Auf den Schwingen der Hölle - Jan Flieger - E-Book
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Jan Flieger

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Beschreibung

Ein Ehepaar sucht auf den Lofoten den vorzeitig aus der Haft entlassenen Vergewaltiger und Mörder ihrer Tochter. Doch suchen sie die Nadel im Heuhaufen, denn sie wissen nur, dass der Gesuchte ein rotes Auto fährt. Sie verfolgen ihn durch eine dramatische Landschaft, von Insel zu Insel, von Fischerdorf zu Fischerdorf. Der traumatisierte Vater lässt sich durch nichts aufhalten, doch entgeht ihm dabei, dass seine Frau bei dieser Suche endgültig zerbricht.

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Jan Flieger

Auf den Schwingen der Hölle

Ein Norwegen-Krimi

2., korrigierte Neuausgabe, Juli 2019

Copyright © 2019 by edition krimi, Hamburg

edition krimi

Alle Rechte vorbehalten

* * *

Lektorat: Anne Geißler

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, edition krimi

Umschlagmotiv: © photocases.com/ Anja-S

* * *

ISBN 978-3-946734-42-0 (ebook)

ISBN 978-3-946734-01-7 (print)

* * *

www.edition-krimi.de

Ich führe euch – er riefs aus rauer Kehle –

zur ewgen Finsternis, zu Glut und Eis.

Dante, ›Die göttliche Komödie‹

Die Hölle, Dritter Gesang

Prolog

Im Schatten des gigantischen Völkerschlachtdenkmals steht Bachmann in der grünen Stille der Bäume, Grab­steine und Familiengruften des unendlich scheinenden Parkfriedhofs. Heute aber ist der bitterste Tag seines Lebens, denn er bringt das Liebste, was er besaß, in diese Welt der Toten aus Bäu­men, Büschen und Gestein.

Er steht an Manuelas offenem Grab, blickt auf den Sarg seiner Tochter herab, wirft als Erster die Erde, neben ihm steht die heftig schluchzende Sarah. Seine Augen aber sind trocken, fest presst er die Lippen zusammen, und schon in diesem Augenblick weiß er, dass er Manuelas Mörder töten muss. Er wird auf ihn warten, Jahr um Jahr, sein Leben wird er der Rache weihen, nichts anderem mehr.

Sarah drängt sich an ihn, ihre Tränen nässen sein Hemd, als er ihr Gesicht an seine Brust presst.

Nur er kann nicht weinen, die schluchzende Sarah um­fasst er schützend mit seinen Armen, wie versteinert wirkt sein Gesicht. Du wirst sterben, Emmerlein, denkt er, sowie du aus dem Gefängnis entlassen wirst oder aus welchem Sanatorium auch immer. Keinen Ort der Welt gibt es, wo ich dich nicht finden werde …

I

Die Jagd

Es war ein ganz besonderer Morgen für Bachmann, als er sich zu Sarah an den kleinen runden Tisch in der Küche setzte, in dessen Mitte ein Strauß frischer Blumen stand.

Heute war Manus Geburtstag. Manu, die seit neun Jahren an diesem Tisch fehlte und doch immer da war. Aber nicht nur deshalb war er so erregt, sondern weil er an diesem Vor­mittag eine Nachricht erhalten sollte von diesem Privatde­tektiv, der Schneider hieß. Es musste eine äußerst wichtige sein, da Schneider sie ihm nicht am Telefon hatte verraten wollen.

Bachmann ahnte, was er erfahren würde. Plötzlich zitterte das Messer in seiner Hand, fiel auf den Teller. Sarah hob leicht die Brauen, musterte ihn kurz, aß jedoch schweigend weiter, beim Frühstück schwiegen sie ohnehin. Unter ihren Augen fielen ihm die dunklen Ringe auf, und ihr Gesicht wirkte wächsern. Sie hat wieder eine depressive Phase, dachte er besorgt, da war es sowieso ratsam, sie nicht anzu­sprechen.

Sarah war fünf Jahre jünger und viel kleiner als er, trug ihr braunes Haar schulterlang, in dem, da sie es tönte, ein rötlicher Schimmer lag, den er sehr mochte. Ihre schlanke Gestalt und die Jeans ließen sie jünger wirken, viel jünger als sie tatsächlich war, und die fünfundvierzig Jahre ihres gelebten Lebens sah ihr niemand an. Sie hatte eine kleine gerade Nase, bei der man glauben konnte, ein Schönheits­chirurg hätte sie modelliert, und ihre Augen hatten eine la­vendel­blaue Farbe, waren sehr groß und auffallend schön, aber seit Manus Tod lag Trauer in ihnen, die nie weichen wollte, und oft wirkten sie teilnahmslos und leer. Man konn­te sie von weitem und besonders dann, wenn man sie von hinten sah, noch immer für eine junge Frau halten mit ihrem so schönen Po in den engen Jeans, die sie gern trug.

