Auf Sand gebaut - Sebastian Sons - E-Book

Auf Sand gebaut E-Book

Sebastian Sons

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Beschreibung

Saudi-Arabien spielt eine Schlüsselrolle in den Konflikten des Nahen Ostens, doch über seine Gesellschaft, Wirtschaft oder religiöse Ausrichtung sowie über die Machtkämpfe seines Königshauses wissen wir kaum etwas. Der Wüstenstaat ist, so der Saudi-Arabien-Experte Sebastian Sons, eine »Black Box«. Diese will er mit seinem Buch öffnen. Neben der gründlichen Information über das Land, seine Bewohner und seine Herrscher geht es Sons vor allem darum, die Fehler des Westens gegenüber dem saudischen Königreich zu benennen, insbesondere die Nachsicht gegenüber der destabilisierenden Rolle der Saudis in der Region. Saudi-Arabien, einer der konservativsten Staaten der Welt, ist ein problematischer Verbündeter. Menschenrechte werden mit Füßen getreten, Regimekritiker ausgepeitscht, Frauen haben minimale Rechte. Radikale islamistische Bewegungen werden weltweit unterstützt. Der Konflikt mit dem Iran um die Vorherrschaft in der Region droht zu eskalieren. Doch der Westen drückt beide Augen zu, hofiert die Saudis und rüstet sie mit modernsten Waffen auf. Zur Lösung der Krisen im Nahen Osten bedarf es, so Sons, einer klaren Strategie gegenüber den saudischen Herrschern und eines Stopps der Waffenlieferungen.

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Das Buch

Saudi-Arabien, einer der konservativsten Staaten der Welt, ist ein problematischer Verbündeter. Menschenrechte werden mit Füßen getreten, Regimekritiker ausgepeitscht, Frauen haben nur minimale Rechte. Die besonders strenge wahhabitische Islam-Auslegung führt nicht nur zu brutalen Strafen und Regeln im Innern, sondern auch zur Unterstützung radikaler islamistischer Bewegungen überall in der Welt. Der Konflikt mit dem Iran um die Vorherrschaft in der Region droht zu eskalieren. Zunehmend mischt sich das Königreich in die Angelegenheiten seiner Nachbarstaaten ein – von Syrien über den Jemen bis Bahrain.

Doch der Westen drückt beide Augen zu, wenn es um die undemokratische Innen- und die gefährliche Außenpolitik der Saudis geht. Er hofiert die Saudis und rüstet sie mit modernsten Waffen auf. Zur Lösung der Krisen im Nahen Osten bedarf es, so Saudi-Arabien-Experte Sebastian Sons, einer klaren Strategie gegenüber den saudischen Herrschern und eines Stopps der Waffenlieferungen.

Der Autor

Sebastian Sons, geboren 1981, ist Saudi-Arabien-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Er studierte Islamwissenschaft, Neuere Geschichte und Politikwissenschaft in Berlin und Damaskus und ist Absolvent der Berliner Journalisten-Schule. Er bereist Saudi-Arabien seit mehreren Jahren regelmäßig und hat zahlreiche Studien, Artikel und Zeitschriftenbeiträge zur saudischen Politik und zum gesellschaftlichen Wandel des Landes verfasst.

Sebastian Sons

Auf Sand gebaut

Saudi-Arabien – Ein problematischer Verbündeter

Propyläen

Alle Online-Quellen wurden zwischen dem 31. August und dem 6. September 2016 auf Aktualität geprüft.

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ISBN: 978-3-8437-1428-0

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016Covergestaltung: Morian & Bayer-Eynck, CoesfeldTitelfoto: © gettyimages / Tom Stoddart / IPG

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Vorwort

Einleitung»Warum hasst uns der Westen?«

Vom »Stabilitätsanker« zum Problemfall

Anmerkungen zum Kapitel

Die GeschichteAus dem Sand auf die Weltbühne

Allianz von Krone und Klerus: Die Al Saud und die Wahhabiten

Mit Feuer und Schwert: Der Aufstieg der saudischen Dynastie

Öl: Der Treibstoff des saudischen Aufstiegs

Das schwere Erbe Ibn Sauds: Der Aufbau staatlicher Strukturen

Anmerkungen zum Kapitel

Die ReligionLegitimationsgrundlage des saudischen Staates

Die Wahhabiten: Erfüllungsgehilfen des saudischen Königshauses

Die Religionspolizei: Der Schlagstock der Wahhabiten

Der wahhabitische Missionierungsauftrag: Weltweite Förderung von radikalen Strömungen

Die islamistische Opposition: Herausforderung der saudischen Legitimität

Muslimbrüder und Erweckungsbewegung: Islamistische Konkurrenz

Anmerkungen zum Kapitel

Die GesellschaftUnerfüllte Hoffnungen

Ringen um die eigene Identität: Zwischen Moschee und McDonald’s

Die saudische Jugend: Zwischen den Stühlen

Akteurinnen des Wandels: Der Aufstieg der saudischen Frauen

Die Unterdrückung der schiitischen Minderheit

Anmerkungen zum Kapitel

Die AußenpolitikEine Regionalmacht in der Krise

Machterhalt um jeden Preis

Die »Arabischen Aufstände«: Furcht vor dem Chaos

Rivalität mit Iran

Saudi-Arabien und der »Islamische Staat« – Zwei Seiten derselben Medaille?

Saudi-Arabien und die USA: Ungeliebte Partnerschaft

Anmerkungen zum Kapitel

Das KönigshausDas Aussterben der alten Garde

Der Konflikt um die Nachfolgeregelung

Der Bruderstreit: Rivalitäten innerhalb der Königsfamilie

König Salman: Politik in Zeiten der Krise

Muhammad bin Salman: Der Königssohn als Wunderkind?

Anmerkungen zum Kapitel

Die WirtschaftVertreibung aus dem Erdöl-Paradies

Das Öl als Fluch und Segen

Der Arbeitsmarkt: Notwendige »Saudisierung«

Das Heer der Arbeitsmigranten: Moderne Sklaverei?

Der gefallene Ölpreis: Ein heilsamer Schock?

Wirtschaftsreformen: Alter Wein in neuen Schläuchen?

Anmerkungen zum Kapitel

Der Westen und das KönigreichEine Zweckehe

Doppelzüngige Partnerschaft: Kampf gegen den Terrorismus und wirtschaftliche Zusammenarbeit

Geschäft mit dem Tod: Die Waffenlieferungen an das saudische Regime

Westliches Know-how, saudisches Geld

Das Königreich am Pranger: Saudi-Arabiens Menschenrechtsverletzungen

Mittel zum Zweck: Die saudische Entwicklungshilfe

Die saudische Marketingstrategie im Westen

Anmerkungen zum Kapitel

Auf Sand gebautDeutschland braucht eine andere Politik gegenüber Saudi-Arabien

Interessen definieren: Der kleinste gemeinsame Nenner

Es ist nicht zu spät: Wie eine deutsche Saudi-Arabien-Strategie aussehen könnte

Klare Kante zeigen: Wo Deutschland eindeutiger Position beziehen muss

Anmerkungen zum Kapitel

Ein AusblickWandel oder Untergang?

