Die Liebe unter Aliens - Terézia Mora - E-Book

Die Liebe unter Aliens E-Book

Terézia Mora

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem Georg-Büchner-Preis 2018.

Ein Ausflug ans Meer soll ein junges Paar zusammenführen. Ein Nachtportier fühlt sich heimlich zu seiner Halbschwester hingezogen. Eine Unidozentin flieht vor einer gescheiterten Beziehung und vor der Auseinandersetzung mit sich selbst. Ein japanischer Professor verliebt sich in eine Göttin.

Kunstvoll erzählt Terézia Mora in »Die Liebe unter Aliens« von Menschen, die sich verlieren, aber nicht aufgeben, die verloren sind, aber weiter hoffen. Wir begegnen Frauen und Männern, die sich merkwürdig fremd sind und zueinander finden wollen. Einzelgängern, die sich ihre wahren Gefühle nicht eingestehen. Träumern, die sich ihren Idealismus auf eigensinnige Weise bewahren. Mit präziser Nüchternheit spürt Mora in diesen zehn Erzählungen Empfindungen nach, für die es keinen Auslass zu geben scheint, und erforscht die bisweilen tragikomische Sehnsucht nach Freundschaft, Liebe und Glück.

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Buch:

Ein Ausflug ans Meer nimmt für ein junges Paar eine unerwartete Wendung. Ein Nachtportier fühlt sich heimlich zu seiner Halbschwester hingezogen. Ein japanischer Professor verliebt sich in eine Göttin.

Terézia Mora erzählt von Menschen, die sich verlieren, von Frauen und Männern, die zueinanderfinden wollen und sich merkwürdig fremd bleiben. Mit präziser Nüchternheit spürt sie in jeder der zehn Erzählungen Empfindungen nach, für die es scheinbar keinen Auslass zu geben scheint. Schildert Einzelgänger und Träumer, die sich ihren Idealismus auf eigensinnige Weise bewahren und sich auf die bisweilen tragikomische Suche nach Freundschaft, Liebe und Glück machen.

Autorin:

Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren. Sie lebt seit 1990 in Berlin und gehört zu den wichtigsten deutschsprachigen Autoren. Für ihren Roman »Das Ungeheuer« erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Bereits 1999 sorgte sie mit ihrem literarischen Debüt, dem Erzählungsband »Seltsame Materie«, für Furore. Für diese Erzählungen wurde sie u.a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien bei Luchterhand der Band »Nicht sterben« mit ihren Frankfurter Poetikvorlesungen. Terézia Mora zählt außerdem zu den renommiertesten Übersetzern aus dem Ungarischen.

Terézia Mora

Die Liebe unter Aliens

Erzählungen

Luchterhand

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Copyright © 2016 Luchterhand Literaturverlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: buxdesign | Münchenunter Verwendung eines Motivs von Collage von plainpicture/Gallery Stock/Matthias BuchholzSatz: Uhl + Massopust, AalenAlle Rechte vorbehalten.ISBN 978-3-641-20041-1V003
www.luchterhand-literaturverlag.dewww.facebook.com/luchterhandverlagwww.twitter.com/luchterhandlit

Fisch schwimmt, Vogel fliegt

Der junge Mann war vielleicht 18, der alte ist gar nicht alt, er ist erst 57, er sieht nur aus, wie manch anderer mit 75. Alt gewordenes herzförmiges Kindergesicht. Ehemals große Augen und ein spitzes Kinn, Nasolabialfalten und Krähenfüße, aber so welche, die seitlich am Gesicht hinunterfließen, als hätte ein stetes Rinnsal (wir wollen nicht sagen: aus Tränen) sein Bett in die Haut gegraben. Mit zarter Hand so lange darüber streichen, bis sie weggehen. Falten gehen niemals weg. Streicheln ist dennoch niemals unnütz, aber der Mann, der älter ist, als er aussieht, hat niemanden, der bzw. die ihn streichelt. Es gibt einige Menschen, denen er entfernt bekannt ist, diese nennen ihn Aug in Auge Hellmut, hinter seinem Rücken Marathonmann. Leute aus der Nachbarschaft, die man sporadisch trifft, zum Beispiel beim Mittagstisch in einer traditionellen Eckgaststätte (von denen es immer weniger gibt etc.). Dort wechselt man einige Worte, nichts Tieferes. Marathonmann antwortet ohnehin nur, wenn er gefragt wird, höflich und meist knapp. Ein Pensionist der Bahn, ein ehemaliger Schaffner, warum frühverrentet, keiner fragt. Er tut nichts Benennbares, dennoch ist klar, dass er ein Sonderling ist, und obwohl das kein offiziell anerkannter Grund für eine Frühverrentung ist, nehmen alle an, dass es etwas damit zu tun hatte. Er kommt nur zum Mittagstisch, wenn es Königsberger Klopse gibt, etwas anderes hat er hier noch nie gegessen. Den Rest seiner Tage lebt er von Kartoffeln mit Quark oder Speck. Als Dessert arme Ritter. Vielleicht muss er sparsam sein, vielleicht ist es seine Passion. Vielleicht fühlt er sich in seinen grau verwaschenen Lumpen einfach wohler, als er es in sogenannter ordentlicher Kleidung täte. Er scheint nicht unglücklich zu sein. Das Gesicht eines traurigen Clowns, aber traurig ist er nicht. Ein lächelndes Hutzelmännchen in zu kurzen Hosen und einer grauen Mütze, die er, abgesehen von 30-Grad-Hitzetagen, jeden Tag des Jahres trägt. An den wenigen 30-Grad-Hitzetagen, die es hier gibt, trägt Marathonmann ein Vogelnest aus graublondem Haar auf dem Kopf, das aussieht, als hätte er lediglich die Mütze gewechselt. An dem Tag, um den es hier geht, ist Marathonmann mit Mütze unterwegs, grau in grau, der Einkaufsbeutel in seiner Hand hingegen ist kanarienvogelgelb. Der Boden des Beutels ist etwas schmutzig. Im Stoffbeutel, in eine Ecke gerutscht: Portemonnaie und Schlüsselbund. Warum er Portemonnaie und Schlüsselbund (vier Schlüssel: Tor, Briefkasten, Wohnung, Kellerverschlag) im Stoffbeutel trägt, wo doch seine graue Jacke drei Taschen hat, davon eine Innentasche: ein Rätsel. Das heißt: er trägt sie so, weil er arglos ist. Weil er sich in seinem Stadtteil, auf seiner Straße, in der er seit 57 Jahren wohnt, einkauft usw., sicher fühlt. Er schwenkt den Beutel sogar ein wenig, und vielleicht pfeift er auch vor sich hin. Letzteres ist nicht verbürgt, die Straße ist voll und laut, und Marathonmann spitzt häufig die Lippen, beim Zuhören, beim Nachdenken. Ich denke nach, sagt er. Und sogar: ich träume. Entschuldige, was hast du gesagt, ich war in Gedanken gewesen/ich habe geträumt. War gewesen. Und: Entschuldige. Bevor er den Spitznamen Marathonmann bekam, nannte man ihn den Träumer. Wer? Der Höfliche. Ach, der.