Nach dem Frühstück wuschen sie gemeinsam ab und dann ging er zum Sekretär im Wohnzimmer. Stehend blät­terte er auf dessen Schreibplatte in einem neuen Maga­zin, das ›Gothic‹ hieß und Sarah gehörte, ohne eigentlich zu wis­sen, was er darin suchte, aber er wollte wohl einfach nur, dass die Zeit schneller verging. Die schwarze Szene aber war ihm durch Sarah längst nicht mehr fremd, eher ver­traut.

Dann endlich, nach einem flüchtigen Blick auf das Ziffer­blatt seiner Uhr, schlüpfte er in seinen blassgrünen Anorak mit den vielen Taschen.

»Ich bin zum Essen zurück, ich treffe einen Bekannten«, sagte er wie beiläufig zu Sarah, und eine jähe Anwandlung drängte ihn, mit der Hand ihre Wange zu streicheln, doch er tat es nicht.

Er schritt am Café Riquet vorbei und den großen Elefanten­köpfen mit den gewaltigen Stoßzähnen über dem Eingang, passierte dann den Marktplatz und sah schon die Grünan­lage vor der Buchhandlung, wo ihn der Detektiv auf einer Bank erwartete – ein Mann, dem man seinen Job nicht an­sah, denn er wirkte eher wie ein kleiner Buchhalter, der zwi­schen Zahlen und Bilanzen lebte.

Schneider begann sofort zu sprechen, nachdem Bach­mann wortlos neben ihm Platz genommen hatte.

»Heiko Emmerlein ist draußen! Man hat ihm von den zehn Jahren ein ganzes Jahr erlassen. Im Gefängnis erhielt er ja, wie ich Ihnen schon berichtete, eine Berufsausbildung und dadurch nach der Haft einen Arbeitsplatz in Bochum.«

Schneider hielt einen Augenblick inne, ehe er fortfuhr. »Seine Sexualtherapie wird als erfolgreich eingestuft, aber trotzdem stand er unter Führungsaufsicht nach der Entlas­sung, musste sich anfangs wöchentlich bei seiner Bewährungshelferin melden. Er soll sich dabei und auch an seinem Arbeitsplatz sehr vorbildlich verhalten haben und in seinen sexuellen Aktivitäten nicht auffällig geworden sein. Von sei­ner Schwester erhielt er seinen Anteil an einer Erbschaft, eine schöne Summe, dreißigtausend Mäuse. Seit kurzem hat er sogar einen Führerschein.«

Und plötzlich blickte Schneider ihn verschwörerisch an, so, als ob er ihm etwas Besonderes verriet, das zeigen sollte: Ich bin das Geld wert, was ich verlange.

»Und nun durfte er eine Reise antreten, mit dem Auto, eine Reise auf die Lofoten, zum Angeln. Sie müssen beden­ken: Er hat viele Jahre lang nur aus einem Gefängnis­fenster geblickt, nun will er die endlose Weite erleben, nun will er, wie seine Bewährungshelferin mir erzählte, in kleinen Fischer­dörfern wohnen, über die er in der Haft viel gelesen habe, und sich nur dem Angeln widmen und dabei die abso­lute Freiheit spüren. Von der Hauptstadt der Lofoten aus will er sich dann einfach treiben lassen, ohne ein festes, ihm vorgeschriebenes Ziel.«

Reglos blieb Bachmanns Gesicht, als er Schneiders Worte vernahm, doch spürte er eine große Erregung. Auf einer Reihe von Inseln vor Norwegen ist der nun, überlegte er. Wenn ich ihn dort töte, ist es gewiss leichter als in Deutsch­land.

»Kennen Sie den Autotyp und das Kennzeichen?«, fragt er rasch und war verwundert, wie heiser und fremd seine eigene Stimme klang.

