DER TOD IN DER WÜSTE - Margaret Scherf - E-Book

DER TOD IN DER WÜSTE E-Book

Margaret Scherf

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Beschreibung

Die hübsche, junge Sekretärin Marie McAllister soll den Bankdirektor Bennington von der California-Pacific-Bank zu einer Konferenz nach Phoenix begleiten. Aber aus der Reise nach Arizona wird eine Fahrt ins Ungewisse: Ein bewaffneter Bankräuber zwingt den Direktor und die Sekretärin, in die Einsamkeit der Wüste zu fahren. Dann fallen Schüsse...

Margaret Scherf (* 1908 in Fairmont, West Virginia; † März 1979) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Der Tod in der Wüste erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1972 (unter dem Titel Der Tote im Sand).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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MARGARET SCHERF

 

 

Der Tod in der Wüste

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 120

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER TOD IN DER WÜSTE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Die hübsche, junge Sekretärin Marie McAllister soll den Bankdirektor Bennington von der California-Pacific-Bank zu einer Konferenz nach Phoenix begleiten. Aber aus der Reise nach Arizona wird eine Fahrt ins Ungewisse: Ein bewaffneter Bankräuber zwingt den Direktor und die Sekretärin, in die Einsamkeit der Wüste zu fahren. Dann fallen Schüsse...

 

Margaret Scherf (* 1908 in Fairmont, West Virginia; † März 1979) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Der Tod in der Wüste erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1972 (unter dem Titel Der Tote im Sand).  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DER TOD IN DER WÜSTE

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Es war fünf Minuten vor vier Uhr in Los Angeles. In der California-Pacific-Bank fertigte man die letzten Kunden ab.

Marie McAllister schritt eilig durch den Korridor zu Mr. Benningtons Büro. Sie trug eine Reisetasche und war mit einem leichten Mantel bekleidet. Sie hoffte, sie würde mit ihrem Strickkostüm richtig angezogen sein für die bevorstehende Konferenz. Mr. Bennington hatte ihr nicht viel Zeit zur Vorbereitung gelassen. In der Mittagspause war er zu Mr. Carter gegangen und hatte ihn gefragt, ob er Miss McAllister nach Phoenix mitnehmen könnte. Seine Sekretärin, Miss Rice, war am Morgen erkrankt, und er brauchte unbedingt eine Vertretung. Mr. Carter hatte Marie nicht weglassen wollen, doch Mr. Bennington war charmant, beredsam und außerdem vierter Vizepräsident. Marie selbst war erfreut gewesen über die Aussicht, eine Reise zu machen, allerdings auch ein wenig besorgt, ob sie imstande sein würde, die Arbeit zufriedenstellend zu erledigen. Miss Rice war eine ältere Dame, erfahren und sehr tüchtig.

»Keine Angst, Sie werden es schon schaffen«, hatte Mr. Bennington versichert. »Am besten fahren Sie gleich nach Hause, holen sich Ihre Zahnbürste und sind dann Punkt vier bei mir im Büro.«

Bei der California-Pacific-Bank hielt man noch an altmodischen Gepflogenheiten fest. Ihre Vizepräsidenten saßen nicht etwa wie die Schalterangestellten und andere Wesen niedrigerer Ordnung in der Schalterhalle, sondern hatten ihre eigenen Büros. Mr. Benningtons Büro befand sich in der Nähe des Tresors.

Als Marie am offenen Tresor vorbeikam, sah sie, wie Mr. Connelly Geldbündel hin und her schob. Mr. Connelly hatte dafür zu sorgen, dass die Schalterangestellten jederzeit genug Bargeld zur Hand hatten, und ging den ganzen Tag mit Stapeln von Banknoten ein und aus. Er war ein mürrischer und pedantischer Mensch. Jetzt warf er einen Blick in den Korridor.

»Marie, Ihr Freund sucht Sie.«

Sie wollte nicht stehenbleiben, doch Mr. Connelly wies mit gebieterischem Finger auf den jungen Mann am ersten Schalter, und im gleichen Moment entdeckte John sie und kam herüber.

»Du willst wirklich fahren?«, fragte er.