Vom jungen Mann sind nur die Kleidung und das Aussehen überliefert, und auch das nur ungenau, dabei kam er nicht, wie man annehmen könnte, von hinten. Er kam von vorne, sie sahen sich sogar kurz ins Gesicht, ein junges, glänzendes, mit dicken schwarzen Augenbrauen, und ein altes, graues, spitzmündig schmunzelndes, und dann, als sie auf gleicher Höhe waren, duckte sich der Junge, entriss dem Alten den Beutel und rannte davon.

Die Sekunden, um zu begreifen, die Sekunden, das Gleichgewicht wieder zu erlangen, sich umzudrehen. Der Junge, nicht sehr groß, dafür wendig und schnell, ist in der Zeit schon an zwei Mietshäusern vorbei. Er macht große Sätze, er weiß von sich, dass er ein schneller Läufer ist, deswegen hat er auch diese Strategie gewählt, aber ist er auch ausdauernd? Besser, er wäre es, denn, was er nicht weiß, nicht wissen kann, ist, dass Marathonmann nicht aus Jux und Dollerei so heißt, wie er heißt. Er wird nicht etwa mit dem Gegenteil dessen geneckt, was wirklich auf ihn zutrifft, nicht der Glatzkopf, der Locke genannt wird. Marathonmann hat im jungen Alter von 6 Jahren seinen ersten Wettlauf absolviert und haushoch gewonnen und hat seitdem Tausende von Kilometern laufend zurückgelegt, durch Wald und Wiesen, auf roter Schlacke und auf Beton, einmal sogar 24 Stunden lang, und es ist lange her, dass es ein Jahr gab, in dem er keinen ganzen Marathon lief. All das ausschließlich in Europa, denn er ist stolz darauf, niemals geflogen zu sein oder ein Schiff bestiegen zu haben. Auch Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor nur wenige in seinem Leben. Züge, weil man manchmal doch von der Stelle kommen muss und sie einem berufsbedingt billig kommen. Aber im Großen und Ganzen gilt: Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft, wie schon Emil Zátopek so richtig sagte. Emil Zátopek, so, so. Emil, sagte die Köchin des Mittagstischs, das ist ein schöner Name. Woraufhin Marathonmann bis über beide Ohren rot wurde. Natürlich hat er auch ein wenig abstehende Ohren. Die tschechische Lokomotive, sagte jemand vom Mittagstisch, und die Röte verging wieder. Das Laufen ist das Einzige, zu dem Marathonmann mehr als nur ein oder zwei Floskeln sagt, und das sogar ungefragt. Am Wochenende war ich ja in Wien zum Marathon. Und dann, en detail: mit welchem Zug er fuhr, wann und wo dieser ab- und wo er entlangfuhr und wann und wo er ankam (unter Erwähnung besonderer Bahnhofsarchitekturen), von dort aus wie zu welcher Unterkunft, wie diese Unterkunft war (einfach und bahnnah, aber man muss sich früh kümmern, ein Jahr vorher muss man sich schon kümmern), was er zu Abend gegessen, was er gefrühstückt hatte, wann er aufgestanden, wie er sich vorbereitet, wie er seine Startnummer erhalten, wie viel Startgeld er im Vorfeld entrichtet hatte, was außer der Startnummer noch im Beutel war, den jeder Läufer für sein Startgeld bekommt, wie der Beutel selbst dieses Jahr im Vergleich zu dem im Vorjahr ausfiel (mithilfe zweier Kordeln zu einem Rucksack schnürbar oder ein unverschließbares Totebag usw.), und dann, wie es bei Kilometer 10, 15, 25, 30, 35, 40 und schließlich 42,195 war, und was danach, ob es Bananen, Orangen und isotonische Getränke gratis und ob es genügend Toiletten gab undsoweiter undsofort, man kann ihn nicht abstellen, manch einer geht schon, aber einige haben immer den Schwarzen Peter und müssen bleiben, denn soviel Benehmen muss einfach ein jeder haben, der sich nicht schon vollkommen aufgegeben hat, dass er nicht einfach davongeht, wenn einer über seinen Marathonlauf erzählt, auch wenn man sich denkt, der lügt doch, das Hutzelmännchen, in deinen Träumen, Alter, in deinen Träumen, aber irgendwann musste man ihm dann doch glauben, denn, als einer mal sagte: bringst du mir das nächste Mal was mit?, brachte er das nächste Mal doch tatsächlich einen Sportbeutel, einen Regenponcho, einen Stadtplan und ein Miniradio mit und verteilte sie unter den Anwesenden.

All das kann der junge Mann nicht wissen, er verlässt sich darauf, was er von sich selbst weiß, dass er auf den ersten ein-, zweihundert Metern schnell und wendig ist und dazu waghalsig: Er passt den Moment ab, kurz bevor die Autos Grün bekommen, hechtet über die große Straße, schafft es gerade so, spürt den Fahrtwind eines unmittelbar hinter ihm vorbeirauschenden Autos im Nacken, als er zwischen die Heckenrosenbüsche springt, die die Fahrbahn vom Rad- und Fußgängerweg trennen. Er hat Glück, auf dem Radweg rast gerade keiner, er kann den Schwung mitnehmen und aus den Büschen auf den Gehweg springen, und weil er, sich auf seine Erfahrungen verlassend, denkt, dass er nun in Sicherheit ist, wird er langsamer und bleibt schließlich sogar stehen. Er schaut sich um, aber bevor er auch nur den ersten Gedanken fassen könnte, wohin von hier aus weiter, muss er sehen, dass keine zehn Meter neben ihm der Alte durch die Rosenbüsche bricht. Auch er bleibt einen Moment lang stehen, seine großen, blauen Augen erfassen den Jungen mit dem gelben Einkaufsbeutel, und dann rennen sie beide wieder los.

