ZERBROCHENES GLAS - Margaret Scherf - E-Book

ZERBROCHENES GLAS E-Book

Margaret Scherf

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Beschreibung

Das herrlich verrückte Ermittler-Pärchen Emily und Henry Bryce aus New York steckt bis zum Hals in einem Mordfall, als eine Ladenbesitzerin erschossen aufgefunden wird...

Margaret Scherf (* 1908 in Fairmont, West Virginia; † März 1979) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Zerbrochenes Glas erschien erstmals im Jahr 1954; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1962.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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MARGARET SCHERF

 

 

Zerbrochenes Glas

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 112

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

ZERBROCHENES GLAS 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Das herrlich verrückte Ermittler-Pärchen Emily und Henry Bryce aus New York steckt bis zum Hals in einem Mordfall, als eine Ladenbesitzerin erschossen aufgefunden wird...

 

Margaret Scherf (* 1908 in Fairmont, West Virginia; † März 1979) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin. 

Der Roman Zerbrochenes Glas erschien erstmals im Jahr 1954; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1962.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   ZERBROCHENES GLAS

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Ich muss mich maniküren lassen«, sagte Emily und wischte sich die Hände an ihrem Malerkittel ab. »Schließlich hast du ja heute Geburtstag!«

»Das fällt dir aber reichlich spät ein!« Henrys Blick wanderte durchs Atelierfenster zu der Uhr über dem Buchladen an der gegenüberliegenden Seite der Lexington Avenue. »Fünf. Link hat für sechs einen Tisch bestellt.«

Emily stopfte die Pinsel in eine Blechdose. Auf dem Wege zur Tür hielt sie inne, um die Tischplatte zu bewundern, die sie kunstvoll marmoriert hatte. »Gut gemacht, wie?«

»Schau, dass du wegkommst!«

»Aber es ist wirklich gut gemacht, Henry. Niemand macht es mir nach.«

»Ja, mein Schatz, ja, du bist großartig. Alle geben es zu, dass du großartig bist. Willst du jetzt so freundlich sein, dieses unbezahlbare Genie über die Straße zu verfrachten und ihm die Nägel maniküren zu lassen, damit wir zu einer vernünftigen Zeit essen gehen können?«

Lächelnd und gut gelaunt schwebte Emily davon. Was man auch tut oder sagt, es ist fast unmöglich, sie zu ärgern - eine hervorragende Eigenschaft an einer Frau, besonders im sommerlichen New York, in der Augusthitze, die die meisten Ehen auf eine schwere Probe stellt. Henry zündete sich eine Zigarette an und sah ihr nach, wie sie in von Farbenklecksen gleichsam gestärktem Kittel und blauen Arbeitshosen über die Straße ging und in Hildas Schönheitssalon verschwand. Dann wandte er sich mit finsterer Miene dem Wäschekorb zu, den er soeben mit Bambusmustern verziert hatte. Gute Innenarchitekten waren schon längst von Bambusmustern zu anderen Ornamenten übergegangen, aber Leute wie Mignonne Kelly hatten gerade erst diesen Stil entdeckt; ihnen machte es den größten Spaß, ein Möbelstück aus echtem Bambus aufzutreiben und es dann so bemalen zu lassen, dass es wie imitierter Bambus aussah. Eigentlich sollte man diese Mignonne Kelly abwimmeln - eine dumme und lästige Person aber Emily hat nicht das Herz, nein zu sagen.

Es wäre vernünftiger, Hamiltons Auftrag für Lucille Marsh fertigzumachen. Eine große Arbeit, die viel Geld einbringt - obwohl es lange gedauert hatte, bis Hamilton mit einem Vorschuss herausrückte.

Seufzend schlüpfte Henry aus seinem Hausrock, ohne erst die Gardinen zuzuziehen; er wollte gerade ins Badezimmer gehen.