Schneiders Miene wirkte angespannt, als er sich räusper­te. »Ich kenne das Auto. Ich habe die Autohändler durch­gecheckt, bei ihnen hat er es nicht gekauft. Ein Wagen ist auf seinen Namen auch nicht angemeldet worden, also könnte er ihn sich nur geliehen haben. Von einem Freund, denke ich, aus seiner Zeit im Gefängnis, denn bei den Auto­ver­mietungen wurde sein Name nicht registriert. Ich habe also herausfinden können, dass der Wagen ein roter Toyota Co­rolla ist und sein Kennzeichen eine acht enthält. Mit die­sem Wagen fährt er, das ist absolut sicher, denn drei Per­sonen haben mir, unabhängig voneinander, diese Auskunft gege­ben. Und noch eine Beob­achtung haben sie alle ge­macht: Emmerlein trägt jetzt seine blonden Haare lang, in der Mitte gescheitelt und bindet sie oft zu einem Pferde­schwanz.«

Bachmann kaut nachdenklich auf seiner Unterlippe.

»Das ist recht ordentlich«, lobte er dann und zog die ab­gezählten Geldscheine aus der rechten Brusttasche seines Anoraks, die die vereinbarte Summe für diesen Stand der Dinge ergaben und die er zu Hause schon gebündelt hatte, um sie Schneider in die Hand zu drücken, wissend, dass sie wohl den Preis für dessen Schweigen mit einschlossen.

»Gut«, sagt Schneider ungerührt, und den Ausdruck in den Augen des Detektivs konnte Bachmann dabei nicht deuten, da der wohl ahnen müsste, was nun geschehen wür­de, doch verdrängte er dieses Wissen offenbar bewusst.

»Überlegen Sie sich genau, was Sie tun«, hörte er Schnei­der leise warnend sagen. »Tun Sie nichts, was Sie einmal be­reuen könnten.«

Bachmanns Instinkt sagte ihm, dass Schneider seine wah­ren Gedanken erriet und doch schweigen würde, weil er ei­nen Kunden nie preisgab, sonst würde er der Polizei wohl einen Wink geben.

»Na dann, Herr Schneider«, beendete er das Treffen ab­rupt, denn es war alles gesagt.

Sie trennten sich mit einem kurzen Händedruck, und er eilte dabei schon in Gedanken an die Reise in die so nahe Buchhandlung, wo er sich Karten und Reiseführer der Lofo­ten beschaffen würde. Er wusste, diese Inseln waren nicht sehr groß, viele Straßen würde es nicht geben, also bestand eine echte Chance, Emmerlein aufzuspüren und heimlich zu töten. Der würde dann einfach verschollen bleiben in der Einsamkeit der Lofoten, vielleicht ertrunken beim Angeln, würde die Polizei annehmen, vielleicht vom Sturm auf dem Nordmeer überrascht. Der Erste, dem es so erging, wäre er da durchaus nicht, traf doch so manchen Urlauber das Schicksal auf diese Weise.

Zufrieden blickte er auf das Zifferblatt seiner Uhr, denn er lag gut in der Zeit, zum Mittagessen wäre er wieder zu Hau­se, mit einem Beutel voller Bücher und Karten der Lofoten, aber auch mit einer Nachricht für Sarah, die er ihr schonend vermitteln musste, da sie die alten Wunden wieder aufriss, die sich bei ihm selbst nie geschlossen hatten, denn es gab Wunden, die schloss nur einer: der Tod.

* * *

Er wartete, bis das Mittagsmahl beendet war und Sarah sich erheben wollte.

»Er ist wieder draußen«, sagte er unvermittelt und blickte sie bei seinen Worten eindringlich an.

Sarah schien mitten in der Bewegungen zu erstarren, ihr Gesicht wirkte maskenhaft, von einem Augenblick zum an­deren.

»Was wirst du tun?«, fragte sie hastig und sah ihn starr an.

»Was ich immer tun wollte«, erwiderte er beherrscht, ohne den Blick von ihr zu wenden.

»Nach so vielen Jahren?«, hörte er sie zweifelnd fragen. »Du willst ihn wirklich …«

»Ja«, sagte er hart. »Und ich erwarte, dass du mir hilfst, Sarah!«

Sie schwieg und er konnte nicht deuten, ob ihr Schwei­gen Zustimmung war oder Ablehnung, es konnte beides besa­gen, er bemerkte, dass ihre Finger sich ineinander ver­krampf­ten, ihre Lippen schmaler wurden und sie am gan­zen Kör­per zu beben begann.

»Er ist zum Angeln auf den Lofoten«, verkündete er leise.

