AUF GLATTEM PARKETT - Margaret Scherf - E-Book

AUF GLATTEM PARKETT E-Book

Margaret Scherf

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Beschreibung

Auf dem Gemälde über dem Kamin war ein Mann abgebildet, aus dessen Züge Festigkeit und Lauterkeit sprachen - ein wohlgeformter Mund, freundliche Augen, eine edle, geschwungene Nase.

Jemand hatte in dem Bett geschlafen, ohne sich durch die historische Atmosphäre einschüchtern zu lassen. Die schwere weiße Decke war über das Fußende zurückgeschlagen, und die zerwühlten Betttücher zeugten von einer schlaflosen Nacht. Das Fenster stand offen. Die Spitzengardinen bewegten sich lässig in der warmen Luft.

Milo wanderte in dem Zimmer umher, blieb vor dem Waschtisch stehen, blickte in den mit Röschen bemalten Krug, sah einen blanken Gegenstand auf dem Boden liegen und zog einen neuen, großkalibrigen Colt hervor...

Margaret Scherf (* 1908 in Fairmont, West Virginia; † März 1979) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Auf glattem Parkett erschien erstmals im Jahr 1953; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1958.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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MARGARET SCHERF

 

 

Auf glattem Parkett

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 158

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

AUF GLATTEM PARKETT 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Auf dem Gemälde über dem Kamin war ein Mann abgebildet, aus dessen Züge Festigkeit und Lauterkeit sprachen - ein wohlgeformter Mund, freundliche Augen, eine edle, geschwungene Nase.

Jemand hatte in dem Bett geschlafen, ohne sich durch die historische Atmosphäre einschüchtern zu lassen. Die schwere weiße Decke war über das Fußende zurückgeschlagen, und die zerwühlten Betttücher zeugten von einer schlaflosen Nacht. Das Fenster stand offen. Die Spitzengardinen bewegten sich lässig in der warmen Luft.

Milo wanderte in dem Zimmer umher, blieb vor dem Waschtisch stehen, blickte in den mit Röschen bemalten Krug, sah einen blanken Gegenstand auf dem Boden liegen und zog einen neuen, großkalibrigen Colt hervor...

 

Margaret Scherf (* 1908 in Fairmont, West Virginia; † März 1979) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Auf glattem Parkett erschien erstmals im Jahr 1953; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1958.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   AUF GLATTEM PARKETT

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Um zwei Uhr morgens stieg Athalie aus dem Auto, schüttelte ihren Tüllrock zurecht und zwang sich zu einem Lächeln.

»Schau nicht so ängstlich drein«, sagte Charlie. »Die Gesellschaft ist in vollem Gang - man wird dich gar nicht kommen sehen. Du brauchst nur herumzuspazieren und die Ohren zu spitzen.«

»Das klingt alles sehr einfach. Wenn man mich aber ersucht, meine Einladung vorzuzeigen?«

»Hat man je gehört, dass eine süße kleine Blondine mit Fragen belästigt wurde!... Hör zu - es liegt etwas in der Luft. Irgendeine Schiebung, die der Herr Senator und der Herr Graf miteinander ausknobeln. Wenn es dir gelingt, einige Wörtchen aufzuschnappen, die uns auf die richtige Spur führen, werden wir ihn vielleicht diesmal beim Schlafittchen kriegen.«

Athalie machte kehrt, betrat, krampfhaft die Daumen haltend, das pompöse Haus und schritt über den Marmorboden und die teppichbelegte Treppe hinauf. An der Tür des Salons zögerte sie. Unter dem glitzernden Lüster standen unzählige Menschen, leerten Flaschen in die Gläser und die Gläser in den Schlund.

Jemand sagte: »Hallo, wer sind denn Sie?« Athalie erwiderte: »Mary!«, und damit war die Sache erledigt. Man gab ihr ein Glas, und sie spazierte umher, auf der Suche nach Senator Scott. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihre Hände waren kälter als das Glas.

Die meisten Gäste waren in dem Stadium angelangt, wo man ein junges Mädchen überhaupt nicht oder zu sehr beachtet. Ein junger Mann, der Kartoffelchips aß, reichte ihr die Schüssel. »Bedienen Sie sich. Macht nüchtern.«

Eine junge Dame kam hinzu und nahm ihm die Schüssel weg. »Dein Senator gefällt mir nicht. Gehen wir nach Hause.«

»Nicht so laut, Schatz!« Der junge Mann sah Athalie erschrocken an und sagte zu ihr: »Sie macht bloß Spaß.«

»Es ist kein Spaß. Ich mag ihn nicht. Er ist schleimig.«

»Willst du behaupten, dass sein berühmter Charme nicht wirkt?«

»Nicht auf mich. Wenn ein Mann mit seinem Charme arbeitet, darf er keine Glatze haben.«

»Du bist nicht bei Trost.« Er schleppte sie weg, und Athalie bahnte sich einen Weg durch das Gedränge zu dem rückwärtigen Saal.

