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Tränen begannen durch Lilys Wimperntusche zu sickern. Kein Zweifel, dachte Nina, dass sie Beach immer noch liebt und zugleich hasst. Planmäßig hat er ihr zufriedenes und behagliches Leben zerstört und ihren Stolz verletzt. Indem er sie verließ, gab er ihr zu verstehen, dass sie nicht hübsch sei, nicht begehrenswert, nicht geistreich – und das alles möchte sie so gerne sein. Ihre Eroberungen – zum Beispiel dieser van Osten – sollen sie nur davon überzeugen, dass Beach unrecht hat. Mr. van Osten ist ein Mann mit Geschmack, Verstand und weltmännischen Erfahrungen. Er findet sie anziehend – zum Unterschied von Beach. Natürlich strengt sie sich vergebens an – das beweisen ihre Tränen. Sie liebt Beach immer noch, und solange er lebt und nicht gänzlich aus ihrem Gesichtskreis entschwindet, wird sie doch nicht von ihm frei werden können, weil er der einzige Mensch ist, in dessen Augen, sie sich so spiegelt, wie sie ist...
Margaret Scherf (* 1908 in Fairmont, West Virginia; † März 1979) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.
Der Roman Mord macht mich nervös erschien erstmals im Jahr 1946; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1957.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
MARGARET SCHERF
Mord macht mich nervös
Roman
Apex Crime, Band 217
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
MORD MACHT MICH NERVÖS
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Tränen begannen durch Lilys Wimperntusche zu sickern. Kein Zweifel, dachte Nina, dass sie Beach immer noch liebt und zugleich hasst. Planmäßig hat er ihr zufriedenes und behagliches Leben zerstört und ihren Stolz verletzt. Indem er sie verließ, gab er ihr zu verstehen, dass sie nicht hübsch sei, nicht begehrenswert, nicht geistreich – und das alles möchte sie so gerne sein. Ihre Eroberungen – zum Beispiel dieser van Osten – sollen sie nur davon überzeugen, dass Beach unrecht hat. Mr. van Osten ist ein Mann mit Geschmack, Verstand und weltmännischen Erfahrungen. Er findet sie anziehend – zum Unterschied von Beach. Natürlich strengt sie sich vergebens an – das beweisen ihre Tränen. Sie liebt Beach immer noch, und solange er lebt und nicht gänzlich aus ihrem Gesichtskreis entschwindet, wird sie doch nicht von ihm frei werden können, weil er der einzige Mensch ist, in dessen Augen, sie sich so spiegelt, wie sie ist...
Margaret Scherf (* 1908 in Fairmont, West Virginia; † März 1979) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.
Der Roman Mord macht mich nervös erschien erstmals im Jahr 1946; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1957.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Nina lag wach und betrachtete die Lichtstreifen an der Decke.
Denk nicht mehr daran, sagte sie sich. Schlaf ein!
Draußen in der 56. Straße hupte ein Taxi. Selbst hier oben im vierten Stockwerk auf der Rückseite des Mietshauses machte sich der Straßenlärm bemerkbar. Es war für den Monat Juni sehr heiß, und eine dumpfe Schwüle kam durch die dünnen weißen Gardinen ins Zimmer herein. Im gegenüberliegenden Haus hatte jemand Licht gemacht. Wahrscheinlich, um ins Badezimmer zu gehen. Es musste gegen zwei Uhr morgens sein.
Sie drehte das Kissen auf die kühle Seite und strich die Betttücher glatt. Aber statt abermals zu versuchen einzuschlafen, richtete sie sich plötzlich auf, knipste die Lampe an und griff nach dem Telegramm.
Nina Moffat
242 East 56th Street
New York
Bedaure es dir antun zu müssen, aber heirate Freitag Helen.
Alles Gute! Weldon.
Wer ist Helen? Das Telegramm kommt aus Atlanta. Weldon ist vor etwa zehn Tagen im Auftrag seiner Maklerfirma nach Atlanta gefahren. Er kann diese Helen noch nicht lange gekannt haben. Ein dummes Telegramm! Aber was hätte er telegraphieren sollen? Es gibt keine schmerzlosen Ohrfeigen.
Sie drehte das Licht aus und legte sich zurecht. Zwecklos. Sie musste immerzu an ihn denken. Sie erinnerte sich, wie er ihr, als sie erkältet war, einen heißen Grog gebraut hatte. Wie nett er zu ihren Bekannten gewesen war, wenn sie zum Abendbrot kamen, wie er die Gläser herumgereicht und den freundlichen Wirt gespielt hatte! Weldon in seinem blauen Mantel, wie er mit ihr an einem Sonntagmorgen auf dem Bahnhof stand und den Fahrplan studierte...
Er sieht so gut aus. Ich hätte es gleich wissen müssen. Bei gutaussehenden Männern habe ich nie Glück gehabt.
Ich war ja gar nicht so schrecklich in ihn verliebt, sagte sie sich. Aber es war ein nettes, gemütliches Verhältnis. Andere haben es viel ernster gemeint – Allan zum Beispiel. Aber in meinem schlimmen Alter – dreißig – lässt man sich nicht gern mit einem Telegramm abwimmeln. Das kränkt einen. Man muss es den Leuten erklären. Pfeif auf die Leute – es geht sie nichts an!
Das Licht auf der anderen Seite des Hofes erlosch. Jetzt schien sich kein Lüftchen zu rühren, kein Geräusch war zu hören. Oder doch? Sie merkte, dass sie es schon seit langem gehört hatte – eine Art Kratzen. Sie legte das Ohr an die Wand. Ja, das Geräusch kam bestimmt aus der Nachbarwohnung, aber die Mieter von nebenan waren am Montag ausgezogen. Willy, der Hausmeister, wusste nicht, wer die neuen Mieter sein würden. Vielleicht war im Laufe des Tages jemand eingezogen. Das Kratzen hörte nicht auf, und nach einer Weile schlief Nina ein.
