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Ist das Leben ein ewiger Balanceakt? Darius Kopp drohte an seinem Unglück zu zerbrechen. Drei Jahre sind vergangen, seit seine Frau Flora, seine große Liebe, gestorben ist. Der IT-Experte ist mit Floras Asche durch Europa gereist und schließlich auf Sizilien gelandet. Dort taucht eines Tages unverhofft seine 17-jährige Nichte auf. Das Mädchen ist allein unterwegs und weicht ihm nicht mehr von der Seite. Lorelei braucht Darius‘ Hilfe – und er die ihre. Mit ihr geht er zurück nach Berlin. Und lernt, sein Glück daran zu messen, was man durch eigenen Willen verändern kann - und was nicht.
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Seitenzahl: 429
Zum Buch
Der neue große Roman der Georg-Büchner-Preisträgerin
»Alles ist möglich, wenn man nur will«, sagt sich Darius Kopp. Doch in seinem Leben ist vieles anders gekommen, als er wollte. Drei Jahre sind vergangen, seit seine Frau Flora, seine große Liebe, gestorben ist. Der IT-Spezialist ist mit Floras Asche durch Europa gereist und schließlich auf Sizilien gelandet. Dort taucht eines Tages unverhofft seine 17-jährige Nichte auf. Das Mädchen ist allein unterwegs und weicht ihm nicht mehr von der Seite. Lorelei braucht Darius’ Hilfe – und er die ihre. Mit ihr geht er zurück nach Berlin. Und lernt, andere Maßstäbe für das Glück anzulegen. Zu akzeptieren, was man durch eigenen Willen verändern kann – und was nicht.
»Eine der feinsten, originellsten und furchtlosesten Stimmen der deutschen Literatur.« FAZ
»Ganz offensichtlich weiß Terézia Mora, welche Anstrengung es bedeutet, im Leben die Balance zu halten und nicht ins Trudeln zu kommen.« Der Spiegel
Zur Autorin
TERÉZIAMORA gilt als eine der wichtigsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Sie wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman »Das Ungeheuer« erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband »Seltsame Materie«, wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk wurde ihr 2018 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. »Auf dem Seil« ist der Abschluss einer Romantrilogie über das Leben des IT-Spezialisten Darius Kopp. Terézia Mora zählt außerdem zu den renommiertesten Übersetzern aus dem Ungarischen; u. a. hat sie die Werke von Péter Esterházy übertragen.
Terézia Mora
Auf dem Seil
ROMAN
Luchterhand
Prolog
Ich kann nicht anders, als glücklich zu sein.
Darius Kopp stand in der Mitte des Gartens, auf dem freien Platz zwischen Blumenbeet und Olivenbäumen, und sah zum Vulkan hinauf. Es war noch so früh am Morgen, dass der Garten dunkel und feucht war, aber oben war die Sonne schon aufgegangen. Die Wolken hatten sich zu einer Halskrause zurückgezogen, der Kegel stand klar. Ein langes weißes Rauchhaar hatte sich gelöst und schwebte hinaus Richtung Meer. Der Blick auf den Vulkan am frühen Morgen und zu jeder anderen Tageszeit: das ist unverderbbar.
Als Gabriella, wie jeden Tag, um 5:50 aus dem Fenster sah, stand Kopp immer noch da. Sie öffnete das Fenster und wünschte ihm einen guten Morgen.
Du bist wach, gut, dann ist ja genug Zeit. Die Glühlampe in der 3 muss gewechselt werden und die Steckdose ist auch lose.
Ich muss gegen 8 los, sagte Kopp.
Sag ich doch.
Ich bin noch nicht geduscht. Das sagte er nicht mehr. Er holte es auch nicht nach. Er wusch sich nur Gesicht, Hände, Achseln. All das dauerte nicht lange genug, als dass das Wasser warm geworden wäre. Rasieren: immer, falls nicht, würde sie ihn später sowieso dazu auffordern. Sie weiß, was angemessen ist, wann was zu tun ist, und sieht es als ihre Aufgabe an, es auch ihm zu sagen. Das ist meistens gut, es ist ihr Haus, ihre Heimat, niemand (jedenfalls nicht Darius Kopp) kennt sich besser aus als sie. Manches ist natürlich überflüssig bis bevormundend, aber darüber sehen wir hinweg. Noch einmal: sie ist die Chefin. Also gehorchte Kopp auch diesmal und ersetzte die Glühbirne noch vor dem Frühstück. Leider stellte sich heraus, dass die Lampe einen Kurzschluss hatte, die neue Glühbirne knallte gleich durch. Kopp fluchte (leise).
Er ging in die Küche und teilte Gabriella mit, dass die Lampe kaputt sei. Gabriella war gerade dabei, das Frühstück für die beiden Familien in den Apartments 2 und 6 herzurichten. Die Milch bildete eine Haut, ob sie deswegen mürrisch war oder nur konzentriert?
Na, dann kauf halt eine neue. Gibt’s alles im Hipermercato. Wenn du die Lebensmittel holst.
Eine neue Fassung würde reichen, der Schirm ist noch gut.
Du bist der Experte.
Aber ich bin heute mit Francesco unterwegs.
Na und?
(Der Hipermercato hat bis 10 auf. Ich werde also alles noch heute und nicht morgen oder nie erledigen.)
Und die Steckdose?
Die habe ich noch nicht gemacht.
Dann mach sie.
Ich habe noch nicht gefrühstückt.
Es sind ja nur zwei Schrauben.
Haben wir überhaupt die richtigen Schrauben?
Woher soll ich das wissen?
Kopp war der Überzeugung, dass sie nicht die richtigen Schrauben da hatten, man müsste also auch Schrauben kaufen.
Gabriella sagte darauf nichts mehr, sie ging in den Gastraum. Kopp blieb zurück und aß (stehend, mit den Fingern direkt in den Mund) das, was nach der Zubereitung des Frühstücks für die Gäste auf dem Tisch liegen geblieben war.
Die Steckdose schaffte er dann nicht mehr, bevor er aufbrach. Gabriella verzog einen Mundwinkel, sagte aber nichts. Die Gäste waren in Hör- und Sichtweite. Darius Kopp winkte ihnen im Losfahren freundlich zu. Eine Frau winkte zurück.
Das Glücksgefühl kehrte wieder, sobald er das Tor hinter sich geschlossen hatte, und endgültig, als er über die schmalen Wege vom Agriturismo Richtung Autobahn schaukelte. Links und rechts Feldsteinmauern, Reisigzäune oder einfach Macchia. Es hat immer nur einer Platz, aber es gibt Buchten, in denen man warten kann. Eine dieser Buchten ist unter einer Steineiche, dort stand jemand und wartete auf Kopp und nickte ihm zu. Ob wir bekannt sind? Vielleicht kennt auch nur er mich. Bis zur Mautstelle dauerte es eine halbe Stunde, er war pünktlich da. Er wartete im Nieselregen, im Dieselgeruch, bis Francesco kam.
