6,99 €
Henry wandte sich um. Scharf angestrahlt von den elektrischen Birnen stand dort draußen ein Mann und überflog die Schlagzeilen der Morgenzeitungen. Er erinnerte Henry sofort an den Mann im hellen Kamelhaarmantel, der am vergangenen Abend so hartnäckig den Hauseingang der Cloches beobachtet hatte. Den weichen braunen Hut hatte der Unbekannte auch heute tief in die Stirn gezogen, so dass dieser den größten Teil des Gesichtes verbarg. Das, was man davon sah, zeigte keinerlei Falten, aber der Mund war schmal und nervös zusammengekniffen. Er bewegte leicht die Lippen, während er das Wechselgeld abzählte. Was man von seiner Kleidung sehen konnte, der Schlips, das reinseidene Hemd, das Jackett unter dem Mantel, alles war teuer und sorgfältig aufeinander abgestimmt. Die Hand, die die herausgezogenen Zeitungen hielt, war hell, gepflegt und die Nägel tadellos manikürt. Am dritten Finger funkelte ein riesiger Brillant. Henry stimmte mit Sophie und Friedmann überein, der Mann war wohlhabend, wenn nicht sogar reich - jedenfalls aber kein Chauffeur. Für einen Engländer waren Anzug und Mantel eigentlich zu auffällig, und der riesige Brillant, obendrein am Mittelfinger, entsprach erst recht nicht englischem Geschmack. Der Mann könnte Europäer sein. Seine Kleidung jedoch stammte aus Amerika. Jetzt steckte der Mann sein Wechselgeld in die Tasche und ging mit den Zeitungen davon.
»Na, ist das nun ein Engländer?«, fragte Sophie triumphierend.
Henry schüttelte den Kopf.
»Er scheint aber hier in der Nähe zu wohnen.«
»Wenn, dann muss er erst kürzlich hergezogen sein. Wir haben ihn früher nie gesehen, nicht wahr, Herman?«
»Das interessiert doch keinen Menschen!«, brummte Herman unwirsch.
Henry fasste einen plötzlichen Entschluss, stand auf und folgte dem Mann.
Margaret Scherf (* 1908 in Fairmont, West Virginia; † März 1979) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.
Der Roman Das goldene Klavier erschien erstmals im Jahr 1963; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1964.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2020
MARGARET SCHERF
Das goldene Klavier
Roman
Apex Crime, Band 121
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DAS GOLDENE KLAVIER
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Henry wandte sich um. Scharf angestrahlt von den elektrischen Birnen stand dort draußen ein Mann und überflog die Schlagzeilen der Morgenzeitungen. Er erinnerte Henry sofort an den Mann im hellen Kamelhaarmantel, der am vergangenen Abend so hartnäckig den Hauseingang der Cloches beobachtet hatte. Den weichen braunen Hut hatte der Unbekannte auch heute tief in die Stirn gezogen, so dass dieser den größten Teil des Gesichtes verbarg. Das, was man davon sah, zeigte keinerlei Falten, aber der Mund war schmal und nervös zusammengekniffen. Er bewegte leicht die Lippen, während er das Wechselgeld abzählte. Was man von seiner Kleidung sehen konnte, der Schlips, das reinseidene Hemd, das Jackett unter dem Mantel, alles war teuer und sorgfältig aufeinander abgestimmt. Die Hand, die die herausgezogenen Zeitungen hielt, war hell, gepflegt und die Nägel tadellos manikürt. Am dritten Finger funkelte ein riesiger Brillant. Henry stimmte mit Sophie und Friedmann überein, der Mann war wohlhabend, wenn nicht sogar reich - jedenfalls aber kein Chauffeur. Für einen Engländer waren Anzug und Mantel eigentlich zu auffällig, und der riesige Brillant, obendrein am Mittelfinger, entsprach erst recht nicht englischem Geschmack. Der Mann könnte Europäer sein. Seine Kleidung jedoch stammte aus Amerika. Jetzt steckte der Mann sein Wechselgeld in die Tasche und ging mit den Zeitungen davon.
»Na, ist das nun ein Engländer?«, fragte Sophie triumphierend.
Henry schüttelte den Kopf.
»Er scheint aber hier in der Nähe zu wohnen.«
»Wenn, dann muss er erst kürzlich hergezogen sein. Wir haben ihn früher nie gesehen, nicht wahr, Herman?«
»Das interessiert doch keinen Menschen!«, brummte Herman unwirsch.
Henry fasste einen plötzlichen Entschluss, stand auf und folgte dem Mann.
Margaret Scherf (* 1908 in Fairmont, West Virginia; † März 1979) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.
Der Roman Das goldene Klavier erschien erstmals im Jahr 1963; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1964.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Die Bewohner Manhattans nahmen den Giganten aus Stahl und Glas, der lichtfunkelnd vor dem dunkel dahinströmenden East River gegen den Sternenhimmel aufragte, schon kaum mehr wahr. Die Vereinten Nationen bedeuteten für sie mehr oder weniger nur eine Quelle zahlreicher Unbequemlichkeiten. Wie zum Beispiel die Besuche Fidel Castros oder Chruschtschows, die den Verkehr stundenlang lahmzulegen pflegten. Davon abgesehen erinnerten sich höchstens die Lieferanten von Cocktailgebäck und der Handtuchservice hin und wieder mit einem Gefühl der Dankbarkeit der UN. Innenarchitekten jedoch hatten bis heute jedenfalls keinerlei Berührungspunkte mit der UN gehabt. Ja, Emily Bryce und ihr Mann Henry hatten bisher noch nicht einmal so viel Interesse gezeigt, das Gebäude oder eine der kleinen Vollversammlungen zu besuchen. Für sie war diese Glasfassade nichts weiter als ein Anziehungspunkt für Fremde, wie unter anderem auch die Freiheitsstatue.