Sie sah ihn erst, als sie ihm beinahe auf die Zehen getreten wäre: Senator Frank F. Scott, den Ellbogen auf das Kaminsims gestützt, große Reden schwingend, den freien Arm in fürstlicher Gebärde erhoben, der liebenswürdige Gastgeber...

Sie musterte ihn gründlich. Sie war ihm noch nie so nahe gekommen, und sie empfand es als eine prickelnde Sensation, den Feind aus der Nähe zu sehen. Er hatte ein glattes rosiges Gesicht mit drei Schlitzen - der schmale, strenge Mund und die glasgrünen Augen. Die langen Strähnen seiner restlichen Haare waren spärlich über den fettigen ovalen Schädel verteilt.

Athalie war ganz in den Anblick versunken, da legte sich eine feuchte Hand auf ihre Schulter. »Hallo, Püppchen, wo kommst denn du her?«

Athalie drehte sich um.

Ein großer Mann mit schweren Hängebacken und außerordentlich dickem Bauch, über dem sich die mit Brillantknöpfen übersäte Weste wölbte. Sie sah die Knöpfe sehr deutlich - sie befanden sich, als er näher kam, in einer Linie mit ihren Augen. Athalie sah sich nach Scott um. Die Szene schien ihn ganz besonders zu amüsieren.

Plötzlich schloss der dicke Kerl sie in seine Arme, beugte sich herab und presste seine feuchten, geöffneten Lippen wie einen Saugnapf auf ihren Mund. Sie sträubte sich aus Leibeskräften.

»Halt sie fest, Coronado!«, rief Scott lachend und trat näher. »Wenn sie sich nicht sträuben, sind sie keinen Pfifferling wert.«

Athalie duckte sich und entwischte der Umarmung des dicken Mannes. Hastig eilte sie zur Tür, aber Scott kam ihr zuvor. Grinsend stand er da, das schwabbelnde Martiniglas in der Hand.

»Wo laufen Sie hin?«, fragte er.

»Ich will nur für einen Augenblick nach oben«, sagte sie verzagt. Der Mann namens Coronado steuerte auf sie zu. Athalie suchte in dem Ozean von Gläsern, lachenden Mündern und Rauchschwaden nach einem freundlichen Gesicht, nach einem hilfsbereiten Arm... Dann atmete sie auf: Da war das Gesicht, da war der ausgestreckte Arm.

Senator Newhouse kam heran, seine prächtige Hemdbrust schimmerte wie der Schild eines edlen Ritters. »Lassen Sie das Kind in Ruhe, Graf! Sie fürchtet sich vor Ihnen. Lassen Sie sie laufen.«

»Kennen Sie sie?«, fragte Scott.

Athalie hielt den Atem an, aber Senator Newhouse schüttelte den Kopf.

Coronado sagte: »Ich weiß nicht, wer sie ist, ich weiß nicht, wie sie herkommt, aber wenn sie nun mal da ist, wird sie, gottverdammich, bis zu Ende bleiben.«

»Ich bin gleich wieder da«, versicherte Athalie.

»Trauen Sie ihr nicht, Coronado!«, sagte Scott lachend. »Nehmen Sie ihr die Schuhe weg.«

Senator Newhouse protestierte empört, aber sie zogen ihr die neuen blauen Pumps aus und ließen sie dann gehen.

Am liebsten wäre sie die Treppe hinaufgerannt, aber sie ging langsam, Stufe für Stufe, in die dritte Etage. In den Schlafzimmern waren Leute, lustige, unbekümmerte Leute. Am anderen Ende des Korridors befand sich eine verschlossene Tür. Sie öffnete sie behutsam und konnte undeutlich eine schmale Treppe erkennen. Athalie machte die Tür leise hinter sich zu und schlich hinunter. Ihre Hände schwitzten, ihr Herz hämmerte. Sie kam unten an, tastete nach einer Klinke, drückte sie nieder. Die Tür war versperrt.

Zitternd blieb sie stehen, wagte nicht zurückzugehen. Jetzt bewegte sich etwas hinter der Tür. Ein Schlüssel knackte, die Tür ging auf, und Athalie blinzelte in das grelle Licht.