Bibliographie

Danksagung

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Vorwort

Saudi-Arabien ist ein uns fremdes, schwer zu verstehendes Land. Wir wissen wenig über das Königreich zwischen Golf und Rotem Meer, das sechsmal so groß wie Deutschland ist, dessen Einwohnerzahl aber nur etwa ein Drittel der unseren beträgt. Das Land wird von der Dynastie des Saud-Clans regiert und gilt als absolute Monarchie mit strengen Regeln: Frauen dürfen nicht Auto fahren und es herrscht strikte Geschlechtertrennung. Auf Alkoholbesitz steht die Todesstrafe, Kinos und Theater sind verboten. Regimekritiker werden verhaftet oder enthauptet, Andersgläubige verfolgt. Kritik am Königshaus und an den religiösen Gelehrten, den Wahhabiten, wird nicht geduldet und drastisch bestraft. Die wahhabitische Islam-Auslegung, die in der saudischen Wüste Mitte des 18. Jahrhunderts entstand, gehört zum sunnitischen Islam und ist äußerst rigoros und erzkonservativ. Die wahhabitischen Geistlichen sind die Sitten- und Tugendwächter im Königreich und bestimmen das öffentliche Leben eines jeden Saudis. Der Koran ist die saudische Verfassung. In Saudi-Arabien liegen mit Mekka und Medina zwei der heiligsten Stätten des Islams. Deswegen versteht sich das saudische Königreich nicht nur als politische Macht, sondern auch als islamische Vorbildnation für alle Muslime auf der ganzen Welt. Es hat den Anspruch, die arabische Welt zu führen und zu kontrollieren – politisch, religiös und wirtschaftlich.

Saudi-Arabien verfügt über die zweitgrößten Erdölreserven der Welt und ist innerhalb weniger Jahrzehnte mit Hilfe der Staatseinnahmen aus dem Ölexport zu einem wirtschaftlichen Schwergewicht geworden. Gleichzeitig ist es dem Königshaus gelungen, eine ehemals beduinisch und landwirtschaftlich geprägte Gesellschaft in die Moderne zu führen. Durch den immensen Ölreichtum war es ihm bisher möglich, seinen Untertanen ein kostenloses Gesundheits- und Bildungssystem zu bieten und sie im öffentlichen Sektor zu beschäftigen sowie auf Steuereinnahmen zu verzichten. Benzin und Wasser werden mit Unsummen subventioniert. In den letzten Jahrzehnten wurden Milliarden in den Ausbau der Infrastruktur und des Bildungssystems gesteckt. Als Gegenleistung erwarten die Herrscher jedoch von ihren Untertanen bedingungslosen Gehorsam: Wer zahlt, dem gehört die Treue. Infolgedessen haben sich eine ineffiziente und korrupte Bürokratie und ein von den Öleinnahmen abhängiges Staatssystem entwickelt, in dem eine konkurrenzfähige und leistungsbereite Privatwirtschaft fast keine Rolle spielt.

Doch dieses Rundum-sorglos-System gerät zunehmend unter Druck: Die saudische Bevölkerung ist sehr jung und wächst rasant. Immer mehr junge saudische Frauen und Männer sind arbeitslos. Hinzu kommt der gefallene Ölpreis, wodurch den Herrschern immer weniger Einnahmen zur Verfügung stehen. Dies führt zu Unzufriedenheit. Es gelingt dem Staat nicht mehr wie früher, die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. Längst hat sich in Saudi-Arabien eine öffentliche Debatte um die Zukunft des Landes entwickelt. Fragen nach beruflichen Chancen, den Schwächen des Arbeitsmarktes, der noch immer von einem Heer ausländischer Gastarbeiter abhängig ist, der wachsenden Korruption und den fehlenden Perspektiven bestimmen den Alltag. Parteien und Gewerkschaften sind zwar verboten und Wahlen finden nur auf Gemeindeebene statt und haben kaum politische Bedeutung. Dennoch entwickelt sich eine politisch denkende Öffentlichkeit. Frauen fordern mehr Teilhabe, politische Aktivisten verlangen nationale Wahlen oder die Umwandlung des Regimes in eine konstitutionelle Monarchie, ein Teil der Jugend drängt auf mehr Freiheiten und will sich von den als rückständig und mittelalterlich wahrgenommenen Werten und Normen der Wahhabiten befreien. Die saudische Jugend will raus aus der bornierten Isolation und Teil der Welt sein. In unzähligen Blogs werden Tabus wie Homosexualität, Drogenkonsum, Missstände im Gesundheits- und Bildungssystem oder das Fahrverbot für Frauen thematisiert und leidenschaftlich debattiert. Darauf muss das Königshaus reagieren, hat aber bisher keine langfristige Strategie entwickelt, um diesen Herausforderungen dauerhaft zu begegnen.

Gleichzeitig wird die Stabilität des Königreiches von allen Seiten bedroht. Nach Ausbruch des »Arabischen Frühlings« 2011 sahen die saudischen Herrscher voller Panik, wie befreundete Diktatoren stürzten, und fürchteten ähnliche Aufstände und Demonstrationen auch im eigenen Land. Das hätte den Niedergang der saudischen Dynastie bedeuten können, was das Regime mit allen Mitteln verhindern will. Dafür agiert es auch zunehmend als aggressive außenpolitische Macht. Vor allem Iran ist den saudischen Herrschern ein Dorn im Auge. Die schiitische Macht auf der anderen Seite des Golfs dient Saudi-Arabien seit der Iranischen Revolution 1979 als Staatsfeind Nummer eins. Das Regime fürchtet, von iranischen Vasallen umzingelt zu sein, die allesamt den Sturz des sunnitisch-wahhabitischen Königreichs anstreben. Auch deswegen hat der neue König Salman im März 2015 einen desaströsen Krieg im Jemen begonnen und bemüht sich in Syrien und im Irak, den wachsenden iranischen Einfluss einzudämmen.

Doch damit nicht genug: Das Aufkommen der dschihadistischen Terrorgruppe »Islamischer Staat« (IS) bedroht auch das Königreich. Es kam zu Anschlägen im saudischen Osten, in der Hafenmetropole Dschidda und selbst in der heiligen Stadt Medina. All das destabilisiert Saudi-Arabien. Dennoch ist es den Herrschern bisher nicht gelungen, den Terrorismus zu stoppen. Das liegt auch daran, dass der Wahhabismus der unmenschlichen Ideologie des IS in einigen Bereichen frappierend ähnelt. In der Vergangenheit wurden aus Saudi-Arabien immer wieder Terroristen unterstützt. 15 der 19 Attentäter des 11. September 2001 stammten aus dem Königreich; Osama bin Laden war saudischer Staatsbürger.

Im Westen gilt Saudi-Arabien deswegen auch als Förderer des islamistischen Terrors. Gleichzeitig hofieren die Regierungen in Washington, Paris oder London aber auch das Königreich und liefern Waffen und Panzer an das saudische Regime – auch Deutschland. So widersprüchlich Saudi-Arabien ist, so widersprüchlich ist auch die westliche Politik gegenüber dem Königreich. Einerseits wird es als destabilisierender Kriegstreiber verteufelt, der die Konflikte in der Region anheizt, andererseits loben westliche Politiker das Königreich als »Stabilitätsanker«, mit dem man kooperieren müsse.

Diese Doppelmoral zeigt eines: Der Westen hat es versäumt, eine klare Strategie im Umgang mit Saudi-Arabien zu entwickeln. Es wurden keine eindeutigen Interessen, Ziele und Erwartungen an eine Saudi-Arabien-Politik formuliert. Es sind diese Kurzsichtigkeit und die Inkonsequenz des Westens, die dazu führen, dass unser Einfluss auf Saudi-Arabien gering bleibt. Was fehlt, sind ein stabiler Kurs und eine solide werte- und interessengesteuerte Politik, die nicht von Polemik, sondern von konstruktiver Vernunft getrieben wird. Dieses Versäumnis liegt auch daran, dass Saudi-Arabien ein verschlossenes Land voller Widersprüche ist. Ohne Frage sollten westliche Politiker nicht hinnehmen, dass die Menschenrechte im Königreich mit Füßen getreten werden. Und es ist nicht akzeptabel, dass die saudische Islam-Auslegung des Wahhabismus Millionen Dschihadisten auf der ganzen Welt inspiriert. Dennoch müssen wir verstehen, dass Saudi-Arabien sehr viel facettenreicher ist als das Bild, das üblicherweise von dem Wüstenstaat vermittelt wird. Wir müssen gewahr werden, welchen fundamentalen Wandel die saudische Gesellschaft durchläuft. Der Westen muss dieses Land kennen, um zu wissen, wann Saudi-Arabien Partner und wann Problemfall ist. Denn eines ist klar: Dieses Land hat nicht nur eine Schlüsselposition in der Region, sondern in der ganzen Welt. Ändert der Westen seine Politik gegenüber Saudi-Arabien nicht, drohen der Nahe und Mittlere Osten endgültig auseinanderzubrechen.