Im Augenblick, das heißt, heute, am siebzehnten Dezember, sechs Uhr nachmittags, waren Henry und Emily damit beschäftigt, letzte Hand an zwei für Mrs. Camilla Lorenz bestimmte Möbelstücke zu legen. Mrs. Lorenz war Innenarchitektin und in Fachkreisen als eine der drei unerbittlichen Karrierehyänen der 57. Straße bekannt. Diese schmeichelhafte Bezeichnung war nicht einmal unfreundlich gemeint. Eher als eine Art widerwilliger Anerkennung. Der Beruf des Innenarchitekten bringt viele Imponderabilien mit sich. Geschäfte werden auf äußerst unsicherer Basis abgeschlossen, oft nur aufgrund mündlicher Absprachen. Sehr häufig mit nervenaufreibenden weiblichen Kundinnen. Der rasche Wechsel der Mode birgt ein großes Risiko in sich. Dies alles zusammen erzeugt naturgemäß leicht schlechte Laune. Und die erfolgreichsten, beschäftigsten unter den Innenarchitekten sind so zwangsläufig in ihren Stimmungen am unberechenbarsten.
Mit großer Sorgfalt deckte Henry jetzt ein weiteres Stück Blattgold auf ein Spinett auf. Eine Arbeit, die ihm besonders unsympathisch war. Aber er galt als Spezialist in dieser Kunst. Allmählich begann es kalt im Atelier zu werden. Das Atelier nahm das Erdgeschoss eines altmodischen Backsteingebäudes an der Second Avenue, unmittelbar vor der 54. Straße, ein. Henry fror. Er hatte keine Lust mehr. Er sehnte sich nach einem Drink und einem guten Abendessen.
»Lass uns aufhören!«, bat er. »Es ist doch vollkommen gleichgültig, ob dieser Banause, der auf dem Ding spielen wird, es nun heute oder morgen bekommt!«
»Woher willst du wissen, dass es ein Banause ist?«, fragte Emily.
Es war ihre besondere Stärke, sich in jeder Unterhaltung sofort an Nebensächlichkeiten festzubeißen und vom eigentlichen Thema abzuschweifen.
»Weil niemand, der einen einigermaßen guten Geschmack hat, sich ein vergoldetes Spinett anschaffen würde«, gab Henry nicht ganz unrichtig zurück.
Emily rieb sich die Augen, wobei sie eine dicke Spur blauer Farbe an der Nase zurückließ. Sie war gerade damit beschäftigt, in die Bärte zweier markanter Männerköpfe die erforderlichen Schatten einzusetzen. Diese Porträts wurden auf Wunsch eines Kunden auf einen wundervollen florentinischen Sekretär aufgemalt. Eingerahmt von einer Rose, einem Ährenbündel, einer Sichel und einer-, Wassermelone. Emily sah sehr abgespannt aus, fand Henry und verspürte großes Mitleid. Obwohl er sich doch schon hundertmal geschworen hatte, endlich immun dagegen zu werden. Es war Emily einfach nicht klarzumachen, dass es keinen Zweck hatte, immer wieder Termine zu versprechen, die von vorneherein nicht einzuhalten waren.
Lustlos blickte Henry den schmalen Gang, den die dicht gedrängt stehenden Möbelstücke freiließen, entlang zur Eingangstür hinüber. Da war er schon wieder! Der Mann mit dem hellen Mantel und dem weichen, in die Stirn gezogenen Hut. Obwohl Henry ihn gar nicht kannte, war der Unbekannte ihm irgendwie unsympathisch, weshalb, hätte er nicht definieren können. Übrigens war es bereits das dritte Mal während der letzten Stunde, dass der Mann sich dort draußen vor dem Atelier herumtrieb. Genau wie jetzt, hatte er auch die anderen Male keinerlei Anstalten gemacht, hereinzukommen. Er hatte lediglich dagestanden und durch die Glasscheibe geblickt.
»Es wäre wirklich besser, wir gingen«, schlug Henry vor. »Vor der Tür lungert schon die ganze Zeit irgend so ein Kerl herum.«
»Na und?«, fragte Emily. »Was ist denn schon dabei? Hier starren doch alle naselang Leute herein. Das Licht zieht sie an wie die Mücken.«
»Alles ganz schön und gut. Aber ich beobachte den Mann schon eine ganze Weile, wie er immer wieder hier hereingafft. Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe ein. unheimliches Gefühl dabei. Ich verspüre nicht die geringste Neigung, hier überfallen zu werden.«
»Du willst mir ja bloß Angst machen.«
»Überzeuge dich doch selbst!«
Emily kam herüber und blickte nun ebenfalls den Gang entlang auf die Tür. In diesem Augenblick verschwand der Mann.
»Da ist ja überhaupt niemand«, stellte Emily fest. »So, Henry, nun mach endlich, dass du mit dem Vergolden fertig wirst! Rutherford hat doch gesagt, dass er um halb sieben wieder da sein würde,«
»Emily - ich bitte dich, sei vernünftig! Es ist doch stadtbekannt, was von deinen Versprechungen zu halten ist. Glaubst du etwa, Mrs. Lorenz gibt sich bezüglich unserer Termine noch falschen Hoffnungen hin? Mein Gott, wie oft hat sie während der letzten zehn Jahre wohl schon mal ein Stück pünktlich bekommen?«
»Henry, lass die ewigen Sticheleien!«
Emily tauchte ein Knäuel Stahlwolle in eine Konservendose mit einer bräunlichen Flüssigkeit und machte sich daran, der Klappe des Sekretärs ein antikes Aussehen zu verleihen.