Da kam jemand von unten die Treppe heraufgerast, die Ateliertür sprang auf, und Link stapfte herein. »Henry, du verstehst mit Weibern umzugehen!«, sagte Link. »Komm runter und hilf mir, diese Person loszuwerden. Sie geht mir die ganze Nacht nicht aus dem Laden weg.«

»Wirf sie hinaus! Was will sie denn?«

»Ich glaube, sie ist plemplem. Ich soll ihr ohne Waffenschein einen Revolver verkaufen. Du weißt doch, dass das nicht geht. Jeder einigermaßen vernünftige Mensch weiß es! Sie gehört zu der Sorte, die mir nichts, dir nichts zu schreien anfängt und in Ohnmacht fällt. Ich weiß nicht, was ich mit ihr anfangen soll.«

Henry zuckte die Achseln. »Sieh zu, wie du mit deinen hysterischen Kundinnen fertig wirst.«

»Sei nett, Henry, ich habe wirklich Angst vor ihr.«

»Ist der Revolver geladen?«

»Natürlich nicht. Glaubst du, ich gebe meinen Kunden geladene Revolver in die Hand?«

Henry gab ihm den Rat, die Dame im Laden einzusperren und sie eine Nacht lang sitzenzulassen, da würde sie sich schon beruhigen. Link maß ihn mit einem verachtungsvollen Bück und wandte sich zum Gehen.

»Wozu braucht sie einen Revolver?«, fragte Henry. Er schämte sich ein wenig, aber die Sache war ihm lästig.

»Sie behauptet, dass sie sich bedroht fühlt. Wahrscheinlich will sie sich umbringen oder ihren Mann erschießen oder was Ähnliches.«

»Komödie!«, sagte Henry. »Solche Typen bringen sich nie im Leben um!«

Der Knall eines Schusses setzte einen Punkt hinter diesen weisen Ausspruch.

Henry und Link wechselten einen Blick, eilten zur Tür und jagten die Treppe hinunter. Link Simpsons Waffen- und Antiquitätengeschäft lag genau unter dem Atelier, und zwei Stufen führten von der Straße hinab. Es war ein tiefer, schmaler Raum, vollgepfropft mit Schusswaffen, Säbeln, antiken Medaillen, Uniformen und Helmen, ganz zu schweigen von den. Glaskästen mit den allerfeinsten Duellpistolen - und erst, als sie beinahe über sie gestolpert wären, sah Henry die Frau auf dem Fußboden liegen.

Sie lag verkrümmt auf dem Rücken zwischen Links Schreibtisch und einer Vitrine, nicht weit von der Kellertür entfernt. Sie hatte noch den Hut auf, einen riesigen schwarzen Strohhut.

Link betrachtete die Frau und den Revolver, der neben ihrer rechten Hand lag. »Solche Typen bringen sich nie im Leben um!«, zitierte er. »Meine Waffe! In meinem Laden! Oh, mein Gott!« Er griff nach dem Telefonhörer und klingelte das 17. Revier an. Man zeigte sich interessiert. Man würde binnen kurzem an Ort und Stelle sein. Link wählte eine zweite Nummer.

»Du wirst einen Anwalt brauchen«, sagte Henry besorgt. »Ruf Eva an!«

»Ich bin eben dabei.« Link versuchte, ein Streichholz zu entflammen, während er den Hörer in der anderen Hand hielt. Dabei hatte er bereits eine brennende Zigarette im Aschenbecher liegen. »Keine Antwort - zum Teufel!«

»Lass ihr Zeit.« Henry wandte sich der fremden Frau auf dem Fußboden zu.

Sie bot einen abstoßenden und zugleich faszinierenden Anblick. Mitte Vierzig, dachte Henry, das Gesicht von zu viel Sonne ausgedörrt und verrunzelt, mit fremdländischen Sachen behängt, wie Frauen sie Zusammentragen, die den Winter in wärmerem Klima zu verbringen pflegen: tief ausgeschnittene schwarze Jerseybluse, faltenreicher handgewebter Rock aus Guatemala mit marschierenden Indianern am Saum entlang, italienische Bastsandalen mit hohen, Absätzen und Gelenkriemen, außerdem zahlreiche Türkisarmbänder. Der einheimische Markt hatte einen großen Smaragdring, einen Ehering und eine brillantbesetzte Armbanduhr beigesteuert.

»Angenehmer Typ!«, sagte Link. Er hatte noch immer den Hörer in der Hand. »Wetten, dass sie irgendeinem armen Teufel das Leben zur Hölle gemacht hat!«

»Leberkrank«, sagte Henry. »Verwöhnt, leidend und wahrscheinlich todunglücklich.«

»Wie kommst du auf diese Idee? Sie hat sich doch nur erschossen!« Link knallte den Hörer auf die Gabel. »Und meine beste Karaffe hat sie mir zerbrochen. Das hatte ich vorhin gar nicht bemerkt.« Er beugte sich über die Glasscherben, die neben der Vitrine lagen. »Wahrscheinlich hat sie diese beim Hinfallen heruntergerissen.«

Draußen hielt ein Polizeiwagen. Zwei Polizeibeamte kamen herein. Der eine ging ans Telefon und rief das Revier an, und der andere hatte gerade erst begonnen, Link auszufragen, da erschien Emily mit großen aufgeregten Augen.