Senator Scott sagte: »Ich habe mir gleich gedacht, dass ich Sie hier antreffen werde.«

Athalie starrte ihn an und brachte kein Wort über die Lippen.

»Fürchten Sie sich nicht, Sie kleines Dummerchen. Ich werde Sie jetzt nach Hause schicken. Und sagen Sie Ihrem Herrn Papa, er soll Ihnen nicht wieder solche Aufträge erteilen. Sie sind noch zu jung.«

Er trat einen Schritt zurück. Athalie lief an ihm vorbei ihre bestrumpften Füße huschten lautlos über den Marmor, durch den Gang, durch das Foyer, durch das offene Tor und die drei Stufen zur Straße hinauf.

Es regnete, und die frische, kühle Luft der Sommernacht durchströmte ihre zusammengepresste Kehle. Einen Augenblick lang empfand sie nichts als eine grenzenlose Erleichterung. Dann blieb sie stehen. Scott hatte sie erkannt. Was würde er nun unternehmen? Würde er ihren Vater verständigen? Würde er diese Sache benützen, um ihm wieder etwas anzutun?

Es war unerträglich. Sie begann zu weinen, während sie durch die Pfützen auf dem holprigen Bürgersteig davoneilte, ohne sich darum zu kümmern, dass ihr Kleid nass wurde. Wie dumm von ihr, hinzugehen! Unmöglich, ihn zu stoppen! Er war viel zu stark, viel zu schlau. Jetzt konnte ihm niemand mehr an den Kragen.

Sie drehte sich um und blickte zu dem hellen Lichtstreifen zurück, die zwischen den schweren Vorhängen in den Fenstern der zweiten Etage blinkten. Nur eines konnte Frank Scott stoppen. Nur eines...

 

Um neun Uhr am Morgen des gleichen Tages saß Milo McDevitt in den Büros der Speditionsfirma Adams in der 63. Street und wartete auf Samson, damit sie ihre erste Tour antreten könnten. Bertha war schnell mal über die Straße gegangen, um Kaffee zu trinken, und es war recht friedlich, besonders für einen Sonnabend.

Bertha Adams würde ihm abgehen. Er hatte jetzt drei Sommer lang bei ihr gearbeitet, um seine Universitätsstudien zu finanzieren. »Ich hätte nie gedacht«, hatte sein Vater nach Ablauf des ersten Sommers gesagt, »dass du das Zeug dazu haben würdest, Kisten zu schleppen.« Aber Milo hatte es bei Bertha gefallen. Ihre Firma war ihm eine wahre Zuflucht vor den preisgekrönten Durham-Rindern, die auf den üppigen Wiesen seines Vaters in der Nähe von Freehold weideten.

Milo hatte nichts für Durhams übrig- Diese Ketzerei in einer Familie, die seit vier Generationen die heiligen braunen Tiere gezüchtet hatte, würde seinen Vater noch tiefer entsetzt haben, wenn er nicht Milo vom Tage der Geburt an aufgegeben hätte. »Ein Schwächling!«, hatte er gemurmelt. Und da es seine Gewohnheit war, keinerlei Zweifel über seine Ansichten aufkommen zu lassen, hatte er zweiundzwanzig Jahre lang bei jeder Gelegenheit laut bekräftigt, dass er Milo längst aufgegeben habe.

Milo konnte sich noch genau erinnern, wie sein Vater puterrot geworden war, als er ihm mitteilte, er gedenke

Jura zu studieren und die politische Laufbahn einzuschlagen...

»Du - du willst kandidieren?«, fragte McDevitt senior.

»George, bitte!«, sagte Mrs. McDevitt. »Nicht aufbrausen!«

»Wer wird denn aufbrausen? Ich möchte nur nicht gern meinen Sohn im Armenhaus landen sehen.«

»Milo hat eine vertrauenerweckende Art. Ich glaube, er wird es schaffen.«

»Warum sucht er sich nicht ein sauberes Gewerbe aus? Soll er Schweine züchten! Politik! Heute bist du Senator, und morgen stehst du mit einer langen Nase da. Politiker sind nur beliebt, solange sie noch nicht gewählt sind.«

Der Sturm legte sich, Milo hielt an seiner Absicht fest, und sein Vater entschloss sich mit stillem Grimm, ihn als einen missratenen Spross hinzunehmen und durch geschickte Zuchtmethoden die Qualitäten der nächsten Generation zu verbessern. Zu diesem Zweck hatte er Bernice zur künftigen Schwiegertochter ernannt. Bernice war hochgewachsen, von kräftigem Knochenbau, fleißig und Eigentümerin fruchtbarer Ländereien in Monmouth County.