Francesco Verla, genannt Tedesco, hatte Darius Kopp vor etwas mehr als einem Jahr am Rande eines Kraters der Monti Sartorius aufgefunden. Kopp hatte sich bei der Bergstation, wo die Straße für Normalsterbliche endet, unter dem Schutz der niedrig hängenden Wolken und des Sprühregens so lange an Kraterrändern und Pfaden durch die erkaltete Lava hin und her gewendet, bis er alle anderen (Touristen, Führer) aus den Augen verloren hatte, bzw., worum es eigentlich ging, bis sie ihn aus den Augen verloren hatten. Er hatte einen Job zu erledigen, für den er allein sein musste. Er war dafür Monate lang über den Kontinent geirrt und dabei endgültig pleitegegangen, das Geld, hierher zu kommen, hatte er sich bei einer Frau in Athen geliehen. Er hatte lange nicht gewusst, was er tun sollte, dann wurde es ihm innerhalb eines Augenblicks klar. Er packte die Asche seiner verstorbenen Frau in einen (ebenfalls geliehenen) Rucksack und hielt nicht an, bis er es auf den Ätna hinauf geschafft hatte. Bis auf halber Höhe des Ätna, wohin es Touristen legal eben schaffen können. Dort wendete er sich unter dem Schutze der niedrig hängenden Wolken und des Sprühregens so lange hin und her, bis er sich endlich allein genug wähnte. Um dann festzustellen, dass er erheblich schlechter vorbereitet war, als es sich für einen Abenteurer, der allein auf einem aktiven Vulkan unterwegs sein will, geziemte. Er hatte kein GPS dabei, nur ein billiges Handy (geliehen, geliehen, mittlerweile alles). Mit dessen (unbrauchbarer) Hilfe watete er mehrere Stunden durch den Nebel, er wusste nicht einmal, ob auf-, ab- oder seitwärts. So findest du natürlich nichts. Soviel war ihm schon an der Bergstation klar geworden, dass es so, wie man es sich in seinen wilden Träumen vorstellt, nicht sein kann: dass da ein großer Krater ist und du kommst dahin und wirfst feierlich deine Vergangenheit hinein. Aber damit, mit diesem uferlosen Geröll und Nebel, konnte er sich auch nicht zufriedengeben. Es musste ein Ort sein, den er die Chance hatte wiederzufinden, sonst hättest du dir diesen ganzen langen Weg auch sparen können, dann hättest du sie ja gleich …
Er war mehr als erleichtert, als er wieder auf eine Straße traf. Diese verließ er nicht mehr, er lief so lange bergauf (denn er war, wie sich herausstellte, im Nebel nach unten gewandert), bis er einen Wegweiser fand. Auf diesem stand Monti Sartorius, gleichzeitig rissen die Wolken ein wenig auf, etwas mehr Licht fiel auf die Szenerie und innerhalb dieser auf einen Trampelpfad, der ins Gelände führte. Er wanderte an einem Birkenwäldchen vorbei bis auf den Rand eines kleinen Kraters hinauf, wo ein vom Blitz getroffener Baum stand. Das ist der Ort. Die Wolken zogen jetzt noch schneller, Licht, Schatten, Licht, Schatten, Wind schob Schwaden hin und her, bis sie genügend auseinandergetrieben waren, um einen Blick auf die Straße von Messina freizugeben. Kein Zweifel. Das ist der Ort. Kopp hockte sich hin und klaubte die Urne aus dem Rucksack, ohne den Blick von der aufblinkenden und wieder verwehten Aussicht zu nehmen. Öffnete vorsichtig den Deckel und ließ die Urne eine Weile offen stehen. Der Wind wehte eine Prise Asche heraus. Später kippte Kopp die Urne etwas an, und dann noch etwas mehr, so lange, bis ihr gesamter Inhalt herausgerieselt und nichts mehr da war, das nicht so aussah, als gehörte es immer schon zum Berg.
Wie lange hatte das gedauert, keine Ahnung, er war so versunken, von Zeit zu sprechen wäre Nonsens. Es war hell, als er damit anfing und immer noch hell, als er feststellte, dass er nicht mehr alleine war. Eine Gruppe Touristen war hinter ihm erschienen und dann auch neben ihm, andere finden das auch einen schönen Platz, andere möchten die Aussicht fotografieren. Er richtete sich auf und fand sich Francesco gegenüber, der ihn anlächelte. Kopp hatte die Urne noch in der Hand. Er tat so, als würde er den Mann, der direkt vor ihm stand, nicht sehen, verstaute die Urne in seinem Rucksack und machte sich daran, den Ort zügig zu verlassen, doch Francesco ließ sich nicht beirren, er lächelte weiter und sprach Kopp schließlich sogar an. Erst auf Englisch, dann, nach dem ersten Wort, das Kopp aussprach, auf Deutsch.
Der Beginn unserer wunderbaren Freundschaft. Man nennt mich Francesco Tedesco, weil ich 16 Jahre in Ditzingen gelebt habe und seitdem korrekt wie ein Deutscher bin. Er war vollkommen im Bilde, was mit Kopp los war und bot ihm an, ihn mit dem Jeep mit hinunter zu nehmen, er hätte noch einen Platz frei. Kopp war müde und stimmte zu, nur eine Adresse, zu der er gefahren werden wollte, konnte er nicht nennen.
Brauchst du eine Übernachtung?
Ja, die brauche ich wohl.
So kam Kopp zu Gabriella.
Das ist jetzt mehr als ein Jahr her. Es ist ein Ostern vergangen, als er und Gabriella ein Paar wurden, und ein Weihnachten, als alles schon wieder abgekühlt war, jetzt wird es bald wieder Ostern sein. Er bekommt Kost und Logis für die Reparaturen und die Besorgungen, die er für Gabriella ausführt, sein Taschengeld verdient er sich als Fahrer bei Francescos Ätna-Touren.
Die Gäste des Tages waren: eine alleinreisende Frau (Lehrerin in München), ein Paar mit einem Mädchen und ein Vater mit einem Jungen. Kopp fuhr, Francesco redete. Sie waren der zweite Jeep in der Kolonne, vor ihnen das »Minensuchfahrzeug« (keiner von uns war je in einem Krieg, jeder von uns kennt das Wort), hinter ihnen zwei weitere Fahrzeuge. Off-Road über die Lava von 1951. Der Ausbruch beförderte 170 Millionen Kubikmeter Lava herauf und vernichtete beinahe die Ortschaften Milo und Fornazzo. Mittlerweile könnte ich das auch alles erzählen, aber als Neuling ist nichts sagen zu müssen mein Privileg.
Den ersten Halt machten sie an der vernichteten Seilbahn-Talstation des Ausbruchs von 1971. Francesco ging mit den Gästen in die Lavahügel, Darius Kopp durfte mit den anderen Fahrern an den Fahrzeugen stehen bleiben und einfach nur die frische, nach Stein und Schnee riechende Luft einatmen. Dieses Jahr ist mehr Schnee als letztes Jahr um diese Zeit. Einige der Touristinnen suchten nach schwer einsehbaren Stellen, die sie als Toilette benutzen könnten, fanden sie nicht bzw. fanden sie falsch, Kopp und die anderen Fahrer wandten sich schamhaft lachend ab, und da geschah es.
Als er sich ein halbes Mal um die eigene Achse gedreht hatte, fand er sich einer kleinen, zu dünn gekleideten Frau gegenüber. Sie war hinter ihm stehen geblieben, um ihren Pferdeschwanz zu öffnen, damit die roten Ohren wenigstens von ein wenig Haar gewärmt würden, da drehte er sich um und ihr Blick fiel geradewegs in seinen.
Dari.
Während sich ihr Haar langsam und in Strähnen aus dem ehemaligen Zopf löste und auf ihre Schultern sank. Für einen Moment sah Kopp nur die in Zeitlupe der fallenden Haare und ihre Lippen ohne Ton, die »Dari« formten. Später stellte er wieder scharf und sah sie ganz. Hinter ihr stand eine weitere Frau, eine größere Blonde, offenbar gehörten sie zusammen. Kopp kannte die blonde Frau nicht. Die kleine Dunkelhaarige kannte er.
Wann haben wir uns zuletzt gesehen? Vor 2 Jahren oder vor 3? Dem Gefühl nach müssten es mehr sein. Nach 20 Jahren seine Schwester wiedersehen. (Und wenn es 50 wären? Das ist bereits unvorstellbar.)
Vor 2, nein, mittlerweile 3 Jahren war Darius Kopps Frau gestorben, wenig später brach er den Kontakt zu seiner Familie ab. Jemandem entfuhr ein Satz, der »ist vielleicht besser so« beinhaltete, woraufhin er aufstand und ging, aber vorher sagte er noch, dass er nun gehen müsse und verabschiedete sich auch ordentlich. Wann wird es ihr aufgefallen sein? Nicht an seinem Geburtstag, nicht, wenn sie nur eine SMS schrieb. An ihrem eigenen vielleicht, ein halbes Jahr später. Wie alt war sie jetzt? 49–14=35. Immer noch ein viel zu großer Altersunterschied.