»Was ist passiert?«, rief sie. »Ich habe von Hilda aus das Polizeiauto Vorfahren sehen. Ist jemand tot?«

»Ja«, erwiderte Henry streng. »Und bitte, nicht so viel reden! Du bringst nur wieder alles durcheinander.«

»Ich hatte ja gar nicht die Absicht, etwas zu sagen, Henry.« Emily erblickte den Leichnam und stieß einen leisen Schrei aus. »Wer ist das? Wie kommt sie her? Hast du ihr den Revolver gegeben, Link? Ich dachte, deine Waffen sind nicht geladen?«

Link lächelte ein mattes, verlegenes Lächeln. Er konnte ihr nicht böse sein, dazu hatte er sie viel zu gern, aber er nahm ihren Arm und sagte: »Es war nicht meine Schuld. Sie muss Patronen mitgebracht haben.«

»Warum hast du sie nicht daran gehindert?«, fragte Emily.

»Emily«, sagte Henry, »sei still!«

Sie musterte ihn von oben bis unten. »Wo hast du deine Hose?« Henry merkte erst jetzt, dass er in Unterhosen dastand - keine sonderlich passende Kleidung. Aber es schien ihm nicht darauf anzukommen.

Vor dem Ladenfenster hatte sich eine Schar, Menschen angesammelt, aber da der Bürgersteig ziemlich hoch über dem Fußboden lag, konnten sie nicht viel sehen. Henry wandte sich zum Gehen.

»Wo wollen Sie hin?«, fragte einer der Beamten.

»Die Hose anziehen.«

»Bleiben Sie. Mr. Burgreen ist auf dem Wege hierher.«

»Schön!«, sagte Henry. Es war ihm eigentlich recht, dass er es mit Robert Burgreen zu tun haben würde. Sie hatten einander über ein Jahr lang nicht gesehen.

»Kennst du sie, Link?«, fragte Emily, den Blick auf die Tote geheftet.

»Ich bin ihr nie im Leben begegnet!«, erwiderte Link mit beträchtlichem Nachdruck.

»Sie war Schauspielerin«, erklärte Emily unerwartet.

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß es.« Sie machte eine großspurige Handbewegung, und beinahe hätte Mr. Burgreen eins abgekriegt, der jetzt forschen Schrittes hereinmarschiert kam, begleitet von McNulty, der alles eher als forsch wirkte. Als Burgreen Emily erblickte, schien eine Sturzflut von Erinnerungen über ihn hereinzubrechen, Erinnerungen, die ihn, wie Henry zu merken glaubte, nicht gerade heiter stimmten.

»Mrs. Bryce, nicht wahr?«, fragte er.              

»Ja.« Emily lächelte freundlich. »Schade, dass es nur ein Selbstmord ist, Mr. Burgreen.«

»Waren Sie dabei, als sie sich das Leben genommen hat?«

»Nein. Wir sind nicht dabei gewesen«, warf Link hastig ein. »Sie war allein im Laden und sah sich einen Revolver an. Sie hatte mir schrecklich zugesetzt, weil ich ihr ohne Schein keine Waffe verkaufen wollte, und ich war hinaufgelaufen, um Bryce zu Hilfe zu holen. Während ich oben war, hörten wir den Schuss.«

Burgreen fragte, ob jemand die Dame kenne, fasste nach der Handtasche aus gelbem Bast, die auf der Schauvitrine lag, und schüttete den Inhalt auf Links Schreibtisch, Zusammen mit dem Lippenstift kollerten zwei Patronen heraus, 7.65er Kaliber. »Sie hatte sich darauf vorbereitet. Er öffnete ein rotes Geldtäschchen mit Steckverschluss. »Mrs. Otis Carver Rhodes. Sehen Sie nach, McNulty, ob es einen Mr. Otis Carver Rhodes gibt.«

McNulty machte sich über das Telefonbuch her. Burgreen arbeitete systematisch weiter, ein Detail nach dem anderen erledigend.

»Sie hätten sie nicht allein lassen dürfen«, sagte er zu Link.