Einleitung

»Warum hasst uns der Westen?«

Vom »Stabilitätsanker« zum Problemfall

»Ich verstehe nicht, warum der Westen uns so hasst. Was machen wir falsch? Warum existieren so viele Vorurteile gegen uns?« Mein saudischer Gesprächspartner Muhammad, ein politischer Analyst und kluger Geist, fragte mich dies nicht zum ersten Mal.1 Wir saßen während einer meiner Besuche in der saudischen Hauptstadt Riad zum Abendessen in einem dieser neu eröffneten asiatischen Restaurants und diskutierten bei »Saudi Champagne« – wie in dem Land, in dem Alkohol streng verboten ist, ironisch Apfelschorle genannt wird – zum wiederholten Male das ambivalente Verhältnis des Westens zu Saudi-Arabien. Muhammad kennt den Westen gut; er verbringt einige Monate im Jahr in den USA, in England oder Deutschland. Nicht alle meine Argumente konnte er verstehen, doch am Ende eines intensiven Gesprächs war er der Überzeugung, dass vor allem Unwissenheit, mangelndes Verständnis und fehlende Bereitschaft, dem anderen zuzuhören, zu dieser tiefen Kluft zwischen dem Westen und Saudi-Arabien geführt haben.

Für mich war dieser Abend mit Muhammad ein weiteres Beispiel für die Widersprüchlichkeit, die mir in Saudi-Arabien immer wieder begegnet: Auf der einen Seite leidet das Land unter einem katastrophalen Image im Westen, wird für seine Rückständigkeit, seine Borniertheit, seinen religiösen Extremismus und seine konservativen Gesellschaftsstrukturen angefeindet und verachtet. Auf der anderen Seite zeigen mir Diskussionen wie mit Muhammad immer wieder, wie eindimensional und einseitig dieses Bild ist. Wie stark uns Vorurteile und Klischees prägen. Und dass diese Vorurteile auch die Politik bestimmen – überall auf der Welt und insbesondere gegenüber Saudi-Arabien. Muhammads Haltung, zuhören und verstehen zu wollen, sowie seine Selbstkritik und sein Verständnis für die Vorbehalte des Westens passen nicht zu diesem Klischee. Mich hat beeindruckt, wie offen und neugierig er von mir wissen wollte, wie die Deutschen über sein Land denken.

Gespräche wie jenes mit Muhammad hatte ich während meiner Reisen ins Königreich bereits viele. Die meisten meiner Gesprächspartner sehen wie Muhammad allein im Dialog einen Weg, sich zu verstehen und anzunähern. Manche verurteilen jedoch den Westen für seine Ignoranz scharf und gehen auf Distanz. Diese Meinungsextreme erlebt man in den meisten muslimisch geprägten Gesellschaften, doch Saudi-Arabien ist noch einmal besonders: Es ist ein Land der doppelten Böden, der gravierenden Widersprüche und der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Es ist ein Land, das mich in seiner Vielschichtigkeit, in seiner Janusköpfigkeit, in seiner Doppelmoral und in seiner historischen Einzigartigkeit immer wieder aufs Neue fasziniert. Je länger und intensiver ich mich mit Saudi-Arabiens Geschichte, seinen Menschen und seiner Kultur, seinen Traditionen und Krisen beschäftigte, je häufiger ich das Land besuchte und über die Jahre Freundschaften wie die mit Muhammad schließen konnte, desto mehr wurde mir bewusst, wie komplex, kompliziert und oftmals unverständlich das Königreich am Golf doch ist. Und wie wenig wir im Westen von diesem Land wissen.

Es existieren viele Gründe, Saudi-Arabiens Politik und vor allem seine konservative und intolerante Islam-Auffassung zu kritisieren, scharf zu verurteilen oder das Land womöglich gar »zu hassen«, wie es Muhammad ausdrückt. In unserem öffentlichen Diskurs wird Saudi-Arabien auf folgende Phänomene reduziert: überbordender Luxus durch den Ölreichtum, Förderung des Terrorismus, Missachtung der Frauenrechte – das ist die dunkle Seite des Königreichs. Bärtige Prediger verbreiten Hass auf Andersgläubige, verbieten Frauen das Autofahren und verteufeln den Westen für seine Dekadenz, während gleichzeitig saudische Scheichs aufgrund der Öleinnahmen ihren Reichtum zur Schau stellen. Fast täglich werden Menschen mit dem Schwert enthauptet oder ausgepeitscht. Der wahhabitische Islam reglementiert die saudische Gesellschaft bis in kleinste Details des Privatlebens, geißelt weltliche Genüsse und hat seinen Einfluss in den letzten Jahrzehnten in vielen Teilen der Welt ausgeweitet. Alkohol ist ebenso strikt verboten wie Kinos, Opern und Theater. Tanz und Musik sind in der Öffentlichkeit untersagt. Frauen ist es nicht erlaubt, ohne einen Verwandten oder ihren Ehemann ein Geschäft zu eröffnen oder ins Ausland zu reisen.

Das Königreich unterstützte in der Vergangenheit Dschihadisten im Irak, in Syrien, in Afghanistan, auf dem Balkan und in Afrika und führt seit Frühjahr 2015 einen desaströsen Krieg im Jemen. Immerhin 15 der 19 Attentäter vom 11. September 2001 kamen genauso wie Osama bin Laden aus Saudi-Arabien, und die menschenverachtende Ideologie des IS beruht in Teilen auf dem Islam-Verständnis saudischer Prägung. Die ideologisch-geostrategische Rivalität mit dem »Erzfeind« Iran, die auf einer Kultur des Iran-Hasses, einer hysterischen »Iranoia« beruht, lässt ein Ende des Krieges in Syrien derzeit illusorisch erscheinen. Dies alles sind Gründe, warum immer wieder lautstark Kritik an Saudi-Arabien geübt wird. Die Politik des Königshauses gilt als Inbegriff der Intoleranz, Indoktrination und Isolation.

Dennoch ist Saudi-Arabien ein politischer Partner des Westens. Es ist noch nicht so lange her, dass Thomas de Maizière als Bundesverteidigungsminister die Monarchie am Golf mit den Worten lobte: »Saudi-Arabien ist einer der wichtigsten Stabilitätsanker in der Region. Das Königreich ist ein Verbündeter des Westens. […] Es liegt im westlichen Interesse, dass Saudi-Arabien diese stabilisierende und mäßigende Rolle in der Region weiterspielen kann.«2

Diese Sätze fielen im Juli 2011 – zu einer Zeit, als die arabischen Aufstände zu einer Euphorie in der arabischen Welt, aber auch im Westen geführt hatten und mehrheitlich verklärend als »Arabischer Frühling« bezeichnet wurden. Viele zeigten sich damals fasziniert davon, dass die arabische Welt aus ihrer verkrusteten Erstarrung der vergangenen Jahrzehnte erwacht zu sein schien, um ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Auf einmal änderte sich das Bild von den paralysierten, unterdrückten und verknöcherten Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens, die seit Jahrzehnten von ausbeutenden Diktatoren, korrupten Bürokraten und reaktionären Geistlichen kontrolliert, reglementiert und instrumentalisiert worden waren. Ein Wandel zu mehr Demokratie, mehr Freiheit und mehr zivilgesellschaftlichem Einfluss in der arabischen Welt schien möglich.