Darius, sagte Darius Kopps jüngere Schwester Marlene. Was machst du hier?
Er kniff den Mund zu einem Lächeln und zuckte langsam die Achseln. (Siehst du doch.) Er fügte noch eine angedeutete Kopfbewegung hinzu, nach hinten, zu den Jeeps, den anderen Fahrern.
Marlene blinzelte. Wie ein Vögelchen. Sah ihn auch so an. Als wäre es abwechselnd mit dem einen und dann mit dem anderen Auge. Die Gruppen und ihre Guides verschwanden gerade im Geröllfeld hinter der halb überrollten alten Talstation. Die blonde Frau hinter Marlene schaute ihnen nach. Sobald die anderen verschwunden waren, gab sie auf und sah nun wieder die beiden Geschwister an.
Marlene hat Augen mit einer kaleidoskopartigen, aus grünen und blauen Punkten bestehenden Iris. Es ist schwierig, dort hinein zu sehen. Sie starrte ihn mit diesen Augen an, bis ihr klar wurde, dass, wenn sie wollte, dass geredet wird, sie es selbst tun musste.
Wie sich herausstellte, hatte man recht bald registriert, dass er weg war. Darius Kopps Mutter hat eine Woche nach ihm Geburtstag. Als er sich nicht meldete, rief Marlene, wie es sich gehört, bei ihm an, aber unter der ihr bekannten Nummer meldete sich niemand. Da knöpfte sie sich ihre Tochter Lore vor, die einige Wochenenden zuvor in Berlin gewesen war und behauptet hatte, bei ihrem Onkel übernachtet zu haben. Das hatte Marlene ihr natürlich keine Minute lang geglaubt, ich kenne sie, weil ich mich kenne, sie wird bei irgendwelchen Halbbekannten gewesen sein, wenn es gut lief, aber nun wäre es ihr, Marlene, doch lieber gewesen, das heißt, nicht lieber als sonst auch schon, dass sie vielleicht doch einmal, ausnahmsweise, die Wahrheit gesagt hätte. Sie knöpfte sie sich also vor, wie es denn bei ihrem Onkel Darius gewesen sei, und die Göre sagte: gut. Als Marlene Details wissen wollte, sagte sie: keine Ahnung. Als sie auf sie eindrang, sie möge ihr diesmal, ausnahmsweise, die Wahrheit sagen, sagte sie: Lass mich in Ruhe, was willst du eigentlich von mir? Sie, Marlene, sei Monate lang sehr in Sorge gewesen, aber alle (???) sagten: Er ist ein erwachsener Mann, finde dich damit ab, ich muss mich auch damit abfinden.
Damit beendete sie ihre Geschichte und sah ihn wieder an. Er wäre jetzt wieder dran gewesen, etwas zu sagen, aber es fiel ihm kein Satz ein. (Erste Idee: die Nichte verteidigen. Behaupten, sie wäre wirklich bei ihm gewesen. Wieso? Einfach so. Er kennt sie kaum, sie tut ihm einfach leid. Auch das könnte er nicht erklären. Warum leid? Es ist einfach so.) Schließlich sagte er:
Ich bin ein Jahr nach Floras Tod losgefahren.
Ihre Augen flatterten, vielleicht rechnete sie nach, versuchte, einen Punkt in der Zeit zu finden. Er schob hinterher:
Meine Frau.
Ich weiß, sagte sie.
Langsam wurde es eindeutig, wie sie hier standen, dementsprechend bekam sie nun auch ihr Wut-Gesicht. Das ist bei ihr weiß. Und er? Konnte nicht anders, als noch einen drauf zu setzen:
Willst du dir nicht die Führung ansehen?
Und dabei lächelte er die blonde Frau hinter ihr an.
Das war zuviel. Marlenes Augen füllten sich mit Tränen.
Scheiße, sagte sie und schniefte.
Sie kam zu ihm und umarmte ihn, drückte ihren Kopf an seine Brust. Er stand da, lächelte die blonde Frau an, langsam wird’s wirklich dämlich, sie lächelte auch nicht zurück. Marlene derweil bohrte ihren Kopf hart in seine Brust hinein, solange, bis er eine Reaktion zeigen musste. Au!
Sie ließ ihn los, ihre Wangen waren jetzt gerötet. Die Gäste und die Guides kamen bereits aus den Kratern wieder. Die Fahrer der drei anderen Jeeps lösten ihre Gruppe auf und gingen zu ihren Fahrzeugen.
Die blonde Frau hinter Marlene übernahm jetzt die Initiative. Sie kam hervor und streckte die Hand aus:
Grüß dich, ich bin Daggi. Dagmar. Wir haben ein Geschäft zusammen. Marlene und ich. Ich habe schon viel von dir gehört.
Er fühlte, wie er rot anlief. Aber wenn mich jetzt jemand fragen würde, wieso, könnte ich es nicht sagen. Oder doch. Ich bin wütend. Aber das zu erklären, wäre nicht mehr möglich.
Francesco kam mit den Gästen ihres Jeeps an, Marlene hatte Kopp zum Glück schon losgelassen. Er trat von ihr weg, schloss die Türen des Jeeps auf und stieg mit demselben Schwung ein, nickte Marlene und ihrer Freundin noch einmal zu und schloss die Fahrertür. Klack.
Er sah sie durch die Seitenscheibe: wie sie dastand, wo er sie gelassen hatte und zu ihm herein starrte, bis diese Daggi sie am Arm nahm und sie in Richtung ihres Jeeps wegführte.
Kanntest du die? fragte Francesco.
Eine alte Liebe von mir, sagte Kopp.
(Warum, um Gottes willen? Ich weiß auch nicht. Als würde langsam Gift durch mich hindurch sickern. Als würde man mich mit Gewalt wecken.) Er fuhr mit halb geschlossenen Augen bis zum nächsten Haltepunkt.
Anhalten, aussteigen, den Kofferraum öffnen, die Ausrüstung für die Besichtigung einer Eishöhle verteilen. Den Kindern beim Anlegen der Helme helfen, den Erwachsenen Sicherungsseile, Helme, Taschenlampen geben. Und irgendwo ist Marlene. Das stille Sickern hatte aufgehört, jetzt war es, als würde etwas Großes, Metallenes in dem kleinen, metallenen Raum in seiner Brust hin und her kugeln.
Als alles ausgegeben war, setzte sich Kopp wieder in den Jeep und wartete jede Sekunde darauf, dass sie gleich wieder hinter der Seitenscheibe erschien. Das ist ihre Art, sie gibt nicht auf, sie steigt dir so lange aufs Dach, bis sie erreicht hat, was sie erreichen will oder ihr euch so in die Haare bekommen habt, dass sie mit einem Krach abtreten kann. Aber sie kam nicht. Ist sie doch tatsächlich mitgegangen zur Höhle. Lässt sich abseilen unter die Erde, leuchtet mit ihrer Taschenlampe hierhin und dorthin und steigt am Ende wieder hoch. Vielleicht genauso, wie diese Daggi es ihr geraten hat. Was machst du nur? Was mach ich nur? Sie hat dich gefunden, nein, wiedergetroffen, na und? Was ist so schlimm daran? Ich weiß auch nicht. Vielleicht sage ich bald: nichts, aber im Moment bin ich noch geschockt. Er nahm den Rückkehrenden die Ausrüstungen ab und räumte sie wieder in den Wagen, ohne einmal aufzublicken.
Die dritte Station war dort, wo der vom Blitz getroffene Baum steht. Seitdem er die Asche dort gelassen hatte, war Darius Kopp nicht mehr direkt am Krater gewesen. Er bleibt immer unten an der Straße stehen mit dem Jeep. Sitzt da und schaut sich den von Blitz getroffenen Baum vor seinem inneren Auge an, er sieht ihn ganz genau, dahinter die Straße von Messina, zu seinen Füßen poröse Vulkanerde. Ich denke gar nicht mehr an dich, nicht als Person. Manchmal an diesen Ort. Ich habe ein Postkartenbild davon abgespeichert, unversehrbar.
