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Zeitenwende am Golf: mithilfe ihres Öl- und Gasreichtums ist es den Golfstaaten Saudi-Arabien, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Kuwait, Bahrain und Oman gelungen, weltweit immer mehr Einfluss zu nehmen – in der Politik, der Wirtschaft oder dem Sport. Ihre ambitionierten Herrscher konkurrieren dabei um Macht und verfolgen kompromisslos eigene politische und wirtschaftliche Interessen. Diese immer dominantere Rolle von autoritären Monarchien stellt die internationale Gemeinschaft und Deutschland zunehmend vor fundamentale Herausforderungen. Sebastian Sons beschreibt die Komplexität und Vielschichtigkeit der golfarabischen Gesellschaften, die auf der Suche nach einer neuen Identität einen starken Wandel durchlaufen. Die Golfmonarchien verfolgen gleichzeitig eine unabhängige Politik gegenüber dem Westen und intensivieren die Zusammenarbeit mit autoritären Mächten wie China und Russland. Sie missachten Menschenrechte, forcieren aber auch den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel. Dieser Widersprüchlichkeit muss die deutsche und europäische Außenpolitik mit einer langfristigen Strategie begegnen.
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Seitenzahl: 502
DIE NEUEN HERRSCHER AM GOLF
Für A.-M.
Sebastian Sons
DIE NEUEN HERRSCHER AM GOLF
und ihr Streben nach globalem Einfluss
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8012-7054-4 (E-Book)
ISBN 978-3-8012-0660-4 (Printausgabe)
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Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH
Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn
Umschlag: Hermann Brandner, Köln
Satz: Rohtext, Bonn
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DIETZ & DAS
Der Podcast zu Politik, Gesellschaft und Geschichte
Auf allen Podcast-Plattformen abrufbar.
Cover
Titel
Impressum
Vorwort: Eine Reise nach Saudi-Arabien
Einleitung
Die Golfmonarchien als neues Zentrum der arabischen Welt
Kapitel 1Der Staat bin ich: Wie die neuen Herrscher ihre Macht bewahren
1. Macht um jeden Preis: Die Herrscher und ihre Seilschaften
2. Personenkult und Populismus: Die neue Herrschergeneration
3. Teile und herrsche: Die starken Männer und ihre Partner
Kapitel 2Auf zu neuen Ufern: Die Golfmonarchien müssen sich neu erfinden
1. Weg vom Öl? Die Wirtschaftspolitik
2. Ringen um die Zukunft: Die Arbeitsmarktpolitik
3. Die Arbeitsmigration: Das Rückgrat des golfarabischen Aufstiegs
4. »Gemeinsam sind wir stark«: Die Identitätspolitik
5. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns: Die Menschenrechtspolitik
Kapitel 3Im Auge des Sturms:Die Golfstaaten in einer multipolaren Weltordnung
1. Die Golfstaaten und ihre Außenpolitik: Diplomatie und Diffamierung
2. Iran – Rivale und notwendiges Übel
3. »Ein Konflikt der Egos«: Golfinterne Rivalitäten
4. Die USA – Partner und Problem
5. China – Enger Partner und Verhandlungsmasse im Umgang mit den USA
6. Wir sind uns selbst am nächsten: Die Golfstaaten und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine
7. Ein neuer »Wind of Change«: Chancen für regionale Annäherung
8. Israel: Ein zwiespältiges Verhältnis zwischen Ablehnung und Annäherung
Kapitel 4Globale Netzwerke: Wie die Golfstaaten weltweit Einfluss erlangen
1. Klima- und Energiepolitik: Die Erzählung vom »grünen Champion«
2. Das Ende der Gießkanne: Die golfarabische Entwicklungspolitik
3. Brot und Spiele: Die golfarabische Sportpolitik
Kapitel 5Die »Zeitenwende« und die Golfmonarchien – Warum uns die Herrscher am Golf näher sind als wir denken
Kapitel 6Verpasste Chancen? Wie Deutschland mit den Golfstaaten zusammenarbeiten könnte
Über den Autor
Als ich 2008 das erste Mal am Flughafen der saudischen Hauptstadt Riad landete, war Saudi-Arabien ein gänzlich anderes Land als heute. Ins Flugzeug hatten sich nur wenige europäische Besucher und noch weniger Besucherinnen verirrt und die Organisation in der Ankunftshalle und der Passkontrolle wirkte improvisiert. Damals arbeiteten noch keine Frauen an den Schaltern und die digitale Fingerabdruckkontrolle zur Einreise war Zukunftsmusik. Heute – 15 Jahre später – ist der King Khalid International Airport eine modernisierte und durchstrukturierte Maschinerie, die den täglich anwachsenden Besucherströmen mit internationalisierter Professionalität Herr wird und den Flughäfen im katarischen Doha oder im emiratischen Dubai im Hinblick auf Effizienz, abzufertigenden Tourist:innen und kundenorientierten Dienstleistungsgedanken nacheifert und darauf abzielt, die nachbarschaftlichen Vorbilder schnellstmöglich zu übertreffen.