Sie rennen parallel zu den Autos auf dem vier Meter breiten Gehweg, der allerdings bis auf einen schmalen Streifen am Rand überwuchert ist von den Auslegern der Restaurationen und Läden, die einem so lange ihre Bänke, Aufsteller, Eiskarten, Erdbeeren, Fahrradständer und Blumentöpfe in den Weg schieben, jeden Tag einpaar Zentimeter weiter, bis man überhaupt nicht mehr daran vorbeikommt und sich mehr als zehn Leute beschweren oder jemand vom Amt sie zurückpfeift. Am Blumenladen zum Beispiel kommen keine zwei Passanten mehr gleichzeitig vorbei, ohne auf den Radweg treten zu müssen, auf dem sich auch niemand an die Einbahnregel hält und alle wie die Irren rasen, wenn sie schon das Glück haben, sich auf einer abschüssigen und relativ gut gepflasterten Straße zu befinden. Auf dieser rennen nun ein junger und ein alter Mann bergan. Kurz hinter dem Blumenladen kommt eine Ampel für den Verkehr aus den Seitenstraßen, und diesmal hat der Junge kein Glück: die Ampel ist rot und bleibt es, er rennt darauf zu, nichts, die Ampel bleibt rot, und der Verkehr rollt: im letzten Augenblick biegt er in die kleine Straße links ab.

Das verbessert seine Situation nicht besonders. Die kleine Straße ist gerade und leerer, als es die große war, er ist gut zu sehen, und sie geht steiler bergauf. Der Alte hinter ihm, zwei Häuser Abstand immer noch. Der Junge legt eine Schippe drauf, jetzt hat er vielleicht zwei Schrittlängen mehr Vorsprung. Sie rennen beide die kleine Straße bergan.

Wirf den Beutel weg! würde Marathonmann gerne dem Jungen zurufen. Das wäre die beste Lösung für beide, aber Marathonmann bringt keinen Ton heraus, öffnet den Mund, bringt aber nichts heraus, und der Junge kommt von selbst nicht auf die Idee. Er hält den Beutel fest, der ihn beim Rennen behindert, ein baumelndes Gewicht in der rechten Hand. Er biegt in die nächste Straße rechts ein. Für einen Moment verliert ihn Marathonmann aus den Augen, aber dann hat er ihn wieder, gerade, als der Junge über eine kleine Kreuzung in die nächste kleine Straße links rennt. Auch diese geht bergan, ist aber nicht mehr leer. Vor einem Lottoladen ein Stehtisch, ein Aufsteller, ein Wimpel, vor einer Restauration Tische und Stühle, noch ohne Gäste, aber es kommt eine Frau mit Kinderwagen ausgerechnet an dieser schmalen Stelle daher. Der Junge schaut sich um, bevor er auf die Fahrbahn ausweicht, und Marathonmann sieht in seinem Gesicht, dass er das nicht etwa wegen eventueller Autos getan hat, sondern um sich des Unfassbaren zu vergewissern: ihn, der ihm immer noch hinterherläuft. Das unterschiedliche Trappeln ihrer Füße auf Pflastersteinen und Gehweg. Der Junge hat Sneakers an, keine echten Sportschuhe, bald werden ihm die Ballen brennen, während Marathonmann im Alltag alte, aber noch gute Laufschuhe trägt, die heutigen sind grau mit neongelben Streifen und orangefarbener Sohle. Die Jacke allerdings ist ungeeignet, zu groß, zu schwer, Leute die in Jacken rennen, mit klappernden Schlüsseln in den Taschen. Aber in Marathonmanns Taschen klappert nichts, alles, was er bei sich hatte, hat jetzt der Junge, er rennt mit meinem Portemonnaie und meinem Schlüsselbund und vermutlich mit seinem eigenen Handy. Wenn es herausfiele, bliebe er stehen, um es aufzuheben?

Nichts fällt heraus, sie rennen weiter, vom Fahrdamm wieder auf den Gehsteig, wieder in eine kleine Straße und dann wieder auf eine große. Hier nun wieder Verkehr, Passanten, Ampeln, sogar eine Straßenbahn, der Junge wirft sich ins Gewühl, er muss etwas riskieren, wenn er den Alten abschütteln will. An einer Ecke eine Baustelle, das ist gut, oder doch nicht, nein, gar nicht gut. Der Junge rennt im Gerüsttunnel, und noch bevor er das Ende erreicht hätte, ist Marathonmann auch drin, bringt mit seinen trabenden Füßen die ganze Konstruktion zum Beben. Zwei, die in einem zitternden Holztunnel rennen. Von links kommt plötzlich auch noch eine Schubkarre aus dem Haus, der Junge weicht im letzten Augenblick aus, der Bauarbeiter flucht erschrocken, Marathonmann schreit »Verzeihung!«