Doch gleichzeitig hatten die arabischen Aufstände in der westlichen Politik jahrzehntelange Gewissheiten ins Wanken gebracht. Europa und die USA hatten mit den geschassten Despoten in Ägypten und Tunesien gemeinsame Sache gemacht, da sie als Garanten für Sicherheit galten. Dass es sich bei dieser Sicherheit nur um eine oberflächliche Friedhofsruhe handelte, die weder langfristige Entwicklung noch demokratische Strukturen förderte, war von den Politikern in Washington, Berlin, Paris oder London ignoriert worden. Sicherheit wurde mit Stabilität verwechselt – eine fatale Fehlkalkulation. Diese einstmalige Euphorie ist durch das Chaos in der arabischen Welt seit 2011 längst erloschen. Statt Aufschwung herrschen in vielen Ländern Anarchie und Bürgerkrieg, statt Demokratie versuchen Dschihadisten, ihre Idee von einem Kalifat mit Gewalt und dem Schüren von Angst durchzusetzen. Die arabische Welt befindet sich in einer fundamentalen Krise, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Grenzen könnten sich verschieben, Staaten zerfallen, Millionen Menschen werden vertrieben. Viele von ihnen hatten vor fünf Jahren die Hoffnung, ihr Schicksal selbst bestimmen zu können. Heute flüchten sie vor den Bomben in Syrien, den Terrorchargen des IS, vor Hunger, Obdachlosigkeit und Krankheit. Sie verlassen ihre Heimat, die sie neu aufbauen wollten, und flüchten in die Nachbarländer, aber auch nach Europa, nach Deutschland. Längst haben uns die Auswirkungen in Form der sogenannten Flüchtlingskrise erreicht. Bei uns erhoffen sich die Vertriebenen Frieden und Sicherheit, hier sehen sie einen sicheren Hafen.

Wandel ist immer eine Phase der Instabilität, der Unruhe und der Ungewissheit. Je länger diese Phase in der arabischen Welt jedoch andauert, desto nervöser werden die westlichen Regierungen. Auch deswegen hat sich seit 2011 wieder eine Politik des Wegschauens durchgesetzt. Anstatt die historische Chance zu nutzen und die arabischen Umbrüche als willkommenen Anlass zu nehmen, die westliche Nahostpolitik nicht nur zu modifizieren, sondern grundlegend zu überdenken, hielt man weitgehend an denselben überholten Rezepten fest. Zwar stellten die westlichen Regierungen Millionensummen zur Verfügung, um die »demokratische Transformation« in den Ländern der arabischen Aufstände zu unterstützen, die Zivilgesellschaft zu fördern und den friedlichen Weg zu mehr Freiheit, Teilhabe und wirtschaftlichem Aufschwung zu begleiten, doch die Erfolge blieben aus.

Auch vor diesem Hintergrund muss die Äußerung de Maizières von Saudi-Arabien als »Stabilitätsanker« eingeordnet werden: Da langjährige Partner wie Ägypten oder Tunesien wegbrachen, wandte man sich umso bereitwilliger an den Hort scheinbarer Ruhe. Das saudische Königshaus blieb während der Umstürze 2011 und danach politisch stabil – und galt als Insel der Kontinuität in einem tobenden Ozean zerfallender Staaten. Es wurde als Konstante in einer Welt des Chaos hofiert. Die Investitionen im ölreichsten Land der Welt florierten, deutsche, US-amerikanische und französische Unternehmen verdienten Milliarden, und mit ihren Öldollars kauften die Saudis Panzer, Waffen und Düsenjets im Überfluss.

Doch ist Saudi-Arabien tatsächlich stabil? Auch vor dem Königreich machten die arabischen Aufstände nicht halt; allerdings gab es keinen Sturz der Königsfamilie, keinen Aufstand, keine Revolution. Stattdessen vollzieht sich ein kontinuierlicher Wandel, den wir als Außenstehende kaum wahrnehmen, weil Saudi-Arabien ein Land der vielen Schlösser und der wenigen Schlüssel ist. Doch unter der Oberfläche rumort es: Saudi-Arabien verändert sich fundamental. Zwei Drittel der Bevölkerung sind unter 25 Jahre, die Hälfte aller Universitätsabsolventen sind Frauen. Saudi-Arabien ist das Land mit der höchsten Rate an Twitter-Nutzern in der arabischen Welt. Hunderttausende junger saudischer Männer und Frauen studieren in den USA oder Europa, viele von ihnen in Deutschland. Sie wollen Teil der Welt sein, sich aus den gesellschaftlichen Zwängen ihres Elternhauses und den strengen Sitten lösen und drängen auf mehr Teilhabe und Freiheit. Die Jugend will Veränderung – und gerät damit nicht selten in Konflikt mit den konservativen Geistlichen, den traditionellen Werten ihrer Familien oder den strengen Regeln des Königshauses. Grenzen werden ausgelotet, getestet und manchmal überschritten. So befindet sich die saudische Gesellschaft in einem ständigen Balanceakt zwischen Aufbruch und Apathie, Lebenslust und Loyalität, zwischen Kapitalismus und Königstreue, McDonald’s und Moschee. Reformen werden gefordert, aber Revolution abgelehnt. Moderne wird gelebt, aber Verwestlichung ist verpönt. Es ist eine Dynamik im Gange, die fast mit Händen zu greifen ist. Diese Dynamik macht Saudi-Arabien zu einem Land der doppelten Standards und der Extreme.

Auch die saudische Jugend wurde von den arabischen Aufständen inspiriert. Viele junge Frauen und Männer hatten mit ihren tunesischen, syrischen und ägyptischen »Brüdern und Schwestern« sympathisiert, mit ihren Smartphones und Notebooks die Facebook- und Twitter-Kampagnen der Aktivisten verfolgt und begleitet – und selbst zu Demonstrationen aufgerufen. Es war eine Zeit, in der sich saudische Frauen beim verbotenen Autofahren filmen ließen und offen Kritik an den patriarchalischen Zuständen der saudischen Gesellschaft übten.

Das Königshaus befürchtete deswegen, die Umbrüche in der Region könnten auch in Saudi-Arabien zu dem Wunsch der Bevölkerung führen, ihre Machthaber zu stürzen oder demokratische Rechte einzufordern. Dies sollte unter allen Umständen verhindert werden. So wurden die Löhne der Beamten erhöht und zusätzliche Sozialleistungen spendiert, während gleichzeitig unliebsame Querulanten inhaftiert wurden. Aufstände der unterdrückten saudischen Schiiten im Osten des Landes wurden blutig niedergeschlagen und politische Aktivisten zu Zehntausenden weggesperrt. Die Zahl der Todesurteile stieg rasant. Der im Internet angekündigte »Tag des Zorns« im Jahr 2011 endete im Desaster: Eine Hundertschaft von Polizeikräften sollte die erwarteten Demonstranten eindämmen – am Ende erschien ein einziger. Der »saudische Frühling« war beendet, ehe er begonnen hatte.

Im Westen regte sich damals nur vorsichtig offizielle Kritik an der saudischen Politik des Niederknüppelns. Denn die westliche Politik gegenüber dem Königreich beruht auf dem Motto: »Hofiere das kleinere Übel, um das schlimmere zu verhindern.« Als schlimmere Übel gelten der Terrorismus und die zunehmende Gewalt in Syrien und im Irak. Das saudische Königshaus, das »kleinere Übel«, fungiert stattdessen als Verbündeter des Westens im Kampf gegen den Terrorismus. Unter dem Deckmantel der Verlässlichkeit ist es Saudi-Arabien gelungen, zum wichtigsten arabischen Partner des Westens im Nahen und Mittleren Osten aufzusteigen. Dafür wird es mit Waffenlieferungen in Milliardenhöhe entschädigt, was zu massiver Kritik in politischen Kreisen, in den Medien und von Seiten der Menschenrechtsorganisationen geführt hat. Immerhin ist es nicht ausgeschlossen, dass Panzer aus deutscher oder britischer Produktion in Zukunft Jagd auf saudische Demonstranten machen.