Das Beispiel des Flughafens in Riad zeigt wie unter einem Brennglas, dass sich Saudi-Arabien und die gesamte Golfregion in einem tiefgreifenden Wandel befinden, der sich nicht allein an technologischem Fortschritt, sondern sogar noch viel stärker auf politischer, gesellschaftlicher und kultureller Ebene zeigt. Zwischen meiner ersten Reise an den Golf und heute liegen Phasen der epochalen Umwälzungen, die die Monarchien am Golf nicht nur geprägt und verändert haben, sondern die sie auch mitgestalten und zunehmend kontrollieren. Im Jahr 2008 hatten die sogenannten »Arabischen Aufstände« noch nicht stattgefunden, die zweieinhalb Jahre später in Tunesien, Ägypten und Libyen die erratischen und repressiven Autokraten hinwegfegten, ehe in Syrien ein blutiger Bürgerkrieg ausbrach. Millionen von Menschen in vielen anderen Ländern der arabischen Welt artikulierten ihre Frustration und Unzufriedenheit auf unzähligen Protesten auf den Straßen oder in den sozialen Medien, forderten Gerechtigkeit und wirtschaftliche Perspektiven, das Ende von Korruption, Unterdrückung und Bevormundung durch die mächtigen Eliten aus Politik, Sicherheitsapparat und Wirtschaft, die sich in einer Spirale der Arroganz immer weiter von den Bedürfnissen und Sorgen ihrer Bevölkerungen entfernt hatten.
Auch die arabischen Golfmonarchien wurden vom Sturm der »Arabischen Aufstände« nicht verschont: In Bahrain protestierte eine Melange aus schiitischer Bevölkerungsmehrheit, unzufriedener Jugend und marginalisierten sozialen Minderheiten gegen die Herrscherfamilie der sunnitischen Al Khalifa. Im Oman verlangte eine wachsende Anzahl von Vernachlässigten nach mehr Arbeit, mehr Hoffnung und mehr Einheit von ihrem grundsätzlich bewunderten Sultan Qaboos. In Kuwait gelang es dem Parlament, in dem diverse politische und religiöse Fraktionen vertreten sind, die Regierung und die Dynastie der Al Sabah in ihren politischen Plänen zu blockieren. Dort hat – im Gegensatz zu allen anderen Parlamenten in den golfarabischen Nachbarstaaten – die Nationale Versammlung politischen Einfluss und liefert sich seit Jahrzehnten einen Machtkampf mit den dynastischen Herrschern. Während der »Arabischen Aufstände« entwickelte sich dieser Konkurrenzkampf zu einem Wettstreit um die Zukunft des Landes. Und selbst in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) gingen vereinzelt desillusionierte Menschen auf die Straße und forderten ein Ende von Patronagenetzwerken, Klüngelei und Elitentum.
