77 versteckte Orte in Berlin - Johannes Wilkes - E-Book

77 versteckte Orte in Berlin E-Book

Johannes Wilkes

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Beschreibung

Berlin abseits der vertrauten Pfade. 77 Orte erzählen 77 Geschichten: mal heiter, mal ernsthaft, mal verblüffend, mal tragisch - aber immer informativ und unterhaltsam. Die Berliner Geschichte spielt ebenso eine Rolle wie die lebendige Gegenwart. Johannes Wilkes hat sich auf die Suche begeben, erzählt von berührenden Erlebnissen bekannter und unbekannter Persönlichkeiten, zeigt den Witz und die Lebendigkeit der Stadt und führt uns zu verborgenen Plätzen, manchmal auch zu scheinbar bekannten, an denen sich im Verborgenen seltsame Dinge zugetragen haben.

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Seitenzahl: 206

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77versteckeOrtein Berlin

Wo einst die Kanzlerin saunierte, Badeenten Gräber zieren und Meeresfrüchte im Tiergarten wachsen

Johannes Wilkes

Impressum

 

Alle Seitenangaben in diesem Buch beziehen sich auf die Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe.

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

 

1. Auflage 2021

© 2021 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

 

Redaktion / Lektorat: Anja Sandmann

Layout / Herstellung, Umschlaggestaltung: Laura Müller

E-Book: Mirjam Hecht

ISBN 978-3-8392-6782-0

Inhalt

 

Impressum

Widmung

Vorwort

Ein Denkmal für Sie!

Berlin und seine Bäume

Wenn die Spree rückwärts fliesst

Elisabeth Caland – Klavier spielen, aber richtig!

Die schönste Turnhalle

Kurt Tucholsky über Berliner auf Reisen

Rogacki – Fisch und mehr

Des Nachts in Charlottenburg

Joseph von Eichendorff – Politik statt Poesie

Das richtige Mitbringsel

Die Stalingradmadonna

Marlene Dietrich – Erinnerungen einer Schülerin

Tod im Morgengrauen – Clara Immerwahr

Das Leben der Anderen

Friedrich Rückert – Berlins erster Gruner

Pack die Badehose ein

Die beste Brezel Berlins

Felice Schragenheim – Vom Schwimmen und Untergehen

Der Un-Ort

Der Tunnel über der Spree

Alle Jahre wieder …

Die schonste Aussicht uber Berlin

We can be Heroes, just for one day

Der Himmel über Berlin

Die Heinzelmännchen von Berlin

Die Kreuzbergerhöhung

Maria Maltzan – die Tierärztin der Punker

Fontanes Apotheke

Ein Held, der keiner sein will

Dalli-Dalli – Wie Hans Rosenthal im Versteck überlebte

Werner von Siemens und die Elektrische

Eins, zwei, drei – der vielleicht witzigste Film uber Berlin

Wenn die Sehnsucht Flügel verleiht – Otto Lilienthal

Durch die Hintert[r – Lise Meitner

Berlins grösster Theaterskandal

Berlin oder München? – Ein Duell

Die Kongokonferenz – Bismarck als ehrlicher Makler

Auf der Terrasse des Café Josty

Von guten Mächten wunderbar geborgen 

E.T.A. Hoffmann bei Lutter und Wegner

Wo leuchtete das erste Ampelmännchen?

Tanzen in der Schalterhalle

Wie Herbert von Karajan Ärger mit Hitler bekam

Heinrich Heine unter den Linden

Paul Gerhardt und Johann Crüger –Die Beatles von der Nikolaikirche

Der Berliner Stadtbar im Köllnischen Park

Faule Eier – Dieter Kunzelmann und Eberhard Diepgen

Unser Lieblingsitaliener – ein Nachruf

Frisch, fromm, fröhlich frei! – Turnvater Jahn auf der Hasenheide

Udo im Sonderzug nach Pankow

Die Schmerzen einer Mutter – Käthe Kollwitz

Alles im Eimer!

Angela Merkels legendärer Saunaabend

Albert Einstein und die Frauen

Ich bin ein Berliner

Der Brief der Maria D.

Die Brüder Grimm – Kämpfer für Recht und Freiheit

Wo die Spree die Havel küsst

Aus dem Jungen wird nie etwas! – Alexander von Humboldt

Onkel Wackelflügel

Die erste Berliner Gaslaterne

Eine Leiche im Landwehrkanal

Knautschke – eine ödipale Katastrophe

Form und Norm

Oans, zwoa, gsuffa

Die Hummer vom Tiergarten

Der Berliner Witz

Mit der Droschke von Berlin nach Paris

Der Soldat und das Mädchen

Der Jesus-Skandal

Die Ente kommt nicht aufs Grab!