Als das Telefon klingelte, fuhr sie zitternd in die Höhe. Es war noch finster, und sie tastete nach dem Apparat. Vielleicht hatte er sich’s überlegt und rief aus Atlanta an,
»Hör zu, mein Schatz«, sagte Mack, »was pflegte Bismarck zum Frühstück zu essen?«
»Keine Ahnung.«
»Nina, du bist böse. Bitte, denk nach. Ich schreibe eine Szene, in der Bismarck am Frühstückstisch sitzt. Ich muss es wissen.«
»Schau in seiner Biographie nach. Ich schlafe. Das heißt, ich habe geschlafen.«
»Du vergeudest viel Zeit im Bett. Es. ist vier. Morgenstundʼ hat Gold im Mund.«
»Wiedersehen, Mack.«
»Was ist denn mit dir los, Nina? Sag es doch dem guten Onkel.«
Nina berichtete, was geschehen war.
Mack schnaubte durch die Nase.
»So ein Lausekerl! Hat er dich das Telegramm bezahlen lassen? Soll ich zu dir kommen und dir einen Drink mixen?«
»Danke, nein.«
»Ich habe dir gesagt, du hättest mich voriges Jahr heiraten sollen. Ich werde dich nie wieder darum bitten. Mein Stolz ist verletzt. Nina, willst du meine Frau werden?«
»Nein, Mack. Aber schönen Dank.«
»Sie ist gewiss eine Blondine. Sie ist ihm um den Bart gegangen und hat ihn damit geschnappt. Hoffentlich wird es dir eine Lehre sein. Anständigkeit ist nur hinderlich. Wir sehen uns morgen beim Lunch. Wiedersehen.«
Er hatte wirklich aufgelegt. Ein Segen. Manchmal dauerte es eine ganze Stunde. Mack war beim Rundfunk angestellt, war aber ein guter Kerl.
Nina machte Licht, und ihr Blick fiel auf ein großes Foto in einem silbernen Rahmen. Weldon mit dem Zügel eines Pferdes in der Hand. Sie nahm das Foto, um es auf den Boden zu werfen, überlegte sich aber, dass der Rahmen hübsch sei und dass man ihn für etwas anderes verwenden könnte; sie nahm das Bild heraus, zerriss es und warf die Schnitzel in die Toilette. Wieder das komische Geräusch nebenan. Dann wurde es durch das Summen des Kühlschrankmotors übertönt. Nina ging in die Küche, goss Milch in einen Topf und stellte ihn auf die Gasflamme. Sie überlegte, ob sie einen kleinen Whiskey trinken solle, aber warum das edle Getränk vergeuden, wenn man sich so elend fühlt?
Horace kam durch Fenster hereingesprungen und spazierte mit den für Katzen so charakteristischen sparsamen Bewegungen zum Kühlschrank. Sie tätschelte seinen zerzausten, gelben Kopf und gab ihm ein Stück Rindsniere. Dann trank sie die warme Milch und kehrte ins Bett zurück.
Als um sieben der Wecker klingelte, setzte sich Nina auf und sah, dass Horace damit beschäftigt war, auf dem Teppich eine Maus zu verzehren. Eine weiße Maus. Vielleicht hatte er die Versuchsschule in der 55. Straße besucht.
Sie würde es Susan und Harold mitteilen müssen, die nebenan in C wohnten – überlegte sie missmutig, während sie sich die Zähne putzte. Und Susans Mutter, Lily Monteith, in Wohnung D. Lily würde die Sache bagatellisieren, auf ihre tröstliche Art. Alle Männer sind Schubiacks, würde sie sagen, was haben Sie erwartet? Im Büro brauchte sie es nur Clemence zu erzählen. Dann würde es sich schnell herumsprechen.
Während sie ihre zweite Tasse Kaffee trank, kam Susan an die Tür und bat sie, ein Fläschchen mit eisenhaltigen Lebertabletten für ihren Vater in die Galerie in der 57. Straße mitzunehmen. Susan sah, wie gewöhnlich, reizend aus, trotz des schmutzigen weißen Negligés, der abgetragenen Pantoffeln und ihrer Schwangerschaft.
»Ich möchte Harold nicht darum bitten, weil es für ihn ein großer Umweg wäre, und er würde mich fragen, was ich für die Tabletten bezahlt habe, und er findet ohnedies, dass Papa uns zu sehr auf der Tasche liegt. Du hast doch nichts dagegen, Nina?«
»Natürlich nicht. Komm herein und trink Kaffee mit mir.«
»Nein, sowie Harold weg ist, leg ich mich wieder ins Bett. Dass ihr alle es fertigbringt, so grässlich früh aufzustehen, arbeiten zu gehen und den ganzen Tag in kleinen Bürozimmern zu hocken und zu telefonieren...! Die Männer sind noch schlimmer dran, sie haben Hosen an, die kratzen. Das ist ein hübscher Morgenrock, Nina! Aber du siehst aus, als ob du auch Lebertabletten nötig hättest.«
»Weldon heiratet in Atlanta. Er hat es mir telegraphisch mitgeteilt.«
»Nina!«
Susan klimperte mit den Wimpern. Bei ihr weiß man immer, woran man ist. Sie ist außerstande, ihre Zu- oder Abneigung zu verbergen. Sie setzte sich hin, um die Neuigkeit zu verdauen, während sie mit Hilfe einer verborgenen Haarklammer ihre Stirnlocken aufzustecken versuchte.