Milo war froh, dass in diesem Augenblick das Telefon klingelte und er nicht mehr an Bernice zu denken brauchte. Er nahm den Hörer ab.

»Hier spricht Senator Scott.« Die Stimme klang pompös und wichtig. »Ich möchte Sie ersuchen, einen Safe bei mir abzuholen und nach Washington zu transportieren.«

»Ja, mein Herr. Die Adresse?« Milo griff nach einem Notizbuch.

»Nummer vierundzwanzig. East 20. Street - zwischen Broadway und der Fourth Avenue. Er muss noch heute Vormittag abgeholt werden. Verstanden? Sie müssen ihn auch in eine Kiste verpacken...«

»Safes verpacken wir in Wellblech mit Metallbändern.

Für den Transport nach Washington benützen wir den Schnellfernverkehr. Wir sind eine New Yorker Firma.«

»Ich verstehe. Wieviel wird es kosten?«

»Wieviel wiegt der Safe?«, fragte Milo.

Das wusste der Senator nicht. Seiner Schätzung nach sechs- bis siebenhundert Pfund. Milo sagte, fünfzig Dollar würden wohl reichen, aber er könne keinen Preis bestimmen, ohne das gesamte Gewicht zu kennen.

»Ich werde sechzig Dollar deponieren«, sagte der Senator, »den Rest können Sie mir per Scheck überweisen. Der Safe steht zu ebener Erde. Der Schlüssel liegt auf der Türschwelle. Können Sie es bestimmt noch heute Vormittag erledigen?«

Milo versprach es, und der Senator legte auf. Dann kam Bertha herein mit einem Becher Kaffee und dänischem Backwerk, und Milo berichtete von dem neuen Auftrag.

»Sonnabend - und Sie versprechen dem Knaben, dass wir es heute noch schaffen werden? Sie sind verrückt.« Bertha platzierte ihren breiten Hintern auf den Drehstuhl und riss den Deckel des Bechers ab. »Wir haben im Lauf des Vormittags drei Transporte zu erledigen, und Samson ist noch nicht da.«

»Bares Geld, Bertha - und ein Senator der Vereinigten Staaten. Wir werden es schaffen.«

»Wie?« Bertha biss kräftig in das Backwerk.

»Ich fahre sofort los.«

Sie machte eine verächtliche Miene. »Sie können nicht allein einen tausend Pfund schweren Safe bewältigen.«

»Sechs- bis siebenhundert, nicht tausend. Und dank Ihrer Pflege bin ich gut bei Kräften.« Er krempelte die Ärmel hoch, nahm die Autoschlüssel von dem Haken neben dem Schreibtisch und begab sich zur Tür.

»Ich kann Sie gut leiden, McDevitt«, murmelte Bertha mit vollem Mund. »Ich möchte nicht, dass Sie wegen eines schäbigen Politikers an Hitzschlag sterben. Es muss fünfundvierzig Grad im Schatten haben.«

Milo lächelte und ging zum Auto hinaus. Er fuhr durch die 2. Avenue, um dem hoffnungslosen Gewimmel auszuweichen, und wechselte an der 53. Street zum Broadway hinüber.

Die Luft war dick wie geronnener Käse, und als er sich hinausbeugte, um in die 20. Street einzubiegen, blieb sein Arm an dem heißen Metall der LKW-Tür kleben. Es machte ihm keine Mühe, das Haus zu finden. Frisch verputzt und gut erhalten, war es das einzige Wohngebäude zwischen den Speichern und Ausstellungsräumen.

Vor den Stufen, die zum Hauptportal führten, hing eine Kette, und er sah, dass die Eingangstür, die jetzt benutzt wurde, sich unterhalb der Stufen befand. Der Schlüssel lag auf der Türschwelle, so wie der Senator es mitgeteilt hatte, und als Milo ins Haus kam, sah er, dass er in eine Art Museum geraten war. Gegenüber am anderen Ende des Marmorbodens saß ein eiserner Löwe auf einem Podest. An den Wänden hingen Speere, Flinten und Zebrafelle, und in etlichen Glaskästen waren die kleineren Relikten einer schießfreudigen Laufbahn für die Nachwelt aufbewahrt. Milo nahm einen auf Glanzpapier gedruckten Katalog von einem Gestell.