»Du wirst noch eins über den Kopf bekommen, bloß um diese Person glücklich zu machen.«
»Ich habe bei Petrus sowieso schon eine Menge schwarze Kreuze für die Herzanfälle, die Tracy meinetwegen gehabt hat. Ganz abgesehen davon, dass wir keinen Pfennig für unsere Arbeit bekommen, wenn Mrs. Lorenz heute mit einem Herzinfarkt zusammenbricht. Du weißt doch, wie kompliziert alles immer gleich ist, wenn Leute plötzlich sterben.«
»Jetzt stirbt sie bei dir tatsächlich schon! Dabei fehlt ihr weiter überhaupt nichts. Außer, dass sie ein Ausbund schlechter Laune und unerfreulicher Temperamentsausbrüche ist. Dass sie weiterhin einen Mann hat, der sie in geradezu kindischer Weise verwöhnt.
Und dass sie von lauter Idioten umgeben ist, die vor Schreck gleich in Ohnmacht fallen, wenn sie nur mal ungnädig die Stirn runzelt. Du übrigens inbegriffen.«
»Das ist gemein von dir! Ich habe mich von ihr noch nie ins Bockshorn jagen lassen!«
Henry schnaubte nur verächtlich durch die Nase. Dann löste er behutsam eine weitere Goldfolie von dem Schutzblättchen ab und trug sie auf die Oberfläche des Klaviers auf. Behutsam strich er sie glatt und verrieb die Kanten.
Er hing seinen Gedanken nach, ohne auf das, was Emily sagte, zu hören, und antwortete rein mechanisch. Darin hatte er es in seiner langjährigen Ehe zur Perfektion gebracht. Er überlegte, warum um Himmels willen Mrs. Lorenz ausgerechnet an diesen beiden Stücken so sehr gelegen war? Emily und er hatten schon unzählige Aufträge für sie ausgeführt. Natürlich hatte sie immer gedrängt und pausenlos im Atelier angerufen, um sich zu erkundigen, wie weit die Arbeit gediehen wäre. Manchmal hatten sie ihren Termin eingehalten, ebenso oft aber auch nicht. Noch nie jedoch war Mrs. Lorenz derart hartnäckig gewesen. Noch nie hatte sie so unerbittlich darauf bestanden, dass die Sachen auf die Minute pünktlich geliefert wurden. Ihnen noch nie derartig den Nerv getötet. Dabei fiel ihm übrigens noch etwas Eigenartiges auf. Sie hatten den Kunden tatsächlich nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen.
»Wir wissen ja nicht einmal, wer auf diesem Ding da spielen wird«, sagte er laut aus einen Gedanken heraus.
»Und? Was stört dich daran? Schließlich lernen wir nicht jeden Kunden persönlich kennen.«
»Doch. Im Allgemeinen ja. Sie schauen doch meist früher oder später einmal vorbei, während wir an ihren Sachen arbeiten. Ist ja auch kein Wunder. Man sollte doch meinen, es interessiert die Leute, was mit ihren Schätzen geschieht.«
Emily war der Ansicht, dass dieser Kunde oder die Kundin wahrscheinlich zu wenig von derartigen Dingen verstünde und Gott sei Dank klug genug wäre, sich nicht einzumischen, sondern lieber Mrs. Lorenz freie Hand zu lassen.
»Das klingt zu schön, um wahr zu sein«, vertrat Henry entschieden seine andere Meinung. »Je weniger die Leute von etwas verstehen, desto mehr wollen sie doch im Allgemeinen mitzureden haben. Ach, bitte, könnten Sie nicht dort noch ein kleines Rosenbukett hinzufügen? Und das Rosa da drüben vielleicht mit Karmesinrot übermalen? Eigentlich wäre eine Einfassung besser gewesen, finden Sie nicht? Oder doch lieber noch dunkler beizen? Ja, das wäre wohl das beste gewesen, meine Liebe, was sagen Sie?«
Das Telefon klingelte. Henry meldete sich. Es war Lincoln Simpson, ein guter Freund von ihnen. Er besaß in der Lexington Avenue, Nr. 61, ein kleines Antiquitätengeschäft. Und zwar hatte er sich auf alte Waffen spezialisiert.
»Ich bin dabei, eine Riesendummheit, die ich vorhin gemacht habe, gründlich zu begießen«, verkündete Link. »Wie ist es, habt ihr nicht Lust, mit mir essen zu gehen?«
Emily stimmte begeistert zu.
»Sag ihm, er möchte vorbeikommen und uns abholen, falls wir uns verspäten sollten. Ich meine nur, dass er nicht womöglich im Schneetreiben auf der Straße vor dem Regis-Hotel auf uns warten muss.«
Darauf fiel Link nicht mehr herein. Dafür kannte er Emily zu lange und zu gut. Er zog es vor, sie in einer Stunde in der Hotelhalle zu erwarten.
Kaum hatte Henry aufgelegt, klingelte das Telefon abermals. Mrs. Lorenz wollte wissen, ob der Spediteur das Spinett und den Sekretär bereits abgeholt hätte.
»Wir warten seit einer Ewigkeit auf Rutherford«, log Emily flüssig und ohne die geringsten Gewissensbisse.
»Mrs. Bryce, ich habe vor wenigen Minuten erst mit Rutherford gesprochen. Er sagt, er wäre zweimal vergeblich bei Ihnen gewesen. Die Sachen wären jedoch noch nicht fertig. Ich verlange, dass die beiden Stücke innerhalb der nächsten halben Stunde geliefert werden. Andernfalls sähe ich mich leider gezwungen, eine Bezahlung abzulehnen! Ich schwöre Ihnen, Sie sehen sonst keinen roten Heller von mir!«
In diesem Augenblick betrat Rutherford, der liebenswürdigste aller Spediteure, das Atelier. Zum drittenmal an diesem Tag. Er schlenderte gemächlich den schmalen Gang entlang, hob schweigend die Hand zum Gruß und. ließ sich auf einer wenig einladend aussehenden italienischen Marmorbank nieder. Es war seiner Miene anzusehen, dass er sich auf eine längere Wartezeit einrichtete.