Für die meisten Herrscher am Golf bedeutete diese Welle der Aufsässigkeit einen Schock und leitete einen Prozess ein, der bis heute andauert. Dieser Prozess ist geprägt von dem unbedingten Willen der Dynastien, ihre Herrschaft nicht zu verlieren, sondern stattdessen ihre Macht in einer Welt des Umbruchs zu zementieren und ihren Führungsanspruch zu legitimieren. Um dieses Ziel zu erreichen, gilt es nicht nur, der drohenden regionalen Instabilität entgegenzuwirken, um ein ähnliches Schicksal wie den Potentaten in Ägypten, Tunesien oder Libyen zu entgehen, sondern eine Alternative anzubieten, die mehr beinhaltet als die reine Bewahrung des Status quo. Seit 2011 befinden sich die Golfmonarchien in dieser Transitionsperiode, die sich auf vielfältiger Ebene niederschlägt: Katar und die VAE sind zu Vorbildern der wirtschaftlichen Diversifizierung, der kapitalistischen Globalisierung und zu attraktiven Investitionsstandorten aufgestiegen – ein Weg, dem auch Saudi-Arabien verstärkt nacheifert. Weiterhin öffnen sich die Gesellschaften der konservativen Golfmonarchien: Viele junge Menschen lösen sich aus den religiösen und traditionellen Dogmen ihrer Elterngeneration und streben nach einem Platz in der Welt. Kulturell besinnen sie sich zwar weiterhin auf ihre eigene Identität, lassen sich aber gleichzeitig von Einflüssen aus den USA und Europa, aber auch China, Japan oder Korea inspirieren. Politisch haben sich jedoch die Hoffnungen vieler Menschen aus dem Jahr 2011 nicht erfüllt: Weder hat die Golfmonarchien ein demokratischer Wandel ergriffen, noch sich die Situation der Menschenrechte verbessert.
Stattdessen hat eine neue Generation von Herrschern am Golf ihr Machtmonopol manifestiert und sitzt fest im Sattel: In Saudi-Arabien ist es der junge Kronprinz Muhammad bin Salman, in den VAE Muhammad bin Zayed und in Katar Emir Tamim bin Hamad Al Thani, um nur die prominentesten zu nennen. Während ihrer Ägide ist die Golfregion eine andere geworden. Sie beschreiben den Wandel als wichtigste Konstante ihrer Herrschaft, wollen aber die Wurzeln ihres politischen Überlebens bewahren, indem sie auf repressive Stabilität, wirtschaftlichen Fortschritt und gesellschaftliche Loyalität setzen. Diese Grundzüge der Machterhaltung existieren am Golf bereits seit Jahrhunderten und prägen die heterogenen Gesellschaften auch heute noch. Dennoch: Die Instrumente und die Adressaten dieser Teile- und-Herrsche-Politik haben sich verändert. Traditionelle Günstlinge wurden durch eine aufstrebende Jugend weitgehend abgelöst. Die fundamentalen Quellen des golfarabischen Wohlstands – Öl und Gas – sind weiterhin wichtig, wie die steigenden Energiepreise nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 zeigen. Dennoch setzen immer mehr Golfstaaten auf alternative Energiequellen wie Solar- oder Wasserkraft, um ihren Energiemix zu diversifizieren und das eigene Geschäftsmodell zu sichern. In der Außenpolitik folgen Phasen der Deeskalation auf Perioden der Konflikte und Rivalitäten. Und so wird der Song von Herbert Grönemeyer »Bleibt alles anders« zum Slogan des golfarabischen Ringens um die Zukunft.