 

JAMES NORMAN RAMSEYS WOHNSITZ,

DURCH DIE BEMÜHUNGEN DES SENATORS FRANK F. SCOTT

RESTAURIERT UND DER ALLGEMEINHEIT ZUGÄNGLICH GEMACHT

 

Milo hatte keine Ahnung, was das für eine Größe gewesen war. Der Safe stand hinter dem Löwen, und er sah sogleich, dass er für einen einzelnen Menschen zu schwer war. Drei Zwanzigdollarnoten waren mit Klebestreifen daran befestigt.

Milo ging zum Telefon, das auf einem Schreibtisch neben dem Eingang stand, und rief Bertha an.

»Ich habe es Ihnen gleich gesagt. Samson ist inzwischen erschienen. Er könnte in zehn Minuten bei Ihnen sein, aber Sie kennen ja Samson, es wird also eine halbe Stunde dauern. Adieu. Amüsieren Sie sich gut.«

Milo beschloss, sich die übrigen Räume anzusehen, während er auf Samson wartete. Zu ebener Erde roch es muffig, aber als er die Treppe hinaufging, roch es weniger nach Mief und mehr nach Whisky. Er kam in die zweite Etage und befand sich in einem großen Saal, der offenbar früher einmal Mr. James Ramseys Empfangssalon gewesen war. Die schweren Vorhänge waren zugezogen, und ein Kristalllüster glitzerte über etlichen Dutzend schmutziger Gläser. Die Kerzen in den silbernen Leuchtern auf dem Kaminsims waren zu kurzen Stumpen niedergebrannt und hatten Wachskleckse auf dem Marmor hinterlassen. Auf dem Rosenholzklavier und den gelbseidenen Stühlen waren Brandflecke, zerknüllte Papierservietten, halb aufgegessene Sandwiches zu sehen.

Mitten auf dem geblümten Teppich standen zwei ganz kleine blaue Satinschuhe.

Hier musste es gestern Abend hoch hergegangen sein.

Der kleinere Salon, durch einen zweiten Lüster erhellt, bot den gleichen betrüblichen Anblick, und nachdem Milo sich schnell umgesehen hatte, ging er in den dritten Stock hinauf und las dort ein Schild, das am Türrahmen des Vorderzimmers befestigt war:

 

MR. UND MRS. RAMSEYS SCHLAFZIMMER,

ORIGINALMÖBEL AUS WALNUSSHOLZ.

MR. RAMSEYS PORTRAIT AUS SEINER BOTSCHAFTERZEIT

IN FRANKREICH. DIE TAPETEN VON MRS. RAMSEY

IN PARIS GEKAUFT.

 

Auf dem Gemälde über dem Kamin war ein Mann abgebildet, aus dessen Züge Festigkeit und Lauterkeit sprachen - ein wohlgeformter Mund, freundliche Augen, eine edle, geschwungene Nase.

Jemand hatte in dem Bett geschlafen, ohne sich durch die historische Atmosphäre einschüchtern zu lassen. Die schwere weiße Decke war über das Fußende zurückgeschlagen, und die zerwühlten Betttücher zeugten von einer schlaflosen Nacht. Das Fenster stand offen. Die Spitzengardinen bewegten sich lässig in der warmen Luft.

Milo wanderte in dem Zimmer umher, blieb vor dem Waschtisch stehen, blickte in den mit Röschen bemalten Krug, sah einen blanken Gegenstand auf dem Boden liegen und zog einen neuen, großkalibrigen Colt hervor. Davon stand nichts im Katalog, der für die Besucher bestimmt war.

Von Neugier geplagt, öffnete er die Schubladen der Kommode: Handtücher, Schlipse, Socken, eine Tube Aspirin, zwei Nylonhemden und ein silbernes Feuerzeug mit den Initialen Frank F. Scotts. Der Senator benutzte, wenn er nach New York kam, das Museum als Absteigequartier.

Ein Korridor verband das vordere mit dem hinteren Schlafzimmer. Zu beiden Seiten des Korridors lagen Garderoben. In einer der Garderoben fand Milo einen blauen Anzug und zwei Paar Schuhe. Das hintere Schlafzimmer enthielt ein Kinderbett, einen Schaukelstuhl und eine mit Rüschen verzierte Wiege, in der eine Porzellanpuppe saß.

Milo kehrte in die zweite Etage zurück, setzte sich auf den Klaviersessel im großen Salon und holte seine Zigaretten aus der Tasche. Eine Menge Streichholzhefte lagen umher, offenbar eigens für das Fest gedruckt; auf der einen Seite stand Ramsey-Haus und auf der anderen in größeren Lettern Frank F. Scott. Dazu etliche Pfeifenreiniger mit bedruckten Fähnchen, damit man genau wisse, wem man seine saubere Pfeife zu verdanken habe.