»Natürlich.«

»Ich habe davon gehört, aber ich habe es nicht geglaubt. Ein Wochenende mit Bennington!«

Sie errötete ärgerlich. »John, das ist doch eine rein geschäftliche Angelegenheit. Miss Rice ist krank.«

»Stimmt das wirklich, oder möchte Bennington vielleicht lieber eine jüngere und hübschere Sekretärin mitnehmen?«

»Wir sprechen uns, wenn ich wieder zurück bin.«

Sie machte Anstalten weiterzugehen, doch er hielt sie am Arm fest.

»Marie, bitte fahre nicht! Zu dir habe ich volles Vertrauen, aber zu Bennington nicht.«

»Ich habe jetzt keine Zeit, John. Es ist überhaupt nichts dabei. Wenn ich wieder da bin, erzähle ich dir alles.«

Sie lächelte ihm flüchtig zu und eilte davon.

Sie legte die Hand auf die Klinke, widerstand einem nervösen Impuls, sich nochmals im Spiegel zu mustern, und öffnete die Tür. Sie brauchte nichts zu sagen. Mr. Bennington stand neben seinem Schreibtisch. Ein zweiter Mann stand am Fenster. Der Fremde hielt eine Schusswaffe in der Hand.

»Rühren Sie sich nicht! Schreien Sie nicht! Setzen Sie sich ganz ruhig nieder, mein Fräulein.«

Er war sehr nervös, das konnte sie sehen.

Mr. Bennington war ruhiger, doch unter der gesunden Bräune wirkte sein Gesicht grünlich.

»Tun Sie, was er sagt, Miss McAllister«, befahl er ihr. »Es hat keinen Sinn, dass wir es hier zu einer Schießerei kommen lassen und Menschenleben aufs Spiel setzen.

»Ganz recht. Sehr vernünftig, Bennington. Wir werden die Tür offen lassen, während Sie in den Tresor gehen. Wenn Sie mit irgendjemandem sprechen oder vielleicht ans Telefon gehen, wird die junge Dame die erste sein, die für Ihre Dummheit bezahlt.«

Mr. Bennington nahm einen ziemlich großen Aktenkoffer sowie zwei braune Umschläge und ging auf den Tresorraum zu. Mr. Connelly kam im selben Moment aus dem Tresorraum heraus, in den Mr. Bennington hineinging. Marie sah, wie er sich den Regalen näherte, doch sie drehte sich nach dem bewaffneten Mann um. Sie saß völlig reglos, und es schien ihr, als verstrichen Jahre. Dann kehrte Mr. Bennington zurück; es konnten höchstens einige Minuten vergangen sein.

»Wir drei werden jetzt in aller Ruhe hinausgehen«, erklärte ihnen der Mann, »und dann auf dem Parkplatz in Benningtons Wagen steigen. Bennington wird fahren, und zwar nach meinen Anweisungen. Drei Straßen weiter steigen wir in einen anderen Wagen um. Verhalten Sie sich ruhig und unauffällig. Wenn Sie tun, was ich sage, dann passiert Ihnen nichts. Sobald wir die Grenze erreicht haben, sind Sie wieder frei.«

Die Bankangestellten waren angehalten, sich bei einem Überfall nach den Befehlen der Banditen zu richten. Marie hielt sich an diese Anweisung, ebenso Mr. Bennington. Niemand schien von ihnen Notiz zu nehmen, als sie den Korridor entlang zur Hintertür gingen und auf dem Parkplatz in Mr. Benningtons Wagen stiegen. Der Name des Fremden war Walsh, Ellis Walsh. Er war höflich, das musste man ihm lassen. Er erklärte ihnen stets, was er als nächstes tun würde und was er von ihnen erwartete. Er hielt ihr die Tür auf und entschuldigte sich für die Ungelegenheiten, die er ihnen verursachte. Er setzte sich in den Fond, und Marie spürte förmlich seine lauernde Wachsamkeit. Der Wagenwechsel geschah reibungslos in einer menschenleeren Straße.

Nachdem sie die Stadt verlassen hatten, drückte Fred Bennington hart aufs Gaspedal. Starr umklammerten seine braunen Hände das Steuerrad; seine Gesichtsmuskeln waren gespannt. Als Marie verstohlen einen Blick nach rückwärts auf Ellis Walsh warf, sah sie, dass er wie gebannt die Straße im Auge behielt, als säße er selbst am Steuer und müsste Kilometer um Kilometer verschlingen.