»Er hat sehr gleichmäßige Zähne«, sagte sie schließlich, nachdem sie Weldon in Gedanken auf die Waagschale gelegt hatte. »Aber er hat sein Bier immer literweise gekauft, Nina. Daran hätten wir es merken müssen.«
»Vielleicht.«
»Du fühlst dich scheußlich, nicht wahr? Das solltest du nicht. Du solltest nicht so anständig sein, Nina. Anständige Menschen nehmen so etwas immer viel zu schwer. Warte, bis Papa davon hört. Er hat Weldon nie ausstehen können, aber dich hat er gern. Lad ihn doch heute Abend zum Essen ein. Nein, ich werde ihn anrufen. Ich ruf ihn gern an, um Mr. Nale zu ärgern. Du wirst bei uns essen, Nina, es gibt Sherry – und wenn ich mich mit einer Blechbüchse in die Park Avenue stellen müsste! Ich werde auch Mama einladen, und wenn sie sich dann zanken, wird es dir vielleicht nicht mehr so schrecklich leidtun, dass Weldon dich nicht geheiratet hat, weil du ein so abschreckendes Beispiel vor dir siehst. Ich glaube, ich werde es Mama gleich jetzt sagen, bevor sie weggeht.«
Mit gerunzelter Stirn schwebte sie in ihrem Negligé davon.
Eine Sekunde später war sie wieder da.
»Sag Papa, zwei Tabletten nach jeder Mahlzeit, ja? Mama ist schon weg, ich muss sie anrufen. Schau nicht so traurig drein, Nina. Er hat einen dummen Schnurrbart.«
Nina lächelte. Sie ging in die Küche zurück und goss sich noch eine Tasse Kaffee ein. Sie hatte gar keine Lust, in die Redaktion, zu gehen. Mr. Ballard war sich noch immer: nicht über den diesjährigen Romanpreis schlüssig geworden, und heute müsste er sich wohl oder übel entscheiden. Wenn Mr. Ballard mit sich selbst nicht ins Reine kommen kann, haben alle darunter zu leiden.
Zerstreut schlug sie die New York Times auf. Ob Beach die Lebertabletten nehmen wird, die seine Tochter ihm schickt? Er sieht in der letzten Zeit wirklich etwas blutarm aus, das hübsche Gesicht ein wenig grau, selbst das stolz gewellte Haar strähnig.
Es muss ihm sehr unangenehm sein, in der Pension in der 53. Straße zu wohnen, obwohl er sich darüber lustig macht. Freilich ist er nicht oft da. Für gewöhnlich ist er im Mario anzutreffen, bei einem Glas Bier das möglichst lange reichen muss. Wenn er nicht dort ist, ist er bei Susan. Er und Lily benutzen Susans Wohnung als Schlachtfeld. Obgleich sie getrennt leben, können sie nicht ohne einander auskommen. Sie fauchen einander an wie zwei Löwen, in benachbarten Käfigen. Meistens zanken sie sich wegen des entschwundenen Vermögens – was man hätte tun sollen, um es zu retten... Lily versorgte sich selbst, sie arbeitete in einem großen Schönheitssalon, und Beach war in der Kunstgalerie angestellt, die früher einmal ihm gehört hatte.
In diesem Augenblick stieg Beach Monteith in die angeschlagene Wanne in Mrs. Maloneys Badezimmer. Er hasste dieses Fremdenheim. Er hasste den abgeschabten, kleinen, roten Schlauch, der sich für eine Brause ausgab. Er hasste den Seifengeruch, den frühere Benützer der Wanne zurückgelassen hatten. Er hasste die bucklige blaue Tapete, die nach Kacheln aussehen sollte. Gern hätte er auch Mrs. Maloney gehasst, aber das ging nicht. Mrs. Maloney war gut zu ihm und schätzte seine Gaben. Der Ton, mit dem sie Mr. Monteith zu ihm sagte, gab ihm zu verstehen, dass sie ihn für einen wertvollen Menschen hielt. Nale hatte gar keinen Respekt vor ihm, und Sophie Nale verachtete ihn geradezu. Warum? Weil er trank und kein Geld hatte. Sophie hatte sehr viel für Geld und sehr Wenig für Alkohol übrig – Menschen mit solcher Weltanschauung sind immer unangenehm...
Er drehte den Messinghahn zu – das Wasser war ohnedies lauwarm geworden – und frottierte sich mit einem Handtuch, das nach chinesischer Wäscherei roch. Er betrachtete seine Zunge im Spiegel. Wie denn, wenn man es satt bekommt, ein so erbärmliches Leben zu führen? Wie denn, wenn man sich weigert, noch länger Beach Monteith, der Bettler, zu sein?
»Heißt das, Schluss machen, Monteith?«, fragte er laut. »Nein! Nicht jetzt im Sommer. Der Sommer in New York ist schön.«
Er zog sich an und entdeckte eine abgeschabte Stelle am rechten Ellbogen seines Kammgarnjacketts. Nie mehr wird er sich ein so schönes Jackett kaufen können – mit den schäbigen vierzig Dollar, die Nale ihm wöchentlich zahlt. Er lief die Treppe hinunter, hielt den Atem an, um die Gerüche nicht zu spüren, und trat auf die Straße hinaus. An der Ecke ging er in den Drugstore, bestellte eine klebrige Semmel und eine Tasse mit brauner Flüssigkeit, die sie frecherweise als Kaffee bezeichneten. Die Kellnerin hinter der Theke hatte Heuschnupfen. Sie putzte sich ihre spitze, gerötete Nase mit einem Papiertaschentuch, nahm dann seine Semmel und legte sie auf einen Teller. Mit finsterer Miene erhob sich Beach und verließ das Lokal. Er würde die Galerie aufsperren und dann ganz schnell bei Stouffer einen Bissen essen.