»Das sehe ich jetzt ein, aber ich habe nicht im Traum daran gedacht, dass sie Munition bei sich haben könnte. Mein einziger Gedanke war, sie so schnell wie möglich loszuwerden, damit wir essen gehen könnten.«

»Mein Mann hat Geburtstag«, sagte Emily, um Mr. Burgreen aufzuklären. »Link hat uns zu Pierre eingeladen. Eigentlich müsste ich mich anziehen.«

»Entschuldigen Sie die Störung!«, murmelte Burgreen. »Wissen Sie genau, dass das einer von Ihren Revolvern ist, Simpson?« Link erwiderte, er würde erst noch die Nummer kontrollieren müssen, und da hieß es warten, bis der Fotograf fertig war. »Sie sind ganz sicher, dass die Waffe nicht geladen war?«

»Ganz sicher! Sie haben ja die Patronen in der Handtasche gesehen!«  

Burgreen schwieg. Er schien den Abstand zwischen dem Revolver und der rechten Hand der Toten zu messen.

McNulty hatte inzwischen im Telefonbuch einen Mr. Otis Rhodes gefunden. Adresse: East 78. Straße.

»Rufen Sie ihn an, er soll in die Leichenhalle kommen«, befahl Burgreen.

McNulty erledigte seinen Auftrag so taktvoll wie nur möglich. »Er möchte wissen, wo sie jetzt ist«, sagte er, die Hand über dem Hörer.

»Wenn er will, kann er herkommen. Er soll uns nur die Tote identifizieren.«     

Als McNulty fertig war, griff Link nach dem Telefon. Burgreen drehte sich zu ihm um. »Wen wollen Sie anrufen?«

»Meinen Rechtsbeistand. Haben Sie was dagegen?«

»Warum glauben Sie, dass Sie ihn brauchen werden?«                  

»Es ist eine Sie. Eva Rhodes.« Link stutzte. »Der gleiche Name. Ob die beiden miteinander verwandt sind?«   

»Zufall!«, sagte Henry.

Dann kam Eva an den Apparat, und Link teilte ihr mit, er sei in Nöten. »Sie behauptet, das hätte bis morgen Zeit; sie habe eben geduscht.«

Henry griff nach dem Hörer. »Trocknen Sie sich ab und nehmen Sie ein Badetuch um! Hier hat sich jemand erschossen,. Eine gewisse Mrs. Otis Rhodes.«

Eva schnappte nach Luft. Offenbar war der Name für sie ein richtiger Schock gewesen. Eva hatte nämlich Nerven wie eine Lokomotive. »Ist das sicher? Wie sieht sie aus?«

»Fünfundvierzig, verbraucht, dürre Haut, Türkisarmbänder bis an die Ellbogen

»Das genügt. Es ist Madge. Ich komme sofort.«

Henry legte auf. »Eva kennt sie, was sagst du dazu!«

»Henry«, sagte Emily flehentlich, »du musst dich anziehen. Es kommen immer mehr Menschen. Du kannst dann auch gleich das Atelier zusperren.«

Henry gab ihr widerstrebend recht. Er kehrte ins Atelier zurück, zog die Hose an, hakte das Vorderfenster fest, das immer aufbleiben musste, damit der Farbengeruch und die Terpentindünste sich verziehen konnten, und sperrte die schwere eiserne Tür ab.

Als er wieder in Links Laden erschien, waren der Fotograf und der Polizeiarzt gerade mit den sterblichen Resten Mrs. Otis Rhodes’ beschäftigt, und wenige Minuten später kam Eva an.

Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, Eva für eine gerissene Steuerjuristin zu halten. Sie sah aus wie eine süße kleine Universitätsbibliothekarin, ungewöhnlich zierlich, mit gerader, entschlossener Haltung, offenen, klugen blauen Augen und etwas großem Mund, der gerne lächelte und gerne die treffendsten Antworten von sich gab. Sie hatte kurze Arme, kurze Beine, schmale Hüften, war in jeder Beziehung winzig, nur nicht, was das Köpfchen betraf. Eva pflegte jeden beliebigen Auftrag zu übernehmen. Unter den Bewohnern der Lexington Avenue hieß es, sie würde nicht davor zurückschrecken, ein Stachelschwein zu verteidigen, sofern es aus Virginia stamme und bei Kasse sei. Ihre männlichen Kollegen waren anfangs höflich zu ihr, liebenswürdig und herablassend, zum Schluss aber verärgert, gekränkt und überlistet.