Die Angst ließ nicht nach. Jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte von der Verkrampfung, die ständiges Auf-der-Hut-sein und ständige Furcht mit sich brachten. Sie hielten nirgends an, Stunden vergingen, Kilometer um Kilometer wurden geschluckt. Walsh hatte von der Grenze gesprochen, doch sie hatte das sichere Gefühl, dass sie nicht in direkter südlicher Richtung nach San Diego fuhren, sondern sich südöstlich hielten, wahrscheinlich, um irgendwo die Staatsgrenze nach Arizona zu überqueren. Konnte sie hoffen, dass die Untersuchungsbeamten an der Kontrollstelle ihnen zu Hilfe kommen würden, wenn sie die Staatsgrenze erreichten?

Mr. Bennington fuhr jetzt zu schnell, hundertfünfzig, als er einen Lastwagen überholte, dessen Scheinwerferstrahlen über die Wüste hinstrichen. Sie brausten durch die Hauptstraße einer Ortschaft, die zum größten Teil aus Palmen und Motels mit grünen Rasenflächen und angestrahlten Schwimmbecken zu bestehen schien. Marie hatte den Eindruck, dass sie sich Arizona näherten.

»Ich muss unbedingt einmal einem Moment hinaus«, sagte sie ruhig, aber entschieden. »Könnten wir an der Kontrollstelle anhalten?«

»Tut mir leid. Da nicht. Wir lassen Sie hinaus, sobald wir drüben sind. In der Wüste«, versetzte Walsh. »Würden Sie so nett sein und einmal unter Ihren Sitz greifen? Da liegt ein Pappschild. Klemmen Sie es gegen die Windschutzscheibe, so, dass der Posten es lesen kann.«

Sie gehorchte, und es gelang ihr, selbst einen Blick auf die Aufschrift zu werfen. Tailings stand auf dem Schild. Als sie an der Kontrollstelle vorfuhren, gab ihnen der Posten Zeichen, weiterzufahren.

»Wie haben Sie das gemacht?«, wollte Marie wissen.

»Was?«          

»Dass man Sie einfach passieren ließ?«

»Heute Abend lassen die einen anscheinend aus irgendeinem Grund ohne Durchsuchung durch.«

Marie hatte früher schon die Grenze zwischen Kalifornien und Arizona überquert. Sie wusste, dass man an den Kontrollstellen unweigerlich aufgehalten wurde, da es verboten war, Obst, Gemüse oder Sämereien über die Grenze zu befördern. Wenn man nicht durchsucht wurde, so fragte der Beamte wenigstens, ob man etwas zu verzollen habe. Auf keinen Fall ließen einen die Posten einfach durchfahren.

Sie bohrte nicht weiter. Mr. Bennington schien nichts gehört zu haben. Er hielt die Augen auf die Straße gerichtet, den langen, schmalen Fuß aufs Gaspedal gedrückt.

Sie passierten ein Schlucht-ähnliches Tal zwischen rauen, steinigen Hügeln.

»Biegen Sie an der nächsten Abzweigung ab«, befahl Walsh.

Mr. Bennington antwortete nicht. Der Wagen schoss von der Schnellstraße auf eine Chaussee. Die Teerdecke endete, das Fahrzeug holperte über staubigen Schotter, über Querrinnen, durch Schlaglöcher. Mr. Bennington drosselte das Tempo auf achtzig, dann auf siebzig. Sie fuhren zwischen dichtbelaubten niedrigen Bäumen und verstümmelten Kakteen durch die Wüste.

»Passen Sie auf, damit Sie die weißen Markierungspfosten nicht übersehen. Das ist die Benzinleitung«, bemerkte Walsh.

Sie bogen in rechtem Winkel ab und folgten fremden Wagenspuren durch eine breite Lichtung, wo man Bäume und Kakteen abgeholzt und in regelmäßigen Abständen kurze Pfosten mit Warnsignalen aufgestellt hatte.

»Sie können hier halten und die junge Dame hinauslassen«, sagte Walsh.

Mr. Bennington hielt an. Marie stieg aus und lief auf eine kleine Baumgruppe zu, die Schutz bot. Die beiden Männer stiegen ebenfalls aus dem Wagen, entfernten sich zusammen und verschwanden in dem kleinen Wald. Wenn dieser Walsh etwas vorhatte, dachte Marie, wenn er gar nicht die Absicht hatte, sie an der Grenze freizulassen, dann war dies der geeignete Ort, seinen Plan auszuführen. Vielleicht hätte Mr. Bennington im Wagen mehr Sicherheit gehabt.