Aber, natürlich, wie es kommen muss, diesmal kam Marlene. Sie klopfte an die Scheibe auf der Beifahrerseite, er ließ sie einsteigen. Sie setzte sich auf Francescos Platz.
Entschuldige, sagte sie. Ich war eben ziemlich aufgewühlt. Den Bruder plötzlich wiederzufinden. Und dann dort, wo man es nicht erwartet hätte.
(Und wo hättest du es erwartet? Frag nicht.)
Was machst du hier? Lebst du jetzt hier?
Sieht so aus.
Gefällt’s dir?
Ja.
Wo wohnst du?
Nicht weit von hier.
Sie presste die Lippen aufeinander. Nicht weit von hier, nicht weit von hier.
Geht’s dir gut? Hier?
Ja, sagte er.
Den Eltern, sagte Marlene, ihre Stimme war etwas schärfer geworden, sie artikulierte mehr, den Eltern geht es gut. Vater ist … gesund. Und Mutter hat sich arrangiert. Man musste nicht noch mehr vom Bein abnehmen.
Kopp nickte. Das ist gut.
Und mir, sagte Marlene, noch ein Stück lauter, mir geht es auch gut. Wir haben mit Daggi einen Salon zusammen. Es läuft gut. … Den Kindern geht es auch gut. Sie gehen beide nicht gern zur Schule und wissen nicht, was sie werden wollen. Kann man nichts machen.
(Wie alt sind die eigentlich? Ist das Mädchen schon 16? Und der Junge? 12 oder 13?)
Sie saßen da, schauten sich an, was es zu sehen gab: die Straße, die Bäume, etwas Schnee auf Vulkangestein, einen anderen Jeep. Gleich legt sie ihre Hand auf meine, gleich umarmt sie mich, gleich bricht sie in Tränen aus, das ist ihre Art, klammert sich einem mit ihren kleinen, harten Armen um den Hals, dass es weh tut.
Oder nicht. Nicht unmöglich, dass sie sich in den letzten Jahren auch etwas verändert hat. Sie saßen eine Weile stumm da. Dann erzählte Marlene noch etwas von ihrem Urlaub, den sie mit Daggi hier macht. Wo sie wohnen (Taormina), wie das Hotel ist (nett, klein), was sie unternehmen. Darius Kopp nickte, als kannte er das alles. Dann kamen auch schon die ersten Gäste aus den Kratern zurück, verfrüht. Es waren die Frauen in den Sommerklamotten, bibbernd, lachend über den festgetrampelten Schnee auf dem Pfad balancierend. Sie gehörten zu einem anderen Jeep. Als Nächstes kamen dann schon die Kinder aus Kopps Fahrzeug, er ließ sie einsteigen. Marlene blieb auf dem Beifahrersitz sitzen. Was hat sie vor? Was es auch immer war, Francesco kam, öffnete die Beifahrertür, strahlte sie an und sagte, dass es jetzt weiterginge, während er ihr mit einer einladenden Bewegung seines Arms zeigte, wohin sie aussteigen sollte, und Marlene stieg aus.
Francesco war nicht gerade begeistert, als Kopp ihm mitteilte, er habe mit Davide ausgehandelt, dass dieser seine Gäste zum Mittagessen ins Agriturismo fuhr, während Kopp Davides Gäste, die nur die Halbtagestour gebucht hatten, zu ihren Unterkünften zurückbrachte. Aber was konnte Francesco machen, du kannst vor den Gästen keine lange Auseinandersetzung anzetteln, außerdem war es ja auch wirklich egal. Hauptsache, jeder kommt dort an, wo er bei Zeiten sein muss.
Kopp brachte Davides Gäste zu ihren Autos bzw. Unterkünften, stellte den Jeep ab, stieg in Gabriellas Wagen um und fuhr zum Hipermercato. Vom Parkplatz aus schrieb er eine SMS an Gabriella, er sei jetzt doch am Markt, ob sie eine Einkaufsliste für ihn habe.
In dem Moment, da er die Nachricht abschickte, wurde ihm erst klar, wie sehr er auf dem Holzweg war. Er hatte keine Einkaufsliste dabei und auch kein Geld für Einkäufe, weil er beides erst bekommen hätte, wenn er die Gäste zum Agriturismo gebracht und Gabriella beim Servieren geholfen hätte.
Der Schrecken, der mich dabei durchfährt. Eine veritable Hitzewallung. Du hast Angst vor der Frau, in deren Haus du lebst. So, jetzt ist es raus.
Anfangs – Wann war der Anfang, er scheint so unendlich weit zurückzuliegen, dabei war es doch nur ein Jahr –, anfangs umhegte sie ihn, als hätte sie 7 Jahre einsam auf einer Insel gehockt und darauf gewartet, dass die Götter sein Schiff an ihr Ufer wehten. Der treulose Vater ihrer zwei Töchter hatte sie verlassen, er sagte, er wolle »endlich leben«. Jetzt ist er in Mailand, der Depp. Sie erzählte das gleich am ersten Abend, quasi als Vorstellung, ich bin Gabriella, mein Mann hat mich verlassen, kannst du das glauben? Sie zündete Kerzen an, ihr Haar, ihre Zähne glänzten. Sie hielt sich nicht zurück, sie fragte ihn auch nach seiner Frau, Francesco hatte ihr das mit der Asche gleich erzählt, als unwiderlegbares Argument: das ist der Mann, du musst ihn aufnehmen. Sie fütterte ihn, sie kaufte ihm im Hipermercato neue Klamotten statt seiner eigenen, die auf der langen Reise fadenscheinig oder unrettbar schmutzig geworden waren. Das kostet doch nichts. Sie schnitt ihm die Haare und bat ihn, ob sie ihn rasieren dürfe, sie habe auch ihren Großvater und ihren Vater immer rasiert, und für ihn war rasiert zu werden tatsächlich einer der zu selten in Erfüllung gegangenen kleinen Träume. Sie rasierte ihn mit einem echten Rasiermesser und wohlriechender Seife, sie beugte sich kichernd über ihn und am Ende hatten sie Sex, wie in einem vorhersehbaren und dennoch gerne geschauten Liebesfilm. Eine schöne Frau Mitte vierzig und nicht prüde, er war einigermaßen schockiert, was für eine schlechte Leistung er brachte. Zuerst hieß es Anlaufschwierigkeiten, später sagte er: der Lack ist nun einmal ab, ich werde alt. Sie dachte natürlich, das würde bedeuten, dass sie alt wurde, bin ich zu alt, bin ich zu fett, zwei Kinder geboren, umsonst sagte er: nein, nein, schau doch mich an. Es liegt alles an mir. Mittlerweile glaubt sie ihm, das heißt, sie hat eingesehen, dass das, was sie von ihm präsentiert bekommt, das ist, was tatsächlich da ist, und dass nichts anderes da ist, und seitdem ist alles eher mürrisch. Wir halten uns an den schönen Momenten des Tages fest. Dem Sonnenaufgang, dem Anblick des Bergs, der Olivenbäume. Oder, dass das Meer nahe ist. Obwohl ich es absprechen muss, wenn ich ans Meer will. Es ist ihr Auto, und wieso fragst du eigentlich nicht, ob ich nicht auch ans Meer will? Als ob ich Zeit hätte, ans Meer zu fahren. Einer muss die Arbeit schließlich machen. Und einen Tag später, lächelnd, dass er ja jetzt eigenes Geld bei Francesco verdiene, ob er sich nicht an den Kosten für die Lebensmittel und das Zimmer beteiligen wolle? Klar, sagte er. Sie sagte 300 an, als Freundschaftspreis, aber das wird nicht mehr lange so bleiben, denn er hat immer noch etwas, das er beiseitelegen kann, und ich weiß, das wurmt sie. Den letzten Sex hatten wir vor 2 Monaten, hinterher war sie sauer.
An dieser Stelle fiel ihm ausgerechnet seine Schwester wieder ein und ihm wurde übel. Der Magen ist leer. Ich muss etwas essen.