Dabei trägt Saudi-Arabien kräftig dazu bei, die Region weiter zu destabilisieren: Im Jemen brach das neue Regime unter König Salman einen verheerenden Krieg vom Zaun, und die Rivalität mit Iran droht für die gesamte Region zur Zerreißprobe zu werden. Außerdem stützt Saudi-Arabien autokratische und repressive Regime wie das des ägyptischen Präsidenten Abd al-Fattah as-Sisi mit Milliardensummen.

Das bringt den Westen in ein Dilemma: Einerseits wird Saudi-Arabien als Partner gebraucht, andererseits wird das enge Verhältnis zum Königreich in der Öffentlichkeit zunehmend kritisiert. Man mache sich zum Handlanger von Despoten, so die weitverbreitete Meinung. Auch deswegen verändert sich der Diskurs über Saudi-Arabien: Das Land wird zunehmend als Problem wahrgenommen, nicht mehr als »Stabilitätsanker«. So sagte etwa Vizekanzler Sigmar Gabriel zur Rolle Saudi-Arabiens im syrischen Bürgerkrieg: »Wir müssen den Saudis […] klarmachen, dass die Zeit des Wegschauens vorbei ist. Aus Saudi-Arabien werden überall in der Welt wahhabitische Moscheen finanziert. Aus diesen Gemeinden kommen in Deutschland viele islamistische Gefährder.«3 Das war im Dezember 2015. Auch der Bundesnachrichtendienst hielt sich damals mit seiner Kritik an der saudischen Führung unter dem neuen König Salman nicht zurück: »Die bisherige vorsichtige diplomatische Haltung der älteren Führungsmitglieder der Königsfamilie wird durch eine impulsive Interventionspolitik ersetzt.«4

Diese Aussagen stehen als Beispiele für die extreme Sichtweise, mit der Saudi-Arabien in Deutschland beurteilt wird: Das Königreich ist entweder gut oder böse, Partner oder Paria. Grauschattierungen existieren in der deutschen Öffentlichkeit eher selten, differenzierte Antworten sind in den Medien meist unerwünscht. Gerade wenn es um Saudi-Arabien geht, bestimmen Klischees und Vorurteile die Diskussion um den schwierigen Partner. Das große Problem im Umgang mit dem saudischen Königreich liegt darin, dass kein verantwortlicher Politiker genau weiß, was wir eigentlich auf welchem Wege mit Saudi-Arabien erreichen wollen. Welche Außenpolitik betreiben wir gegenüber den Saudis? Wer definiert diese außenpolitische Strategie? Welche Interessen verfolgen wir im Umgang mit Saudi-Arabien? Wo liegen die Chancen und wo die Hürden? Wenn man deutschen Außenpolitikern und ihren Mitarbeitern solche Fragen stellt, reagieren sie oft mit diplomatischen Plattitüden.

Zwar betonen deutsche Politiker immer wieder die Notwendigkeit, mit Saudi-Arabien zusammenzuarbeiten, doch eine kohärente Strategie fehlt bislang. Die Debatte um Saudi-Arabien verläuft stattdessen meist hochemotional, ist getrieben von Hybris, Vorurteilen und fehlendem Wissen. Dies zeigt sich insbesondere bei den umstrittenen Waffenlieferungen. Das halbgare Hin- und Herlavieren deutscher Regierungspolitiker bei dieser Frage soll einerseits die Interessen der deutschen Wirtschaft und der Waffenlobby befriedigen, andererseits will man auf keinen Fall den Eindruck erwecken, man würde solche Rüstungsexporte gutheißen. Dieser Kurs ist destruktiv. Denn: So wenig wie Saudi-Arabien in der Vergangenheit ein Garant für Stabilität war, so wenig ist es heute die Wurzel allen Übels.

Uns muss bewusst werden, welchen fundamentalen Wandel die saudische Gesellschaft derzeit durchläuft. Wir nehmen ihn nicht wahr, weil wir entweder den Zugang nicht haben oder nur bestimmte Realitäten oder unsere Meinungen und Vorurteile bestätigt sehen wollen. Und weil die Politik getrieben ist von der öffentlichen Stimmung und darüber einen nachhaltigen Umgang mit Saudi-Arabien vermissen lässt.

Dieses Buch will über Saudi-Arabien informieren und aufzeigen, wie es der Westen gegenüber dem Königreich bisher versäumt hat, eine klare Strategie zu entwickeln, um mit dessen gravierenden Widersprüchen umzugehen. Es soll dargestellt werden, warum eine solche Strategie dringend notwendig ist und wie sie aussehen könnte. In dieser Strategie müssen die Herausforderungen und Widersprüchlichkeiten berücksichtigt werden, die in Saudi-Arabien existieren. Deutschland muss sich seiner neuen Verantwortung als globaler Akteur stärker bewusst werden und einen ehrlichen, kritischen und konstruktiven Ansatz entwickeln, mit Saudi-Arabien umzugehen. Es muss auf der Grundlage seiner eigenen außenpolitischen Interessen die Möglichkeiten und Grenzen der Kooperation mit Saudi-Arabien benennen und Mechanismen entwickeln, um diese Strategie umzusetzen. Generell muss sich die deutsche Außenpolitik entscheiden, wofür und weshalb sie Saudi-Arabien braucht und was sie bereit ist, für diese Partnerschaft zu geben. Und sie muss sich die Frage stellen: Wofür sollte Saudi-Arabien den Westen brauchen? Das Königreich ist der wichtigste arabische Regionalakteur. Allein deswegen ist es zwingend notwendig, dass die Politik klar artikuliert, wo die Chancen und Risiken einer Kooperation mit Saudi-Arabien liegen. Doch dafür muss man Saudi-Arabien kennen und verstehen – selbst wenn vieles nicht ohne weiteres verständlich und schon gar nicht zu akzeptieren ist.

Um diese Kenntnis und dieses Verständnis zu fördern, soll in diesem Buch die »Black Box« Saudi-Arabien geöffnet werden. Innere Verwerfungen des Königreichs sowie der gesellschaftliche Wandel sollen dargestellt, seine Politik nach innen und außen soll erklärt, politische Perspektiven sollen aufgezeigt werden. Die Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, Religion und die Zukunft des Königshauses werden ebenso beleuchtet wie die Situation der Frauen und der Minderheiten. Auch wird Kritik am Umgang des Westens mit Saudi-Arabien geübt. Dabei bin ich mir bewusst, dass dies auf beiden Seiten auf Skepsis stoßen kann. Doch ist es meines Erachtens notwendig, Missstände offen, wenngleich differenziert anzusprechen.

Am Ende der Lektüre, so hoffe ich, haben Sie, werte Leserinnen und Leser, einen besseren Einblick in das Mysterium Saudi-Arabien, so dass Sie selbst entscheiden können, wie Sie auf Muhammads eingangs zitierte Frage »Warum hasst der Westen uns so?« antworten sollen.

Anmerkungen zum Kapitel

1. Interview des Autors in Riad im Dezember 2014. Alle Namen von Interview- und Gesprächspartnern in diesem Buch wurden geändert, um die Anonymität der Quellen zu schützen.

2. Interview mit dem damaligen Verteidigungsminister Thomas de Maizière. Jochen Gaugele und Karsten Kammholz: »Bundeswehrreform: Größere Einschnitte im Norden«, Hamburger Abendblatt, 9. Juli 2011, http://www.abendblatt.de/politik/deutschland/article108046795/Bundeswehrreform-Groessere-Einschnitte-im-Norden.html.

3. Interview mit Vizekanzler Sigmar Gabriel in der BILD am Sonntag, 6. Dezember 2015.

4. Bundesnachrichtendienst: »Saudi-Arabien – Sunnitische Regionalmacht im Spannungsfeld zwischen außenpolitischem Paradigmenwechsel und innenpolitischer Konsolidierung«, Pressemitteilung vom 2. Dezember 2015.