Würde es ihr gelingen zu entkommen? Die Nacht war dunkel, doch ihr weißes Kostüm bot ein unübersehbares Ziel, und ihre Schuhe waren hinderlich - blaue Wildlederpumps mit hohen Absätzen. Ein paar Meter weiter erhob sich wieder eine Baumgruppe. Vorsichtig bewegte sie sich darauf zu, ständig gewahr des Knirschens ihrer Schuhe auf den Steinen, voller Furcht vor Schlangen. Sie wurden in der Kühle der Nacht lebendig, hatte ihr jemand erzählt. Sie duckte sich unter die dornigen Triebe eines Kaktus, als sie den Schuss hörte.

Dann Mr. Benningtons Stimme. »Marie! Laufen Sie! Er will...« Die letzten Worte waren ein Röcheln.

Eine Kugel pfiff durch das Laub, links von Marie, Walsh schoss auf sie. Er wollte sie beide töten. Sie warf sich nieder, hielt den Atem an. Der folgende Schusshagel war näher. Um die nächste Baumgruppe zu erreichen, musste sie über eine freie Fläche laufen, die mit weißen Steinen übersät war. Sie rannte los. Die Absätze ihrer Schuhe blieben immer wieder zwischen den Steinen stecken. Als sie die Schatten wieder erlangt hatte, krachte eine neue Salve, diesmal nicht so nahe. Von Mr. Bennington war jetzt kein Laut mehr zu hören.

Zusammengekauert hockte sie da und wagte kaum zu atmen. Sie erwartete, dass Walsh zu ihr hin kriechen würde. Es blieb lange still. Ihre Haut juckte von der Anstrengung, völlig reglos zu bleiben. Plötzlich traf ein Lichtstrahl wie eine Ohrfeige ihr Gesicht. Er musste sie sehen. Ein letzter Schuss würde folgen. Das Licht filterte durch die Blätter vor ihren Augen, und sie dachte, wie winzig, wie ausgedörrt sie waren. Und gleichzeitig fragte sie sich, warum sie jetzt über die ausgedörrten Blätter nachdachte, jetzt, da sie sterben sollte. Der Schuss ging über ihren Kopf hinweg. Dann erlosch das Licht. Er kommt näher, dachte sie, um besser zielen zu können. Sie konnte nichts hören, kein feines Knirschen von Kieselsteinen, kein Wispern raschelnden Laubes. Er musste sich sehr langsam heran- io schleichen, um sich nicht zu verraten. Sie musste weg. Eine lange Zeit schien zwischen dem Entschluss und dem Moment zu liegen, wo sie sich wirklich aufrichtete und aus dem Schutz der Bäume über den harten Boden der Wüste stolperte. Ihre Schritte klangen überlaut, ihr Atem ging pfeifend. Jetzt konnte Walsh sein Ziel leicht ins Visier nehmen. Worauf wartete er noch? Sie erreichte die schützende Dunkelheit einer anderen Gruppe von Büschen und Kakteen, kauerte nieder und wartete.

Zwei Flugzeuge zogen am Himmel entlang. Rhythmisch blinkten ihre Lichter, und die Nacht schien plötzlich bewohnt, freundlich. Dort oben, fern und sicher, blätterten Menschen in Zeitschriften, schlummerten unter weichen Decken, die Köpfe in weiße Kissen gedrückt, ließen sich durch die kristallklare Nacht nach San Francisco und Phoenix fliegen.

Unvermittelt brummte der Anlasser, der Motor heulte auf, die Lichter entfernten sich. Walsh fuhr weiter die Straße hinunter, die an der Benzinleitung entlangführte, und ließ sie hier zurück. Sie blickte dem Wagen nach, weil sie sich vergewissern wollte, dass er es sich nicht doch noch anders überlegte und wieder umkehrte. Nach einigen Minuten schienen die Scheinwerfer stillzustehen. Dann erloschen sie. Sie glaubte, aus weiter Entfernung einen Schuss zu hören.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Drei Tage später setzte sich in einem rosarot getünchten Steinhaus in Tailings Dr. Grace Severance in ihrem Bett auf und sah auf die Uhr. Halb sieben. Zu früh, um aufzustehen; dabei war sie hellwach. Sie konnte die verdammte Palme im Wind flattern hören. Den ganzen vergangenen Tag hatte der Wind geweht, die Berge mit Sandwolken verhüllt, die Menschen gezwungen, in ihren Häusern zu bleiben. Sie war mit ihrer Nichte Myrtle eingesperrt gewesen, wehrlos deren liebevoller Tyrannei unterworfen.