Die Durchsuchung seiner Taschen brachte ihm 12 Euro und einige Cent ein. Das reicht für Pizza Bianca, Mortadella und Tomaten. Eine Flasche Wasser war noch im Auto. Der Rest des Geldes reichte noch für eine einfache Lampenfassung, und er kaufte auch diese, aber dabei brannte ihm schon wieder das Brustbein. Du kaufst die Lampenfassung, um etwas zu haben, das sie möglicherweise besänftigt, du willst das nicht, du willst sie nicht besänftigen müssen, aber du kannst die Lampenfassung einfach nicht dalassen.
Die Hälfte der Lebensmittel stopfte er sich gleich hinter dem Lenkrad sitzend in den Mund. Er hätte gut und gerne alles verschlingen können, aber er hielt sich zurück, damit er noch etwas hatte, mit dem er sich auf den Weg Richtung Meer machen konnte. Der Tank war zum Glück voll. (Ihr Tank. Was soll’s.)
Er hatte keinen genauen Plan, irgendwo werden wir schon herauskommen. Diesmal in einer Ferienhaussiedlung, die entweder Lampanella heißt oder anders. Im frühen April noch größtenteils verlassen. Gabriellas weißes Auto war das einzige auf dem für den Sommer sonst hoffnungslos unterdimensionierten Strand-Parkplatz. Vom Parkplatz führte zum einen eine steinerne Treppe, zum anderen ein Trampelpfad zwischen hoch gewachsenem Unkraut nach unten. Kopp nahm den Trampelpfad, der zu einem Uferabschnitt neben dem offiziellen Badestrand führte. Hier war es felsig und manche Ecken dienten als Toilette und/oder Müllabladeplatz. Kopp wählte einen Felsen, der nah am Meer lag und sauber und groß genug war für einen dicken Mann und sein Picknick.
Pizza Bianca, Mortadella, Tomaten. Als würdest du es zum letzten Mal essen. Das kannst du nun wirklich nicht wissen. Aber es sich vorstellen. Dieses Ufer ist ekelerregend, aber man kann auch so schauen, dass man mehr schöne Teile sieht. Muschelbruch und kleine, intakte Muschelhälften in einer Senke vor deinen Füßen. Eine zitronengelbe Muschelhälfte und eine lachsfarbene. Ein Stück abgeschliffene Keramik. Vermutlich bzw. sicherlich nicht antik. Und, natürlich, eine zerquetschte Halbliter-Plastikflasche. Kopp hatte sein Wasser im Auto vergessen. Egal. Nimm noch einen Bissen Tomate.
Eine Weile dachte er jetzt gar nichts. Das Meer, die Bewegungen der Luft, die Geräusche. Etwas weiter am Ufer hinunter lag ein gestrandeter Seelenverkäufer. All die verrosteten Boote, die liegen bleiben. Jemand muss sie abschleppen. Schiffsfriedhöfe.
Er hatte mehrfach zum Wrack hin und wieder weggeschaut, bevor er bemerkte, dass auf einem Felsen davor, durch die Perspektive mit dem Rumpf des Schiffes verschmolzen, jemand saß. Ein alter Mann mit einer roten Strickmütze. Er hielt mit beiden Händen eines seiner Knie umklammert, der Fuß schwebte in der Luft. Er sitzt da wie ein junges Mädchen.
Die Anwesenheit eines Anderen brachte die Zeit wieder in Gang. Wie spät ist es? Halb 4. Und wieder der Schrecken, der gegen die Bauchwand schlägt. Ich bin nicht dort, wo ich sein sollte, wo ich zu sein versprochen habe, aber Gabriella hat noch nicht angerufen, was soviel bedeutet, dass sie Bescheid weiß. Ihre große, familiäre Freundlichkeit, wenn sie jemandem das erste Mal begegnet (und Neugierde: erzähl mir alles!) ist auf Marlenes Schläue getroffen, die, wenn es sein muss, eins und eins zusammenzählen kann. Vielleicht hat sie sich auch Francesco offenbart oder Francesco hat sie ausgefragt und es dann Gabriella weitererzählt, egal wie, wir können davon ausgehen, dass mittlerweile alle alles wissen, weil das hier so läuft. Unter normalen Umständen wäre die Gruppe schon wieder weitergezogen vom Agriturismo zum letzten Etappenziel in der Alcantara-Schlucht, aber vielleicht ohne Marlene, die immer noch dort ist und auf ihn wartet. Zuzutrauen wäre es ihnen. Wir setzen unsere Hoffnung auf Daggi, die einigermaßen vernünftig zu sein scheint, vielleicht hat sie Marlene dazu überredet, ihre Kontaktdaten zu hinterlassen und ansonsten ihren Urlaub fortzusetzen, als wäre nichts oder jedenfalls nichts Weltbewegendes geschehen.
Eine Böe Fäulnisgeruch erhob sich und schlug Darius Kopp ins Gesicht. Die Exkremente, der Müll, das Meer selbst mit seinen lebenden und toten Kreaturen. Plötzlich ist nichts mehr gut. Jemand, der dich bei deinem alten Namen kennt, taucht auf und mit einem Mal gibt es zu allem eine Frage. Was du hier eigentlich machst? Seit wann und wie lange noch? Gefällt es dir? Ja, alles bestens. Ich bin von Frauen umgeben, wie immer schon. Ihr habt nie verstanden, was ich an ihr gefunden habe, nun, ich könnte vieles nennen, aber sagen wir dieses eine: vor ihr brauchte ich keine Angst zu haben.
(Wovon redest du, Bruder/Sohn? Was redest du für einen Blödsinn, wieso keine Angst haben, vor wem hast du Angst, wieso hast du überhaupt Angst, du bist ein erwachsener Mann, ich muss mich auch damit abfinden.)
Sinnlos. Mit so etwas brauchst du nicht anzukommen.
Und Gabriella?
Du hättest dir schon längst etwas Eigenes suchen sollen. Francesco wäre bestimmt behilflich, aber du bist zeit deines Lebens träge gewesen. Auf dem Schild deines Wappens wäre nichts als eine einzelne Sänfte. Als Umrandung evtl. Weinblätter. Das ist die Wahrheit. Und nun? Marlene könnte man aussitzen, aber danach wäre immer noch Gabriella da. Die ersten 6 Wochen waren märchenhaft. Aber ab jetzt wird es richtig hässlich, ich spüre das.
Er war längst satt, aber weil vom Brot noch drei Bissen übrig waren (man könnte es den Fischen geben, aber das fiel ihm nicht ein, stattdessen:), riss er mit den Zähnen etwas davon ab. Zu wenig Speichel, er schluckte mit Anstrengung. Der Brotklumpen quälte sich durch die Speiseröhre, schmerzhaft. Er versuchte zu fluchen, ging nicht, massierte sich das Brustbein, aber das steigerte den Schmerz nur noch. Er schlug sich mit der Faust gegen die Brust, das brachte nichts, er hustete, noch schlimmer, versuchte zu würgen, ging nicht. Eine große, schwarzrote Hitze breitete sich in ihm aus. So etwas Dummes auch. Ich werde doch nicht an einem dreckigen Strand an Pizza bianca ersticken!
Wasser?
Der alte Mann mit der roten Mütze stand neben ihm, reichte ihm eine Halbliter-Wasserflasche. Offensichtlich hatte er schon daraus getrunken, es fehlte etwas und fettige Fingerabdrücke waren zu sehen. Kopp schüttelte den Kopf, aber dabei griff er schon nach der Flasche. Seine Hand war vor Schweiß rutschig. Das Schlucken war hakelig und noch ein Stück schmerzhafter als alles zuvor, aber es ging, er konnte schlucken. Besser. Ich bekomme wieder Luft.
Grazie, sagte Kopp und gab dem Alten wieder, was noch übrig war (nicht viel).
Haben Sie es mit dem Herzen? fragte der alte Mann mit starkem deutschen Akzent.
Kopp starrte ihn an.
Der Alte trug ein Damenkopftuch um den Hals. Du siehst es und weißt, woher er das hat.
