätte, aber es gab doch Grenzen des Anstands, und diese Grenzen schienen mir eindeutig überschritten.
»Denkst du im Ernst daran, die Sachen zu veröffentlichen?«
Mischa grinste. »Wo denn? Ne, ne, alles nur für den Privatgebrauch, aus reinem Spaß an der Freude.«