Ringelnatz’ Lieblingskneipe

Grossstadtlichter – Blick vom Theo Richtung Osten

AVUS – das Raketenauto

Was ist der schönste U-Bahnhof?

Emil und die Detektive

Original und Fälschung – Wie ein Mann verschwindet

Quellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Dank

Inhalt

Karte 1

Karte 2

Widmung

 

Für meinen Spatz vom Zille-Kiez

Vorwort

 

Janz Berlin is eene Wolke! – und unter dieser Wolke verbergen sich die erstaunlichsten Dinge. Kaum eine zweite Metropole hat so viele Ecken und Kanten wie Berlin und hinter den Ecken und Kanten verstecken sich Orte, die besondere Geschichten zu erzählen haben, tragische, leidenschaftliche, wissenswerte und humorvolle. Diese Geschichten zu sammeln, sie neu zu erzählen, das ist die Absicht dieses Buches. Mit Hilfe der beigefügten Karte kann man die versteckten Orte leicht selbst aufsuchen und sich auf Entdeckungsreise begeben, man muss es aber nicht. Auch vom heimischen Sofa aus oder in der Badewanne planschend kann man durch Berlin und seine Geschichte spazieren. Der Autor dieses Buches hat seine Touren alle mit dem Fahrrad gemacht, für ihn die schönste Art, Berlin zu erkunden. Und wenn Sie bei Ihren Touren eine neue Geschichte entdecken sollten, einen geheimen Ort, der etwas zu erzählen hat, teilen Sie Ihr Geheimnis doch dem Autor mit, dann wird es vielleicht schon bald einen Nachfolgeband geben. Aber nun ran an de Buletten!

Ein Denkmal für Sie!

1 Obelisk im Schlosspark Charlottenburg (Charlottenburg)

Schloss Charlottenburg

Obelisk, Marmor, im Schlossgarten Charlottenburg von Braco Dimitrijevic: 11. März, das könnte ein Tag von historischer Tragweite sein, 1976–79. Das Datum 11. März wählte Peter Malwitz, ein zufälliger Passant, denn es war sein Geburtsdatum. Collection Schloss und Garten Charlottenburg.

Obelisken errichtet man, um an ein bestimmtes Ereignis oder einen besonderen Menschen zu erinnern, an einen gewonnenen Krieg etwa oder einen speziellen Herrscher. Der Obelisk vom Schlosspark in Charlottenburg aber gibt Rätsel auf. In ihn gemeißelt ist nur ein Datum, und zwar nicht einmal ein komplettes. Nur Tag und Monat sind angegeben: »11. März«, das Jahr aber fehlt. Was will uns der Künstler damit sagen? Hat er an diesem Tag etwas Besonderes erlebt, hat er vielleicht seine Frau das erste Mal geküsst? Ist es das Tag seiner Abschlussprüfung an der Akademie oder wurde ihm gar am 11. März ein Kind geboren? Gerüchten zufolge hat Braco Dimitrijevic, als er 1979 den Carrara-Marmor bearbeitete, einen Passanten nach dessen Geburtsdatum gefragt. Es hätte also auch der 13. oder 28. Juli sein können oder der 14. November. Demnach hat er Lotterie gespielt und wollte mit dem Zufallsdatum nur ausdrücken: Alle steinernen Denkmäler sind eine Dummheit. Wenn der Menschheit oder einem Menschen ein Datum wichtig ist, dann ist es ihm ins Herz geschrieben, dann braucht es keinen Stein. Wie der 9. November, der 14. Juli oder der 24. Dezember, als der Welt ein Baby geschenkt worden ist, dessen Geburtstag heute noch viele Kinderaugen zum Leuchten bringt.

Wenn Sie romantisch veranlagt sind und dazu noch frisch verliebt (eine beneidenswerte Kombination) und zudem nach dem passenden Ort und der passenden Stunde suchen, ihrem Partner einen Hochzeitsantrag zu machen, dann kann ich Ihnen diesen Obelisken sehr empfehlen. Seien Sie sicher: Sie und Ihr Schatz werden den Tag nie vergessen! Und Sie dürfen gerne behaupten, der 11. März sei nur für Sie gemacht.