»Er ist diesen Augenblick gekommen«, erklärte Emily. »Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen, Mrs. Lorenz. Alles wird pünktlich an Ort und Stelle sein.«
Emily legte auf und wandte sich um. »Wie geht es Ihrer lieben Frau, Mr. Rutherford?«, erkundigte sie sich verbindlich.
Der Mann wusste ganz genau, dass es ihr nur darum ging, Zeit zu gewinnen. Mit wütendem Eifer machte Emily sich daran, den Sekretär fertig zu polieren. Gutmütig ging er auf das Spiel ein und berichtete ausführlich über den Gesundheitszustand seiner Frau, ihr reges Interesse an der karitativen Arbeit der Kirche, die eifrige Geschäftigkeit, mit der sie ihr kleines Häuschen in Ordnung hielt und zu guter Letzt noch von ihren Plänen für das Weihnachtsessen. Sein Gehilfe, der mit ähnlicher Engelsgeduld ausgestattet zu sein schien, lehnte sich gegen eine zerbrechlich aussehende Rokokokonsole und studierte eingehend Emilys Telefonnummern, die sie in der Eile einfachheitshalber auf die Wand gekritzelt hatte.
»Wen sollen die beiden alten Herren denn darstellen?«, fuhr Rutherford in seiner Konversation fort und musterte kritisch die beiden bärtigen Porträts auf dem Sekretär.
»Die Großväter des Kunden«, erläuterte Emily.
»Das finden die Leute nun originell, Rutherford«, mischte sich Henry ein. »Was sagen Sie dazu? Können Sie mir vielleicht verraten, was daran originell sein soll?«
Rutherford lächelte das milde Lächeln, das er sich in den vergangenen zwanzig Jahren langsam angeeignet hatte. In zwanzig Jahren, die er nun schon die unwahrscheinlichsten Schöpfungen der Innenarchitekten von einem Ort zum anderen beförderte. New York war eine Stadt, deren Einwohnern Innenarchitekten zum Leben so unerlässlich zu sein schienen, wie die Luft zum Atmen.
»Diese verflixten Porträts«, stöhnte Emily. »Mir war schon angst und bange, ich würde sie nicht überleben! Porträts liegen mir nun mal nicht. Das habe ich Camilla ja auch gesagt! Aber sie ging überhaupt nicht darauf ein. Sie erklärte mir einfach, sie sei überzeugt, ich werde es schon hinbekommen. Da mache sie sich gar keine Sorgen. Diese Frau scheint der Ansicht zu sein, es gäbe nichts auf dieser Welt, was ich nicht könnte. Ist es nicht so, Henry?«
»Wir wissen doch alle, dass du einmalig begabt bist, Emily. Aber jetzt hör um Gottes willen endlich mit dem Polieren auf! Sonst verhungert Mr. Rutherford uns noch. Dabei fällt mir ein, wohin soll der Kram denn überhaupt geliefert werden?«
»Ich habe die Adresse«, beruhigte ihn der Spediteur. »Es ist gleich hier um die Ecke. 54. Straße, Nr. 347. Ein Katzensprung sozusagen.«
Er hob den Sekretär auf, als ob es sich um eine Zigarrenkiste handelte, und manövrierte ihn geschickt den schmalen Gang entlang.
Henry verschwand im Bad, um sich umzuziehen. Er war gerade dabei, seine Manschettenknöpfe einzustecken, als ein schriller Entsetzensschrei von Emily ihn zusammenfahren ließ.
»Mein Gott, wir haben den Beschlag auf der Klappe vergessen!«
Henry kam wieder zum Vorschein.
»Halb so schlimm. Wir liefern ihn morgen nach und bringen ihn an Ort und Stelle an. Jetzt zieh dich endlich an!«
»Nein, das wage ich nicht! Stell dir vor, sie geht heute Abend hin, um sich die Sachen anzusehen! Das würde ihr Ende bedeuten! Ich habe sie noch nie so nervös gesehen wie bei diesem Auftrag.«
»Ach, Unsinn! Du weißt doch, dass sie immer gleich wegen jeder Kleinigkeit die Nerven verliert. Ich habe sie in meinem ganzen Leben noch nie anders als hysterisch erlebt.«
Emily ließ sich jedoch nicht beruhigen. So gab Henry schließlich seufzend nach.
»Also, zieh dich an und komm mich mit einem Taxi abholen. Ich brauche höchstens eine Viertelstunde. Und denk daran, deine Fingernägel frisch zu lackieren. Link ist nun mal in diesen Dingen so empfindlich. Wahrscheinlich wartet der arme Kerl sowieso schon auf uns.«
»Er wird es zu ertragen wissen«, beschwichtigte ihn Emily. »Sei ohne Sorge! Er wird sich vier weitere Martinis genehmigen und gar nicht merken, dass wir noch nicht da sind.«
Es war schon lange Abendessenszeit. Pierre Marie Cloche, Mitglied des Weltraumausschusses, hing der gesamte Weltraum allmählich zum Hals heraus. Er sehnte sich, nach Hause gehen zu können, zu seiner Frau und einem gemütlichen, guten Abendessen. Vor allem ging ihm der gerade sprechende Delegierte von Peru unsagbar auf die Nerven. Dieser Mann war einfach außerstande, ein Ende zu finden, wie Pierre Cloche aus früheren Sitzungen wusste.