Sie kam mit flotten Schritten herein, ihre zierlichen Seidenschühchen klapperten über den rissigen Boden, ihr schmales rosiges Gesicht sah mehr erwartungs- als kummervoll aus. »Wo ist sie?«

McNulty trat zur Seite. Als Eva die Tote erblickte, war sie eine Weile lang still. »Ja, es ist Madge«, sagte sie dann leise. »Armes Ding. Arme Madge. Ich hätte nicht gedacht, dass sie den Mut aufbringen würde!«

»Sind Sie mit der Dame verwandt?«, sagte Burgreen.

»Sie ist die Frau meines Neffen. Man wird Otis verständigen müssen.«

Burgreen erwiderte, das sei bereits getan, und er sei auf dem Wege hierher.

»So?« Eva schien überrascht zu sein. »Wie haben Sie ihn denn erreicht?«

»Wir haben in seiner Wohnung angerufen.« 

»Hm.« Sie sah noch immer verdutzt drein, wandte sich dann aber an Link. »Wie kam das? Wo hatte sie die Munition her?«

»Offenbar hat sie sie mitgebracht«, erwiderte Link. »Mir ist es sehr peinlich, dass sie sich gerade meinen Laden dazu aussuchen musste. So was Unangenehmes!«

»Kopf hoch! Mach dir keine Sorgen. Du hast ja mich!«

»Miss Rhodes«, warf Burgreen ein, »haben Sie etwas Ähnliches erwartet?«

Eva lächelte. »Man erwartet doch nicht von seinen Verwandten, dass sie sich das Leben nehmen!« Sie sah, dass Burgreen nicht in der Laune war, sich auf scherzhafte Wortgefechte einzulassen, und fuhr in ernstem Ton fort: »Sie war ein unglücklicher Mensch. Deshalb bin ich nicht gar so sehr überrascht. Aber ich hätte eher erwartet, Madge würde nicht sich, sondern jemand anders umbringen.«

»Wen denn?«

Eva schwieg.

»Den Mann - Ihren Neffen?«

Eva lächelte fast unmerklich. »Wenn eine Frau, für die das ganze Leben darin bestanden hat, sich von Männern bewundern zu lassen, ihre Reize verliert, gerät sie leicht in Verzweiflung. Jedenfalls stelle ich mir das so vor!«

»Ich verstehe«, sagte Burgreen kurz. »Falls es mir nötig erscheinen sollte, werden wir uns später noch einmal darüber unterhalten, Miss Rhodes. Na, Jungs«, sagte er zu den Fotografen, »wir wollen jetzt Schluss machen und verschwinden.«

Henry sah zu seinem Erstaunen, dass McNulty den Glaskasten, auf dem die Handtasche gelegen hatte, nach Fingerabdrücken untersuchte. »Fingerabdrücke bei einem Selbstmord?«

»Woher weiß ich, dass es Selbstmord war?« Burgreen hob einige Scherben der zerbrochenen Karaffe auf und steckte sie in einen Umschlag. Dann reichte er Link den Revolver. »Stellen Sie fest, ob er Ihnen gehört.«

Link sah nach der Nummer, schlug in seinen Büchern nach. »Ja, er gehört mir«, sagte er. Henry kam seine Miene ein wenig sonderbar vor, aber Burgreen schien sich nicht darum zu kümmern.

»Wohin führt die Treppe?«, fragte er und zeigte auf eine eiserne Wendeltreppe in der Mitte des Ladens.

»In unser Atelier«, sagte Emily. »Aber ich würde Ihnen raten, sie nicht zu benutzen.«

»Warum nicht?« Burgreen ging hin und sah sie sich an. »Schon gut! Ich verstehe.«

Link hatte die Treppe aus Bequemlichkeitsgründen einbauen lassen, damit die Freunde einander besuchen könnten, ohne den Umweg über die Straße und den Haupteingang benutzen zu müssen. Aber Emily hatte sie bald als Ablageplatz für allen möglichen Krimskrams verwendet und dort hinaufzusteigen, konnte einem den Kragen kosten.

In diesem Augenblick kam ein kleiner, glatzköpfiger, äußerst elegant gekleideter Herr in den Laden und näherte sich auf leisen Sohlen. Henry vermutete sofort, es müsse Otis Rhodes sein. Ihm war offenbar nicht wohl in seiner Haut. Wie peinlich, wenn man gerufen wird, um den Leichnam seiner Frau zu identifizieren! Das ist in besseren Kreisen nicht Sitte. Er hielt den Blick gesenkt, sah Eva nicht, die stumm dastand. McNulty trat zur Seite. Als Otis die Tote erblickte, war er wie gelähmt.

»Mr. Rhodes?«, fragte Burgreen behutsam.