Am meisten aber interessierten Milo die Schühchen. Sie waren aus glatter blauer Seide - keine Schleifen, keine Perlen, keinerlei Besatz. Sie sahen nicht aus wie die Fußbekleidung eines betrunkenen Frauenzimmers, das nicht mehr weiß, dass es ohne Schuhe wegläuft.

Er erhob sich und bückte sich, um die Schuhe aufzuheben. Plötzlich fuhr er hoch und lauschte. Ein raschelndes Geräusch im Hause. Samson konnte es nicht sein - er pflegte wie ein Wirbelsturm heranzubrausen. Das Geräusch verstummte. Milo meinte, er müsse sich’s eingebildet haben. Dann fing es wieder an. Jemand kam leise, ganz leise die Treppe herauf. Milo ging behutsam über den geblümten Teppich und in den Flur hinaus. Als seine Sohlen den nackten Parkettboden berührten, ließ sich von der Treppe her ein erstickter Ausruf vernehmen, ein Rascheln und das Getrappel enteilender Schritte.

Milo beugte sich über die Balustrade und sah undeutlich einen blonden Haarschopf und einen schwarzen Seidenmantel davonhuschen.

»Einen Augenblick!«, rief Milo, aber die Dame war verschwunden.

Er lief hinunter, und gerade als er die Tür erreichte, kam Samson hereingeplatzt.

»Was war denn das für eine Süße?«, fragte Samson. »Sie hätte mich beinahe umgerannt.«

Milo drängte sich an ihm vorbei auf den Bürgersteig hinaus. Weit und breit war keine junge Dame in schwarzseidenem Mantel zu sehen. Milo kehrte zurück.

»Was geht hier vor?«, fragte Samson neugierig. »Sie sah erschrocken aus.«

»Keine Ahnung!« Milo wischte sich die Stirn. »Sie wollte nicht gesehen werden - das ist klar.«

Samson sah sich um. »Du meine Güte - ein Zoo! Was ist denn das für eine Bude?«

»Egal! Dort steht der Safe. Vorwärts!«

Samson hob den Schweif des Löwen auf, der abgebrochen war und neben dem Tier auf dem Podest lag. »Die Leute bilden sich ein, sie könnten ihn wieder ankleben!« Samson grinste höhnisch. »Eisen kann man nicht kleistern. Jedes Kind weiß, dass man Eisen nicht kleistern kann.«

»Los!«, sagte Milo. »Bertha platzt vor Ungeduld.« Samson liebte nichts so sehr wie Trödelei und Zerstreuung. Auf dem Podest lagen einige Lappen, eine Drahtbürste und eine Dose mit irgendwas drin, und er las sorgfältig das Etikett. »Da steht, dass ich gelogen habe. Da steht, dass man mit dem Zeug Metalle kleistern kann. Hältst du’s für möglich?«

»Mir ist es völlig gleich! Greif zu, Samson, heben wir das Ding auf den Karren und fahren wir los!«

»Aber sicher! Wo ist das WC?«

»Ich weiß es nicht.« Milo setzte sich auf das Podest und lehnte sich an den Löwen an, um auf Samsons Rückkehr zu warten. Samson stapfte die Treppe hinauf, und als er in die zweite Etage kam, rief er herunter: »Donnerwetter, haben die hier angegeben! Irgendein Dämchen hat seine Schuhe vergessen.«

Milo lief die Treppe hinauf. Wenn er nicht hinter Samson her war, würde der den ganzen Tag vertrödeln. Samson war eben dabei, sich den abgestandenen Rest eines Whisky-Soda zu Gemüte zu führen.

»Sie muss total besoffen gewesen sein.« Samson starrte die Schuhe an. »Wem gehört der Laden?«

»Einer Stiftung.«

»Na, die Stiftung kann stiften gehen!« Samson kostete von einem zweiten Glas. »Was ist weiter oben?«

»Nur Schlafzimmer.«

Samson ging auf jeden Fall hinauf und kam nach ein paar Minuten mit strahlender Miene zurück. »Hast du das WC da oben gesehen? Schwarz und rot - mit Bildern.« Er hob die Schühchen auf und steckte sie in die Hosentaschen.

»Was soll das?«, fragte Milo.

»Andenken!«

»Stell sie wieder hin. Vielleicht wird die Dame sie noch brauchen.«

Samson grinste nur und behielt die Schuhe.