Die heutige Versammlung diente dem Zweck, einen Begriff als solchen festzulegen. Letztlich war es wieder einmal ein Streiten um des Kaisers Bart. Wo berührten sich Erdatmosphäre und Weltraum? Darum ging es nun schon seit Stunden. Worte, nichts als leere Worte. Natürlich war auch diese Sitzung notwendig, das sah er ein. Der Punkt musste geklärt werden. Zur Zufriedenheit aller Teilnehmer. Aber doch nicht unbedingt heute Abend noch. So spät am Abend. Und das mit leerem Magen.
Pierre Cloche hatte genug. Er wollte endlich nach Hause. Sonst nichts. Zu Francine, seiner süßen, geliebten Francine. Er sorgte sich um sie. Die angebetete, kleine Francine, sie war so allein in dieser großen, unbarmherzigen Stadt. So oft wie möglich überredete er sie ja, ihn zu begleiten und einer Sitzung beizuwohnen. Ihr Auftritt, wenn sie den großen Saal betraten und verließen, machte ihr kindliche Freude. Besonders, wenn sie einen neuen Hut oder ein neues Kleid vorführen konnte. Aber die Sitzung als solche langweilte sie tödlich. Was ihr im Grunde genommen nicht zu verdenken war. Die rund um den hufeisenförmigen, grünen Tisch aufgereihten Mitglieder wirkten wie Erbsen in einer überdimensionalen Schote. Ohne die ergötzlichen Zwischenrufe vom Balkon herunter verliefen die kleinen Sitzungen der Vollversammlung, ganz besonders noch für einen Außenstehenden, mit schleppender Langeweile. Wenn in der großen Vollversammlung Kubaner andere Kubaner auszischten, die Südafrikaner ihre Pfiffe gegen alle und jeden richteten, dann brachte das zumindest etwas Leben in die Sache.
Heute bestand die einzige Unterbrechung des monotonen Wortgemurmels in dem Klappern der hohen Hacken, wenn die Sekretärin mit einer dringenden Botschaft herein- oder hinauseilte. Oder wenn eins dieser mauseähnlichen, männlich angezogenen Geschöpfe erschien und - ein lebender Aktenschrank - hinter den Abgeordneten des betreffenden Landes Platz nahm.
Plötzlich runzelte Pierre Cloche die Stirn. Ihm war eingefallen, wie seltsam sich Francine heute beim Frühstück benommen hatte. In ihrer Stimme und ihren Bewegungen hatte so eine mühsam beherrschte Erregung gelegen. Zweimal hatte sie sich sehr eindringlich nach seinen Plänen für den heutigen Tag erkundigt.
»Bist du sicher, dass du spät nach Hause kommen wirst?«
»Ja, leider. Der Ausschussvorsitzende hat schon angekündigt, er beabsichtige heute ohne Unterbrechung bis sieben Uhr durchzuarbeiten. Und es ist durchaus möglich, dass es sogar noch später wird. Er hat eine eiserne Konstitution und scheint nie müde zu werden.«
»Und was sagt seine Frau dazu?«
Grüblerisch betrachtete Pierre den Vorsitzenden. Der sprach, die Augen auf einen fernen Punkt an der Saaldecke gerichtet, unentwegt weiter. Ob Francine etwa eine Überraschung plante? fiel Pierre plötzlich mit Schrecken ein. Sie liebte Überraschungen. Ihre letzte hatte darin bestanden, dass sie die ganze Wohnung neu tapezieren und streichen ließ, während er in Washington war. Die Sache beunruhigte ihn nach wie vor. Francine hatte ihm zwar versichert, dass der Hauseigentümer für die gesamten Kosten aufkäme. Aber ihm erschien es doch höchst unwahrscheinlich, dass ein Mann, dessen Einkommen aus den Mieten seiner Häuser bestand, sich so weitgehend in Unkosten stürzen sollte, die Wände des Cloche'schen Salons mit teuersten grünen Seidentapeten bespannen zu lassen.
»Hier in den Vereinigten Staaten ist das alles anders«, hatte ihm Francine leichthin erklärt. »Hier hat es niemand nötig, kleinlich zu sein. Sag, ist es nicht wunderschön geworden, Liebling?«
Es war wunderschön geworden. Aber Pierre gefiel die Geschichte einfach nicht. Jetzt, gefangen in seiner Sitzung, hoffte er nur inständig, Francine plane keine neue Überraschung.
Er starrte über die gesenkten Köpfe der Mitglieder hinweg auf die riesigen Fenster, die den East River überblickten. Auf die flimmernden Lichter der dahingleitenden Frachtkähne und den fernen hellen Schein, der über Long Island lag. Es sollte für viele Tage das letzte Mal sein, dass der Abgeordnete von Gaad sich einschläfernder, aber geruhsamer Langeweile hingeben konnte. Er ahnte es nur noch nicht.
An der Ecke 54. Straße wandte Henry sich nach links und ging unter der Markise des El Morocco entlang. Wie immer störte ihn die Fassade aus funkelndem schwarzem Spiegelglas und Messing, die so schlecht zwischen die benachbarten altmodischen roten Ziegelhäuser passen wollte.
Zahlreiche Wagen parkten bereits davor, und immer neue rollten an. Knapp sieben, stellte Henry mit einem Blick auf die Uhr fest. Reichlich früh für einen Nachtclub, fand er. Dann erst fiel ihm auf, dass die Leute ja gar nicht auf den Eingang des El Morocco zustrebten, sondern in dem Haus verschwanden, das die Nummer, welche er suchte, trug. Wahrscheinlich fand dort eine Party statt. Aber seit wann war es üblich, im alten Regenmantel, mit einem verwitterten Hut auf dem Kopf und mit Fotoapparat bewaffnet auf eine Party zu gehen?