 

Der Litauer Vytautas Landsbergis wurde am 11. März 1990 zum Parlamentspräsidenten gewählt und erklärte am selben Tag die Unabhängigkeit seines Landes. Im Gegensatz zum Künstler hatte für ihn das Datum auf dem Charlottenburger Obelisken daher eine tiefere Bedeutung, und es ist ihm ein Bedürfnis gewesen, die Säule aufzusuchen. Bereits der erste Architekt von Schloss Charlottenburg, Johann Friedrich Eosander von Göthe, hatte 1717 einen Obelisken an der Spree vorgesehen.

Obelisk im Schlosspark Charlottenburg

Spandauer Damm 10–22

Nordöstlicher Zipfel des Parks

14059 Berlin

Berlin und seine Bäume

2 Schlosspark Charlottenburg (Charlottenburg)

 

Was unterscheidet Berlin von London, Paris oder New York? Viele sagen: Berlin ist grüner. Durch die weitsichtige Stadtplanung früherer Generationen hat man viele Freiflächen geschaffen, zudem wurde die Breite der Straßen auch aus feuerpolizeilichen Erwägungen so großzügig bemessen, dass genügend Platz für Bäume blieb. 439.000 Straßenbäume zählt Berlin heute, jeder Dritte ist älter als 40 Jahre. Das tut der Berliner Luft gut, filtern hohe Bäume doch nicht nur Schadstoffe, sondern produzieren darüber hinaus so viel Sauerstoff, wie zehn Menschen verbrauchen.

Es wäre ungerecht, einen besonderen Baum herauszuheben. Viele stattliche Exemplare finden sich aufs Stadtgebiet verteilt, es wären noch mehr, wenn nicht in der bitterkalten Nachkriegszeit viele Berliner aus der Not heraus zu Axt und Säge gegriffen hätten. Der angeblich älteste Baum Berlins, die Dicke Marie, steht im Tegeler Forst, mein Liebling, eine Blutbuche, erhebt sich im Garten des Literaturhauses in der Fasanenstraße. Auch unter den mächtigen Kastanien im Biergarten des Zollpackhofs gegenüber dem Kanzleramt sitzt man wunderbar. Wenn wir dennoch einem Baum etwas mehr Platz widmen, dann nicht allein wegen dessen Schönheit, sondern mehr noch wegen des Gärtners, der ihn pflanzen ließ. Es handelt sich um die Sumpfzypresse im Schlosspark Charlottenburg. Aus Nordamerika stammend, fühlte sie sich an der Spree so wohl, dass sie auf einen Umfang von 5,40 Meter angewachsen ist. Man nimmt an, dass sie bei der Umgestaltung des ursprünglich barocken Gartens in einen englischen Landschaftsgarten von Peter Joseph Lenné gepflanzt worden ist. Kaum ein zweiter hat die Stadtstruktur von Berlin so geprägt wie der preußische Gartenkünstler und Landschaftsarchitekt. Im Zeitalter der wachsenden Fabriken und Mietskasernen machte er sich Gedanken, wie man ein grünes Berlin für alle gestalten könnte. Nicht nur die zahlreichen Potsdamer Parks gestaltete er, auch und insbesondere seine Berliner Projekte, die Anlage von Sichtachsen und die Schaffung begrünter Kanäle, erfreuen bis heute. Den Ehrentitel Lenné-Stadt würde Berlin zu Recht tragen.

 

Sumpfzypresse im Schlossgarten Charlottenburg

Schlossgarten Charlottenburg südlicher Teil

Spandauer Damm 10–22

14059 Berlin

Wenn die Spree rückwärts fliesst

3 Schloßbrücke Charlottenburg und überall entlang der Spree (Charlottenburg)

 

Die Spree ist eine Künstlerin. Nicht nur, dass an ihren Ufern mit den Umgebindehäusern die originellsten Handwerkerunterkünfte stehen, sich mehrere Dome in ihren Wassern spiegeln, im Spreewald sich aufs Schönste die Gurken krümmen, die Spree versteht sogar das Kunststück, rückwärts zu fließen. Gut, werden Sie einwenden, das kennt man auch von der Elbe in Hamburg oder der Themse in London. Diese Flüsse jedoch stehen unter dem Einfluss des nahen Meeres, also der Gezeiten. Fließt die Spree rückwärts aber, hat das gänzlich andere Ursachen. Verschiedene Faktoren müssen zusammenkommen: eine trockene Zeit am Oberlauf, der Lausitz also, Wasserentnahme aus der Spree durch die Flutung der ehemaligen Braunkohlegruben bei Bautzen und Cottbus, Niederschlag hingegen im nördlichen Brandenburg und auf der Mecklenburger Seenplatte, sodass die Havel gut gefüllt ist – und Millionen von Berlinern, die sich unter die Dusche stellen. Dann passiert es, dann staunen die Angler, die ihre Köder ins Wasser werfen, dann kehrt sich die Strömungsrichtung um und die Spree scheint zur Quelle zurückzufließen. Achten Sie mal drauf! (Vielleicht, weil besonders schön von der Charlottenburger Schloßbrücke?)