Langsam spazierte er durch die 57. Straße, ohne den Sonnenschein und den bunten Morgenverkehr zu beachten, und blieb eine Weile vor Goldfarbs Schaufenster stehen, das mit Lilien angefüllt war. Die Blumen erinnerten ihn an eine Osterwoche, die sie alle zusammen auf den Bermudas verbracht hatten, er, Susan und Lily. Das war eine Zeit gewesen – mit Kutschen und Kaviar, schönen Kleidern und Handschuhen, mit Tennis, Whiskey und Musik. Was sie da für Geld auszugeben hatten! Warum hatte er nicht besser aufgepasst? Der Preis für ein Paar Schuhe, wie er sie damals zu tragen pflegte, würde ihn jetzt zwei Wochen lang ernähren.
Na schön. Sich in der Scheibe spiegelnd, rückte er seine Krawatte zurecht, und ging weiter.
Hoffentlich würde Sophie nicht in der Galerie sein. Manchmal kam sie sehr früh hin, um nachzusehen, ob Beach sich verspätete. Sophie war Französin, ein kleines Luder. Sie beherrschte ihren Bostoner Gatten, wie eine alte Witwe ihren Pudel. Freilich hatte Beach keine besonderen Sympathien für Nale. Nale war ein engstirniger Geschäftsmann mit dünnen Lippen. Bilder interessierten ihn nur als Handelsware.
Als Monteith sich der Galerie näherte, sah er, dass das Licht brannte. Also war Sophie da.
»Halb neun«, sagte sie gereizt und betrachtete die abgeschabte Stelle an seinem Ärmel. »Ich habe bei Saks zu tun. Bitte sagen Sie Toni, wenn er kommt, er soll oben staubsaugen – falls er überhaupt kommt.«
Beach stellte befriedigt fest, dass Sophies Haar am hinteren Scheitel ein Auffärben nötig hatte.
»Mr. Nale kommt heute etwas später – er fühlt sich nicht wohl.«
Sie nahm ihre Nerzstola vom Stuhl und segelte davon. Der Schwung ihres Hinterteils und ihrer Schultern, die Nackenlinie, die Art, wie sie ihre Handtasche unter dem Arm trug, das alles zeugte von ihrem großen Selbstvertrauen.
»Hol dich der Kuckuck!«, murmelte Beach und setzte sich an den Empfangstisch, er wagte jetzt nicht Kaffee trinken zu gehen, da Sophie jeden Augenblick zurückkommen konnte.
Toni erschien atemlos und vergnügt, Beach schickte ihn nach oben, mit dem Auftrag, die Lagerräume staubzusaugen.
Kurz nach zehn erschien die erste Besucherin, eine ältere, schwarzgekleidete Frau mit einem Regenschirm. Sie lächelte gleichsam entschuldigend, warf einen Blick auf den Picasso, der über seinem Kopf hing, und steuerte auf den nächsten Raum zu.
»Bitte, den Schirm in den Ständer zu stellen«, befahl Beach, obwohl es nicht regnete und der Schirm völlig harmlos war.
Wieder lächelte, sie, gehorchte und begann ihren Rundgang durch die Ausstellungsräume. Hale hatte ein paar gute Engländer hängen, die sehr viel Publikum anlockten. Der Constable war erstklassig, aber eine solche Ausstellung zog mehr Beschauer an als Käufer, und das war Sophie gar nicht recht.
Wenn bloß Nale erscheinen würde! Beach musste auf die Toilette und wollte nicht gern seinen Posten verlassen. Hol’s der Teufel, er würde trotzdem, gehen. Er verließ den Tisch und begab sich nach hinten, durch den benachbarten Raum, in dem die ältere Dame nachdenklich einen Thomas Hudson beäugte. Während er sich fragte, warum Frauen mit ästhetischen Interessen stets den Unterrock hervorschauen lassen, durchquerte er den zweiten Salon, der größer war als der erste und die Bilder besser zur Geltung brachte. Er hatte Nale vorgeschlagen, den Constable hierher zu hängen, aber Sophie hatte ihn im ersten Salon haben wollen, damit bestimmt alle Besucher ihn zu sehen bekämen.
Er stieß die Tür zum Waschraum auf, sie war in die Wand eingelassen und fast unsichtbar für jemanden, der sich hier nicht auskannte. Nale würde ihm diese Pflichtverletzung übelnehmen, aber die alte Dame stellte eine gewisse Garantie dar. Solange sie da war, würde nichts passieren können, und solche Typen halten sich für gewöhnlich eine ganze Weile auf.
Um zwanzig nach zehn schlenderte Nina durch die 57. Straße. Sie war sehr spät daran, Mr. Ballard würde schimpfen, aber das war ihr egal. Heute schien ihr alles völlig egal zu sein: Die Schaufenster des Innendekorateurs, die sie sonst immer anlockten und amüsierten, kamen ihr dumm und langweilig vor. Sie ging langsam und hielt das Fläschchen mit den Lebertabletten in der Hand, um ihren Auftrag nicht zu vergessen.
Als sie in die. Kunstgalerie kam, war der Vorraum leer. Die Nales pflegten picht so früh zu erscheinen, und Beach befand sich offenbar in einem der Salons. Sie hörte oben den Staubsauger laufen. Das dürfte Toni sein.
Sie ging auf den ersten Salon zu und blieb stehen. Beach stand in der Mitte des Raumes und betrachtete eine Gestalt, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich lag. Es war ein Mann, sein Hinterkopf war kahl, der schöne, graue Anzug verdrückt.