»Ja. Ja, mein Name ist Rhodes. Das ist meine Frau.« Er schluckte, fasste sich und sagte in einem Ton, von dem er offenbar hoffte, er würde sachlich klingen: »Wie hat sie das angestellt?«

»Sie hat eigene Munition mitgehabt, Otis!«, sagte Eva.

Er fuhr herum. »Tante Eva, was machst du hier?«

Es klang lächerlich, wenn dieser ältliche Mann Eva mit Tante anredete.

»Ich vertrete Mr. Simpson.«                

»Überall musst du mit dabei sein!« Es hatte nicht den Anschein, dass ihm das recht sei, ja, seine Haltung war die eines halbwüchsigen Gymnasiasten, dessen Mutter sich es nicht nehmen lassen will, ihn in die Schule zu bringen. »Wo hat Madge die Munition her?«

»Munition kann man überall kaufen.«

»Das weiß ich, aber Madge hat doch nichts von Waffen verstanden. Woher sollte sie wissen, was für ein Kaliber sie braucht?«

Burgreen meinte, 7.63 ist ein recht gewöhnliches Kaliber; sie könnte durch ein Buch oder einen Film darauf gekommen sein. Der Polizeirat, der inzwischen still und leise seine Arbeit besorgt hatte, schickte sich jetzt zum Gehen an. Zwei Männer kamen herein, um die Leiche fortzuschaffen.     

»Wo bringt man sie hin?«, fragte Rhodes scharf.

»In die Leichenhalle«, sagte Burgreen.

»Ist das nötig?« 

»Leider! Wir müssen nachsehen, ob außer der Schusswunde, noch andere Spuren zu finden sind. Eine reine Formalität.«

»Es lässt sich nicht vermeiden, Otis«, sagte Eva.

»Es kommt in die Zeitungen!« Er schauderte zusammen.

»Der Lederfarbenkonzern hat schon Schlimmeres überstanden. Er wird sich auch jetzt nicht unterkriegen lassen.«

»Du nimmt alles auf die leichte Schulter, Tante Eva! Ich jedenfalls bin außer mir.« Er zog ein blütenweißes Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn.   

»Hast du mir nicht erzählt, dass du heute Nachmittag zu einer Konferenz musst?«, fragte Eva.

»Du lieber Gott, was hat das damit zu tun?«, fragte Otis und starrte sie an. »Darf ich nicht einmal eine geschäftliche Konferenz verschieben, ohne dich zu verständigen?«

»Sei nicht so empfindlich, mein Kind! Ich dachte, du hättest jeden Dienstag eine Konferenz mit deinen Vertretern.«

Burgreen klopfte mit unerwartet teilnahmsvoller Miene Rhodes auf die Schulter. »Schlimme Sache, ein Selbstmord! Man sagt, Menschen tun es oft aus Rache.« Er steckte die Handtasche der Toten und den gesamten Inhalt zu sich, sah sich noch einmal kurz im Laden um, öffnete die Kellertür und warf einen Blick auf die. muffige Treppe, die nach unten führte. »Ist diese Tür für gewöhnlich offen?«, fragte er Link.

»Ja, tagsüber.«

»Das wäre alles!«, sagte Burgreen. »Guten Abend!« Dann ging er mit McNulty zusammen aus dem Laden.

»Aufregend, was?«, sagte Emily und fächelte sich mit einem Waffenkatalog etwas Luft zu. »Schade, dass es kein Mord war, aber man darf nicht zu viel verlangen.«

»Mir genügt es«, sagte Eva trocken. »Diese schreckliche Person! Man hätte darauf schwören können, sie würde sich etwas recht Vulgäres ausdenken, um den armen Otis in Verlegenheit zu bringen.«

»Lass dieses Bemuttern sein, Eva!«, sagte er ärgerlich. »Sie hat es bestimmt nicht getan, um mich in Verlegenheit zu bringen, und ich habe auch keine Lust, vor fremden Menschen über meine privaten Angelegenheiten zu sprechen.«

»Setz dich, mein Kind! Und beruhige dich! Ich möchte die ganze Geschichte zusammen mit Simpson durchgehen, damit ich sie schwarz auf weiß habe - für alle Fälle!« Eva, mit einem riesigen Füllfederhalter bewaffnet, ließ sich an Links Schreibtisch nieder und begann die Details zu notieren. Otis lehnte gegen eine verrostete Ritterrüstung, rauchte eine Zigarette und beobachtete Eva mit einer Ungeduld und Gereiztheit, die sich offenbar seit Jahren in ihm angesammelt hatten.