Die Geschichte

Aus dem Sand auf die Weltbühne

Allianz von Krone und Klerus: Die Al Saud und die Wahhabiten

Die Geschichte von der Entstehung des saudischen Staates ist ohne die Geschichte zweier Männer, die 1744/45 im zentralarabischen Nadschd einen historischen Pakt schlossen, undenkbar. Dieser Pakt gilt heute als die Geburtsstunde des saudischen Staates. Einer dieser Männer war der arabische Prediger Muhammad Ibn Abd al-Wahhab. Er wurde vermutlich 1703 in der Oasensiedlung Uyaina geboren und stammte aus einer angesehenen Juristenfamilie. Sein Vater, der 1740 starb, genoss als örtlicher Richter hohes Ansehen. Abd al-Wahhab wuchs in einer Lehmsiedlung auf, die fernab der multikulturellen und intellektuellen Zentren der islamischen Welt lag. Die Region des Nadschd war im 18. Jahrhundert ein vergessenes Fleckchen Erde. Zwar gehörte sie formal zum Osmanischen Reich, doch führten weder bedeutende Handelsrouten durch das karge Ödland der zentralarabischen Wüste, noch besaß der Nadschd politische Relevanz. Stattdessen übten lokale Stämme und Beduinenkarawanen den meisten Einfluss aus. Die Natur dort ist unwirtlich, im Sommer herrscht unerträgliche Hitze, während im Winter die Temperaturen nachts bis auf den Gefrierpunkt sinken können – die Lebensverhältnisse waren hart.

Abd al-Wahhab war ein wissbegieriger junger Mann, der aus dieser kärglichen Umgebung ausbrach, um bei seinen Lehrern in Mekka und Medina, im ostarabischen al-Ahsa und im heutigen irakischen Basra ein theologisches Studium zu absolvieren, ehe er in seine Heimat zurückkehrte. Schon damals keimten in ihm die ersten Ideen für seine Islam-Interpretation, die später unter dem Begriff »Wahhabismus« weltweite Bekanntheit erlangen sollte.1 Grundlage dieser Lehre wurde die tiefe Abneigung Muhammad Ibn Abd al-Wahhabs gegen die herrschende Gesellschaft und die damaligen Sitten und Gebräuche. Mit Abscheu nahm er zur Kenntnis, dass viele Dorfbewohner Bäume und Steine anbeteten, Heilige verehrten, dem Tabakgenuss frönten, tanzten und musizierten. Für ihn war dies Ausdruck einer unislamischen Lebensweise, die es zu bekämpfen galt.

Die Muslime waren nach Abd al-Wahhab in die heidnische Welt vor der Offenbarung des Islams im 7. Jahrhundert (dscha-hiliyya) zurückgefallen, was er nicht tolerieren wollte. Jegliche unerlaubte Neuerung (bida) lehnte er ab, stattdessen forderte er eine umfassende Reform des Islams, der zu seiner ursprünglichen Reinheit und Frömmigkeit zurückkehren müsse. Er war überzeugt, die muslimische Gemeinde (umma) müsse dem Vorbild der »frommen Altvorderen« (as-salaf as-salih), des Propheten Muhammad und seiner engsten Verbündeten nacheifern, um als wahre Gläubige gelten zu können. Er sah in seinen Zeitgenossen nicht mehr als Pseudo-Muslime, die zwar das Glaubensbekenntnis (schahada) abgelegt hatten, aber keine Anstalten machten, auch aktiv Gott zu dienen. Stattdessen lebten sie in Sünde, indem sie Gott nicht als einzige Autorität anerkannten und angebliche Heilige oder gar die Natur anbeteten. Damit hätten diese scheinheiligen Muslime bewiesen, dass ihr Bekenntnis zum Islam nur ein »Lippenbekenntnis« war.2 Diese Haltung widerspreche der Lehre von der Einheit Gottes (tauhid), so Abd al-Wahhab. Wer der Vielgötterei (schirk) anhänge, sei kein wahrer Muslim und dürfe zum Ungläubigen erklärt und bekämpft werden.3 Dazu gehörten seiner Meinung nach auch die Schiiten. Ein zentraler Aspekt seiner Lehre war daher ein verblendeter Hass auf Schiiten, die mit ihrer Verehrung von heiligen Imamen zu »Ungläubigen« (kuffar) und »Ausgestoßenen« oder »Ablehnern« (rafidun) geworden seien. Man dürfe sie deswegen verfolgen.

Die Ablehnung der Schiiten ist zu einem integralen Bestandteil der wahhabitischen Lehre geworden und steht auch heute im Mittelpunkt des saudischen Staatsverständnisses. Insbesondere die in Saudi-Arabien lebende schiitische Minderheit wird wegen ihres Glaubens seit Generationen ausgegrenzt, verfolgt und unterdrückt. Ihre Situation vergleichen manche mit der Lage der Afroamerikaner vor der Bürgerrechtsbewegung in den USA.4 Ihnen ist es zum Beispiel verboten, eigene Moscheen zu bauen oder schiitische Feste zu begehen.5

Doch Abd al-Wahhab stieß mit seinen Ideen zunächst auf wenig Gegenliebe. Er galt als Außenseiter, Querulant und Hetzer gegen den Mainstream. Denn seine Ideen beruhten auf einem kompromisslosen Schwarz-Weiß-Denken: Entweder man war für ihn, oder man wurde aus der muslimischen Gemeinde verstoßen. Unerhört an seiner Auffassung war vor allem die Tatsache, dass er sich zwar auch gegen die »ungläubigen« Schiiten wandte, seine eigentliche Ablehnung aber den Sunniten galt, zu denen er selbst gehörte. »Was nun die Sunniten betrifft, so ist es ihre Rechtspraxis […], dass der Muslim nur durch schirk zum Ungläubigen wird.« (Aussage al-Wahhabs im ar-Risala at-Tasi’a)6

Seine Lehre beruhte auf Gut gegen Böse und auf Glauben gegen Unglauben. Ohne den Zustand der Vielgötterei zu überwinden, sei die Rückkehr zum wahren Islam nicht möglich. Abd al-Wahhab kritisierte auch die religiösen Gelehrten (ulama). Anstatt ihnen einfach nur blind zu folgen, dürfe man sich ausschließlich am Koran und der Sunna, das heißt den Überlieferungen des Propheten, orientieren und sich allein göttlicher, keiner menschlichen Autorität unterwerfen. Die Muslime hätten sich im Laufe der Zeit von der idealen frühislamischen Gemeinde entfernt.7 Dieser Zustand müsse überwunden werden.

Um sein Ziel von einer gereinigten, frommen und wiedererweckten muslimischen Gemeinde zu erreichen, schreckte Abd al-Wahhab auch nicht vor Gewalt zurück. So sollte der »Heilige Krieg«, der Dschihad8, schnell zum politischen Instrument seiner Lehre werden. 1744 ließ er in seinem Heimatdorf Uyaina Moscheen und Gräber von Prophetengefährten zerstören und heilige Bäume fällen. Damit provozierte er nicht nur seine engste Umgebung, sondern auch die lokalen Prediger und machte sich in kürzester Zeit viele Feinde. So äußerte sich ein Gegner Abd al-Wahhabs in deutlichen Worten: »In unserer Gegend ist ein Mann hervorgetreten, ein unwissender Neuerer […], ein irreführender Irrender […].« Man müsse »diesen Neuerer jagen […], um seine Neuerungen (bida) und seine Irrtümer […], seine Unwissenheit […] und seine Fehltritte […] zurückzuweisen«.9 Abd al-Wahhab musste aus zwei Oasenstädten fliehen, nachdem er die Menge mit seinen Reden in solche Wut versetzt hatte, dass sogar ein Mordanschlag auf ihn geplant wurde. Es schien, als sei seine Mission gescheitert, ehe sie begonnen hatte.