Sie rennen die Straße bis zu ihrem Ende, dort ist ein Tunnel, am jenseitigen Ende beginnt schon ein anderer Stadtteil, und Marathonmann fällt ein, dass er seinen Kiez eigentlich nie verlässt, außer er läuft irgendwo einen internationalen Marathon. In den benachbarten Stadtteil dagegen geht er nie. Wacht auf, trinkt ein Glas Wasser, läuft den Hügel hinunter zum Park, wo es die Treppe gibt, auf deren Stufen jemand »DAS EINZIGE EINZIGE WORÜBER DU WIRKLICH KONTROLLE KONTROLLE HAST, IST OB DU AUFGIBST ODER AUFGIBST ODER WEITER WEITER MACHST MACHST« gepinselt hat. Er schaut sich diese Treppen gerne an (das stimmt, das stimmt), läuft aber nicht wieder hoch auf den Hügel, sondern umrundet ihn unten, auf dem 1 km-Laufkreis. Er läuft etwas außerhalb des Kreises, wo die Erde weicher ist. An einer Stelle gibt es Büsche, es führen zwei Pfade durch, an beiden sammelt sich bei Regen eine große Pfütze, es ist egal, welchen man nimmt. Marathonmanns Lieblingszahl ist die 8, so oft läuft er herum, 7 ist auch noch in Ordnung, eine magische Zahl, wenn es nur 5 werden, bedeutet das, dass er krank ist. Einmal war er so krank, dass er nur noch die Hälfte seiner selbst war: eine 4. Es ging sogar so weit, dass er dachte, es wäre besser, den Weg nach Hause nicht laufend, sondern gehend zurückzulegen, aber es war nicht besser, im Gegenteil, er hatte das Gefühl, zu sterben, hier, unter den kahlen Kronen der Bäume, also lief er lieber wieder, so war es ihm weniger schwindlig. (Es war nur eine Virusinfektion.) Was macht er den Rest des Tages? Nicht viel. Er hält die Wohnung in Ordnung, er besorgt und bereitet Essen zu, und er liest. Er besitzt einen Bibliotheksausweis, aber er geht nicht oft hin. Stattdessen nimmt er Bücher mit, die Leute in ihre Toreinfahrten zum Mitnehmen hinstellen. Unterhaltungsromane und Krimis interessieren ihn nicht. Sachbücher, Biographien, Geschichtliches. Bis zur Bröckeligkeit vergilbte Ausgaben der Stücke von Romain Rolland. Jugendromane aus den 50ern. Zwei Jungen in der Barackensiedlung. Sowas. Den Rest des Tages träumt er vor sich hin. Schaut sich die Bäume an und die Häuser. Die schönen und die hässlichen. So macht er es auch während eines Marathons. Er muss nicht gewinnen, die Zeit ist egal, er kann sich umsehen. Die schönen Häuser, die hässlichen Häuser. Wenn es nur hässliche sind, geht es mir schlecht, wenn es schöne sind, geht es mir gut. Kurz gesagt: ich bin normal. Mütterchen, du kannst beruhigt sein, ich habe den Beweis, dass ich ganz normal bin. Aber Marathonmanns Mutter ist schon seit einer Weile tot, er kann ihr nichts mehr sagen, und wenn sie noch lebte und er ihr das sagen würde, würde sie ihn ansehen, als hätte sie allen Grund, skeptisch zu sein. Wenn du solche Sachen sagst, brauchst du dich nicht zu wundern. Da brauchst du dich nicht wundern, das sagte sie im Grunde zu allem, worüber er sich wunderte oder gar nicht wunderte. Egal, vorbei. Mittlerweile wundert sich Marathonmann tatsächlich kaum mehr über etwas. Außer über diesen Jungen. Beziehungsweise über den Diebstahl. Beziehungsweise, dass er ihm am helllichten Tage auf einer belebten Einkaufsstraße zugestoßen ist. Warum ausgerechnet ich, fragt er sich hingegen nicht. Ich sehe aus wie ein alter Penner, deswegen. Nur noch Frauen, alte und junge, werden noch bevorzugter bestohlen.

Ein brennender Zigarettenstummel rollt vor ihn auf den Gehsteig. Er tritt daneben, das tut ihm fast leid. Was für eine Effektivität wäre das! Im Verfolgen noch eine brennende Kippe austreten. Einmal als Kind barfuß. Und sich gewundert, dass es brennt. Mutter ließ mich nicht an die Sportschule. Merkwürdig, dass ich schon damals wusste, dass sie Recht hatte. Hoppala, jetzt hätte er den Jungen fast aus den Augen verloren. Sieht ihn gerade noch abbiegen. Man darf sich nicht ablenken lassen, das ist ein Rennen, bei dem das Siegen zählt. Ihm hinterher, durch die Parfümwolke einer alten Dame hindurch wieder auf eine große und belebte Straße. Das kenne ich. Das war der erste Platz, an dem ich ausstieg, als die Mauer aufging. Jemand schenkte mir ein Sesambrötchen und eine Orange. Denk jetzt nicht daran. Verfolge ihn.

Das Gewusel wird immer dichter, hier gibt es mehrere Kaufhäuser und Supermärkte, dazu Imbissbuden. Man wird auf die beiden Rennenden aufmerksam, mehrere erschrecken, einer ruft empört: Hey! Ein Jugendlicher springt Marathonmann absichtlich in den Weg. Er kann die Kollision vermeiden, aber vor Schrecken entfährt ihm ein kleiner, hoher Schrei, der Jugendliche und seine Freunde johlen. Am Ende scheitert er an der roten Ampel an einem Fußgängerüberweg. Der Junge schafft es hinüber, Marathonmann nicht. Die Autos brausen bereits, er muss stehen bleiben. Er schaut über sie hinweg auf den Platz hinter der Ampel, dort ist eine Bushaltestelle, der Eingang zur U-Bahn, Bänke, Frauen, Männer und Kinder, und der Junge rennt und rennt.

Als es Grün wird, ist nichts mehr von ihm zu sehen. Marathonmann läuft trotzdem gleich wieder los, hinüber auf den Platz, über den Platz und weiter die Straße hinunter. Er wäre gern größer, um über die Köpfe der Passanten sehen zu können, aber du kannst nicht gleichzeitig laufen und größer sein, und von hier unten betrachtet hat sich die Stadt hinter dem Jungen geschlossen, wie die Zweige eines Waldes hinter dem fliehenden Wild. Um nicht Dschungel sagen zu müssen. Dennoch: Marathonmann hört nicht auf zu laufen. Ich bin noch fit, ich hab noch alles, mehr noch, ich bin gerade erst warm geworden, ich könnte das Tempo erhöhen, die Schuhe sind gut, die Jacke zu schwer, egal. Er kann nicht gehen, er muss laufen, auch wenn im Moment das Ziel nicht zu sehen ist. Marathonmann, der nichts Besonderes ist, nur eben ausdauernd. Oder einfach nicht aufgeben kann. Neulich schrieb ihm einer, den er von einem Rennen kennt, er habe ein Nachtrennen nach 35 Kilometern aufgegeben. Marathonmann hat noch nie ein Rennen aufgegeben. (Sieht man von dem Tag mit den 4 Runden ab.) Der Junge hat ihm den normalen Tagesablauf geklaut, Marathonmann kann nicht weiter einkaufen und dann nach Hause gehen, das ist es, was er nicht akzeptieren kann. Der Junge ist im Grunde egal, er will nicht ihn besiegen, nichts beweisen, ich mag zwar alt aussehen aber etc. Nein. Keine Strafe, keine Rache. Er will seine Sachen wiederhaben, weil er sie braucht, um seine tägliche Routine aufrechtzuerhalten.