»Ich bin hungrig«, sagte Emily. »Ich gehe in die Wohnung hinüber und ziehe mich an. Wenn ihr hier fertig seid, könnt ihr mich abholen, du und Link. Jammerschade, dass du nicht dein Tonbandgerät laufen hattest, Link.«

Link sah sie geistesabwesend an, dann sprang er plötzlich auf. »Aber ich hatte es laufen! Ich hatte es angestellt, als sie hysterisch zu werden begann. Das ist mir dann ganz entfallen!«

»Hören wir uns die Aufnahme an«, sagte Eva fröhlich. »Das vereinfacht die Sache!«

Link stellte den Apparat auf den Tisch, und im nächsten Augenblick hörten sie eine schrille und zornige Frauenstimme sagen: »Aber Mr. Simpson, ich muss eine Pistole haben.«

»Ja, das ist Madges Stimme«, sagte Eva lächelnd.

Die Stimme fuhr fort: »Diese dummen Formalitäten sind bedeutungslos, das wissen Sie genauso gut wie ich. Sie können, wenn Sie wollen! Sie haben es dutzendmal gemacht, das weiß ich. Ihr Waffenhändler seid alle gleich.«

Links Stimme, bemüht, ruhig zu klingen: »Wir sind alle gleich, gnädige Frau. Wir fragen nach dem Waffenschein, bevor wir einen Revolver verkaufen. So verlangt es das Gesetz.«

Madges Stimme: »Ja, solange ihr Lust habt, die Gesetze zu befolgen! Machen Sie mir nichts vor - ich habe es von Leuten gehört, die Bescheid wissen.«

Links Stimme: »Was sind das für Leute?«

Madges Stimme: »Das wird Sie nicht interessieren. Also los, Mr. Simpson, hier ist das Geld!«

Links Stimme: »Bedaure.«

Madges Stimme: »Ich gehe nicht von hier weg, bevor ich den Revolver habe!«

Eine Pause, dann Links Stimme in umgänglichem Ton: »Gestatten Sie, dass ich schnell mal nach oben gehe und einen Freund um Rat frage? Ich bin gleich wieder da.«

Madges Stimme: »Bitte. Es kann nicht schaden, wenn Sie einen vernünftigen Menschen um Rat fragen.« ,

Leise Schritte. Link verlässt den Laden. Andere Schritte, in der Nähe des Apparates. Der Schuss. Dann, so gut wie gleichzeitig, ein dumpfer Aufprall und das Geräusch zersplitternden Glases.

»Das war der Kopf, der gegen den Fußboden schlägt«, sagte Emily.

»Still!«, befahl Henry und legte das Ohr dicht an den Apparat. Leise Geräusche, schwer zu unterscheiden... dann Link und Henry, wie sie hastig von der Straße her zurückkehren.

Als das Band abgelaufen war, sagte Henry: »Habt ihr später, nach dem Krach und nach dem Klirren, keine Geräusche gehört?«

»Ich habe nichts gehört«, sagte Emily.

»Lassen wir’s noch einmal ablaufen«, schlug Link vor. »Was für Geräusche?«

Das wusste Henry nicht. Geräusche. Leise Geräusche. Sie ließen das Band noch einmal laufen, konnten sich aber nicht darüber einigen, was das für Geräusche sein mochten. Emily behauptete, sie kämen aus der Reinigungsanstalt oder aus dem mexikanischen Geschäft - links und rechts neben dem Antiquitätenladen. Die Wände waren nicht sehr schalldicht. Eva schien geneigt, diese Erklärung zu akzeptieren. Otis meinte, seine Frau habe sich vielleicht nach dem Sturz noch bewegt. Link behauptete, die Geräusche stammten aus dem Atelier, wo er gerade versuchte, Henry herunterzulocken...

»Ich werde Burgreen morgen davon erzählen«, sagte Link abschließend. »Wenn er will, kann er das Band holen lassen.«

Eva war sehr zufrieden. Damit, sagte sie, sei der klare Beweis geliefert, dass Link, als der Schuss fiel, sich nicht im Laden befand. »Freilich brauchen wir’s nicht - aber es kann nie schaden, wenn man Beweise in der Hand hat.« Sie wandte sich zu ihrem Neffen. »Otis, komm mit mir mit! Du siehst selbst aus wie eine Leiche. Du kriegst bei mir was zu trinken, und wir können dann die notwendigen Dinge besprechen.«

Eva wohnte im Hause nebenan, in der 62. Straße. Sie hatte den ganzen dritten Stock gemietet, und es hätte eine recht ansehnliche Wohnung sein können, wäre sie nicht ein Dschungel von juristischen Handbüchern, Zeitungen, schmutzigen Kaffeetassen und Whiskygläsern gewesen. Evas gepflegtem Persönchen waren die schlampigen Haushaltsitten nicht anzumerken.