Doch sein Schicksal sollte sich wenden, als er in der Oase Diriya, die einige Kilometer nördlich der heutigen Hauptstadt Riad liegt, auf den zweiten Mann traf, ohne den die Entstehung des saudischen Staates nicht möglich gewesen wäre: Muhammad Ibn Saud. Dieser war zu jener Zeit nicht mehr als ein leidlich erfolgreicher und unbekannter Oasenherrscher, dem es bislang nicht gelungen war, die mächtigere Konkurrenz in den angrenzenden größeren Oasen herauszufordern. Als sich die beiden Muhammads dann in Diriya trafen, war Ibn Saud fasziniert von den unkonventionellen und provokativen Ansichten Abd al-Wahhabs. Er erkannte die politische Sprengkraft von dessen Lehren, die er sich zunutze machen wollte. Für beide ausgestoßenen und missachteten Männer bot sich somit eine Win-win-Situation: Ibn Saud konnte seine politischen Ambitionen mit einer radikalen Ideologie von Ausgrenzung und Verfolgung untermauern, während Abd al-Wahhab einen Partner erhielt, der über politische Kontakte und lokale Netzwerke verfügte und ihm somit Schutz bieten konnte. Beide schlossen somit den Pakt von Diriya, woraufhin der Siegeszug der wahhabitisch-saudischen Allianz begann.

Bis heute dient dieses Bündnis zwischen wahhabitischer Gelehrsamkeit und der politischen Macht der Nachfahren von Muhammad Ibn Saud, der Al Saud10, als wichtigste Überlebensgarantie des saudischen Staates. Ohne die Einheit von Glauben und Krone, von religiöser Lehre und politischer Kontrolle wäre das saudische Königreich mit Sicherheit nicht überlebensfähig gewesen. Dieses schicksalhafte Bündnis sollte jedoch in der späteren saudischen Geschichte auch immer den Kern politischer Krisen bilden.

Mit Feuer und Schwert: Der Aufstieg der saudischen Dynastie

Innerhalb der nächsten Jahrzehnte gelang es den beiden Muhammads und ihren Nachfahren, weite Teile der arabischen Halbinsel unter ihre Kontrolle zu bringen: Ibn Saud nahm rasch Uyaina ein, und seine Nachfolger besetzten in den folgenden Jahren Teile des heutigen saudischen Staatsgebiets. Sie eroberten die Ostküste um al-Ahsa und stießen sogar in den Irak vor, als sie 1802 die schiitische Pilgerstadt Kerbala eroberten. Dort ließen die wahhabitischen Gotteskrieger ihrem Schiitenhass freien Lauf, indem sie das Grab des ersten schiitischen Imams Hussein Ibn Ali (gest. 680) zerstörten, was die bis heute bestehende tiefe Aversion der Schiiten gegen die Wahhabiten erklärt. Dabei wirkte das Bündnis Abd al-Wahhabs mit Ibn Saud als explosives Erfolgsrezept: Keiner der politischen oder ideologischen Gegner konnte es mit ihrem Modell eines religiös begründeten Zentralstaates aufnehmen.

1803 erreichte die wahhabitisch-saudische Expansion den Hidschaz im Westen des heutigen Saudi-Arabiens, in dem die beiden heiligen Stätten Mekka und Medina sowie die Hafen- und Handelsstadt Dschidda liegen. Im Gegensatz zum beduinisch geprägten und weitgehend isolierten zentralarabischen Nadschd, aus dem Ibn Saud und Abd al-Wahhab stammten, war der Hidschaz das religiöse Zentrum der arabischen Halbinsel und eine Drehscheibe des Handels. Jedes Jahr strömten Hunderttausende muslimischer Pilger nach Mekka und Medina, um ihrer religiösen Pflicht der Pilgerfahrt (hadsch) nachzukommen. In Dschidda, geostrategisch günstig am Roten Meer gelegen, lebten die einflussreichen Händlerfamilien des Hidschaz, die mit ihren Partnern im Mittelmeer, in Afrika oder Asien Geschäfte trieben. Dort pulsierte das multikulturelle Leben, dort trafen sich unterschiedliche Ethnien und Religionen, was die Weltoffenheit und Toleranz der dortigen Bevölkerung stark prägte. Dementsprechend ablehnend stand sie den neuen Eindringlingen aus der rückständigen Wüste gegenüber. Die Wahhabiten galten den Hidschazis als unzivilisiert, ungebildet und intolerant.

Dennoch gelang es den Erben Abd al-Wahhabs, 1803/04 Mekka und Medina zu erobern. Nun wurden auch die osmanischen Herrscher im fernen Istanbul aufmerksam, die offiziell die heiligen Stätten kontrollierten, da sie an den jährlichen Pilgerfahrten verdienten. Diese Einnahmen drohten durch die saudischen Eroberungen wegzubrechen. Um dies zu verhindern, beauftragte der osmanische Sultan seinen Statthalter in Ägypten, Muhammad Ali (1806/11–1848), die wahhabitische Rebellion niederzuschlagen und Mekka und Medina zurückzuerobern – mit Erfolg: 1814 wurden die Besatzer aus dem Hidschaz vertrieben, vier Jahre später fiel das saudische Machtzentrum Diriya. Der damalige saudische Herrscher, Abdullah Ibn Saud, ein Sohn von Muhammad Ibn Saud, wurde daraufhin ebenso nach Istanbul deportiert und hingerichtet wie die Nachfahren von Muhammad Ibn Abd al-Wahhab.11 Es schien, als sei die wahhabitisch-saudische Allianz gescheitert und bliebe eine Fußnote der Geschichte.

Doch es dauerte nur sechs Jahre, bis ein Onkel des letzten saudischen Herrschers, Turki bin Abdallah (reg. 1824–1834), Diriya erneut unter seine Kontrolle brachte und später auch Riad eroberte, das er zur neuen Hauptstadt erklärte. Die ägyptischen Besatzer hatten sich nach ihrem Sieg teilweise aus Zentralarabien zurückgezogen, was dem Saud-Clan ermöglicht hatte, sich neu zu formieren und zurückzuschlagen. Die kommenden Jahrzehnte sollten allerdings dominiert werden von internen Familienstreitigkeiten, Machtkämpfen und Rivalitäten mit den religiösen Gelehrten, so dass sich der zweite saudische Staat trotz einer kurzen Hochphase ebenfalls nicht als überlebensfähig erwies: 1891 verloren die Saudis Riad an ihre lokalen Kontrahenten, den Clan der Raschidis unter Führung von Muhammad bin Raschid (reg. 1869–1897), der aus Hail im Nadschd stammte.12 Die überlebenden Sauds flohen ins kuwaitische Exil. Unter ihnen befand sich auch der kommende saudische König Abdulaziz, der Jahre später, nämlich 1932, das Königreich Saudi-Arabien ins Leben rufen sollte und als Gründer des modernen Saudi-Arabiens gilt.

Doch bis dahin sollten die saudischen Familienmitglieder als Exilanten im provinziellen Kuwait eine unbeachtete Existenz führen. Wieder war die saudische Herrschaft an inneren Streitigkeiten und an Querelen mit den wahhabitischen Gelehrten gescheitert, war es nicht gelungen, die Symbiose zwischen Glauben und Macht aufrechtzuerhalten.

Allerdings erwies sich auch die Herrschaft der Raschid-Familie nicht als stabil. Als es zu familiären Streitigkeiten um die Nachfolge kam, implodierte ihre Dynastie innerhalb weniger Jahre. In seinem kuwaitischen Exil sah der mittlerweile erwachsene Abdulaziz nun die Gelegenheit, die Herrschaft seiner Vorfahren wiederherzustellen. Dazu begab er sich im Jahr 1902 angeblich mit nur vierzig bis sechzig getreuen Mitstreitern vor die Tore Riads, um den dortigen Gouverneur zu ermorden und die Kontrolle an sich zu reißen, was ihm auch gelang.