Mich hat dieser Aushandlungsprozess, die Komplexität sowie die Widersprüchlichkeit der Golfstaaten seit meiner ersten Reise nach Saudi-Arabien gleichzeitig fasziniert und irritiert. Seit 2008 erhielt ich die Möglichkeit, immer wieder dorthin zu reisen, mit vielen unterschiedlichen Menschen zu sprechen, zu streiten und zu lachen. Ich habe versucht zuzuhören und zu lernen, doch noch immer kehre ich jedes Mal mit einer gehörigen Portion Demut und Verwirrung von meinen Reisen zurück. So brauche ich stets eine gewisse Zeit, um die neu gewonnenen Eindrücke zu verarbeiten, zu sortieren und zu analysieren. Diese Heterogenität der golfarabischen Gesellschaften wird in unserer oftmals schwarz-weißen Undifferenziertheit nicht wahrgenommen. Dabei ist sie es, die aus meiner persönlichen Sicht den Charakter der Golfstaaten und deren Relevanz ausmacht. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern am Golf sind ebenso frappierend wie innerhalb der jeweiligen Gesellschaften. Daher fällt es mir schwer, klare und eindeutige Einschätzungen zu geben, die oftmals von der Öffentlichkeit und der Politik erwartet werden.
Um Sie zu enttäuschen: Dies wird mir vermutlich auch nicht in diesem Buch gelingen. Was ich allerdings versuchen möchte, ist, Ihnen einen kleinen Einblick in diese Vielschichtigkeit, in diese Widersprüchlichkeit und Multidimensionalität zu vermitteln. Denn mit einfachen Botschaften der angeblichen Stringenz und Konsistenz innerhalb der Golfstaaten wird man weder deren Mehrschichtigkeit noch ihren komplexen Lebenswirklichkeiten gerecht. Stattdessen bedarf es eines nüchternen, differenzierten und nuancierten Blicks, um das Schwarz und Weiß in diesen Ländern, die uns oftmals so fremd erscheinen, abzuschichten und in Grautöne zu fassen. Sich dieser Aufgabe zu widmen, stellt eine Herausforderung dar. Sicherlich werden sich viele meiner Kolleg:innen aus dem Golf in einigen Passagen dieses Buchs missverstanden fühlen, während Sie als Leser:innen von wieder anderen Teilen irritiert sein könnten. In den letzten Monaten und Jahren wurde die Diskussion um unseren Umgang mit den Golfstaaten zunehmend emotional, vielfach einseitig und selten im Dialog geführt – dies zeigte zuletzt die erhitzte Debatte um die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar. Zu selten wurde miteinander, sondern vielmehr übereinander geredet. Dies hat Gräben vertieft und Missverständnisse anwachsen lassen – hier bei uns sowie ebenso in den Golfstaaten selbst.
Dieses Buch soll daher einen Versuch darstellen, bestehende Widersprüchlichkeiten einzuordnen. In den letzten 15 Jahren betrachte ich diese Aufgabe als Privileg und Chance, um für mehr Verständnis zu werben, mehr Wissen zu vermitteln und mehr Austausch zu wagen – trotz oder gerade wegen existierender Gegensätze in Bezug auf Menschenrechte oder der Gleichstellung der Geschlechter. Auf meinen Reisen habe ich erfahren, dass der stetige Austausch nicht zwingend dazu führen muss, in allen Themen einer Meinung zu sein. Allerdings ist es in Zeiten der globalen Polarisierung, des grassierenden Populismus und der Verbreitung einer anwachsenden Cancel Culture ein Geschenk, mit meinen Kolleg:innen aus den Golfstaaten leidenschaftlich zu diskutieren und zu debattieren. Für diese Chance bin ich dankbar, und einige dieser Ergebnisse finden Sie in diesem Buch. Es ist als Produkt aus diesen Reisen, aus meinen Gesprächen, meinen Beobachtungen und Eindrücken entstanden und beruht auf wissenschaftlichen Fakten sowie meiner analytischen Einschätzung.