 

Tante Grace, zieh einen Pullover an. Tante Grace, schließe bitte das Fenster, der Sand kommt herein. Trinke deinen Orangensaft, er ist gesund für dich.

 

»Alles Quatsch«, murmelte Dr. Severance leise und fühlte sich gleich wohler.

Keine Rolle war schwieriger als die des Empfängers unerwünschter Wohltaten. Myrtle erwies ihr ständige Gefälligkeiten, auf die sie gar nicht erpicht war. Myrtle nahm sie dauernd auf Ausflüge mit, zu denen sie gar keine Lust hatte.

Fünfundzwanzig Jahre lang hatte sie sich auf den Moment gefreut, wo sie endlich aufhören konnte, ungebärdigen jungen Medizinern die Grundlagen der Anatomie einzupauken, wo sie endlich in Ruhe ihr Leben genießen konnte. Der Augenblick war gekommen, und was tat sie? Las Abhandlungen über Kakteen, hörte alten Rentnern zu, die von ihren Enkelkindern erzählten, gab vor, die Steine zu bewundern, die täglich von Leuten, die von der Steinsammelleidenschaft besessen waren, aus der Wüste hereingeschleppt wurden. Und die Krönung dieses abenteuerlichen Lebens war der regelmäßige Besuch eines Keramikkurses.

»Stinklangweilig ist der Ruhestand«, stellte sie fest und legte sich wieder hin.

Aus dem Zimmer gegenüber konnte sie das sanfte Schnarchen Myrtles hören, die Kraft sammelte für einen neuen Tag strenger Regimentsführung. Dr. Severance fragte sich, an welchem Tag, zu welcher Stunde, sie jenen fatalen wunden Punkt hatte erkennen lassen - dass sie ein Alter erreicht hatte, in dem es ratsam wurde, stets zu hinterlassen, wo man zu finden war, wenn man wegging; ein Alter, in dem man es über sich ergehen lassen musste, dass einen Morgen für Morgen jemand anrief, um sich zu erkundigen, wie es einem ginge und ob es überhaupt noch ginge. Wenn man diesen wunden Punkt einmal bloßgelegt hatte, dann gab es nichts mehr zu lachen. Jeder zufällige Bekannte konnte es sich erlauben, gute Ratschläge zu erteilen; und eine Verwandte wie Myrtle, die von unerschütterlichem Verantwortungsbewusstsein erfüllt war...

Vorsichtig stieg sie aus dem Bett und schlüpfte in ihre Kleider.

Ein Glück, dass Myrtle ein wenig schwerhörig war und ihren Schlaf gern bis auf die letzte Minute auskostete! Sie beschloss, keinen Kaffee zu kochen. Myrtle würde sonst womöglich das Klappern des Kessels oder das Klirren einer Tasse hören. Geräuschlos öffnete sie die Haustür, hielt das Gesicht in den frischen Wind und sog die Freiheit ein.

Der Weg durch die Hauptstraße führte sie an Richter Chavers’ weißem Holzhaus mit der breiten Veranda und der dichtbelaubten Tamariske vorüber. Alle zwei Jahre beschnitt der Richter den alten Baum bis auf den Stamm, und der lebte jedes Mal von neuem auf mit üppiger, salatgrüner Blätterpracht und spendete im Sommer Schatten, der so wohltuend war wie eine kühle Wolke. Sie ging am rosafarben getünchten Postamt vorüber, wo Mrs. Weir im adretten Baumwollkleid bald die Briefe und Päckchen in den kleinen Schließfächern verstauen würde. Spätestens um elf Uhr würde ein ganzes Dutzend von Autos und Wohnwagen sich vor der Post zusammenscharen wie hungriges Federvieh.