Abdulaziz, der als Ibn Saud in der Folgezeit Berühmtheit erlangen sollte, wird in der saudischen Geschichtsschreibung als tapferem Helden und mutigem Kämpfer gehuldigt. Vieles davon erscheint übertrieben. Allerdings ist die einigende Wirkung seines Erfolgs bei Riad nicht zu unterschätzen. Dadurch gelang es ihm, sein Image als siegreicher Stratege und kompromissloser Anführer zu kultivieren und seinen Status als Legende zu festigen. Außerdem hatte er aus den Fehlern seiner Vorgänger gelernt. Ihm war bewusst, dass der Erfolg seiner Herrschaft darauf beruhte, eine kluge Kombination aus wahhabitischem Extremismus und realpolitischem Kalkül zur Basis seiner Politik zu machen. Damit wollte er einerseits das Bündnis mit den Gelehrten erneuern und ihren Forderungen entgegenkommen, andererseits aber auch das politische Überleben des Staates sichern, welches nur durch Bündnisse und Diplomatie, nicht allein durch religiösen Eifer, garantiert werden konnte. In den Folgejahren verstand es Ibn Saud geschickt, diese Strategie umzusetzen. Dabei setzte er weiterhin auf Eroberungen, führte aber gleichzeitig auch Verhandlungen mit seinen Feinden und schuf mit Hilfe einer klugen Heiratspolitik Zweckbündnisse mit einflussreichen Stämmen. Insbesondere seine vermutlich 22 Ehen wurden zwar von anderen Scheichs als Ausdruck sexueller Ausschweifung verstanden, dienten ihm aber als politische Strategie, indem er Exfrauen oder Töchter von politischen Rivalen ehelichte.13 Insgesamt soll er Vater von 34 Söhnen und 21 Töchtern gewesen sein.14 Andere Quellen gehen sogar von 106 Kindern aus.15

1914 schloss er mit den Osmanen eine Vereinbarung, die ihm die Oberhoheit über den Hidschaz gewährte.16 Ein Jahr später einigte er sich mit den Briten darauf, keine Verträge mit anderen ausländischen Mächten zu schließen, woraufhin ihm die Kontrolle über den Nadschd, al-Hasa, Dschubail und Qasim zugebilligt wurde.17 Darüber hinaus wandte er sich kompromisslos gegen Nicht-Wahhabiten und ließ vor allem Schiiten verfolgen, was dem wahhabitischen Klerus gefiel, weigerte sich aber auch nicht, Rücksicht auf die speziellen Lebensweisen außerhalb des Nadschd zu nehmen.

Um seine Ziele durchsetzen zu können, brauchte er ein Netzwerk von loyalen Verbündeten. Dazu förderte er ab 1911 die Ansiedlung von Beduinenstämmen in sogenannten Hudschar, landwirtschaftlichen Siedlungen, in denen die Ikhwan (»Brüder«) genannten Beduinen militärisch trainiert und religiös indoktriniert wurden.18 Mit dieser Politik verfolgte er zwei Ziele: Zum einen schuf er sich damit eine loyale, hochmotivierte und elitäre Kampfeinheit, die auf den Eroberungszügen eingesetzt werden konnte, andererseits vermied er so mögliche Konflikte mit den Beduinenstämmen, da diese von seiner Herrschaft massiv profitierten. Er förderte zum Beispiel den Bau von Brunnen und Häusern.

Diese Strategie zahlte sich zunächst aus: Nur mit Hilfe der Ikhwan gelang es Ibn Saud, weite Teile der arabischen Halbinsel zu erobern. 1921 zog er in Hail ein19, was die Herrschaft der Raschidis endgültig beendete. 1924/25 eroberte er Mekka, Medina und Taif, belagerte 1925 ein Jahr lang Dschidda, ehe er die Handelsstadt einnehmen konnte, und erklärte sich im selben Jahr zum König des Hidschaz.20 Damit standen diese Gebiete zum ersten Mal seit dem 18. Jahrhundert wieder unter alleiniger saudischer Herrschaft. Und die Eroberungen setzten sich fort: Bis 1932 fiel der Asir im Südwesten und 1934 folgte mit Nadschran die südliche Grenzregion zum Jemen.

Bis 1926 waren die Ikhwan auf 150 000 Kämpfer angewachsen.21 Sie bildeten die saudische Eliteeinheit bei den ersten Eroberungszügen, entpuppten sich aber schnell als fanatische und brutale Schlächter, die brandschatzten und plünderten, weite Teile Mekkas und Medinas zerstörten und Händlerkarawanen überfielen. Dieses exzessive Verhalten schadete zunehmend den politischen Interessen Ibn Sauds, da er auf die Einnahmen aus der Pilgerfahrt angewiesen war.22 Zwar hatte er die religiöse Indoktrinierung der Ikhwan aktiv unterstützt, doch nun wurden sie aufgrund ihrer enthemmten Gewalt und ihrer Ablehnung von politischen Kompromissen zu einer Belastung.

Die Ikhwan wiederum kritisierten die vielen Ehen Ibn Sauds als unislamisch und lehnten die Einführung von Steuern ab.23 Des Weiteren fürchteten sie auch um die Unabhängigkeit der Stämme, da Ibn Saud die Verwaltungsabläufe zentralisierte und versuchte, schrittweise einen Staat aufzubauen, in dem sich vor allem die einstmals einflussreichen Stämme seiner Herrschaft zu beugen hatten.24 Als die Ikhwan dann auch noch eigenmächtig transjordanisches und irakisches Gebiet erobern wollten, um eigene Einnahmen zu erzielen und Ibn Saud zu bewegen, sie mit besseren Posten zu belohnen25, musste dieser handeln, wollte er das Erreichte nicht gefährden. 1929 besiegten Ibn Sauds reguläre Truppen seine einstmaligen Günstlinge bei Sabila. Dabei wurde er von der britischen Royal Air Force unterstützt.26 Allerdings schonte Ibn Saud nach seinem Sieg das Leben des Ikhwan-Anführers, wofür ihn seine Anhänger wegen seiner Gnade und Barmherzigkeit lobten, während ihm seine religiösen Gegner vorwarfen, die wahhabitischen Ziele verraten zu haben. Bevor er zu den Waffen griff, machte er allerdings einen genialen politischen Schachzug: Die Forderung des Ikhwan-Anführers nach seinem Rücktritt wies er nicht brüsk zurück, sondern ließ im Kreis der hohen Stammesführer des Nadschd darüber abstimmen. Als diese an Ibn Saud festhielten, war die politische Legitimität der Ikhwan gebrochen und seine Position als unumstrittener Herrscher festgeschrieben worden.27

Daraufhin stellten sich auch die wahhabitischen Gelehrten wohl oder übel hinter Ibn Saud, obwohl viele von ihnen mit den radikalen Ansichten der Ikhwan sympathisiert hatten. Doch auch ihnen diente das Schicksal der vorherigen saudisch-wahhabitischen Staaten als mahnendes Beispiel. Ihnen war klar, dass nur mit unerschütterlicher Einheit und Loyalität zu Ibn Saud die Zukunft der Herrschaft gesichert werden würde. Also beugten sie sich seinem Willen und verloren damit einen Teil ihrer Eigenständigkeit; sie wurden zum »Juniorpartner«28. Ibn Saud integrierte sie ins Erziehungs- und Bildungswesen, so dass sie in den nächsten Jahren die Verwaltungselite bildeten und von Ibn Saud bezahlt wurden.29 Gleichzeitig war ihm klar, dass er keineswegs über die Kompetenz verfügte, im höherentwickelten Hidschaz eigene administrative Strukturen einzuführen, so dass er auf das bestehende System nach osmanischem Vorbild zurückgriff und eine Herrschaft der indirekten Kontrolle einführte.30

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