Er schaut nun im Vorbeilaufen abwechselnd auf den Boden, in Toreinfahrten, Ecken, Mülleimern, ob der Junge nicht doch irgendwo den kanarienvogelgelben Beutel weggeworfen hat. Manchmal fällt ihm ein, Abstand von den Toreinfahrten zu halten, falls er dort herausspringt. Nichts, alles leer. Einmal ist ein Tor offen, man sieht bis zum 3 Hof hinein. Ganz hinten wird etwas gebaut.

Marathonmann läuft und läuft, bis er schließlich das Gefühl hat, gar nicht mehr in seiner eigenen Stadt zu sein. Unbemerkt in eine ganz andere hinübergelaufen zu sein. Alles unbekannt. Wie wenn es neblig ist und hinter der Häuserreihe gegenüber einzelne Türme aus der Suppe ragen, die du vorher so noch nie wahrgenommen hast. Als gäbe es dahinter jetzt plötzlich eine neue Stadt mit fremden Bewohnern, wie du sie manchmal in Träumen siehst. Obwohl, fremd sind die meisten auch, wenn man wach ist. Als er endgültig nicht mehr weiß, wo er sich befindet, ist Marathonmann schließlich doch bereit anzuhalten. Er sucht nun nicht mehr nach dem Jungen oder dem Einkaufsbeutel, sondern nach einer Bushaltestelle mit einem Stadtplan.

Um die 10 km. Soviel ist er laut Stadtplan gelaufen. Wie lange haben wir dafür gebraucht? Seine Uhr hat er noch. Abgesehen davon fangen jetzt Glocken zu läuten an, es ist also Mittag geworden, ohne dass Marathonmann die Sachen fürs Mittagessen eingekauft hätte. Jetzt meldet sich auch der Durst. Ohne Geld, durstig, fern der Heimat. Er denkt noch einmal an den Beutel, das Portemonnaie, den Jungen, aber es ist schon alles sehr fern. Er gibt endgültig auf. Von hier aus geht es nicht weiter, also suche den Weg zurück.

Marathonmann kennt auch außerhalb des Stammtisches und des Laufens durchaus Leute, zum Beispiel einen namens Claus, dem er sogar so weit vertraut, dass er bei ihm den Zweitschlüssel für seine Wohnung deponiert hat. Diesen Claus kennt er noch aus der Schule, aus der ersten Klasse, als man sie dem Zufallsprinzip nach nebeneinanderstellte, damit sie in Zweierreihen standen. Seit seiner Scheidung wohnt Claus etwa 1 km von der Wohnung entfernt, in der Marathonmann aufgewachsen ist und bis heute lebt. Also etwa 9 von hier aus gesehen. Man könnte eine andere Route zurück wählen, dann käme man durch einen großen Park.

Der Gedanke, durch einen Park zu laufen, beflügelt Marathonmann aufs Neue. Es hat sogar schon halb vergessen, worum es hier eigentlich ging, warum er überhaupt so weit gelaufen war. Das ist vielleicht verrückt, aber so bin ich nun einmal. Jetzt ganz auf die neuen Umstände des Laufens konzentriert. Zum Park kommen. Wann ist es zum letzten Mal vorgekommen, dass er einen Park betrat und nicht lief? Vielleicht noch nie.

Sobald er sich auf den Rückweg macht, kommt die Sonne heraus, und es hört auf, überall grau zu sein. Ein sonniger Frühlingstag. Die Bäume, der Himmel, die Fensterscheiben, die auffliegenden Spatzen. Später, im Park schon, der Boden, die Form der Blätter der kleinen Pflanzen im Rasen, von denen ich nur den Namen der Vogelmiere kenne. Löwenzahn, Schachtelhalm. Wenn das Schachtelhalm ist. Vielleicht auch nicht. Gänseblümchen. Muss sich zur Ordnung rufen, nicht so zufrieden zu sein, gefälligst, nicht so beinahe glücklich hier durch die Gegend zu traben, durch den sonnig gewordenen Tag, in seinem eigenen Atem, dem Gefühl innerhalb seines Rippenkorbs. Im Portemonnaie sind nur zwei Zwanziger (soviel steht für den Wocheneinkauf zur Verfügung), aber auch der Personalausweis, dazu der Schlüsselbund, das ist nicht witzig, nein.

Er ist fast schon wieder aus dem Park heraus, er fängt gerade an, es zu bedauern, als er ihn auf einmal erblickt. Den Jungen. Er steht in einer Gruppe mit anderen jungen Männern. Marathonmann fährt es in die Beine. Er stolpert, er spürt es in Knie und Knöchel, jetzt auch in den Fußsohlen, die Schuhe sind doch nicht mehr so gut. Dort ist eine Bank, er stolpert auf sie zu und stützt sich auf die Lehne.

Tu so, als würdest du dich nur dehnen, das wäre sowieso notwendig, das ist auch gut gegen das Zittern, das nicht vom Laufen kommt. Hält sich fest, dehnt sich nicht wirklich, später hört er sogar auf, so zu tun, er steht nur da. Um sich hinzusetzen, ist es zu kalt, aber Marathonmann könnte es auch nicht. Weder sitzen, noch gehen, noch laufen, nur dastehen kann er. Er traut sich nicht näher ran, aber weiter weg als bis zu einem Punkt, von dem aus er den Jungen jede Sekunde im Auge behalten kann, geht er auch nicht.

Und was machen die da? Sie spielen Boule. Marathonmann zählt 6 Personen. Sie spielen in Gruppen drei gegen drei. Am helllichten Montagnachmittag. 13 Partien. Das heißt: 13 ab dem Punkt, da Marathonmann anfängt, mitzuzählen. Sie spielen Boule, spielen und spielen Boule, hören nicht auf, trinken Bier dabei, holen neues Bier und Chips von einem Kiosk, reden, lachen. Marathonmann ist so durstig, dass er sich umsieht, ob es nicht eine Pfütze in der Nähe gibt. Nein. Was soll’s, so schnell verdurstet ein Mensch nicht.