»Auch das weißt du schon«, stieß sie hervor und blickte ihn an. Er nickte. »Wo genau Emmerlein auf den Lofoten ist, weiß ich nicht, nur, dass er einen roten Toyota Corolla fährt, in dessen Kennzeichen eine acht sein soll. Dieses Wissen aber reicht mir, es muss mir einfach reichen, Sarah. Und dir auch.«

Er erhob sich und holte die Reiseführer und Karten von der Schreibplatte des Sekretärs, um sie auf den Küchentisch zu legen. »Ich werde sofort beginnen, das ganze Material auszuwerten, bis morgen kenne ich jedes Fischerdorf auf den Lofoten, jede Straße, jede Tankstelle, einfach alles.« Sa­rah schlug die Augen nieder, atmete keuchend, so, wie sie es sonst immer tat, wenn ein schlechter Traum sie quälte und sie sich herumwarf in ihrem Bett.

»Es gibt viele Dörfer auf diesen Inseln«, erklärte er, »und eine lange Straße, die sie alle verbindet und von der kleinere Straßen abzweigen und zu den Küsten führen, am Nord­meer und am Vestfjorden. Aber wir haben die Zeit, ihn auf­zuspüren, und wir werden ihn finden! Ich denke, wir schaf­fen bequem zwei oder drei Dörfer an einem Tag, vielleicht auch mehr. Die Inseln sind durch lange Brücken verbunden, so kommen wir zügig voran. Und die Mitternachtssonne hält die Nächte in einem Dämmerlicht.«

Ihre Finger irrten fahrig über die Tischplatte, als suchten sie einen Halt, aber sie berührten nur die benutzten Teller und Gläser, doch ihre Lippen bebten so stark, wie er es noch nie zuvor bei ihr wahrgenommen hatte.

Warum sagt sie nichts, dachte er, warum schweigt sie, wenn es doch um den Mörder unserer einzigen Tochter geht, deren Fotos in allen Räumen dieser Wohnung hängen, auch hier, in der Küche! Aber ihre Schwermut lähmt sie, macht sie untauglich für das wirkliche Leben und schwach.

»Sag doch etwas!«, drängte er ungeduldig und blickte sie zugleich auch fordernd an. Aber Sarah schwieg, presste nur ihre rechte Hand vor die Augen, so fest, dass die schmalen Knochen und Adern hervortraten, als wollten sie heraus­schnellen aus dem Handrücken.

Minuten vergingen, die ihm endlos erschienen und quä­lend lang, doch wollte er sie jetzt nicht weiter bedrängen, wollte ihr Zeit geben, sich zu sammeln, um die neue Situati­on zu überdenken.

Aber die Zeit, die er Sarah einräumen konnte, um alles abzuwägen, war gering, sehr gering, denn spätestens über­morgen müssten sie im Auto sitzen, auf dem Weg zur Fähre in Sassnitz, die sie nach Schweden bringen würde, nach Trelleborg.

Dann endlich löste sie die Hand von ihren Augen, doch sie schaute ihn nicht an, schaute in eine Ferne, die er selbst nicht wahrnehmen konnte, nur Sarah allein. Dieser seltsame Blick aber war ihm schon vertraut, als Teil ihres gemeinsamen Le­bens nach dem Tod ihrer Tochter.

Und so saß er am Tisch, unruhig wartend, bis Sarah end­lich sprechen würde. Was aber, überlegte er, tue ich, wenn Sarah »Nein« sagte? Doch sie sagte nicht »Nein«, sagte auch nicht »Ja«, stumm blickte sie weiter in diese Ferne, in die er ihr nicht folgen konnte, und dann zu dem Foto ihrer Tochter auf einer Schaukel, ausgelassen, wild, mit wehendem Haar, kastanienbraun und lang.

»So viele Jahre hinter Gittern können einen Menschen völlig verändern«, hörte er sie nun leise sagen, so, als ob sie zu sich selber redete. »Er ist vielleicht ein ganz anderer Mensch geworden und bereut die Tat nun aufrichtig, die er nicht mehr ungeschehen machen kann.«

»Du würdest ihm verzeihen?«, fragte er fassungslos. »Du …«

Noch immer wich sie seinem Blick aus, und ihre ineinan­der verkrampften Finger lösten sich nicht. Er aber kaute erst bedächtig, dann jedoch immer heftiger auf seiner Unterlip­pe, bis er Blut schmeckte, ohne den Schmerz zu spüren.

»Nur im Jenseits endet die Rache«, brach es aus ihm her­aus. »Erst dann und nicht eher!«

»Du willst dein eigenes Trauma durch einen weiteren Mord lösen«, hörte er sie leise sagen, wobei sie ihn wieder ansah. »Sie haben den Täter therapiert, aber für uns, die El­tern des Opfers, interessieren sie sich wenig. Und das ist das wirklich Schreckliche.«

Dann verharrten sie wieder schweigend, als säßen sich Fremde gegenüber.