Schloßbrücke Charlottenburg und überall entlang der schönen Spreeufer

Elisabeth Caland – Klavier spielen, aber richtig!

4 Wohnhaus von Elisabeth Caland (Charlottenburg)

Ehemaliges Wohnhaus von Elisabeth Caland in der Nithackstraße

»Um besondere Tonfülle bei Akkorden und markig hervortretende Accente, die einzelne Stellen dieser oder jener Komposition verlangen, zu erzielen und wiederzugeben, ist es notwendig, die federleichte Hand, vom Rücken und Oberarm getragen, mit festgespannten Fingern über die zu spielenden Töne zu bringen. Man halte die Hand so gespannt und gerundet, als ob sie sich über einen, im Verhältnis zu derselben stehenden, großen Ball ausbreitet. Wenn die Finger, ohne sich in die Tasten zu senken, mit derselben Fühlung erhalten, drücke man die Hand vermittels der Rückenmuskeln plötzlich kraftvoll nieder.«

Klavierspielen mit Rücken und Schulter, diese zur damaligen Zeit revolutionäre Methode schildert uns Elisabeth Caland in ihren Technischen Ratschlägen für Klavierspieler aus dem Jahre 1912. Die gebürtige Rotterdamerin war 22 Jahre alt, als sie nach Berlin kam, um bei dem fortschrittlichen Musikpädagogen Ludwig Deppe zu studieren. Von ihm übernahm sie zahlreiche Anregungen und entwickelte sie weiter. Etablierte Pianisten waren entsetzt. Mit dem Rücken? Mit den Schultern? Allein mit den Fingern sollten die Töne erzeugt werden, wie beim Cembalospiel, das war gängige Lehre. Die Ideen der jungen Künstlerin aber fanden bald zahlreiche Nachahmer. Ungemein kraftvoll, ungemein farbig konnte die Musik klingen, wenn man aus dem ganzen Oberkörper heraus spielte. »Besonders betont werde hierbei, dass der ganze Arm, vom Schultergelenk aus, wie aus einem Stück, also gewissermaßen ohne Gelenke, gedacht werden soll.« Auf diese Weise gelang es der willensstarken Pianistin, allein durch Schüttelbewegungen der Schultern Tremolofiguren und Triller zu erzeugen.

Elisabeth Caland wohnte von 1909 bis 1913 in der Nithackstraße 22, in Sichtweite des Charlottenburger Schlosses. In diesen Jahren entstanden ihre einflussreichsten musikpädagogischen Schriften. Nach Jahren als Klavierlehrerin in Gehlsdorf und Rostock starb sie am 26. Januar 1929 in Berlin, ihre Lehre aber lebt durch ihre zahlreichen Anhänger fort: »Bleiben sämtliche Gliedmaßen in der vorgeschriebenen Stellung, so wird derselbe [musikalische Eindruck] um so größer und schwebender sein und eine so volle, reiche Tonfärbung haben, dass er dem Klang der Orgel zu vergleichen ist.«