Neben dem Postamt führte Mr. Weir ein sauberes kleines Lebensmittelgeschäft. Er war als Bewacher einer Herde von Bergschafen, die unter Naturschutz standen, ins Land gekommen und hatte sich dann in Tailings niedergelassen. Das war noch ein Stück alte Zeit, ohne Hetze und Spannungen, bewohnt von Erzschürfern und den Nachkommen der Pioniere. »Tailings geht bald zum Teufel«, hatte er Dr. Severance einmal vertraulich erklärt, als er mit dem Hut auf dem Kopf hinter seiner Theke hockte. »Diese Leute aus dem Norden fallen hier ein wie die Geier. An dem Tag, wo sie hier den ersten Abwasserkanal legen, verschwinde ich.«

Obwohl sie sich in ihrer Verachtung für die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts einig waren, hatte Mr. Weir nichts für Ty Carter übrig, der nicht nur eine Bar und eine Benzinzapfsäule, sondern auch das zweite Lebensmittelgeschäft am Ort betrieb. Tys Laden war nicht übertrieben sauber; es war sicherer, von ihm nur gepackte Waren zu kaufen. Trotzdem hatte Ty das beste Fleisch, und wenn es einem gelang, in dem Moment zu kaufen, in dem er den Anschnitt gerade an einen anderen Kunden verkauft hatte, dann konnte man unbesorgt ein hervorragendes Steak erstehen.

Es war eigentlich noch zu früh, um erwarten zu können, dass Ty aufgestanden sein würde, der stets mit einem Kater zu kämpfen hatte. Doch wenn er schon auf den Beinen war, dann würde sie bei ihm eine Tasse Kaffee bekommen. Myrtle würde sie dort niemals vermuten. Myrtle hatte für Ty nichts übrig. Er war die meiste Zeit betrunken. Weniger betrunken als vielmehr in Alkohol mariniert, ständig angeheitert, unheilbar träge, aber voller Humor. Er war gebrechlich und nicht kleinzukriegen, bestechlich und gütig, unwissend und voll rätselhafter Weisheit, schmutzig und manierlich. Diese Gegensätze fand Dr. Severance anziehend. Außerdem entschädigte sie seine Bescheidenheit für seine Charakterschwächen. Niemals prahlte er mit seinen Sünden, wie andere Sünder das gerne tun.

Ty hatte gerade die Bar-Tür geöffnet und steckte die Nase in den unwirtlichen Morgen hinaus, als er sie kommen sah. Er sagte nicht Frau Doktor, an so einem Tag sollten Sie doch nicht aus dem Haus gehen. Er sagte einfach: »Tag, Frau Doktor.«

»Guten Morgen, Ty. Sie haben wohl nicht zufällig eine Tasse Kaffee für mich?«

»Doch, ich glaube schon.«

Er hielt ihr die Tür und zog sich langsam in sein Quartier hinter der Bar zurück. Wenn er sinnlos betrunken war, dann lag er dort, in Militärdecken vermummt, zwischen leeren Flaschen. Zigarettenstummel, alte Brotkrusten und angebissene Doughnuts lagen auf Untertassen gesellig beieinander.

Ein hochaufgeschossener junger Mann in Arbeitshose und einem breitkrempigen Hut kam auf ein frühes Bier herein.

»Was machen Sie denn so früh am Morgen schon auf den Beinen, Ty? Ich dachte, Sie pennen bis mittags. Sie wollen doch nicht auf den Bankier Jagd machen?«

»Diese verfluchten Hunde haben mich geweckt, und ich habe gedacht, mir klaut einer meine Hühner. Da bin ich eben aufgestanden und habe hinausgeschaut, und da hat mein Zahn wieder angefangen aufzumucken, und mir ist eingefallen, dass mein Bankkonto überzogen ist und ich bei der Brauerei keinen Kredit mehr habe, und jetzt haben wir Frühling, und da wird’s Zeit, dass ich mal die Unterwäsche wechsle.« Er legte eine Pause ein. »Was für ein Bankier denn?«

»Lesen Sie denn hier nie die Zeitung?« Der junge Mann zog die Phoenix Gazette aus seiner Hüfttasche. »Da steht es. Man nimmt an, dass er in der Wüste in der Nähe von Tailings verscharrt ist. Das letzte Mal wurde er gesehen, als er mit einem Mädchen und einem Mann in Los Angeles direkt hinter seiner eigenen Bank in ein Auto stieg. Er sollte am nächsten Tag zu einer Konferenz in Phoenix sein, aber da ist er nie angekommen, und er ist seither auch nicht mehr gesehen worden. Aus der Bank fehlt eine ganze Stange Geld. Wer den Mann findet, soll eine Belohnung bekommen. Da wird es hier bald von Schatzgräbern wimmeln, die sich das Geld verdienen wollen.«

»Wieso nimmt man an, dass er hier in der Gegend begraben ist?«, fragte Dr. Severance.