Endlich erhob er sich, schritt erregt in der Küche auf und ab, bis er vor Manus Foto innehielt, das neben der Küchen­uhr hing.

»Sieh sie dir an«, sprach er nun mit einer ihm selbst so fremden und heiser klingenden Stimme. »Mit seinen Fin­gern hat er diesen Engel überall berührt, vergewaltigt und dann erdrosselt. Und nun will er weiterleben, als wäre nichts geschehen. Er lebt und sie ist tot!«

Höhnisch und voller Wut lachte er auf.

»Und die Psychologen sagen, diese Taten gehörten nun mal auch zu unser aller Leben, sprechen von einer zweiten Chance für Mörder. Welche Chance aber hatte unser Mäd­chen? Welche Chance haben wir, die Eltern? Sag es mir! Le­benslänglich bekommen wir, aber nicht der Täter! Ein Mör­der wie Emmerlein aber wird resozialisiert im Luxus­knast, hat ein Einzelzimmer, einen Fernseher, Bücher, wird hofiert von den Psychologen, bekommt sogar eine Ausbildung! Gibt es für uns beide eine zweite Chance? Oder gar für Manu? Er hat unser Leben zerstört, von einer Minute zur anderen, hat es total verändert, denn wir haben anders zu­sammengelebt, wir waren glücklich. Für mich, Sarah, kann es nur eine Antwort geben: Auge um Auge, Leben für Le­ben!«

Sarah erhob sich langsam, wanderte unsicher zu dem Foto ihrer Tochter, trat ganz nahe heran, streichelte mit zit­ternden Fingern über das Gesicht unter dem Glas, schluchzte dabei, doch ohne zu weinen. Vorsichtig näherte er sich ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter und seine Stirn auf ihr Haar. Ein wilder Schmerz schien ihren Körper zu schüt­teln, der heftiger wurde, als er sie zu streicheln begann, mit schwerer Hand.

Dann endlich weinte sie, mit dem Kopf an seiner Brust, beinahe lautlos.

Sie wird mich begleiten, dachte er erleichtert, während er sie schützend mit seinen Armen umschloss, sie wird mir helfen, empfand er ihr Schluchzen doch als ein Ja, auch, wenn es ein widerstrebendes war …

Aber ein Ja war es doch!

* * *

Stunde um Stunde, auch noch tief in der Nacht und ohne zu ermüden, las er im Wohnzimmer im Licht der kleinen Steh­lampe in den Reiseführern, machte sich Notizen, sein Zeige­finger glitt immer weiter, ruhelos, von Dorf zu Dorf. Schließ­lich holte er eine Flasche Glenfiddich aus der Küche, füllte ein Glas und trank immer wieder einen Schluck. In Skutvik würden sie die Fähre nehmen, die sie zu der kleinen Haupt­stadt der Lofoten brachte, die Svolvaer hieß und zweitau­sendfünfhundert Kilometer würden dann schon hinter ih­nen liegen, eine gewaltige Strecke. Von dieser Hauptstadt der Lofoten aus müssten sie die Dörfer an den Küsten der einzelnen Inseln absuchen, die in Frage kamen, am Vestfjor­den und am Nordmeer. In jedem Ort aber galt es dann in Erfahrung zu bringen, ob ein roter Toyota Corolla gesehen worden und in welche Richtung sein blonder Besitzer wei­ter gereist war.

Nachdenklich betrachtete er sein Whiskyglas, füllte den Inhalt wieder auf, trank hastig. Sein Zeigefinger verharrte nun auf einem Dorf, das sich als erste Bleibe anbot. Zwi­schen der Hauptstadt der Lofoten und dem letzten Dorf am Ende der langen Straße, die über alle Inseln führte, lagen vielleicht einhundertfünfzig Kilometer, und ein einzelner Mann mit einem blonden Pferdeschwanz, der in einem ro­ten Toyota unterwegs war, würde gewiss auffallen.

Er erhob sich, ging hinüber zum Sekretär, entnahm aus einem kleinen Fach das Messer, welches in einer harten Scheide ruhte, ein Fallschirmjägermesser, und seine Finger glitten beinahe zärtlich über die leicht geölte Klinge. Damit kann ich lautlos töten, dachte er, es ist besser als meine Pis­tole, denn in der Weite der Lofoten würde man jeden Schuss übernatürlich laut hören, verräterisch laut.