Gedenktafel am Haus Nithackstraße

Wohnhaus Elisabeth Caland

Nithackstraße 22

10585 Berlin

Die schönste Turnhalle

5 Carl-Schuhmann-Sporthalle (Charlottenburg)

Turnhalle Schloßstraße 56

Seien wir ehrlich: Die meisten Turnhallen sind reine Zweckbauten, eckige Kästen, deren wenige Fenster meist aus Glasbausteinen bestehen, damit sie nicht von umherfliegenden Bällen zerschlagen werden. Dass es auch anders geht, zeigt die Sporthalle in einer der vornehmsten Gegenden der Stadt, der Schloßstraße von Charlottenburg. Dem Architekten Hinrich Baller gelang das Kunststück, in die bestehende Häuserzeile eine transparente Halle zu integrieren, besser gesagt, zwei übereinander angeordnete Hallen mit organisch wirkenden Fenstern und sich verzweigenden Metallstäben. Mintgrün lackiert wirken sie wie oxidiertes Kupfer. Ihren Namen trägt die Sporthalle nach Carl Schuhmann (1869–1946), dem erfolgreichsten Teilnehmer der Olympischen Spiele von Athen im Jahre 1896. Vier Goldmedaillen hat er dort errungen, und das im wörtlichen Sinnen, gewann er doch nicht nur die Mannschaftswettbewerbe am Barren und Reck, sowie den Einzelsprung am Pferd, sondern zugleich das Ringen. Nach Berlin zurückgekehrt aber wurde er nicht gefeiert, sondern von der offiziellen Turnerschaft verhöhnt, welche das Streben nach Höchstleistungen ablehnte und auch die übrigen englischen Sportarten. Carl Schuhmann hat sich in der Zeit des »Dritten Reichs« vergeblich für seinen Freund und Trainer Alfred Flatow eingesetzt. Weil Flatow jüdischen Glaubens war, wurde er von den Nazis umgebracht.

 

Häuser von Hinrich Baller finden sich über die ganze Stadt verstreut, man erkennt sie sofort an ihrem typischen Stil, den munter ausschwingenden Balkonen, der Vermeidung des rechten Winkels, der leichten, lichten Bauweise und dem markanten Mintgrün. Wer sich über den Standort seiner Turnhalle mokiert und sagt, das sei doch nichts für die altehrwürdige Schloßstraße, dem sei erwidert: Auch von gekrönten Häuptern ist bekannt, dass sie die Körperertüchtigung lieben. Kaiserin Sissi etwa hatte sich ihr eigenes Fitnessstudio in die Wiener Hofburg bauen lassen. Und wer weiß, würde Sophie Charlotte, die Bauherrin des nahen Schlosses, in unserer Zeit leben, würde man sie vielleicht durch den Schlosspark joggen sehen oder in der Carl-Schuhmann-Halle über den Balken schweben: Gymnastik royale.

Carl-Schuhmann-Sporthalle

Schloßstraße 56

14059 Berlin

Kurt Tucholsky über Berliner auf Reisen

6 Redaktion der Weltbühne (Charlottenburg)

Sitz der ehemaligen Redaktion der Weltbühne in der Wundtstraße 65

Kennen Sie Peter Panter? Oder Theobald Tiger? Oder vielleicht Ignaz Wrobel? Hinter all den Pseudonymen steckt ein und derselbe: Kurt Tucholsky. Er war so produktiv, dass er den Großteil der Weltbühne füllte, der Berliner Wochenzeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, und sich hinter anderen Namen versteckte, um nicht zu dominant zu erscheinen. Nach dem Tode des Gründers Siegfried Jacobsohn im Dezember 1926 wurde Tucholsky für kurze Zeit sogar selbst zum Herausgeber. Es war die Zeit der Wirtschaftskrise, des Ruhrkampfs. Mit scharfer Feder kämpfte der gebürtige Berliner gegen Revanchismus und Völkerfeindschaft, suchte den Friedenskurs und die Aussöhnung mit Frankreich. Die Weltbühne hatte nicht die höchsten Auflagen, ihr Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung aber war nicht zu unterschätzen. Gerne gelesen wurden nicht nur die politischen Artikel, sondern auch Tucholskys Glossen. Im Januar 1926, noch Korrespondent in Paris, beschrieb er das Benehmen seiner lieben Berliner im Ausland. Hier einige Auszüge aus der Weltbühne:

»Es gibt zwei Sorten von Berlinern: die ›Ham-Se-kein-Jrößern?‹-Berliner und die ›Na-faabelhaft‹-Berliner. Die zweite Garnitur ist unangenehmer. Der nörgelnde Berliner ist bekannt. Er vergleicht alles mit zu Hause, ist grundsätzlich nicht begeistert, und, viel zu nervös, um in Ruhe etwas Fremdes auf sich wirken zu lassen, bekleckert er, was er sieht, mit faulen Witzen. Seine Stadt hat das schöne Wort ›meckern‹ erfunden. Dieser Berliner meckert.