Tatsächlich war der alte Mann Deutscher. Aus Itzehoe. Hatte 40 Jahre lang ein Optikergeschäft in Catania betrieben. Im einundvierzigsten Jahr starb seine Frau, das war im Januar letzten Jahres, und im April wurde bei ihm Magenkrebs diagnostiziert.
Ich hatte niemanden mehr, der mich pflegt. So habe ich mir das nicht vorgestellt.
Aber er hat überlebt, wie man sehen kann. Er hat nur noch das obere Viertel seines Magens, aber manche leben ganz ohne. Unter seiner roten Strickmütze schien er auch wieder Haar zu haben. Und was ist deine Geschichte?
Ich bin seit 2 Jahren verwitwet und seit einem Jahr hier.
Schaut mich an, ob ich ihn verarsche.
Ist das wahr?
Ja.
Wo wohnst du?
In Palazzolo Oliveto.
Sagt ihm nichts. Ein Name unter Tausenden.
Was machst du da?
Tourismusbranche.
Lebst du allein?
Nein.
Eine Sizilianerin?
Ja.
Er, für seinen Teil, sei nicht freiwillig allein, sagte Itzehoe, er hätte gerne eine Frau an seiner Seite auf seine alten Tage, jemanden, der ihm beisteht, aber es sei schwierig, weil er keine Sizilianerin möchte.
Was soll man dazu sagen, am besten nichts, vielleicht haben wir Glück, und er führt das nicht weiter aus. (Wir haben.)
Wohnen Sie hier? fragte Kopp und deutete mit dem Kopf zur Sommerhaussiedlung. Er ging eigentlich nicht davon aus.
Aber doch, der Alte hatte hier ein Haus. Seit der »Sache« ist er mehr hier draußen, als in der Stadt. Viele benutzen ihre Häuser nur im Sommer, manche nur im August, was für eine Verschwendung. Ich würde am liebsten immer hier sein, die Stadtwohnung habe ich eigentlich nur, weil ich so viele Sachen habe, von denen ich mich nicht trennen kann. Ich sammle Antikes.
…
Willst du mein Haus sehen? Ich habe es selbst gebaut.
Ja, sagte Kopp. Warum nicht? Ich meine: gerne. (Wie spät? Vier Uhr. Ab jetzt ist es besser, wenn du so spät wie möglich auftauchst.)
Sie stiegen in die Siedlung hoch. Der Alte weiß, wo es zwischen den Grundstücken die Schleichwege gibt. Hoffentlich finde ich das Auto je wieder.
Zwischen all den schönen und unschönen, großen Anwesen war seins eine winzige Hütte aus Feldstein. Etwa das Gleiche wärst auch du in der Lage mit deinen eigenen Händen zu errichten. Sie gingen nicht vorne hinein, sondern über die dem Meer abgewandte Seite. Die Tür war innen mit einer Decke verhängt, sicher, um die Zugluft abzuhalten. Dadurch wurde allerdings der Flur so dunkel, dass sie für einen Moment wie in einem unterirdischen Gang standen. Der Alte machte Licht und führte Kopp zwischen zwei winzigen Schlafräumen (vermutlich, auch dunkel) in eine größere, helle, der Meerseite zugewandte Wohnküche. Das Meer war nicht zu sehen, nur das Haus gegenüber, aber dahinter war es irgendwo. Ein großer Tisch, eine veritable Tafel nahm beinahe die ganze Küche ein, rundherum blieb ein schmaler Rand, so dass man gerade noch herumgehen konnte. Auf dem Tisch: die Reste eines größeren Mahls. Schmutzige Teller, Gläser, Servietten, Brotrinden. Auch das Abwaschbecken war mit Geschirr voll.
Den Tisch habe ich auch selbst gebaut.
Zuerst hatte Itzehoe einen Tisch aus einer Tür gebaut, aber der war zu klein. Dieser hier bestand aus verleimten Brettern unterschiedlicher Herkunft, die massiven X-Beine waren aus weggeworfenen Balken. Itzehoe hob das bestickte Tischtuch (vom Flohmarkt) an, damit Kopp das Holz sehen konnte.
Itzehoe braucht den großen Tisch, weil er gerne kocht, besonders, seitdem er selbst nur noch wenig essen kann. Leider ging es diesmal schief, nicht das Essen, das Essen war wohl gut, die Menschen sind es, die merkwürdig sind.
Ich habe Freunde aus Catania eingeladen, die selbst kein Sommerhaus an der Küste haben. Ich habe für sie eingekauft und sie bekocht, aber sie waren kein kleines bisschen dankbar, noch während sie an meinem Tisch saßen, kam es zum Streit (worum es dabei ging, verriet er nicht), und schließlich sind sie gegangen, haben alles stehen und liegen gelassen und sind davongebraust. So sind die Leute. Ich werde es nie verstehen.
Darius Kopp nickte.
Itzehoe sah den Tisch an, als wäre er ratlos, was er jetzt mit all dem anfangen sollte.
Ich kann beim Aufräumen helfen, sagte Darius Kopp. (Das ist tatsächlich etwas, das ich kann. Ich tue ihm Gutes, und es vergeht etwas Zeit.)
Der Alte zögerte, das Angebot schien ihn zu verwirren, vielleicht hatte er auch schon bereut, mich hergebracht zu haben oder wußte selber nicht mehr, was, warum. Aber dann nickte er.
Der Boiler müsste gehen.
Er ging tatsächlich, das Wasser wurde sehr heiß. Oder es fühlte sich so an, weil die Luft ziemlich kalt war. Eine Feldsteinhütte ohne Heizung. Ob es in den Schlafräumen irgend eine Wärmequelle gab? Oder gab es nur diesen Herd hier? Ob er im Winter in der Küche schläft? Kein Platz.
Das Wasser im Spülbecken dampfte, Kopp wusch schweigend ab, der Alte saß auf einem Stuhl hinter ihm, und weil er so still war und das Geschirr klapperte, vergaß Darius Kopp ihn und seine Schwester fiel ihm wieder ein. Ich war 17 und wusch ab, sie war 3 und saß hinter mir auf dem Töpfchen. Darius Kopp biss die Zähne zusammen. Ich wäre gerne diese Erinnerung los, diese schreckliche, stinkende Erinnerung, dabei war ich dort, damals, nicht unglücklich. Ich fand’s normal, das war eben unser Leben. Man wurde zu einem beliebigen Zeitpunkt auf das Töpfchen gesetzt und durfte erst aufstehen, wenn etwas drin war, und sie blieb dabei fröhlich und plapperte vor sich hin, und ich hörte nicht zu, ich hörte dem Geschirr zu, ich war nur noch zu Besuch dort, 7 Stunden Zugfahrt hin, 7 zurück, dazwischen sogenanntes Familienleben, vor allen Dingen Essen und nach dem Essen muss man abwaschen. Wie spät ist es? Gabriella hat eine Spülmaschine, aber erst seit einigen Jahren, wie sie nicht müde wird zu betonen.
Irgendwann war alles Schmutzige wieder sauber. Itzehoe sagte, es sei noch Wein da, von den Gästen. Kopp nickte. Der Rotwein war sehr kalt, er schmeckte köstlich.
Die Fenster habe ich auch auf der Straße gefunden, sagte Itzehoe.
Kopp nickte anerkennend.
Das eine Schlafzimmer war doch kein Schlafzimmer, sondern eine Werkstatt. Itzehoe zeigte Kopp, woran er gerade arbeitete. An einer Tür. Er schliff sie ab. Was er danach mit ihr machen würde, wußte er noch nicht. Die Leute haben sie einfach auf die Straße geschmissen.
Kopp sah sich alles an, als würde es ihn interessieren. Ein alter Schrank stand zerlegt an die Wand gelehnt, die Teile auf der Rückseite durchnummeriert, und in einer Ecke lag eine Matratze.
Dort hätte ich geschlafen, sagte Itzehoe. Ich habe meinen Gästen mein Schlafzimmer überlassen. Das Bett ist frisch bezogen. Aber sie sind gegangen.
Tut mir leid, sagte Kopp.