Er legte das Messer sorgsam in das kleine Fach des Sekre­tärs zurück und breitete die Karte Norwegens auf der Schreibplatte aus, blickte konzentriert auf sie herab.

Drei Tage werde ich benötigen, nicht mehr, wenn ich zü­gig fahre, überlegte er, um Skutvik zu erreichen und die Fähre, deren Ziel dann diese kleine Hauptstadt der Lofoten sein würde. Sechzehn Stunden werde ich sicher an einem Tag fahren können ohne am Lenkrad einzuschlafen, mit der wachsamen Sarah neben mir, die mich berühren kann, wenn mich wirklich einmal die Müdigkeit überkommt oder der so gefürchtete Sekundenschlaf.

Dann aber drängte sich ihm unvermittelt ein Gedanke auf, vielleicht war es auch die innere Stimme, die er mitun­ter vernahm, wenn er nicht wusste, was er tun sollte oder die ihn einfach nur warnte: Du darfst Emmer­lein nicht dort verscharren, wo du ihn töten wirst, das ist zu gefährlich, denn die Polizei wird die Gegend absuchen, wenn sie sein Auto entdeckten, einsam und verlassen. Den Toten musst du weit weg schaffen, sehr weit, vielleicht sogar auf die In­seln, die noch hinter den Lofoten liegen, die Vesterälen.

Und so las er in gespannter Erwartung die ausführlichen Beschreibungen, die in einem der Reiseführer enthalten wa­ren und stieß dabei auf einen Ort, wo er den Toten unbehel­ligt verbergen konnte, in den weitläufigen, grasbewachsenen Dünen zwischen den Dörfern Andenes und Bleik, am letz­ten Zipfel einer Insel, wo die Zahl der Touristen sicher ge­ring sein würde. Im Schutz der Dünen würde er unbeobach­tet graben können und so tief, dass kein Hund je eine Witterung der Leiche aufnehmen könnte. Sein Spaten wür­de dort im Sand leicht in den Boden eindringen können, al­lerdings, und das war eine unan­genehme Vorstellung, müssten er und Sarah mit dem Toten im Kofferraum zu die­sem entlegenen Ort gelangen, und die Fahrt würde somit zu einem unberechenbaren Risiko werden, gewiss, aber er musste eben so besonnen fahren, dass er bei keiner Ver­kehrskontrolle auffiel und er durfte auch an keinem Unfall beteiligt sein.

Wieder hob er das Glas an die Lippen. Whisky war das beste Getränk, das es für ihn gab, dieses Getränk beruhigte, immer, war eine Droge für ihn, ohne Zweifel.

Er schnalzte mit der Zunge und rieb sich bedächtig mit dem Zeigefinger der rechten Hand das Kinn, er fühlte sich so gut wie lange nicht mehr und sehr stark, wie damals als Fallschirmjäger, bevor er aus dem Flugzeug sprang, auf dem Weg zu einem ungewissen Einsatz, der ihn aber magisch an­lockte – es war der irre Rausch der Gefahr gewesen, bei je­dem Mal, ein Glücksgefühl, das man nirgendwo sonst spü­ren konnte.

Akribisch planen würde er auch diese Fahrt, so, wie er alle ihre Reisen zuvor geplant hatte, etwa nach Island, in die Bretagne, in die Provence oder die Toskana, dabei nicht das kleinste Detail missachten, er würde das Zelt mitnehmen, den Gaskocher, das Campinggeschirr und Spaghettigerichte in großer Zahl, denn Norwegen galt als teures Land und sie würden selber kochen müssen. Den Spaten dürfte er auf kei­nen Fall vergessen, und die beiden Schlafsäcke wären eine wertvolle Hilfe für einfache und billige Unterkünfte.

Entschlossen erhob er sich. Und er wusste: In drei Tagen werde ich mit Sarah am Fährhafen in Skutvik sein!

Unruhig ging er im Zimmer auf und ab, ehe er nachdenk­lich vor dem Foto seiner Tochter verharrte, das neben dem Sekretär hing: Ihre Augen, die ihn anblickten, spitzbübisch und strahlend, als wären sie voller Leben, waren seine Au­gen.

»Ich werde sein tödliches Schicksal sein, mein Liebling«, sprach er in diese Augen hinein.