Sein Kollege, der ›Unerhöört‹-Berliner, tut etwas anderes, nicht minder Schauerliches. Ich hab jetzt seit etwa achtzehn Monaten lobende Berliner vor Augen gehabt, und wenn sie anerkennen, machen sie das so:

Der lobende Berliner hebt sich zunächst selbst, wenn er lobt. Sein Lob, das meist kritiklos und unbegründet ist, bringt ihn in innige Verbindung mit dem gelobten Objekt, nach der Melodie: ›Was ich mir ansehe, ist eben immer gut – sonst sehe ich's mir gar nicht erst an!‹

Hat der Berliner aber einmal gelobt, dann gibt’s keine Widerrede und vor allem nichts mehr am Ort, was nun noch des Lobes wert wäre. ›Wenn Se den nich jesehn ham, ham Se übahaupt nischt jesehn –! Dixit.‹

Die Form des Berliner Lobes lässt deutlich erkennen, wie sehr der Tadel in dieser Stadt das Primäre ist – es wirkt immer wie ein ins Freundliche umgebogener, für dieses Mal nicht anwendbarer Tadel. ›Das ist schon sehr begabt!‹ – wieviel Huld, wieviel Leutseligkeit steckt darin! Dies Lob grüßt wie eine dicke Hand aus einer hochherrschaftlichen Limousine.

Bevor der Berliner aber tadelt oder lobtadelt, setzt er sich gestrafft aufs Richterstühlchen, und niemals, unter keinen Umständen, ist er locker und unbefangen. Er will diss nu mal genau feststellen – und die eingezogenen Lippen und das leicht zurückgenommene Kinn demonstrieren, wessen sich das Objekt der Kritik zu gegenwärtigen hat. ›Na, nu zeijen Sie mal, was Sie könn!‹ Worauf sich Notre-Dame, Sacha Guitry, die Seine und die Sonne von Chantilly abzuschwitzen haben.

Und ewig werde ich an das Wort eines Landsmanns denken, der nach vierwöchigem Aufenthalt das Wort der Worte über Paris gesprochen hat. Dieses: ›Paris – wat ist denn det für ne Stadt! Hier jibts ja nich mah Schokoladenkeks –!‹«

Kurt Tucholsky wurde am 9. Januar 1890 in Moabit geboren. An seinem Geburtshaus in der Lübecker Straße 13 erinnert eine Tafel an den großen Publizisten, dessen großes Vorbild Heinrich Heine gewesen ist, eine weitere Tafel findet sich in Friedenau an der Bundesallee 79, wo er von 1920 bis 1924 lebte. Sein Einfallsreichtum war legendär. Um den Verkauf seiner Erzählung Rheinsberg: ein Bilderbuch für Verliebte zu fördern, hatte er auf dem Kurfürstendamm eine Bücherbar errichtet: Jeder, der ein Exemplar erwarb, bekam einen Schnaps dazu serviert. Sein Jurastudium brachte er nur mit Mühe zum Abschluss, er lebte schon ganz für die Schriftstellerei. Als er, zunehmend angefeindet, 1929 Deutschland verließ, schrieb er aus dem Exil Deutschland, Deutschland über alles, eine kritische Abrechnung mit dem dumpf-nationalen, bürgerlich-militärischen Denken vieler Deutscher. An deren Ende aber heißt es: »Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir. Und in allen Gegensätzen steht – unerschütterlich, ohne Feier, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat.«

Gedenktafel am Haus Wundtstraße 65

Wer war der Mensch Tucholsky? Dazu die hübsche Anekdote einer Buchhändlerin. Ende der Zwanzigerjahre betrat ein sehr normal aussehender, untersetzter, etwas dicklicher Herr ihre Charlottenburger Buchhandlung, trat an den Tisch mit den Neuerscheinungen und suchte sich einige Bücher aus mit der Bitte, sie ihm zuzusenden. Als er seinen Namen nannte, sah die Buchhändlerin erstaunt auf. Kurt Tucholsky! Der bekannte Schriftsteller und Journalist! In ihrer Buchhandlung, konnte das sein? Er lachte und sagte: »Ja, es ist richtig, ich bin Tucholsky – ich seh’ nur nicht so aus!«

Wenig später machte sich Hermann, der kleine Lehrling, auf den Weg, die Bücher zu liefern. Es verging eine Stunde, es vergingen zwei Stunden – Hermann kam nicht zurück. Endlich aber erschien er, mit freudestrahlendem Gesicht. »Wo bist du denn gewesen?«, fragte ihn seine Chefin. – »Na, doch bei Tucholsky.« – »Was, so lange?« – »Ja, als ich ihm die Bücher gab, fragte er mich: ›Was willst du lieber haben, ein Trinkgeld oder dass ich dir was auf dem Klavier vorspiele?‹ Natürlich habe ich gesagt: ›Was vorspielen.‹ Da hat er mich auf den Stuhl gesetzt und sich ans Klavier und hat mir bis jetzt vorgespielt. Es war wunderbar.«