Vielleicht war dieses häusliche Chaos der Grund, warum Otis sich gegen die Einladung wehrte. Er machte eine mürrische Miene.

»Entschuldige, Eva, aber ich möchte lieber nicht mitkommen. Ich rufe dich morgen früh an. Ein Glück nur, dass Davey noch im Lager ist!«

»Davey!«, wiederholte Eva erschrocken. »Ich hatte ihn ganz vergessen.«

»Ich werde mir etwas Harmloses für ihn ausdenken.«

»Sag ihm die Wahrheit, Otis, er ist alt genug. Er wird es verstehen. Sonst macht er dir Vorwürfe, wenn er es später einmal erfährt. Es wird kein allzu schwerer Schlag für ihn sein. Davey hat nie sehr viel für seine Stiefmutter übrig gehabt.«

»Wenn du mir nur nicht immer raten würdest, die Wahrheit zu sagen!« Otis’ Stimme klang ärgerlich. »Gute Nacht!« Unvermittelt verließ er den Laden, gleichsam, um seine Unabhängigkeit von Eva zu unterstreichen.

»Armer Junge, es hat ihm den Rest gegeben.« Sie blickte ihm liebevoll nach. »Er kann so reizend sein, wenn er sich wohl fühlt. Er würde euch gefallen.«         

Henry bezweifelte sehr, dass er jemals imstande sein würde, an Otis Rhodes Gefallen zu finden, nicht einmal Eva zuliebe.

»Davey konnte Madge nicht ausstehen«, fuhr Eva munter fort. »Er wird sich geradezu freuen. Ein achtjähriger Junge darf sich die Krokodilstränen ersparen. Und tut es auch meistens.« Lächelnd dachte Henry im Stillen, die gute Eva selbst verstehe es blendend, sich über Konventionen und Formen hinwegzusetzen. »Was ist denn aus Daveys Mutter geworden?«, fragte Emily. »Sie ist gestorben. An Lungenentzündung. Ein knappes Jahr später hat Otis sich mit Madge verheiratet, zu rasch, denn er ist kein Frauenkenner. Wenn die Weiber ihm um den Bart gehen, verliert er die Besinnung. Eine besondere Schwäche hat er für Schauspielerinnen. Da wird er weich wie Wachs. Er war seit eh und je ein richtiger Theaternarr. Davey mit seinen acht Jahren hat mehr Verstand als Otis mit seinen vierzig. Ich werde Davey ein Gummiboot schicken, damit er die dumme Geschichte vergisst.« Und damit ging Eva davon.

Sie sperrten die Waffenhandlung zu, Emily zog sich an, und die drei feierten Henrys Geburtstag mit einem Festessen.

Als das Muschelragout auf den Tisch kam, sagte Emily versonnen: »Möchte wissen, warum er sie geheiratet hat?«

»Wer wen?«                  

»Otis Madge natürlich.«

»Genau dasselbe fragen sich die Leute, wenn sie uns beide zusammen sehen«, sagte Henry. »Wahrscheinlich hat er nicht gewusst, wie sie ausschaut, bevor er mit ihr vor dem Altar stand. Habt ihr nicht bemerkt, wie kurzsichtig er ist? Und zu eitel, um Gläser zu tragen. Er sieht dich erst, wenn er dir schon auf die Zehen tritt, und dann starrt er dich an, als wollte er die Schuppen auf deinem Kragen zählen. Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn sympathisch finde.«

»Wenn Eva dich hörte, Henry, würde sie tief gekränkt sein.«

»Was kann ich dafür? Ihr geliebter Neffe und meine geringe Person sind nun mal nicht aufeinander abgestimmt.«

»Sie hat ihn sozusagen großgezogen«, bemerkte Link. »Sie behandelt ihn, als ob er ihr gehörte. Eva kenne ich schon seit langem, aber Otis ist mir bis jetzt noch nie begegnet.«

»Du glaubst wohl nicht, dass er seine Frau erschossen hat?«, fragte Emily eifrig.

»Natürlich nicht!«

»Mich würde es nicht wundern.«