Zwei Atemzüge lang war es ihm, als ob sich ihre Lippen bewegen wollten, und er fühlte sich seiner Tochter unend­lich nahe, so, als würde ihm der Hauch ihres Atems entge­genwehen. Und sein ganzer Körper bebte von dem Schluch­zen, das aufwallte in seiner Kehle.

* * *

Mit Sarah an seiner Seite jagte er im Auto Sassnitz entgegen und der Fähre nach Trelleborg.

Voller Unruhe lief er dann er später auf dem Fährschiff auf und ab, weil ihm die Überfahrt endlos erschien. Nach der Landung hetzte er mit dem Auto weiter und weiter, durch Schweden, wo sie in einer Touristenhütte übernachte­ten, dann durch Norwegen, an Oslo vorbei, Kilometer um Kilometer. Sie wechselten nur wenige Worte während dieser unaufhaltsamen Fahrt, eine bedrückende Stille schloss sie beide ein, die keiner brechen wollte, denn mit ihnen im Auto fuhr der Tod, als stummer und unsichtbarer Begleiter.

Irgendwann aber wünschte sich Sarah mit leiser Stimme und zu seiner großen Verwunderung ihre Gothic Metal Mu­sic, und er war überrascht, dass sie an ihre CDs gedacht hat­te in all der Hektik der Vorbereitungen. Nur begriff er nicht, dass sie ihren Wunsch erst jetzt äußerte. Es gab in Sarahs Sammlung durchaus CDs, die ihm wirklich gefielen, beson­ders eine, die nun in ihrer Hand lag, versehen mit dem Foto eines Konzertes auf der Schutzhülle – eine Band spielt bei Nacht im röt­lichen Licht am Fuße eines drohend und ge­heimnisvoll wirkenden Berges, dessen Spitze sich in einen blutroten Himmel zu bohren schien. Die Arme des Publi­kums, die ihrer Band zujubelten, waren verzückt nach oben gereckt. Und so wie Sarah und diese Fans liebte auch er die klare und gewaltige Stimme der Frontfrau, die ihm in jeder Lautstärke vertraut war. Er bedauerte, dass diese Frau der Band nicht mehr angehörte, mit ihrem schönen Gesicht, von ihren langen dunklen Haaren umweht, mit den vollen Lip­pen, lila geschminkt.

Dann dröhnte die Musik im Auto, und er empfand sie als passend für die Stimmung, die ihn erfüllte.

Wie auf Schwingen scheint uns diese Musik zu tragen, dachte er unvermittelt. Schwingen der Hölle, in welcher Emmerlein enden wird.

Er war überrascht, welche Gedanken die Musik in ihm auslöste. Unversehens kamen ihm zwei Zeilen aus Dantes Höllengesängen in den Sinn, und als er sie aussprach, mitten in die Musik hinein, ruhten Sarahs Augen auf ihm, über­rascht und nachdenklich: »Ich führe euch – er riefs aus rauer Kehle – zur ewgen Finsternis, zu Glut und Eis«.

Hier und jetzt, dachte er, schlagen unsere Herzen wie ein einziges Herz. Und eine große innere Zuneigung erfüllte ihn.

* * *

Weit über zweitausend Kilometer waren sie schon gefahren, hatten in kleinen Holzhütten übernachtet und ihre Spaghet­ti zubereitet am Rand der Straßen und auf Parkplätzen. Längst lag der Polarkreis hinter ihnen, als sie ihn endlich erreichten, den Hafen von Skutvik.

Behutsam lenkte er seinen dunkelgrünen Mazda in den Bauch des Fährschiffes, das sie zu den Inseln bringen sollte, die man Lofoten nannte, und die er nur von den Fotos aus den Reiseführern kannte, mit den steil in den Himmel ra­genden Bergen und den Pfahlhäusern am Meer und an den Ufern tiefer Fjorde.

Die Autos standen dicht an dicht, und so schlug seine Fahrer­tür leicht an die Seitenwand eines weißen Audis, als er ausstieg.

Er fluchte leise, doch als er nachschaute, sah er, dass kein sichtbarer Schaden entstanden war. Auch Sarah hatte das Auto verlassen und reckte sich ausgiebig, froh, dem Folter­stuhl Beifahrersitz entronnen zu sein nach dieser schier end­los scheinenden Fahrt.