Redaktion der Weltbühne

Wundtstraße 65

14057 Berlin

Kurt Tucholsky

Rogacki –Fisch und mehr

7 Rogacki Feinkost (Charlottenburg)

Von außen unscheinbar: Rogacki Feinkost

Schon Großvater Paul, ein passionierter Angler, verkaufte Fisch. Seit dem Jahr 1928 bepackte er seinen Bollerwagen und zog vom Weddinger Hafen los ins vornehme Charlottenburg, um die Köchinnen der Großbürger mit Flossentieren zu versorgen, an den Freitagen vor allem. Die Nachfrage wuchs, der Bollerwagen wurde immer schwerer und der Weg zunehmend mühsamer. So entschloss sich Paul Rogacki, den Bollerwagen einzumotten und stattdessen in die Nähe seiner Kundschaft zu ziehen. 1932 war es so weit. Die »Erste Charlottenburger Aal- und Fischräucherei« öffnete ihre Pforte. Auch wer nicht mehr gut sah, konnte die Fischhalle nicht verfehlen. Immer nur der Nase nach, die köstlichen Düfte von Rogacki zogen verheißungsvoll durch die Wilmersdorfer Straße. Wer wollte, konnte seinen aus der Spree gefischten Aal zu Rogacki tragen, um ihn dort räuchern zu lassen. Kaum zu glauben: Die gusseisernen Räucheröfen sind immer noch in Funktion. Auf diese Weise, mit echtem Buchenholz, räuchert heute keiner mehr. Für Rogackis Räucherfisch kommen selbst Berliner nach Charlottenburg, die ihren Kiez nicht einmal für die eigene Beerdigung verlassen würden. Aber auch Freunde des frischen Fischs zieht es in das Traditionsgeschäft. Gleich neben dem Räucherofen befinden sich die Fischbecken, in denen Lachsforellen und Saiblinge lustig ihre finalen Runden ziehen. Wer will, kann seinem Mittagessen persönlich in die Augen schauen und mit dem Finger drauf deuten, dann saust der Käscher des Fischmeisters fröhlich hinterher und schon zappelt der Fang im Netz. Ein beherzter Hieb mit dem Schlagstock gegen den Schädel, und der Forelle wird schwarz vor Augen. So bekommt sie nicht mehr mit, wie ihr die Kehle durchtrennt wird, ein schneller, ein gnädiger Tod. Zwischen 70 Fischsorten hat man die Qual der Wahl. Viele Stammkunden kommen wegen einer anderen Meeresfrucht: Gemütlich steht man an den Rundtischen zusammen, lässt eine Zitrone spritzen und schlürft bei einem Fläschchen Weißen genüsslich eine Auster nach der anderen.

 

Doch nicht nur Freunde von Meeresfrüchten kommen bei Rogacki auf ihre Kosten. In dem weiträumigen Laden, dessen wahre Größe man von der Straße aus nicht vermutet, gibt es neben einem Käsestand auch eine Wursttheke. Ein echtes Kunstwerk ist das Hackepeter-Schwein. Nachdem man ein Schwein geschlachtet und zerlegt hat, wird es durch den Wolf gedreht und aus dem Gehackten sodann formvollendet ein neues Schwein modelliert. Ehrlicher geht’s nicht. Und nicht fröhlicher, blinzelt einem das Hackepeter-Schweinchen mit seinen Olivenaugen doch lustig zu. Auch das Ringelschwänzchen darf nicht fehlen, es ist sogar für Vegetarier geeignet, ist es doch liebevoll aus Paprika gedrechselt.

Wunderbar nostalgisch ist die Inneneinrichtung, schönstes, altes Westberlin. Und so herrlich grün! Es grünt so grün, wenn Rogackis Fliesen blühn. Grüner ist kein Berliner Laden. 1972, zum 50. Firmenjubiläum, hat man die Wände neu gekachelt und damit den Charakter einer Markthalle unterstrichen. Unbestritten ist Rogacki Kult. Gestritten wird nur darüber, wie man den Namen eigentlich ausspricht. Rogakki? Oder polnisch Rogatz-ki? Egal, Hauptsache, es schmetz-kt!