Jetzt sah er genauer hin. Daily News las er auf einem der abgestellten Wagen. Mit plötzlich erwachter Neugierde blickte er sich um, und so fiel sein Blick auch auf die gegenüberliegende Seite des Bürgersteiges. Dadurch bemerkte er den Mann, der unmittelbar ihm gegenüber, halb in einem Eingang versteckt, stand. Irgendetwas an dem Mann - er wusste nicht sofort was - kam ihm bekannt vor: der weiche, tief ins Gesicht gezogene Hut, das eigenartig getönte Gesicht darunter. Die Hände hatte der Mann tief in den Manteltaschen vergraben; eines Kamelhaarmantels, soweit Henry von hier aus erkennen konnte. Die grimmige Kälte schien dem Fremden zuzusetzen. Er zog fröstelnd die Schultern zusammen und trat mit den Füßen im Schnee auf der Stelle. Als ob der Schnee langsam durch den Mantel gedrungen wäre, er aber trotzdem seinen Platz nicht verlassen wollte. Sonderbar! Der Mann schiert Henrys Blick gespürt zu haben, denn er wandte sich ab, zog den Hut noch tiefer in die Stirn und drückte sich noch weiter nach hinten in den Hauseingang. Reporter war er jedenfalls nicht - kein Reporter verkroch sich angesichts der Sensation, die er jagte, wie es sein Beruf war.
Henry betrat das Gebäude zugleich mit zwei Reportern. Der Portier lächelte ihnen zwar gerade noch höflich entgegen, aber sein Missfallen stand ihm deutlich im Gesicht geschrieben.
»Sie suchen das Cloche-Appartement, schätze ich?«, knurrte er missgelaunt.
»Ich möchte zu Nr. 4 A!«, gab Henry ebenso eisig zurück.
»Da brauchen Sie bloß den anderen nachzurennen.«
Der Fahrstuhl wartete bereits. Eine hochgewachsene Blondine, vom Typ, den man als männermordenden Vamp zu bezeichnen pflegt, bearbeitete vor Ungeduld zitternd den unglückseligen Liftboy. Das blonde Gift trug ein leuchtend grünes, sehr tailliertes Kostüm und sah im gleichen Maß attraktiv wie furchterregend aus. Der junge widerstand unerschütterlich ihrem Redeschwall und beharrte, darauf zu warten, bis die Kabine voll war. Ihr Gesichtsausdruck war wahrhaft beängstigend. Sie sah so aus, fand Henry, als ob sie dem armen Jüngling in der nächsten Sekunde ins Gesicht springen würde.
»Kein Grund zur Eile, Felicity!«, meinte einer der Reporter besänftigend. »Es ist noch reichlich Zeit, und wir wollen ja auch dorthin. Übrigens, verrate uns doch mal, was hier eigentlich los ist?«
»Ich werde den Teufel tun, ausgerechnet dich aufzuklären!«, schnappte Felicity bissig zurück.
»Sie weiß es auch nicht! Es geschehen Zeichen und Wunder! Callahan weiß einmal etwas nicht!«
»Vollkommen ausgeschlossen!«, grinste der andere. »Callahan weiß alles.«
Henry unterhielt sich königlich. Jetzt bedauerte er, dass er Emily nicht mitgenommen hatte. Felicity Callahan bedeutete für sie einen unerlässlichen Bestandteil ihres Frühstücks. Die endlosen Platituden der beiden Callahans über ihr privates und gesellschaftliches Leben, angefangen von ihren seelischen Problemen bis zu der Entwicklung der ersten Zähne, der Mandeln, Drüsen und Psychosen ihres einzigen, offenbar ziemlich kümmerlich geratenen Sprösslings, bildeten Emilys morgendliche Unterhaltung.
Das Appartement, welches Henry unmittelbar hinter Felicity betrat, war wundervoll eingerichtet. Hier hatte die gute Camilla Lorenz sich selbst übertroffen. Die Wohnung stank geradezu nach Geld. Wohin man sah - unermessliche Werte. Dort drüben zum Beispiel, die schweren grünen Seidenportieren oder da die verspielten, golden funkelnden Murano-Spiegel. Die durchnässten Schuhe des Fotografen vom Mirror versanken geradezu in dem weichen Teppich. Eben stäubte er gelassen die Asche seiner Zigarre in ein hauchzartes, durchsichtiges Meißner Porzellanschälchen. Vermutlich rauchte der Gute nur Zigarren, um sich ein reiferes Aussehen zu geben, vermutete Henry. Aber damit erzielte der Knabe höchstens die gegenteilige Wirkung.
Jeder der planlos Herumstehenden war entweder mit einem Fotoapparat oder Block und Bleistift bewaffnet. Sie wirkten wie Aasgeier, bereit, sich jeden Augenblick auf ihr Opfer zu stürzen.
Worauf eigentlich, das vermochte Henry zunächst noch nicht zu erkennen. Er sah nichts als sich drängende, schiebende, ihre Hälse reckende Zeitungsleute und eingekreist von ihnen, total verängstigt, eine junge Frau. Eine sehr junge, sehr hübsche Frau, anscheinend Französin oder Italienerin, in einem raffiniert einfach geschnittenen Kleid, dem man auf den ersten Blick ansah, dass seine vollendete Schlichtheit in teuren Dollars aufgewogen worden war.
Mühsam kämpfte sich Henry bis zu ihr durch. Dabei umklammerte er krampfhaft seine Tüte mit dem Schloss und dem Schraubenzieher.