Irgendwann kommt der Punkt, an dem die jungen Männer Marathonmann bemerken. Dass da schon seit Ewigkeiten einer steht und sich nicht rührt. Der Junge schaut auch herüber, wieder weg, und dann schaut er nicht wieder her, kein einziges Mal. Marathonmann wird es ganz schwindlig. Sie spielen weiter und trinken weiter Bier, der Himmel zieht sich zu, es wird minütlich kühler, aber Marathonmann spürt schon lange nichts mehr, und dann wird es wirklich dunkel, weil es schon Abend ist. Irgendwann können die da drüben gar nicht mehr sehen, wo die Kugeln liegen. Einer muss unter Gejohle mit seinem Motorroller herankommen, um zu leuchten. Mit großem Hallo gewinnt jemand, dann machen sie sich auf den Weg.

Marathonmann, der schon steif geworden ist, unbeweglicher als ein Baum, ein Baumstumpf im dunklen Park, setzt sich auch wieder in Bewegung. Er schleicht ihnen hinterher, wie ich noch nie bisher jemandem hinterhergeschlichen bin, weder in einem Park, noch anderswo.

Wird der Junge allein weggehen oder mit jemandem zusammen?

Allein.

Mit Bier im Blut. Schlendert fröhlich zu einem Fahrrad, das unabgeschlossen an einem Laternenpfahl lehnt, und schwingt sich in den Sattel.

Und dann muss Marathonmann aus dem Kalten heraus wieder laufen. Gegen ein Fahrrad hast du doch keine Chance. Doch. Der Junge hat es nicht eilig, er hat kein gutes Rad, und er fährt es nicht gut, er eiert eher nur durch die Gegend. Dass er angetrunken ist, ist ein Vorteil, er scheint zum Beispiel nicht zu bemerken, dass Marathonmann ihm hinterher ist, dabei gibt es Geräusche: die Füße, der Atem … Doch, jetzt, er schaut sich um, runzelt die dicken Augenbrauen und fährt etwas schneller und geradliniger.

Marathonmann ist inzwischen warm, er kann das Tempo mühelos erhöhen. Gleichzeitig fällt ihm aber auch, ehrlich gesagt das erste Mal, seitdem diese Jagd begonnen hat, ein: was, wenn er ihn eingeholt haben wird. In einer direkten körperlichen Auseinandersetzung wäre er dem Jungen zweifellos unterlegen. Dass du einmal so einer wirst, der sich lieber totprügeln lässt, als etwas verloren zu geben, hätte ich auch nicht gedacht, sagt das tote Mütterchen in Marathonmanns Kopf. Marathonmann antwortet ihr nicht, jetzt kann ich das ja tun. Man müsste einen Schlagring haben. Aber natürlich hat Marathonmann keinen Schlagring, er hat nicht einmal eine Vorstellung davon, wo man einen besorgen könnte, vor allem jetzt, vor allem ohne Geld, und überhaupt, was soll das. Es ist viel wahrscheinlicher, dass der Junge so etwas hat. Oder ein Messer. Aber wenn das so ist, wieso rennt er schon den ganzen Tag weg? Marathonmann fühlt, wie eine schnell anwachsende Verwirrung die Kräfte aus seinem Körper saugt, auf direktem Wege hin zu einer umfassenden, geistigen wie körperlichen Lähmung, aber bevor es so weit gekommen wäre, hält der Junge vor einem Tor. Steigt umständlich vom Rad, fängt an, mit Schlüsseln herumzufummeln. Und Marathonmann, der das sieht, bleibt nicht stehen, er geht weiter auf ihn zu, er muss sich dafür nicht besonders überwinden, es ist vielmehr, als wären sie zwei Magnete, die sich gegenseitig anziehen, erst langsam, dann immer schneller, bis nur noch ein Sprung Entfernung zwischen ihnen ist, und Marathonmann springt: er springt dem Jungen einfach von hinten ins Kreuz und nimmt ihn in den Schwitzkasten.

Du nahmst ihn in den Schwitzkasten?

Ja, sagte Marathonmann (später, zu Claus). Das heißt, das hatte ich vor, aber das Fahrrad ist umgefallen und die Pedale oder was hat ihn wohl am Knöchel getroffen, er hat geschrien, und dann sind wir beide hingefallen, er unten, ich auf ihm, mit dem Knie.

Es war also alles eher zufällig, aber wenn sie schon so gelandet waren, holte Marathonmann auch sein zweites Knie mit dazu, plus die Hände, er kroch praktisch auf allen Vieren auf den Jungen drauf und nagelte ihn so am Boden fest. Er ging nicht gerade sanft mit der Kehle des Jungen um, der gar nicht wusste, wie ihm geschah, er wehrte sich jedenfalls so gut wie nicht, er fragte nur gepresst: Scheiße, was willst du von mir?

Und ich sagte: Mein Geld, gib mir mein Geld wieder!

Und er: Wovon redest du, Mann?

Und ich wieder, dass er mir das Geld wiedergeben soll.

Und er: Was für Geld?

Und ich: Das, was du mir geklaut hast.

Und er, dass er nichts geklaut hat. Ich hab’ nichts geklaut, Mann!

Und ich, wo er die Tüte weggeworfen hat.

Und er: Was für eine Tüte? Und dass ich ihm vom Hals steigen soll, und ob ich verrückt sei. Was ist los mit dir, Mann? usw.

Und ich, weil es mich sehr erzürnt hat, dass er mich andauernd »Mann« genannt hat: Du hast sie mir aus der Hand gerissen! In der Binzstraße! Und dann sind wir bis zum Lorenz-Platz gelaufen!

Und er, Scheiße, dass er heute gar nicht auf dem Lorenz-Platz gewesen sei und in der Wieheißtsie-Straße war er noch nie, und dass er keine Luft mehr bekomme.

Tatsächlich war Marathonmann so in Rage, dass er bei jedem Satz, den er hervorstieß, zusätzlichen Druck auf die Kehle des Jungen ausübte, der versuchte, zurück zu rangeln, aber mit zugeschnürter Kehle geht das schlecht, das ist vor allem schmerzhaft, der Junge stöhnte und röchelte: in meiner Hosentasche! Dass Marathonmann das Geld nehmen solle, das er in der Hosentasche habe.