Beach sah Nina an. Keiner sagte ein Wort. Nina wusste, der Mann war tot, und Beach war sich darüber klar, dass sie es wusste.
»Er ist tot«, sagte er schließlich tonlos.
»Wer ist es denn?« Sie hütete sich, näherzukommen.
»Nale.«
»Oh.« Ihre Stimme klang schrill und hohl. Sie schnüffelte. »Merken Sie den Parfümgeruch?«
»Ja«, sagte er überrascht. »Maiglöckchen. Nicht sein Parfüm.« Jetzt schien sich Beach zu sammeln. »Eine schöne Bescherung! Keine Zeugen. Alle wissen, dass ich den Knaben innig geliebt habe.«
»Wo waren Sie?«, fragte Nina und gab ihm damit zu verstehen, dass sie ihn nicht für den Mörder hielt.
»Im Waschraum. Ich glaubte einen Schuss zu hören. Als ich rauskam, lag er da.«
»Sollten wir nicht die Polizei verständigen?«
»Eine gute Idee. Würden Sie mal anrufen?« Er streckte die rechte Hand aus. Sie zitterte. »Da! Zum Donnerwetter, ich habe noch nicht einmal gefrühstückt.«
Über ihren Köpfen surrte der Staubsauger. Nina sah sich die Bilder an, meist Portraits rotbackiger Angelsachsen. An der nördlichen Wand war ein leerer Haken zu sehen.
»Hat dort auch ein Bild gehangen?«
»Mein Gott, der Constable!« Beach ging hin und legte die Hand auf die leere Stelle, als wollte er seinen Augen nicht trauen. »Also Diebstahl!«
»War jemand hier, als Sie in den Waschraum gingen?«
»Nur eine ältere Dame, sehr unhübsch, sehr kunstbegeistert. Sie kann es nicht gewesen sein, Nina.«
Nina kehrte in den Vorraum zurück und rief die Polizei an, während Beach die Eingangstür absperrte und hinaufging, um Toni zu holen.
Nina saß wartend am Empfangstisch, tiefe Stille herrschte in den Räumen der Galerie. Draußen gingen Leute an den Schaufenstern vorbei, blieben stehen, um sich den ausgestellten Shackleton anzusehen, eilten weiter. Ein Herr drückte auf die Klinke und entfernte sich verdutzt. Nina überlegte, ob sie Mr. Ballard anrufen und ihm mitteilen sollte, dass sie später kommen würde, aber sie ließ es bleiben. Mr. Ballard war ihr total gleichgültig.
Beach und Toni kamen herunter, Toni ging auf Zehenspitzen zur Tür, um sich den toten Nale anzusehen.
»Oje – ist er bestimmt tot?«
Ein großer, wohlgenährter Polizeibeamter klopfte an die Glastür. Beach sperrte auf.
»Da drin liegt er, Herr Wachtmeister.«
Nina und Toni folgten ihnen in einigem Abstand. Der Polizeibeamte betrachtete Nale, ohne ihn anzurühren. Er zückte sein Notizbuch und fragte Beach, wer der Tote sei und was sich seiner Meinung nach abgespielt habe. Beach wiederholte seinen Bericht.
»Wer ist diese Dame?«, fragte der Polizeibeamte und zeigte auf Nina.
»Eine Bekannte von mir. Sie hat mit der Sache nichts zu tun.«
»Ich sollte Mr. Monteith Lebertabletten bringen«, erklärte Nina. »Als ich herkam, war Mr. Nale bereits tot.«
»Sparen Sie sich die Einzelheiten für Captain Ryan, meine Dame. Ich bin nur hier, um festzustellen, ob es sich wirklich um einen Mord handelt, damit er nicht seine wertvolle Zeit vertrödelt.« Es lag ein sarkastischer Unterton in Kellys dumpfer Stimme. »Ich muss mal telefonieren.«
Während er wartete, bis sein Vorgesetzter sich melden würde, klopfte er mit seinem dicken, vierkantigen Zeigefinger auf die gelbe Tischplatte.
»Hallo«, sagte er schließlich. »Kelly, Captain! Ich bin in einem Bildergeschäft in der 57. Straße. Nale, Lucius Nale. Der Mann ist tot. Erschossen. Bisher habe ich keine Waffe gesehen.«
Beach unterbrach ihn: »Außerdem wurde ein Bild gestohlen.« Als Kelly auflegte, fragte Nina, wie lange es dauern würde, bis Captain Ryan erscheinen würde.
»Nicht lange. Solche Fälle machen ihm Spaß.«
»Ich müsste längst in meinem Büro sein.«
»Bleiben Sie, Nina!«, bat Beach.
»Keine Bange, sie muss bleiben. Niemand verlässt das Lokal, bis Captain Ryan kommt. Machen Sie sich’s bequem, meine Herrschaften.«
Nina nahm einen der harten Stühle, die in Abständen an den Wänden des Vorraums platziert und nicht zum Drauf sitzen bestimmt waren. Nina war nicht ungeduldig, sie war froh, dass man ihr sagte, was sie zu tun habe, dass sie der Notwendigkeit enthoben war, nachzudenken. Sie brachte es nicht über sich, die Vorgänge als real und gefährlich zu betrachten. Es kam ihr eher wie die Probe eines Bühnenstückes vor.
Kelly betrachtete den Seligman an der gegenüberliegenden Wand.