»Ich bin Henry Bryce, der Besitzer des Ateliers«, erklärte er ohne viel Hoffnung, dass dieses zauberhafte Geschöpf da vor ihm eine Ahnung hatte, welches Atelier gemeint war. »Wir haben an Ihrem Sekretär die Beschläge anzubringen vergessen.«
Sie hatte nicht nur nicht begriffen. Sie hatte ihn überhaupt nicht gehört. Henry verspürte keine Lust, seine Erklärung lautstark in die Gegend hinauszuposaunen. Es schien ihm am einfachsten, stillschweigend seine Arbeit zu tun und zu verschwinden. An und für sich das naheliegendste. Aber er hatte die Reporter nicht bedacht. Ihre Aufmerksamkeit schien sich ausgerechnet auf die untere Hälfte des Sekretärs zu konzentrieren. Alle Kameras waren darauf gerichtet und pausenlos flammten Blitzlichter auf. Unhöflich und rücksichtslos wurde Henry beiseite gestoßen, damit die Sicht auf Emilys zwei Großvaterporträts frei lag. Dieses Interesse würde Emily enorm schmeicheln. Vielleicht sollte er ihr gar nichts davon verraten und sie am nächsten Morgen ahnungslos die Zeitung öffnen lassen.
Henry hasste jede Rücksichtslosigkeit und Gewalttätigkeit. Aber es schien ihm nichts anderes übrigzubleiben, wollte er heute Abend hier noch einmal fortkommen. Grob die Ellenbogen gebrauchend, schaffte er es, bis zum Sekretär vorzudringen. Hastig kramte er seine Sachen aus der Tüte hervor. Es wäre unzweifelhaft bequemer gewesen, den Beschlag festzuschrauben, hätte nicht einer der hoffnungsvollen Jünglinge ausgerechnet Henrys Schulter als Stütze benützt, um einen der mit elfenbeinweißem Brokat überzogenen Sessel zu erklimmen und von dort aus einen besonders günstigen Schusswinkel zu haben. Aber Henry schluckte seinen Groll mannhaft hinunter und beeilte sich, fertigzuwerden.
»Hast du das goldene Spinett mit draufbekommen?«, fragte neben ihm eine Stimme den ehrgeizigen Fotografen auf dem zerbrechlichen Barocksessel.
Offenbar musste das Spinett auch von dort oben aus verdeckt gewesen sein, denn die beiden schoben sich jetzt nach dort drüben davon, sofort gefolgt von einem Rattenschwanz weiterer Neugieriger.
In diesem Durcheinander konnte kommen oder gehen, wer wollte. Es fiel schon gar nicht mehr auf. Mit dem Mann jedoch, der jetzt eben in der Tür erschien, war es etwas anderes. Er stach so von allen anderen ab, dass jeder unwillkürlich auf ihn aufmerksam wurde. Auch Henry. Der Neuankömmling war auffallend hochgewachsen, er hatte ein grob geschnittenes, aber sympathisches Gesicht, seine Schläfen leuchteten weiß. Hinter der dicken Hornbrille blickten ruhige, kluge Augen. Der Unbekannte sah sehr müde aus. Er hielt eine Aktentasche in der Hand. Zu sagen, er sah verblüfft aus, wäre stark untertrieben. Mühsam machte er Mrs. Cloche in der dichten Menschentraube ausfindig und versuchte zu ihr vorzudringen. Er wirkte wie der typische Ehemann, der sich bemüht, die Ruhe zu bewahren, der versucht zu verstehen, was da eigentlich vor sich geht, bevor er seiner Erbitterung freien Lauf lässt.
Mrs. Cloche entdeckte ihn fast augenblicklich. Ihr Gesicht drückte gleichzeitig große Erleichterung und auch eine gewisse Besorgnis aus. Wie ein Kind, das von zu Hause fortgelaufen ist und zugleich mit der Freude, endlich gefunden worden zu sein, auch Furcht vor der berechtigten Strafe empfindet.
»Ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm werden würde«, verteidigte sie sich. »Sie sprachen zwar von Publicity, das stimmt. Aber das hätte ich mir nicht träumen lassen. Ach, Pierre - ich bin ja so froh, dass du da bist!«
»Was zum Teufel hat das alles zu bedeuten? Erkläre mir, was hier vorgeht! All diese Leute - und alles ist vollkommen verändert! Was ist denn mit unseren Möbeln passiert?«
»Es kostet uns nichts, Pierre«, flüsterte sie. »Wirklich, es ist ganz umsonst. Nur diese kleine - Unbequemlichkeit, und dann
»Kleine Unbequemlichkeit nennst du das!« Er beherrschte sich eisern. Aber es war ihm anzumerken, wie er innerlich kochte. »Wer sind diese Leute?«
Da hatte Felicity begriffen, dass sie Mr. Cloche vor sich hatte, und stürzte sich begierig auf ihr neues Opfer. Die Meute folgte ihr. Sie wogten wie eine Riesenwelle auf den armen Mann zu, pressten ihn gegen seinen neuen Schreibtisch und überschütteten ihn mit einem Schwall von Fragen.
»Soweit wir informiert sind, hat Ihr Land die Vereinigten Staaten um eine Entwicklungshilfe gebeten, nicht wahr, Monsieur Cloche? In welcher Höhe? Was für Pläne hat Ihre Regierung mit diesem Geld? Wie groß ist der jährliche Staatsetat von Gaad? Ist es nicht eine verteufelt hohe Summe, die Sie für ein derart kleines Land fordern? Was hat Sie diese Einrichtung hier gekostet, Cloche? Wie vereint sich dieser Luxus mit dem Anspruch darauf, dass Sie ein armes Land und auf unsere Entwicklungshilfe angewiesen sind? Stattet Ihre Regierung alle Diplomaten mit derartigen Mitteln aus, die es ihnen gestatten, in diesem Stil zu leben? Oder besitzen Sie Privatvermögen?«
Mr. Cloche war mit seiner Geduld am Ende, schon bevor ein plötzlicher Einwurf das Fass endgültig zum Überlaufen brachte.