Marathonmann war vom Gedanken, in den Hosentaschen eines fremden (oder bekannten) Mannes zu wühlen, ganz schlecht geworden, und dazu kamen ihm erste Zweifel. Er starrte ins Gesicht des Jungen, und das kam ihm ganz so vor wie das des Jungen, den er den ganzen Tag verfolgt hatte, und er hatte ebenso Jeans und ein rotes Sweatshirt an, bzw. dieser hier ein tomatenrotes Sweatshirt und der andere eine ziegelrote Kapuzenjacke, aber das Gesicht war absolut dasselbe, ich spinne nicht, als wären sie Zwillinge. Dass er es vielleicht wirklich mit Zwillingen zu tun hat, dachte Marathonmann und schrie in tiefer Verzweiflung den Typen unter sich an:

Wie heißt du?

Aras, sagte der Junge.

Und dein Bruder?

Batuan, sagte der Junge, und dann bekam sein Gesicht einen Ausdruck, als würde ihm auch gerade etwas klar.

(Tsss! sagte Claus.)

Scheiße, sagte Marathonmann, der sonst niemals Kraftausdrücke verwendet, und lockerte den Druck auf den Hals des Jungen. Jetzt hätte der ihn abwerfen können und sich bitter rächen, aber er blieb einfach auf dem Pflaster liegen, hart und dreckig, wie es war, und fragte: Wie viel …

40 Euro, sagte Marathonmann der Wahrheit entsprechend und ließ sich vom Jungen heruntergleiten. Saß mit gesenktem Kopf auf dem Gehsteig neben ihm und konnte sich nicht mehr rühren. Jetzt kann er mir den Schädel einschlagen, wenn er will. Aber auch der Junge rappelte sich nur mühsam hoch. Jetzt saßen zwei auf dem Gehsteig vor dem Tor, neben einem umgestürzten Fahrrad. Als wären wir zwei Saufkumpane, die sich übernommen haben. Der Junge bewegte seine Arme langsam. Fasste sich zögernd in die Hosentasche und zog noch zögernder einen Zwanziger heraus, und dann noch aus der Gesäßtasche einen platten Fünfer.

Tsss! sagte Claus. Und was hast du gemacht?

Nichts. Marathonmann saß nur da, mit gesenktem Kopf, wie ein schuldbewusster Schüler. Der Junge warf ihm die beiden Geldscheine in den Schoß, stellte sich langsam und wackelig auf die Füße, zerrte das Rad hoch. Während er das Tor aufschloss, behielt er Marathonmann im Auge, schob das Tor mit dem Hintern auf, er drehte Marathonmann nicht den Rücken zu. Marathonmann saß nur da, mit 25 Euro im Schoß.

Später stellte er sich auch auf die Füße und sah sich um. Die Straße war leer, hinter der Hälfte der Fenster brannte Licht. Marathonmann zitterte. Die Anspannung aus dem vorangegangenen Angriff, und dazu jetzt erst, verspätet, die Angst. Große Angst in der ihm unbekannten, dunklen Gegend. Er steckte das Geld nicht in die Jacken-, sondern in die Hosentasche und ging los, erst wankend, stolpernd, aber irgendwann kam er wieder ins Traben und aus dem Traben ins Rennen, so schnell, wie er konnte. Es dauerte sehr lange, bis er sich wieder traute, sich zu orientieren, und dann dauerte es wieder ewig, bis er sich bis zu Claus durchgeschlagen hatte. Das letzte Stück, als er fast schon da war, war am schwierigsten. Die Straße, in der Claus wohnt, ist neuerdings umgeben von Straßen, in denen man ausgeht. In jedem Haus eine Kneipe, eine Bar, ein Club, der Gehsteig voll mit aufgetakelten, jungen Menschen. Männer in Sakkos, Frauen in Minikleidern. Dazu der Supermarkt, der bis Mitternacht aufhat. Laufen war nicht mehr möglich, Marathonmann musste gehen, das heißt, wanken, plötzlich konnte er nur noch wanken. Der noch nicht erledigte Einkauf fiel ihm auch ein. Ich renne schon den ganzen Tag, ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben.

Hopps! sagt Claus. Ein Name, der seit dem letzten Klassentreffen (40 Jahre) wieder aktuell geworden ist. Du hier? Um diese Zeit?

Krieg ich was zu trinken?

Claus und Hopps passen gut zusammen, auch Claus hat nichts Anständiges im Haus. Marathonmann trinkt zwei große Gläser lauwarmen, trüben Leitungswassers.

Jetzt erzähl schon, sagt Claus. Was ist los?

Hast du auch was zu essen da?

Etwas angetrocknetes Mischbrot und irgendeinen fertigen Kräuterquark. Nichts schmeckt, trotzdem isst Marathonmann. Schließlich gibt ihm Claus sogar noch sowas wie ein Dessert: einen Fruchtjoghurt mit irgendetwas Knusprigem drin. Das schmeckt allerdings ziemlich gut.

Und die Polizei? Hast du die Polizei schon angerufen? fragt Claus, während Marathonmann sorgfältig den Joghurtbecher auskratzt.

Die Polizei? Nein.

Kein Handy, kein Geld, aber die Wahrheit ist, dass er einfach noch gar nicht daran gedacht hat. Und jetzt, wo er die 25 Euro vom Typen hat …

Tsss!, sagt Claus ein drittes Mal und schüttelt den Kopf.

Den Ausweis muss ich nachmachen lassen. Foto und alles. Immerhin muss keine Bankkarte gesperrt werden. Die liegt zu Hause. Zusammen mit dem Pass, den man manchmal braucht, wenn man Marathonlaufen geht.

Er hat deinen Ausweis und deine Schlüssel? fragt Claus.

Ja. Die Schlüssel muss ich auch nachmachen lassen.

Ist dir klar, fragt Claus, dass er, wenn er deinen Ausweis hat, weiß, wo du wohnst und auch die Schlüssel zur Wohnung hat?