»Weil hier in der Gegend dauernd Leute umgebracht werden«, versetzte Ty. »Oder versteckt werden, nachdem sie umgebracht worden sind. Nur weil es hier unbewohnt aussieht. Die bilden sich ein, dass in Tailings eine Leiche gar nicht auffällt. Die Leute, die hier durchfahren, haben keine Ahnung, dass es in der Wüste von Erzsuchern und Camping-Urlaubern wimmelt und dass da jede Veränderung, wie zum Beispiel ein Grab, gleich ins Auge sticht.«

Der junge Mann musterte Dr. Severance.

»Was für ein Doktor sind Sie denn, Madame?«

»Ich bin Pathologin«, erwiderte sie lächelnd. »Als ich noch jung und beweglich war, habe ich angehenden Medizinern beigebracht, wie man eine Leiche untersucht und wie der menschliche Körper zusammengesetzt ist.«

»Sie sind immer noch ganz schön jung und beweglich.«

Sie nahm das als Höflichkeitsfloskel und ging nicht darauf ein.

»Könnten Sie auch eine Leiche wieder zusammensetzen und feststellen, wie sie ausgesehen hat?«

Das, meinte sie, würde einige Mühe kosten. Die Knochen ja, das Fleisch nein.

»Aber Sie könnten sagen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt?«

»Ja.«

»Sie könnten sagen, ob er schwer oder leicht gewesen ist, groß oder klein, jung oder alt?«

»Ja.«

»Aber nicht, ob er ein ehrlicher Mensch war?«

»Kaum. Das kann man nicht einmal sagen, wenn er vor einem steht.«

»Nein, manchmal nicht.«

»Dachten Sie an eine bestimmte Leiche?«

»An diesen Bankier.« Er sah auf seine Uhr. »Mann, ist das schon spät! Fröhliches Jagen allerseits.« Er spülte sein Bier hinunter und ging.

Ty verschwand in seinem Hinterzimmer, um frischen Kaffee zu holen, und Dr. Severance vertiefte sich in die Betrachtung des einzigen Dekorationsstücks der Bar, einen grotesken Hirschkopf, der von Motten zernagt und mit Bändern, einem Strohhut, Lametta sowie einer Bierkanne behängt war.

Als Ty wieder da war, kam ein mürrisch aussehender Mann ins Lokal und bestellte ein Bier.

»Was macht Sloat?«, erkundigte er sich.

»Habe keine Klagen gehört«, antwortete Ty. »Haben Sie was gehört?«

»Schon einen ganzen Monat nicht. Das ist mir ein bisschen verdächtig. Dem muss doch bald das Fleisch ausgehen.«

»Waren Sie beim Richter?«

Der Mann grunzte kurz, leerte sein Glas und marschierte wieder davon.

»Wer war denn das?«, fragte Dr. Severance.

»Der Wildhüter. Er will Sloat unbedingt etwas anhängen. Ich mag keinen von beiden. Mir ist es egal, wer da den anderen überlistet.«

Wieder öffnete sich die Tür. Ein hagerer Mann in ölverschmiertem Overall, einen Sack über der Schulter, trat ein.

»Ty, tun Sie mir einen Gefallen? Heben Sie mir die Rinderkeule hier auf, bis meine Tiefkühltruhe wieder funktioniert. Kann ein oder zwei Tage dauern. Heute Morgen ist irgendetwas in die Binsen gegangen und jetzt wird mir alles schlecht.«

»Ihr Freund, der Wildhüter, war gerade hier. Wirklich Pech, dass er Sie verfehlt hat.«

Die schmutzig-braunen Augen des Mannes glitten ärgerlich an Tys schmächtiger Gestalt entlang.