Milo überlegte, ob sie wohl dem jungen Mädchen gehören mochten, das er auf der Treppe gesehen hatte - sie war klein, und die Schuhe waren klein. Samson hatte offenbar nicht an diese Möglichkeit gedacht. Ganz gut so!

Die beiden Männer stellten den Safe auf den Lastwagen, legten den Schlüssel wieder auf die Schwelle (wie der Senator es verlangt hatte) und kletterten in die Fahrerkabine. Samson befestigte die Schuhe an einer Kordel, an der bereits ein Kinderschuhchen, eine Federpuppe und ein weißes Fellkaninchen baumelten.

Als sie in die 63. Street zurückkehrten, schäumte Bertha vor Empörung.

»Wo habt ihr so lange gesteckt? Es ist bald zwölf!«

»Sie hätten den Laden sehen müssen!«, sagte Samson. »Die Herren Senatoren leben nicht schlechter als Sie und ich.«

»Halten Sie keine Volksreden! Tragt es zu Fred hinein, damit er’s einpackt!«

Milo und Samson trugen den Safe in den Packraum, wo Fred sich seiner annahm, und Milo gab Bertha die sechzig Dollar.

»Ich habe nicht mit barem Geld gerechnet«, sagte Bertha erfreut. »Er kann noch nicht lange Politiker sein. Wie heißt er bloß?«

»Scott. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass er gesagt hat, er legt das Geld dazu!«

»Ja, aber ich habe es nicht geglaubt.«

 

Als Milo am nächsten Mittwoch ins Büro kam, blickte Bertha von der Zeitung auf. »Wie hat der Senator geheißen, dessen Safe wir abgeholt haben?«

»Scott.«

»Seine Kanzlei in Washington ist besorgt. Er hat sich seit Freitag nicht blicken lassen.«

»Was geht das uns an? Er hat bar bezahlt.«

Bertha lächelte. »Richtig, McDevitt.«

Samson kam herein, und er und Milo brachen auf, um ihren ersten Transport durchzuführen. Es war selbst für den August ein stickiger Tag, und sie hielten an einem kleinen Lokal in der 38. Street, um Eiskaffee zu trinken. Jemand sagte: »Es sollte mich nicht wundern, wenn Scott erschossen aufgefunden wird! Junge, Junge, er hat nicht wenig Feinde! Die Geschichte mit Stafford war toll!«

»Was soll das heißen? Stafford ist ein Säufer, das ist bewiesen, es gibt Fotos!«

»So? Fotos kann man fälschen, Brüderlein, und dieses Foto war gefälscht.«

»So? Warum hat denn nicht das Hotel sich gemeldet und erklärt, Stafford sei gar nicht betrunken gewesen?«

»Damit die Welt erfährt, dass ein Senator im Mayborne vergiftet wurde? Du bist nicht bei Trost.«

Am Sonnabend beschäftigten sich auch die vorsichtigeren Zeitungen mit der Tatsache, dass Scott nichts von sich hören ließ, und nannten es ein seltsames Verschwinden. Die Polizei wurde aufmerksam. Noch nie war der Senator für längere oder kürzere Zeit weggeblieben, ohne seiner Kanzlei mitzuteilen, wo er zu erreichen sei. Er pflegte häufig anzurufen, um mit den Vorgängen der Hauptstadt in Kontakt zu bleiben. Der Kongress tagte noch, und er hatte nicht um Urlaub nachgesucht. Bei einer festlichen Veranstaltung im Ramsey-Haus, das jetzt als Museum diente (schrieben die Zeitungen), sei er zum letzten Mal gesehen worden.

Samson kam grinsend herein. »Wo ist Bertha?«

»Beim Friseur.«

»Ich möchte ihr etwas zeigen.« Samson schwenkte eine Zeitung. »Ich komme in die Zeitung, oller Freund! Ich hab etwas, was die Polizei sucht.«

»Was denn?«, fragte Milo.

»Ein Paar blaue Schuhe. Größe dreieinhalb.« Er hielt die Zeitung Milo unter die Nase. »Schau, was da steht! Unbekanntes Aschenbrödel verließ ohne Schuhe das Fest des Senators. Eine junge Dame namens Mary, den Beschreibungen nach klein, blond und hübsch, verließ nach einer Auseinandersetzung mit einem der Gäste in Strümpfen das Haus. Die Polizei, die das Verschwinden Senator Scotts untersucht, hat die Schuhe im Ramsey-Haus nicht finden können.«

»Ich wusste nicht, dass du lesen kannst«, brummte Milo.