»Das halte ich nicht für Kunst«, sagte er entschieden. Dieses abschließende Urteil schien, ihn tief zu befriedigen. »Hat niemand Erdnüsse?«
Tonis Miene erhellte sich, und er zog eine Tüte aus der Tasche seines Sweaters. Die beiden kauten friedlich drauflos, kein anderes Geräusch war zu hören. Dann kam Sophie Nale auf die Tür zu, griff nach der Klinke, machte ein ärgerliches Gesicht, rüttelte an der Tür, drückte auf einen Klingelknopf.
Beach sah Kelly an.
»Das ist Mrs. Nale.«
»Ich darf sie nicht hereinlassen«, sagte Kelly ruhig.
»Aufmachen!«, rief Sophie, hielt beide Hände an die Schläfen und schaute durch das Glas.
Kelly ging gemächlich zur Tür, während er eine frische Handvoll Nüsse in die dicken Bachen schob.
»Bedaure, gnädige Frau, Sie müssen sich ein Weilchen gedulden.«
»Wer sind Sie? Lassen Sie mich hinein!«
Leute begannen stehenzubleiben und lächelnd zuzuschauen. In diesem Augenblick fuhr ein Polizeiauto vor, und ein hochgewachsener Mann in grauem Anzug stieg aus. Ihm folgte ein zerzauster, kleiner Kerl mit einer schwarzen Tasche.
Kelly sperrte auf und Mrs. Nale stürzte herein.
»Tag, Captain«, sagte er. »Tag, Doktor.«
»Schicken Sie diese Dame hinaus!«, sagte Ryan und zeigte auf Sophie. »Wo liegt eh?«
»Dort drin. Die Dame ist seine Frau.«
Obwohl Sophie wütend war, hatte sie sich fest in der Hand. Sie ist nicht dumm, dachte Nina und sah zu, wie ihr Gesichtsausdruck gleichsam reibungslos von Zorn in stille Hilflosigkeit hinüberwechselte.
»Ich bin außer mir«, sagte sie mit leiser, kindlicher Stimme, hüllte sich in die Nerzstola und sah Captain Ryan bittend an. »Wo ist mein Mann?«
»Gnädige Frau«, sagte Ryan forsch, »gedulden Sie sich, bis wir festgestellt haben, was sich hier abgespielt hat.« Er ging mit Kelly und dem Polizeiarzt in den Salon.
Sophie lief hinterher. Sie blieb auf der Schwelle stehen. »Lucius!«, rief sie und stürzte zu der Leiche ihres Mannes. Sie blickte eine Sekunde lang auf ihn hinunter und sank dann anmutig in sich zusammen.
»Weg mit ihr!«, brummte Ryan. »Oh Gott, wie ich Komödiantinnen hasse!«
Ein Fotograph erschien, machte drei Aufnahmen von dem Toten und verschwand. Der Polizeiarzt wälzte Nale auf den Rücken.
Toni schnappte nach Luft.
»Oje – ich hätte nie geglaubt, dass er soviel Blut in den Adern hat!«
Beach schwieg und betrachtete Ryan. Er vermied es geflissentlich, den Toten anzusehen. Es war ein schrecklicher Anblick. Sein Mund stand offen, eine Prothese mit vier Zähnen war aus dem Kiefer gerutscht, die kleinen Augen waren verdreht. Seine elegante Kleidung trug nur dazu bei, den grotesken Eindruck noch zu verstärken.
Nina fand, dass Beach sehr blass aussah, sie befürchtete sogar, er würde ohnmächtig werden. Aber Männer werden nicht ohnmächtig.
»Ein schönes, großes Einschussloch«, murmelte der Arzt. »Möglicherweise Kaliber 9mm. Muss vor kurzem passiert sein.«
Kelly hatte Sophie auf das Rundsofa in der Mitte des Raumes gebettet, und beugte sich gerade über sie – da kam sie zu sich. Sofort setzte sie sich auf.
»Machen Sie, dass Sie wegkommen!«, sagte sie. »Sie riechen nach Erdnüssen... Herr Inspektor!«, sagte sie dann, zu Ryan gewandt.
»Ja, gnädige Frau?« Er sah sie nicht an, sondern fuhr fort, den grauen Teppich rund um die Leiche zu untersuchen.
»Herr Inspektor, bitte, sagen Sie mir, was geschehen ist. Vor einer knappen Stunde bin ich hier weggegangen, und mein Mann lag zu Hause im Bett. Mr. Monteith war in der Galerie. Jetzt komme ich zurück, mein Mann ist tot, und. niemand klärt mich auf.« Es war wie ein sanfter Klagegesang und machte nicht den geringsten Eindruck auf Ryan.
»Ich kann mir denken, dass es nicht angenehm ist«, sagte er. Seine Stimme war laut und dröhnend, sein Gang gewichtig. Plötzlich wandte er sich an Beach.
»Sie heißen Monteith? Was haben Sie zu berichten?«
Beach lächelte nervös, und als er das dichte, graue Haar zurückstrich, zitterte seine Hand.
»Als ich heute früh in die Galerie kam – gegen Viertel nach neun –«
»Halb zehn«, warf Sophie ein.
»Es war nur Mrs. Nale hier. Sonst niemand. Sie sagte mir, Mr. Nale fühle sich nicht wohl und würde erst viel später kommen. Sie hatte bei Saks zu tun. Ich sollte Toni beauftragen, in der zweiten Etage staubzusaugen.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern«, sagte Sophie prompt. Beach sah sie erstaunt an.
»Sie haben mir gesagt, ich soll dafür sorgen, dass Toni oben sauber macht. Sie sagten: Wenn er kommt – falls er überhaupt kommt.«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Vielleicht können wir dieses Detail vertagen«, sagte Ryan. »Toni ging nach oben, um sauberzumachen – und dann, Monteith?«
»Ich blieb eine Weile am Empfangstisch sitzen. Einige Minuten nach zehn kam eine Besucherin. Eine ältere, schwarzgekleidete Frau. Sie machte einen anständigen Eindruck; und ich musste auf die Toilette, also ging ich auf die Toilette.«
Sophie warf ihm einen bösen Blick zu.