Er verschloss das Auto und zwängte sich durch die schmalen Gänge zwischen den parkenden Fahrzeugen, um zu der stählernen Treppe zu gelangen, die hinauf­führte zum Oberdeck, und er vernahm Sarahs Schritte hinter sich. Frös­telnd standen sie dann, Schulter an Schulter, an der Reling des Schiffes. Die Ärmel seiner Jacke hatte er über seine Hän­de gezogen, hielt sich so an dem kalten Eisen fest, und sein Blick schweifte über das Wasser, dessen Wellen gegen die Bordwand brandeten mit zerberstendem weißem Schaum. Er musterte Sarah aus den Augenwinkeln, doch ihr Gesicht wirkte ausdruckslos. Was mochte sie denken?

»Mir ist kalt«, gestand sie leise.

Er nickte bejahend, denn auch ihn fröstelte es.

»Komm«, sagte er und legt den Arm um ihre Schultern. Sein letzter Blick galt der Ferne, in der sie wohl bald die In­seln sichten würden. Sie verließen das Deck, da der Wind mehr und mehr zunahm, stiegen wieder zu ihrem Auto hin­ab, um sich in die Sitze fallen zu lassen. Irgendwann schlief er ein, wurde aber plötzlich von Geräuschen wach, zuschla­genden Autotüren. Das Ziel der Fahrt musste wohl nahe sein, dachte er und war sofort hellwach.

Sein Blick glitt zu Sarah. Und er stutzte, denn ihr Profil war das Profil seiner Tochter, noch niemals war ihm das je so deutlich bewusst gewesen, wie in diesem Augenblick. Fest presste er seine Lippen aufeinander und sein Herz schlug immer heftiger.

Nur noch zwei Tage könnten ihn trennen von der Rache, nicht mehr, wenn er Emmerlein rasch auf­spürte, und be­harr­lich würde er ihn jagen, unerbittlich, ohne Sarah und sich selbst zu schonen. Leid aber tat sie ihm, unendlich leid, und es war ihm, als wollte sein wild pochen­des Herz aus seinem Brustkorb springen. Da jedoch dachte er an den Au­genblick, als der Arzt es zurückschlug, dieses Laken, un­ter dem Manu lag, mit Augen, in denen kein Leben mehr war.

Sein Mitleid erstarb jäh.

Und er bebte am ganzen Körper vor Hass.

Aber die Rache war so nah, unendlich nah.

Und sein engster Weggefährte war der Tod.

Und selbst die Hölle fürchtete er nicht.

Sie würde die Strafe sein für seine Tat, wenn es sie geben sollte, in welcher Art auch immer.

Und sie würde keine Hintertür haben.

Sie würde endlos sein mit all ihrem Grauen.

Das war ihm bewusst.

Doch auch dieses Wissen schreckte ihn nicht.

* * *

In düsterer Pracht lag er vor ihnen in der Ferne, der Lofoten­wall, diese Bergkette und gewaltige Granit­bastion aus senk­rechten Wänden, mit unzähligen Gipfeln, spitzgezackt und bizarr. Der steife Nordwestwind führte Wolkenfetzen heran, die grau waren und so flach dahintrieben, dass man über ihnen schon wieder ein schwarzgraues Gewölk sah, hinter dem die Sonne verschwand. Es war eine seltsam bedroh­liche Stimmung, auch Sarah empfand sie wohl ähnlich, denn sie drängte sich plötzlich an ihn, als ob sie bei ihm Schutz suchen wollte an der Reling des Fährschiffes. Eine tiefe Wel­le der Zuneigung durchflutete ihn, die er lange nicht mehr so intensiv gespürt hatte. In welches Verderben ziehe ich sie hinein, dachte er unvermittelt, aber den Gedanken verwarf er sofort, denn er würde ihre Hilfe benötigen oder auch nur ihre Nähe, bei dem, was er tun wollte, er brauchte sie wie nie zuvor in all den Jahren, sie war sein Halt in der Finster­nis, die man Leben nannte, sie und die Rache.

Genau in dem Augenblick, da die Sonne endlich, wenn auch nur kurzzeitig, durch die Wolken brach, erblickte er am fer­nen Ufer zumeist einstöckige bunte Häuser, gelbe mit roten Dächern, weiße mit schwarzen, blaue mit grauen, blass­grüne mit roten, die von einer weißen Stein­kirche überragt wurden mit einem grauen Dach.

Dieser Anblick muss Sarah überwältigt haben, dachte er, denn sie schaute mit großen Augen zum Ufer.

»Hier ist er angekommen, so wie wir jetzt«, beendete er abrupt ihr Erstaunen. »Nun hat er den Tod im Nacken.«

Sie löste sich von ihm, ohne ihn anzuschauen, und diese Reaktion befremdete ihn, zerstörte die Nähe, die zwischen ihnen unversehens entstanden war.