»Ich habe die Schuhe«, wiederholte Samson. Er betrachtete sich in Berthas Spiegel über dem Karteischrank. »Ich muss mir die Haare schneiden lassen, bevor sie mich fotografieren.«

Milo runzelte die Stirn. »Ich habe dich nie für einen schlechten Kerl gehalten«, sagte er. »Nur um in die Zeitung zu kommen, willst du die Polizei auf sie hetzen.«

»Auf wen?«, sagte Samson bestürzt.

»Vielleicht ist es ein anständiges Mädel, das gar nicht hingehörte. Und wenn du das Maul hältst, wird niemand erfahren, dass sie dort war.«

»Kennst du sie?«, fragte Samson mit dem üblichen Ausdruck gekränkter Verwunderung, der immer dann seine Mienen beschlich, wenn er atemlos dem allzu raschen Ablauf der Ereignisse zu folgen versuchte.

»Natürlich nicht! Aber ich habe keine Lust, Leute nur deshalb ins Kittchen zu bringen, weil ich sie zufälligerweise nicht kenne.«

»Was hat das Kittchen damit zu tun? Wer hat denn behauptet, dass jemand ins Kittchen soll?«

»Wenn ein Mensch sich zehn Tage lang nicht blicken lässt, muss ihm etwas zugestoßen sein.«

»Hier in der Zeitung ist man anderer Meinung; man nimmt an, dass er mit einer Freundin nach Havanna gefahren sei.«

»Hoffentlich! Aber denk nicht mehr an die blauen Schuhe, die du gefunden hast, Samson.«

»Wenn ich schon mal Gelegenheit habe, in die Zeitung zu kommen, stopfst du mir den Mund. Warum?«

Milo sagte, er bedaure sehr, aber er halte es für das einzig anständige Verfahren. Er ging zum Auto hinaus, knüpfte die Schuhe los und brachte sie herein. Mit goldenen Lettern stand auf der einen ziegenledernen Innensohle: Demetrius, der Schuhmacher. Keine Adresse.

Bertha kam herein und sah die Schuhe, bevor Milo sie einstecken konnte. »Wem zum Donnerwetter gehören denn diese Schuhe?«

Samson war nur allzu gern bereit, ihr die Geschichte brühwarm zu servieren.

»Und hier haben wir den edlen Prinzen mit Schillerkragen!« Sie sah Milo an und hob einen der Schuhe auf. »Handarbeit. Er will der jungen Dame durch ihren Schuster auf die Spur kommen, Samson.«

Milo beschäftigte sich mit dem Telefonbuch. »Hier! Demetrius, Madison Avenue.«

»Er wird nicht mit ihrem Namen herausrücken.«

»Ein Versuch kann nicht schaden«, sagte Milo.

Der Laden lag zwischen Theresas Färberei und einem Londoner Silberschmied. Um die Blicke der Passanten anzulocken, hatte Demetrius ein Paar grüne Reptil-Lederschuhe mit gelben Schnürsenkeln samt einem Stück Fischnetz ins Schaufenster platziert. Als Milo erschien, saß Demetrius persönlich hinter dem Ladentisch, auf dem die größte Unordnung herrschte.

»Ich möchte gern erfahren, wem diese Schuhe gehören«, sagte Milo und zog die blauen Dinger aus der Tasche.

»So?« Demetrius musterte ihn von oben bis unten. »Warum?«

»Ich möchte sie zurückgeben.«

»Das will ich gern für Sie tun.«

»Aus ganz bestimmten Gründen möchte ich es selber besorgen«, sagte Milo. »Ich habe sie an einem etwas ungewöhnlichen Ort gefunden, und wenn ich die Dame persönlich sprechen kann, werde ich vielleicht in der Lage sein, ihre Befürchtungen zu zerstreuen.«

Demetrius betrachtete ihn forschend. Dann lächelte er. »Vielleicht sind das die Schuhe, die nach dem Festabend Senator Scotts nirgends aufzufinden waren.«

»Wie kommt es, dass Sie das wissen?«, fragte Milo überrascht.

»Ich lese Zeitungen. Besonders wenn von Schuhen die Rede ist.«

»Sie wissen, wem sie gehören. Wahrscheinlich werden Sie die Polizei verständigen.«

»Das glaube ich kaum. Warum soll ich der Polizei ihre Arbeit abnehmen?«

Milo sagte, das sei sehr anständig von ihm. »Würden Sie so viel Vertrauen zu mir haben, dass Sie es mir überlassen, ihr die Schuhe zurückzugeben?«