Itzehoe sprach wieder darüber, dass er gerne jemanden hätte, der ihm zur Seite stand, mit den schweren Antiquitäten und generell, aber, wie gesagt, es ist nicht einfach, jemanden zu finden.
Kopp nickte abermals.
(Er taxiert mich, als wäre ich selbst eine Tür oder ein Fenster, das jemand auf die Straße gestellt hat. Mein Vater ist gelernter Schlosser, aber wir haben nie irgend etwas zusammen geschraubt.)
Sie kamen auf Berlin zu sprechen, dass Kopp von dort kam, dass Itzehoe in den Sechzigern für einige Jahre dort gewohnt und Clubs besucht hat. Das waren schöne Zeiten. Kopp konnte es sich vorstellen.
Ich war jetzt seit über 50 Jahren nicht mehr in Deutschland, sagte Itzehoe. Über 50 Jahre. Ich habe mittlerweile fast dreimal soviel Zeit woanders zugebracht.
Wau, sagte Kopp. … Planen Sie, noch einmal hinzufahren?
Nein, sagte Itzehoe überraschend bestimmt. Was soll ich da? Ich denke, ich werde hier sterben. Irgend jemand wird mich begraben, und das war’s dann.
Zeit, für mich zu gehen, dachte Darius Kopp. Die Mundwinkel des Alten wiesen strikt Richtung Erde. Die Abende mit ihm sind vermutlich nicht die fröhlichsten. Kurioserweise übte gleichzeitig die Matratze in der Werkstatt eine Anziehungskraft auf Kopp aus. Auch diese frisch bezogen. In diesem Moment klingelte Kopps Telefon.
Verzeihung, sagte Kopp und trat aus der Werkstatt wieder in die Küche zurück.
Es war Gabriella.
Kopps rechter Zeigefinger drückte die Taste mit dem grünen Hörer.
Na?, sagte sie statt eines Grußes.
Ihre Stimme, die kaum unterdrückte spöttische Freude darin, verriet, was Kopp bereits vermutet hatte: sie wußte alles.
Na?, sagte er.
Sie, glucksend: Traust du dich nicht nach Hause?
Dieser Satz mit dieser Stimme gesprochen. Er biss die Zähne aufeinander. So konnte er natürlich nicht antworten, aber was sollst du zu so etwas auch sagen?
Sie ist weg, sagte Gabriella, jetzt wieder etwas normaler. Sie hat ihre Adresse hiergelassen und ist mit den anderen weggefahren. Sie war sehr freundlich und traurig. … Und du? Wo bist du?
Jetzt mit Besorgnis in der Stimme. Sie ist öfter nervig als nicht, aber sie ist nicht seine Feindin, das solle man sich fairerweise vor Augen halten.
Kopp fummelte an der Schiebetür der Küche. Sie aufmachen, hinaustreten in den Vorgarten.
Ich fange gleich mit dem Abendessen an, sagte Gabriella.
Kopp schaffte es, die Tür mit einer Hand aufzubekommen, allerdings um den Preis, dass irgendein kleines Plastikteil herunterfiel. Keine Ahnung, wo das hingehört. Es blieb auf der obersten der drei Stufen, die zum Vorgarten hinunterführen, liegen. Im Garten zwei Aloe vera, rechts und links. Das Meer kann man nicht sehen, aber hören. Vielleicht ist dieses Rauschen das Meer.
Sie, am Telefon: Hallo? Wo bist du?
Er: Am Meer.
Jetzt schwieg sie. Abgesehen von den Aloen bestand Itzehoes Vorgarten nur aus Unkraut. Die Sonne ging langsam unter. Unkraut bei Sonnenuntergang.
Ich habe die Lampenfassung gekauft, sagte er ins Telefon.
Oh, sagte sie. Gut.
Ich fahre bald los, sagte er.
Gut, sagte sie. Freundlich.
Ich werde vermisst, sagte Kopp zu Itzehoe, der hinter ihm stehen geblieben war. Als Kopp von der Treppe zum Vorgarten wieder in die Küche zurücktrat, sah Itzehoe das kleine Plastikteil auf der obersten Treppenstufe. Es durchzuckte ihn, er schaute Kopp aus empört funkelnden Augen an. (Habe ich die Tür etwa kaputt gemacht? Ich werde doch wohl nicht die Tür kaputt gemacht haben?)
Tut mir leid, sagte Kopp und lächelte. Ich muss jetzt gehen. Vielen Dank für alles.
Er schob sich an Itzehoe vorbei, als hätte er es eilig, hinein ins Dunkel des Flurs, nach der Decke getastet, hoffentlich geht diese Tür ohne Probleme auf, tut sie, Darius Kopp schlüpfte mit eingezogenem Kopf ins Freie. Itzehoe hinter ihm hatte sich, den Geräuschen nach zu urteilen, nicht von der Stelle gerührt.
Als Kopp über die engen Wege zwischen den Feldern auf den Agriturismo zuholperte, war gerade soviel Restlicht am Himmel übrig, dass er das weiße Rauchhaar aus dem nördlichen Krater noch ausmachen konnte.
Etwas mehr als ein Jahr später, an einem Tag Mitte Juli, erwachte Darius Kopp mit dem Gesicht zur Wand gedreht auf einer Matratze in der fensterlosen Ecke des Wohnzimmers. Der Wand entströmte Kälte und Modergeruch, er drehte sich weg. So sah er das Sofa vor sich. Das hölzerne Bein des Sofas und Teppichfransen. Staub war nicht zu sehen, aber er war natürlich da. Jenseits des Sofas ein Couchtisch aus Rauchglas, daneben ein Ohrensessel, daneben ein Beistelltischchen, dahinter, an der Wand entlang, Regale und ein metallener Blumenständer mit abblätternder, buttergelber Farbe. Auf dem Boden diverse Teppiche und Läufer, teilweise überlappend, vor dem Fenster in einem schmaler Streifen Bodenplatten aus Kokosfasern. Die Fenster standen offen, die Spaletten waren zu.
Kopp kurvte – vorsichtig, nicht den Zeh stoßen – zwischen den Möbeln zum Fenster. Spaletten auf. Das gibt ein Geräusch, das im ganzen Hof zu hören ist. Dritter Stock, hinterer Teil des Gebäudes. Im Innenhof stehen Oleander und Opuntien in Kübeln, daneben Näpfe für die Katzen und der Wäscheständer der Nachbarin im Erdgeschoss. Steif getrocknete Küchentücher.
Kopp fand die Sandalen mit den abgetretenen Fersen, die er im Haus trägt, schlüpfte im Laufen nach und nach hinein, ging in die Küche, stellte die Waschmaschine an, ging ins Bad, kam wieder zurück in die Küche. Die Tür zum Schlafzimmer war zu. Schlafzimmer, Küche und Bad haben Fenster zu der Straße hinter dem Haus, wo die Mülltonnen stehen. Sie werden jeden Tag gegen Mitternacht geleert, alles andere wäre bei dem Klima mörderisch.
Kopps mit Ruhe ausgeführte morgendliche Routinen dauern genau so lange, wie die Waschmaschine für einen Durchlauf braucht. Er füllte die Wäsche in einen weißen Plastikeimer und verließ die Wohnung. Am vierten Stock vorbei, dann noch eine halbe Etage bis zur Dachterrasse. Das Meer ist nur vier Querstraßen entfernt, man kann es nicht sehen, aber manchmal riechen. Kopp atmete tief ein. (Nein, heute nicht. Ein wenig Aschegeruch. Als wär’s vom Berg. Aber das ist unwahrscheinlich.) Er ging um den Schornstein herum, dort sind die Trockenseile gespannt. Er nahm die Bettwäsche ab, die dort hing, und hängte stattdessen zwei weiße Hosen und zwei weiße Poloshirts auf. Die getrocknete Wäsche roch nach Marsala-Seife, Salz- und Stadtluft. Er legte sie in den Liegestuhl, den normalerweise er benutzte. Zwei Segeltuchliegestühle, ergrautes Weiß mit ausgeblichenen blauen Streifen, mit dem Rücken zum Schornstein. Je nach Tageszeit im Schatten oder nicht. Neben dem, den normalerweise nicht Kopp benutzt, zerdrückte Stummel von selbstgedrehten Zigaretten, dort riecht das Segeltuch dezent nach Tabak- und Marihuanarauch.