 

 

Rogacki

Wilmersdorfer Straße 145/46

10585 Berlin

Des Nachts in Charlottenburg

8 Otto-Suhr-Allee (Charlottenburg)

Um ein Haar hätten wir sie überfahren. Es war schon nach Mitternacht, wir fuhren mit unseren Rädern die Otto-Suhr-Allee entlang, in nicht geringem Tempo, uns fror, wir wollten nach Hause, als wir den Schatten wahrnahmen, gerade noch rechtzeitig. Sie lag mitten auf dem Radweg. Regungslos. Eine Dame mit blondierten Haaren. Wir stiegen ab, berührten sie an der Schulter, sprachen sie an. Mühsam öffnete sie ihre Augen, erwiderte unseren Blick, nicht verwirrt, nicht verwundert, nur müde, sehr müde. Sie hatte getrunken, mehr als sie vertrug, das roch man. Musste auf dem Heimweg von irgendeiner Kneipe zusammengeklappt sein. Nun lag sie hier und machte keine Anstalten, aufzustehen. Was sollten wir tun? Die Sanitäter rufen? »Nein, nein«, sagte sie leise, »ich hab’s doch nicht weit, lasst mich liegen. Geht schon wieder.« Wir fragten nach, so erfuhren wir ihre Adresse, eine Querstraße, keine dreihundert Meter entfernt. »Wir bringen Sie heim.« So halfen wir ihr auf, hakten sie rechts und links unter, geleiteten sie über das Trottoir. Zum Glück schien sie sich nicht verletzt zu haben, ihr Gang aber war mehr als unsicher. Sie sah nicht aus wie jemand, der in U-Bahnhöfen schläft, im Gegenteil, sie machte einen gepflegten Eindruck. Die Kleidung geschmackvoll, Lippen und Lider dezent geschminkt, eine schimmernde Perlenkette, die Fingernägel sorgfältig lackiert. Dann begann sie zu reden. Es sei ihr Hochzeitstag, sie habe ihren Hochzeitstag gefeiert. Alleine. Ohne ihren Mann. Sie habe keinen Mann mehr, er hätte sie sitzengelassen. Es sei nicht seine Schuld, aber auch nicht die ihre. Man solle nicht immer nach der Schuld fragen, das sei ein Fehler.

Des Nachts auf der Otto-Suhr-Allee

Wir hatten die Seitenstraße erreicht. Ihre Wohnung befand sich zum Glück im Erdgeschoss. Wir halfen ihr noch, die Tür aufzusperren. Als wir uns verabschiedeten, drehte sie sich nochmal um. Manchmal würden sich die Dinge so ergeben, das sei eben so. Aber dennoch, wenn man Hochzeitstag habe, müsse man doch feiern, nicht wahr?

Otto-Suhr-Allee nahe Ernst-Reuter-Platz

10585 Berlin

Joseph von Eichendorff – Politik statt Poesie

9 Eichendorff-Denkmal vor der Eichendorff-Schule (Charlottenburg)

Frühjahr 1842. Eichendorff verzieht das Gesicht. Er hatte den Vorsitz des zu gründenden Berliner Vereins zur Förderung des Dombauwerks zu Köln zu übernehmen und nun sollte er auch noch eine Chronik schreiben! Preußischer Beamter im Kultusministerium, ein elender Beruf. Wo bleibt der Freiraum für die Poesie? Ärgerlich schiebt er die Korrekturfahnen seines Taugenichts zusammen. Also dann, eine Chronik des Dombaus! Es wird Abend, bis er endlich die müden Glieder strecken kann. Erschöpft liest er sich das Ergebnis seiner Arbeit nochmals durch:

»Kurze historische Übersicht des Kölner Dombaues von der ersten Grundsteinlegung bis jetzt (1842)

Der erste Grundstein zu dem gegenwärtigen Kölner Dome wurde im Jahre 1248 am fünfzehnten August von dem Erzbischof Konrad Graf von Hochstaden gelegt. Nach dem ursprünglichen noch vorhandenen Entwurfe des Meisters Gerhard, der die französischen Dome genau studiert hatte […]«

Joseph-von-Eichendorff-Denkmal vor der Eichendorff-Schule in der Goethestraße 19–24

Eichendorff stutzt kurz und streicht den Meister Gerhard wieder. Hinweise auf den französischen Ursprung der Baupläne passen wohl nicht so gut in die politische Landschaft.