Nein, das hat Marathonmann bis jetzt nicht bedacht, und jetzt bekommt er plötzlich so heftiges Sodbrennen, dass er nichts mehr sagen kann. Er muss sich nach vorne krümmen, und dann muss er sogar vom Küchenstuhl rutschen und auf dem Küchenfußboden knien, mit einer scharfen, engen Hitze in seiner Brust. Ein Röcheln steigt irgendwo ganz tief aus ihm hoch, er kann kaum mehr hören, was Claus sagt.

Hopps! sagt Claus. Hopps? Hörst du mich? Hörst du mich?

Die Liebe unter Aliens

Sie hatten für sich zwei ein Einzelbett, das war so hart, wie sie das in ihrem kurzen, abwechslungsreichen Leben noch nicht erlebt hatten. Statt eines Lattenrosts lag die dünne Matratze auf einer Reihe alter Bretter, die jemand in den Rahmen gelegt hatte. Sie schlug vor, die Matratze lieber gleich auf den Boden zu legen, so wie zu Hause. Damit war der Raum dann voll. Es zog kalt unter dem Bett hervor und auch über dem Bett, dort war das Fenster, das hatten sie geöffnet, damit der Rauch hinauszog. Kalt wie das Weltall, dachte er, und der Rauch zieht nicht hinaus, er kriecht hier auf dem Boden herum, sickert unter den Türen durch, die alle zu kurz sind, Licht- und Luftlinien, bald weiß das ganze Haus, dass hier gekifft wird. Aber sie hätte sich sowieso nicht abbringen lassen, sie war so aufgedreht, sie musste etwas tun. Am Abend zuvor, zu Hause noch: dasselbe. Sie sprang und rannte durch die Wohnung, Küche, Zimmer, Küche, Zimmer. Sie hatte Vanillepudding gekocht, er war klumpig geworden, das machte sie zusätzlich nervös, dass es ihr noch nie, kein einziges Mal in ihrem Leben, gelungen war, Pudding ohne Klümpchen zu kochen, sie schämte sich vor ihm, weil er doch Koch werden wird. Er ist zwanzig und heißt Tim, sie ist achtzehn und lässt sich wahrhaftig Sandy nennen. Sie haben sich vor einem halben Jahr in einer Einrichtung kennengelernt, in der sie beide jeweils drei Wochen verbrachten. Danach sind sie nicht mehr auseinandergegangen. Sie wohnt bei ihm in seiner ruinösen Einraumwohnung. Er hat sein Lehrlingsgehalt, sie hat gar nichts.

Fick mir, sagte Tim, oder bring mir was zu essen.

Darüber lachten sie ziemlich lange.

Das ist das Beste, was du je gesagt hast.

Fick mir oder bring mir was zu essen. Fick mir oder bring mir was zu essen.

Später wurde das Licht zu hell und zu hart. Tim hatte auf Farben gehofft, auf die schönen Farben, wie einmal, als alles so bunt war wie zuletzt in Kindheitsträumen. Aber es blieb alles kalt und weiß, beige und braun. Der Tisch mit den Brandflecken, das unter der leeren Teekanne blakende Teelicht kurz vorm Ersticken, die Krümel, die Asche.

Sandy: Ohgottohgottohgott.

Tim: Waswaswas?

Ich kann dich nicht ansehen. Du bist ein Alien.

Waswaswas?

Du bist ein Alien.

Scheiße, sagte Tim. Oh Scheiße! Jetzt kann ich dich auch nicht mehr ansehen. Jetzt bist du auch ’n Alien!

AchduScheißeohmeinGott!

Sie versuchten, einander anzusehen. Es ging nicht. Sie rissen schnell den Kopf herum, er schaute eng an seine Schulter, sie verdeckte die Augen. Sie prusteten, aber sie hatten wirklich Angst. Vor Angst lachend und kreischend, saßen sie in der winzigen Küche, am winzigen Tisch, weißer Tisch, braune Brandflecken. Teelichter, Kerzen, das ist Sandys Leidenschaft, manchmal sitzt sie tagsüber alleine hier, zündet ein Teelicht an und schaut in die Flamme. Mit dem Wachs spielen, dafür sind Kerzen besser, billige, tropfende Kerzen. Die Wachstropfen auffangen, Fingerabdrücke machen und kleine Kugeln. Tim sah lange in einen kreisrunden braunen Fleck auf der Tischplatte mit drei dunkleren braunen Punkten darin. Stell dir vor, das wäre eine Galaxie, schau dir das an, schau nicht sie an. Am Rande seines Sichtfelds Sandy, die offenbar vom Stuhl gerutscht war und sich in Bodennähe irgendwohin bewegte.

Was machst du jetzt? Was machst du jetzt?

Ich robbe ins Wohnzimmer. Da seh’ ich dich nicht. Wenn ich dich nicht sehe, wirst du kein Alien.

O.K. O.K., das ist gut. Robbe ins Wohnzimmer. Ich bleibe hier.

Ohmeingott. Ein Alien. Ein Alien im Wohnzimmer.

Später ging es wieder, sie konnten nebeneinander auf der Matratze liegen, Tim mit einer Erektion, aber es ist besser, jetzt nichts damit anzufangen. Sie lag mit dem Rücken zu ihm, zusammengerollt, er drehte ihr auch den Rücken zu und zog die Knie an, so ist es am sichersten.

Natürlich verschliefen sie. Das Handyklingeln weckte sie. Am Telefon war Ewa, die Tims Chefin ist, die Köchin, bei der er seine Ausbildung absolviert. »Das polnische Dromedar.« Sie ist normalgroß und normaldick, lediglich einen Kopf größer als Sandy und doppelt so breit, und blond wie ein Weizenfeld. Tim ist sich im Klaren darüber, dass Ewa eine schöne Frau ist, eine große Blondine, viele Männer jeden Alters sind angetan von ihr, und dazu ist sie noch Köchin. Sandy nennt sie, wie sie sie nennt, weil sie sie nicht mag. Ewa ihrerseits mag Sandy nicht und nennt sie, wenn sie mit ihrem Mann über sie spricht »Tims Kleine« oder »die kleine Schlampe«, Tim gegenüber nennt sie sie (und dabei kommt es auf den Tonfall an) »deine Freundin«, wenn sie mal mit ihr selbst reden muss (was so gut wie nie vorkommt), spricht sie ihren Namen wie »Sand« aus. Sandie.