»Wieso ist er denn nicht schwarz? Das würde einen viel größeren Effekt auf den Aufnahmen ergeben!«, krähte eine schrille Stimme dazwischen.
»Er ist zur Hälfte Franzose, stimmt es nicht, Cloche?«
»Kommt, Kinder, wir wollen ihn aufnehmen, wie er auf dem goldenen Spinett spielt! Das wäre die Masche, Joe! Los, Cloche, kommen Sie schon!«
»Tun Sie uns den Gefallen. Einen Schnappschuss, wie Sie am Spinett sitzen.«
Die zähe Masse setzte sich unmerklich in Bewegung und schickte sich an, Cloche zum Spinett hinüberzuschieben. Henry warf rasch einen Blick auf Mrs. Cloches Gesicht, es war kalkweiß, und sie schien dicht vor einer Ohnmacht zu stehen. Dann breitete ihr Mann beide Arme aus und drängte alle in Reichweite Befindlichen wortlos auf die in die Diele hinausführende Tür zu. In seinem Gesichtsausdruck lag etwas, das es allen geraten erscheinen ließ, widerstandslos so schnell wie möglich zu verschwinden. Die meisten hatten genug gehört und gesehen, um einen Artikel zusammenstellen zu können.
Felicity hatte sich geschickt an den Rand des Stromes gedrückt und schwebte nun mit dem, was sie für ihren schlechthin unwiderstehlichen Charme hielt, auf Cloche zu.
»Monsieur Cloche, wir sind ja alle so begeistert, so hingerissen von Ihrem einfach wundervoll eingerichteten Appartement! Könnten Sie uns nicht ein wenig von sich erzählen, über Ihre Hobbys, wo Sie studiert haben, wie Sie Ihre Frau kennenlernten, welche Ziele Sie in der UN verfolgen? An Ihrer geradezu einmaligen Bibliothek...« - Sie deutete mit einer weitausholenden Geste auf die bis zur Decke mit Bücherregalen vollgestellte Wand. »...ersehe ich, dass Sie ein passionierter Leser sind. Der Innenarchitekt hat das ganze Zimmer ja vollkommen auf Ihre Bibliothek abgestimmt. Und ich bin sicher, dass dies auf Ihren speziellen Wunsch zurückzuführen ist. Wirklich, ich muss...«
Jetzt endlich drehte Cloche sich um und nahm zum ersten Mal von ihr Notiz. Er wirkte wie eine Straßenwalze, die sich langsam in Bewegung setzt, um mit unerbittlicher Gewalt den heißen Teer flachzurollen.
»Wir wissen Ihr Interesse außerordentlich zu schätzen, Madam. Trotzdem werden Sie sicher Verständnis dafür haben, dass wir sehr erschöpft sind. Meine arme Frau - bitte, Sie sehen es ihr ja deutlich an... Würden Sie nun die Freundlichkeit besitzen, uns allein zu lassen?«
Er berührte Felicity nicht. Aber er drängte sie mit unwiderstehlichem Nachdruck zur Tür. Und mit ihr die wenigen Reporter, die dem ersten Großaufräumen entgangen waren.
Dann traf ein fragender Blick Cloches Henry.
»Und Sie, mein Herr?«, erkundigte er sich.
»Ich bin nur schnell vorbeigekommen, um das Schloss an Ihrem Sekretär anzubringen«, erklärte Henry beflissen. »In der Eile, die Stücke unter allen Umständen pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt zu liefern, hatten wir die Beschläge vergessen.«
»Zeitpunkt? Für was?«
»Die Überraschung, Liebling.« Mrs. Cloche war den Tränen nahe.
»Wenn es Ihnen recht ist, kann ich ja morgen wiederkommen und die noch fehlenden Schrauben anbringen«, erbot sich Henry.
»Wer sind Sie denn überhaupt, wenn ich fragen darf?«, wollte Cloche wissen. »Geht der ganze Zirkus hier auf Ihr Konto?«
»Nein. Wir haben nur zwei Stücke für Mrs. Lorenz aufgearbeitet, das ist alles. Die Innenarchitektin, welche Ihre Wohnung eingerichtet hat, Mr. Cloche.«
»Ich glaube, es ist wirklich am besten, Sie gehen jetzt zunächst einmal. Meine Frau wird alles in Ruhe erklären, wenn wir allein sind. Es sei denn, Sie können ihr die Erklärung abnehmen?«
Henry beteuerte hastig, leider in die näheren Einzelheiten nicht eingeweiht zu sein. Dann beeilte er sich, das gastliche Haus zu verlassen. Im Gehen hörte er noch, wie Mrs. Cloche schüchtern ihren Mann zu beruhigen versuchte.
»Komm, wir essen zuerst einmal zu Abend, dann werde ich dir alles erklären, Liebling. Wenn du erst die näheren Umstände kennst, wirst du begeistert sein, davon bin ich überzeugt!«
Als Henry im Parterre den Fahrstuhl verließ, rannte er fast in Emily hinein.
»Wo warst du denn so lange?«, fragte sie aufgebracht. »Ich sitze seit Stunden draußen im Taxi und warte auf dich!«
Emilys Angriffslust war das. sicherste Zeichen dafür, dass sie sich im Unrecht fühlte. Sozusagen nach dem Motto, dass Angriff die beste Verteidigung ist.
»Meine Güte, du bist doch noch keine zwei Minuten da!« wehrte er deshalb in Kenntnis ihres Charakters sofort ab.
»Na ja, das könnte schon sein. Aber meine Nägel mussten schließlich erst noch trocknen. Es ist deine Schuld! Du hast doch extra noch gesagt, ich solle sie in Ordnung bringen.«