Kopps Mitbewohner, der diese Woche das Schlafzimmer für sich haben darf, hat von seinen Eltern den Namen Metin bekommen, aber hier nennt man ihn Matteo, wie man auch Kopp Dario nennt, das ist nur natürlich. Unmittelbar nachdem seine Schwester bei ihm aufgetaucht war, wandte sich Kopp an seinen Freund und Helfer Francesco und sagte: Francesco, ich danke dir, dass du mich zu Gabriella gebracht hast, als ich weder Geld noch ein Obdach hatte, aber jetzt wäre ich dir dankbar, wenn du mich wieder von ihr wegbringen könntest. Er hoffte auf eine Anstellung bei den Ätna-Touren, aber es wurde ein Job an einer Pizzatheke in Catania daraus, das ist auch gut. An die Wohnung kam er ebenfalls durch Beziehungen, namentlich über den alten Mann, den er an einem denkwürdigen Tag am Meer kennenlernte und den er seitdem auch Aug in Auge bei dessen Beinamen Itzehoe nennt. Itzehoe wohnt die meiste Zeit in seiner Hütte (er sagt: Landhaus) am Meer, derweil Kopp seine Stadtwohnung mit dem gesammelten Trödel (er nennt sie Antiquitäten) hütet. Vier winzige Zimmer, davon zwei bis auf den letzten Quadratzentimeter mit altem Kram vollgestellt. Diese Lagerräume mit dem Staub und den Schimmelpilzsporen sind nicht gut für Kopps Asthma, er betritt sie so gut wie nie, dafür ist das Dach am frühen Morgen wie am späten Abend unbezahlbar.
Matteo arbeitet in der Pizzeria wie Kopp, aber nicht vorne am Ofen, sondern hinten in der Küche, wo man ihn nicht sieht. Erst hatte er in irgendeiner sündhaft teuren Massenunterkunft gewohnt, bis er sich Kopp anschloss, der nichts für das Mitwohnen verlangte, was sollte ich dafür auch verlangen. Anfangs dachte Kopp, wenn Itzehoe zu Besuch in seiner eigenen Wohnung kommen würde, würde Matteo ohnehin wieder ausziehen. Er zog auch aus, aber sobald Itzehoe zurück ans Meer gefahren war, kam Matteo einfach wieder und so läuft es seitdem. Zum Glück hat Itzehoe immer etwas zu schleppen und ruft an, bevor er kommt, um sicher zu gehen, dass Kopp da sein würde, um ihm zu helfen, so kann Matteo rechtzeitig von der Bildfläche verschwinden. Unsportlich heißt nicht schwach, Darius Kopp hat Muskelkraft, er nimmt Itzehoe massive Türen aus der Hand, die dieser irgendwo auf dem Sperrmüll findet – es ist besser, wenn der alte Mann nicht auch noch daran herumzerrt – und trägt sie, wohin sie getragen werden müssen, bezieht das Bett im Schlafzimmer für den Hausherrn neu, legt sich selbst auf die Matratze im Wohnzimmer, steht am nächsten Morgen früh auf, geht zur nächsten Bar und holt Itzehoe sein Puddingteilchen zum Frühstück. All das kostet mich doch nur ein Lächeln.
Kopp hat, dank der Ofenhitze und viel eisgekühlten Wassers, im Laufe des letzten Jahres fast 20 Kilo abgenommen, während die jungen Burschen von der ewigen Pizza, aber vor allen Dingen von der Cola, die sie dazu trinken, allesamt teigiger werden. Darius Kopp liebt Cola ebenso und auch Alkohol, aber in den letzten zwei Jahren hatte er fast nur Wasser getrunken und nur wenig Wein, ich weiß auch nicht, wie es dazu gekommen ist. Anfangs, bei Gabriella, wollte er Trunkenheit möglichst vermeiden, und später? Ich weiß auch nicht. Es ist etwas Mönchisches in mein Leben gekommen, das ich nie vermutet hätte. Ich habe sogar gelernt, sauber und ordentlich zu sein. Im Gegensatz zu Matteo, dem man hinterherräumen muss. Als wäre er mein Sohn.
Auf dem Dach ertönte Musik. Genauer gesagt, etwas darunter. In der zweiten Etage des Hauses gegenüber wohnt ein alter Mann, der Akkordeon spielt. Öffnet das Fenster und beschallt die ganze Straße hinter dem Haus. Die Straße ist eng, es ist ausgeschlossen, dass er nicht weiß, wie laut das widerhallt. Es ist ihm egal oder er will es so, der Widerhall gehört zu seiner Freude an der Musik dazu. Wenn Itzehoe da ist, schimpft er darüber unflätig. Im Haus neben dem Akkordeonisten wohnt eine Ungarin mit zwei Katzen. Itzehoe hat was bei ihr versucht, seitdem hasst er auch sie.
Wenn der alte Mann Akkordeon spielt, heißt das, es ist 8 Uhr, aber mittlerweile wüsste das Kopp auch anhand des Lichts zu sagen. Wenn es so hell ist, dass einen ohne Sonnenbrille die trocknende Wäsche blendet, dann ist es 8 Uhr und Zeit, das Dach zu verlassen.
Der Fußweg zur Pizzeria dauert 20 Minuten. Der Besitzer heißt Salvatore, er ist etwas kleiner als Kopp und dicker, als er es je war. Er leidet physisch darunter, er schnauft. Er ist ständig genervt, sein Umgangston bewegt sich auf einer Skala zwischen ruppig und grob. Die Donna, mit Namen Luisa, eine Verwandte von Francesco oder dessen Frau Dora, ist die meiste Zeit freundlich. Zumindest Kopp gegenüber. Weil ich in ihrem Alter, und weiß, und, wer hätte das je erwartet, attraktiver als ihr Mann bin? Mit meinen großen, blauen Augen. O, partigiano,sang Luisa eines Morgens, als er sich ein rotes Tuch um den Kopf band, damit ihm der Schweiß nicht in die Augen lief. (Aber statt des »portamivia«, des »nimm mich mit« summte sie nur noch.) Un partigiano tedesco? Nun ja. Das rote Kopftuch ist zu unserem Markenzeichen geworden. Ein einfaches Baumwolltuch, zu einem Dreieck gefaltet, die Spitze hinten unter den Knoten gesteckt. Wenn die Haare dort zu lang werden, ziept es. Blond mit Grau. Ich muss mal wieder zum Frisör. Und mich Dottore nennen lassen. Ob es nur wegen der Brille ist? Necken sie mich, weil sie mich als dazugehörig empfinden oder im Gegenteil? Kopps Italienisch ist nicht gut genug, um das herauszuhören und auch was Gesten und Mimik anbelangt, kommt er woanders her. Mit den Einheimischen und Matteo spricht er fehlerhaftes, mit Englisch gemischtes Italienisch, mit Itzehoe Deutsch, mit den Jungs in der Küche simple English.
Die Jungs in der Küche sind, neben den Köchen, einem Neapolitaner und einem Sizilianer, Matteo und ein weiterer Küchenhelfer aus Mali im Wechsel mit den Zwillingen aus Äthiopien, die keine Zwillinge sind, nur Brüder. Halbbrüder. Gemeinsamer Vater, wie Matteo nach kurzer Zeit herausgefunden hat. Der eine ist nur ein halbes Jahr älter als der andere.
Ich kenne auch so jemanden, sagte Kopp. Oder kannte. Zu Hause. Einen Freund von mir. Da sind nur 3 Monate dazwischen.
Matteo nickte weise. So etwas kommt vor.
Apropos Zuhause. Matteo war schon einmal in Frankfurt am Main, aber wie ist Berlin? Ist es gut in Berlin?
Ich mochte es, sagte Kopp und zuckte mit den Achseln.
Und dann mochtest du es nicht mehr?
So würde ich es nicht sagen. Es spielten andere Dinge eine Rolle.