»Sie haben die Galerie ohne Aufsicht gelassen?«
»Wo liegt der Waschraum?«, fragte Ryan. Beach führte ihn ins Nebenzimmer und öffnete die Tür. »Aha. Und wie lange, glauben Sie, waren Sie drin?«
»Vielleicht fünfzehn Minuten. Ich kann es nicht genau sagen.«
»Und dann?«
»Als ich herauskam, lag Nale auf dem Boden. Sonst war niemand da – bis auf Toni. Der Staubsauger war noch immer zu hören. Ich hatte ihn die ganze Zeit gehört.«
»Haben Sie auch den Schuss gehört?«
»Ich habe etwas gehört. Aber ob es ein Schuss war –?«
»Klang es wie ein Schuss?«
»Ja. Deshalb kam ich schnell heraus.«
»Wo war die alte Dame, von der Sie uns erzählt haben?«
»Weg. Zusammen mit dem Constable, der dort gehangen hat.«
Sophie stieß einen Schreckensruf aus. Bisher hatte sie die leere Stelle nicht beachtet.
»Man hat Lucius ermordet, um das Bild zu stehlen.«
Ryan starrte sie verständnislos an.
»Sind Sie der Meinung, Monteith, dass eine ältere Dame Mr. Nale mit einem großkalibrigen Revolver erschossen und sich dann mit einem Gemälde aus dem Staub gemacht hat?«
Beach zuckte die Achseln.
»Das habe ich nicht behauptet. Ich habe nur gesagt, außer ihr war niemand hier, als ich in den Waschraum ging.«
»Wie groß ist das Gemälde?«
»Nicht so groß, dass mail es nicht unter einem Mantel verstecken könnte. Ungefähr 45 mal 50 – was meinen Sie, Sophie?«
»Ich weiß es nicht. Ich messe nicht nach, wenn die Bilder hier ankommen.«
»Wie. war die ältere Dame gekleidet, Monteith?«, fuhr Ryan methodisch fort.
»Schwarzes Kleid. Ein weißer Unterrock, der hervorguckte. Mehr weiß ich nicht. Unauffällig.«
»Hut?«
»Ja, aber ich weiß nicht mehr, wie er aussah. Sie war die typische Ausstellungshyäne, der Typ, der Tag für Tag angeschlichen kommt, um Picasso oder Degas anzuhimmeln. Sie machen sich Notizen, dann schleichen sie wieder weg.«
»Brille?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe sie mir nicht genauer angesehen. Meine Gedanken waren anderswo.«
»Womit waren Ihre Gedanken beschäftigt?«,
»Ich hatte mir gerade überlegt, wie sehr ich diese verdammte Galerie und Nale und Mrs. Nale und den ganzen Krempel verabscheue.«
»In Krisenmomenten kommt die Wahrheit ans Licht«, sagte Sophie, lehnte sich in die grünen Lederkissen zurück und betrachtete Beach. »Sie verabscheuen uns, weil wir Sie ernähren. Und zwar aus Mitleid. Lucius hat mir oft gesagt, er würde lieber eine jüngere Kraft engagieren, aber Sie taten ihm leid. Mit Recht. Er hat mir das Geschäft abgeluchst.«
»Beach«, sagte Nina in flehendem Ton. »Mr. Ryan wird nicht den besten Eindruck von Ihnen bekommen.« Sie sah den Captain an. »Er ist ein anständiger, großzügiger, guter Mensch.«
Ryan lächelte sonderbar, nicht unfreundlich, aber etwas skeptisch. Sie nahm es ihm nicht übel. Wenn er eine Schar von Menschen um eine Leiche versammelt sieht, interessierten ihn lediglich die Beziehungen dieser Menschen zu dem Toten. Das ist sein Beruf; und er scheint tüchtig zu sein.
»Wer sind Sie?«, fragte er.
»Eine Bekannte von Mr. Monteith.«
»Das, hat sich gezeigt. Was hatten Sie hier zu tun?«
»Ich sollte ein Fläschchen mit eisenhaltigen Lebertabletten abliefern. Mr. Monteiths Tochter bat mich um diese Gefälligkeit – wir wohnen im selben Haus, im selben Stock.«
»Wo sind die Tabletten?«
Nina kehrte in den Vorraum zurück, sah das Fläschchen auf dem Empfangstisch liegen und brachte es Ryan.
»Müssen Sie Lebertabletten nehmen?«, fragte der Kriminalbeamte Beach.
»Meine Tochter hält es für angebracht. Ich persönlich würde Whiskey vorziehen.«
»Und deshalb haben Sie Ihre Firma an Mr. Nale verloren?«
»Selbstverständlich!«, sagte Sophie. »Sein einziges Interesse ist, sich’s gut gehen zu lassen. Ohne meinen Mann hätte er im Rinnstein geendet, aber das will er nicht zugeben. Er lässt seine Frau arbeiten, während er seinen Lohn in Luxusbars vertrinkt.«
»Wie oft glauben Sie, Captain, kann ein Mann, der vierzig Dollar die Woche verdient, in Luxusbars sitzen?« Beach lächelte. »Meine Frau hat sich von mir getrennt. Sie geht lieber arbeiten, als von der Hälfte meines Lohnes zu leben. So sieht unsere traute Häuslichkeit aus, falls es Sie interessieren sollte.«
Nina wollte Beach verteidigen, dem Captain klarmachen, dass er eine weit kompliziertere Persönlichkeit sei, als Sophie Nale angedeutet hatte – sowohl klug wie töricht, flott, liebenswürdig, lasterhaft, verbittert, witzig, ein guter Gesellschafter, restlos unzuverlässig und in seinem Beruf außerordentlich geschickt. Aber sie war überzeugt, Captain Ryan würde das alles bald selbst entdecken.
Ryan kam zu Nina zurück.
»Was machen Sie sonst, wenn Sie nicht gerade damit beschäftigt sind, blutarme Freunde mit Lebertabletten zu versorgen?«
»Ich sitze in der Redaktion einer literarischen Zeitschrift. Good Fiction. Ich sollte längst dort sein.«
»Sie können gehen, Miss Moffat. Geben Sie Kelly Ihre Adresse und Telefonnummer. Noch eine Fraget Wo war Mr. Monteith, als Sie hier ankamen?«
»In diesem Zimmer. Ungefähr an dieser Stelle hat er gestanden – neben Mr. Nales Leiche.«
»Und er hatte keine Waffe in der Hand – nichts?«
»Nichts. Von oben war Tonis Staubsauger zu hören. Ich rief die Polizei an, und Mr. Monteith ging Toni holen.«
Ryan dachte eine Weile nach.
»Es muss gegen halb elf passiert sein.«
Beach sagte, das dürfte ungefähr stimmen.
»Und kurz darauf erschien Miss Moffat – sagen wir, fünfundzwanzig Minuten vor elf. Ist das nicht eine sonderbare Zeit für ein Redaktionsmitglied, sich an die Arbeit zu begeben?«
Nina wurde rot.
»Für gewöhnlich bin ich schon um neun oder Viertel nach neun in der Redaktion.«
»Warum hatten Sie sich heute früh verspätet?«
Sie sah Beach an. Er konnte ihr nicht helfen.
»Ich fühlte mich nicht wohl.«
»Sie fühlten sich nicht wohl.« Als Ryan die Worte wiederholte, klangen sie aus seinem Mund idiotisch.
»Meine Verspätung hatte nichts mit Mr. Nales Tod zu tun – das dürfen Sie mir glauben.«
»Wirklich nicht?« Skeptisch hob er die rechte Braue, die ein wenig schief saß.
»Na schön. Wahrscheinlich werden Sie es ohnedies herausbekommen. Sie scheinen sehr gründlich zu sein. Ich war heute früh deprimiert, weil der Mann, den ich heiraten wollte, mir gestern Abend aus Atlanta telegraphiert hat, dass er eine andere Frau heiratet.«
»Das tut mir leid.« Ryan lächelte, und diesmal war es ein aufrichtiges Lächeln. »Hoffentlich haben Sie das nächste Mal mehr Glück.«
Beach wollte etwas Drastisches äußern, sah den sonderbaren Ausdruck, mit dem Sophie Nina Moffat anstarrte, und hielt den Mund.
Nina gab Kelly ihre Adresse, wandte sich zum Gehen, zögerte. »Haben Sie die Absicht, jemanden zu verhaften, Mr. Ryan?«
»Sie meinen Mr. Monteith? Vorläufig nicht.«
Beach folgte Nina zur Tür.
»Sie sollen heute Abend bei Susan essen«, sagte sie.
»Mein Gott!«, rief Beach und blieb jählings stehen. »Hier ist der Schirm. Ryan, sie hat ihren Schirm hiergelassen.«
Der Leutnant kam herangeschlendert, nahm den karierten Kunstseidenschirm aus dem Ständer, spannte ihn auf, drehte ihn im Kreis.
»Vermutlich hat sie Handschuhe angehabt.«
Beach wusste es nicht genau. Er hielt es für wahrscheinlich. Meistens tragen sie Handschuhe. Es war ein ganz gewöhnlicher Schirm, wie man ihn überall kaufen kann. Ryan schien über den Fund nicht besonders erfreut zu sein.
Nina verließ die Galerie, ging an Tiffany vorbei, überquerte die Fifth Avenue und nahm einen Bus in die Innenstadt. Sie setzte sich oben hin, rauchte eine Zigarette und versuchte nachzudenken. Sie glaubte keinen Augenblick, dass Beach Mr. Nale umgebracht hatte, aber wenn er es getan hätte, wäre es sehr dumm von ihm gewesen, da sich seine Stellung verschlechtern würde, wenn Sophie die Firma allein führte. Sophie ist ein herzloses Geschöpf, und sie scheint Beach zu hassen. Natürlich würde sie ihn behalten, weil ihr seine Kenntnisse wertvoll sind, aber sie würde ihm das Leben so sauer machen wie nur möglich. Vielleicht hatte er vorgehabt, beide zu ermorden? Nein, Beach ist kein Mann der Tat. Er bringt es fertig, in der Bar zu sitzen und die Nales hundertmal in Gedanken zu ermorden, aber wenn es darauf ankäme, eine Waffe zu kaufen und abzudrücken – nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Susan würde ganz außer sich sein. Schlimm, da sie jetzt fast täglich ihr Baby bekommen konnte.
Mr. Ballard stand in der Halle und fuchtelte mit den Armen. Als er Nina erblickte, schrie er: »Wo stecken Sie denn? Wissen Sie denn nicht, dass unser Preisausschreiben läuft? Gibt es kein Telefon?«
»Verzeihung!«, sagte Nina gelassen und steuerte auf ihr Zimmer zu.
Mr. Ballard folgte ihr. »Es ist schon fast zwölf, Miss Moffat. Wir müssen eine Mitteilung an die Presse schicken. Und wir haben noch immer nichts mitzuteilen. Haben Sie sich entschieden?«