Dass es überhaupt entstanden ist, verdanke ich unzähligen Kolleg:innen in Saudi-Arabien, den VAE, Katar, Kuwait, Oman und Bahrain, die mit mir vertrauensvoll ihre Eindrücke geteilt und meine Faszination für die Golfregion geweckt und verstärkt haben. Weiterhin danke ich meinem Lektor Alexander Behrendt für seine Geduld und dem Dietz-Verlag für sein Interesse an der Thematik. Außerdem haben mir meine Kolleg:innen beim Bonner Forschungsinstitut Center for Applied Research in Partnership with the Orient (CARPO) mit ihrem Rückhalt Kraft gegeben, damit das Buch entstehen konnte. Meine Kollegin Mirjam Schmidt unterstützte mich weiterhin bei wichtigen Recherchen. Dafür danke ich sehr. Und zuletzt danke ich meiner Frau und meiner Familie, die mich ermutigt haben, dieses Buch zu schreiben, und die seit meiner ersten Reise nach Saudi-Arabien mein wissenschaftliches Interesse für diese Region unterstützen. Ganz besonders meine Mutter hat mit ihrer Geduld, ihrer Fürsprache und ihrer Liebe gewichtig dazu beigetragen, dass ich nicht nur dieses Buch beenden, sondern auch auch meinen beruflichen Weg gehen konnte.
Es ist nicht mein Anspruch, alle Fragen zu Politik, Wirtschaft, Kultur oder Gesellschaft der Golfstaaten zu beantworten – ganz einfach: Weil ich nicht auf alle Fragen Antworten geben kann. Ich möchte allerdings mit diesem Buch versuchen, wichtige Fragen zu stellen und ein Problembewusstsein für diese Fragen zu schaffen. Einfache Urteile können schnell in Verurteilungen und Vorurteilen münden, welche einen unverstellten Blick auf die Komplexität der Golfstaaten erschweren. Dass der nahende Kollaps der Golfmonarchien, wie bereits häufig fälschlicherweise prognostiziert wurde,1 momentan ferner denn je erscheint, ist also keineswegs eine Selbstverständlichkeit, sondern ein Konglomerat von innen-, außen-, sicherheits-, wirtschafts- und kulturpolitischen Faktoren, die in ihrer Widersprüchlichkeit und ihrer Komplexität betrachtet werden müssen. Dafür zu sensibilisieren und aufzuzeigen, dass in den Golfstaaten kein »Entweder-oder«, sondern immer ein »Sowohl-als-auch« existiert, ist Ziel dieses Buches.
Berlin, August 2023
1 C. M. Davidson: After the Sheikhs. The Coming Collapse of the Gulf Monarchies, London: Hurst 2012.
Es war ein Bild mit Symbolcharakter: Soeben hatte die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar mit einem spektakulären Finalsieg Argentiniens über Frankreich im Elfmeterschießen ihren dramatischen Höhepunkt gefunden, als sich der Superstar der Argentinier, Lionel Messi, darauf vorbereitete, den Siegerpokal überreicht zu bekommen. An seiner Seite: Der katarische Emir Tamim bin Hamad Al Thani und der Präsident des Fußball-Weltverbands FIFA Gianni Infantino. Beide legten Messi das arabische Ehrengewand Bisht um, welches in der golfarabischen Kultur als Ausdruck des Respekts für besondere Errungenschaften überreicht wird und Messi als Kapitän Argentiniens stellvertretend für die Leistungen des Weltmeister-Teams erhielt.
Das ikonische Bild von Messi im schwarzen Gewand im Kreise seiner feiernden Mitspieler ging um die Welt und löste kontroverse Debatten aus: Während weite Teile der arabischen Gesellschaften die Geste des Emirs als respektvolle Huldigung an einen der größten Fußballer aller Zeiten feierten1, wurde sie u. a. in Deutschland als Katars letzter Versuch wahrgenommen, die WM für eigene politische Zwecke zu instrumentalisieren und den Moment des WM-Sieges zur Imagekampagne zu nutzen.2 »Bishtgate«3 manifestierte somit den finalen Höhepunkt der Kontroverse um die WM und die Rolle Katars als Gastgeber, die insbesondere in den Monaten vor Beginn des Turniers zunehmend von Unversöhnlichkeit und Unverständnis, von Hysterie und Hybris, von Ignoranz und Irritationen dominiert worden war. Immerhin war die WM in Katar als eines der umstrittensten Turniere in die Geschichte großer Sportereignisse eingegangen. Die Kritik an der Situation der in Katar ausgebeuteten Arbeitsmigrant:innen, der Benachteiligung von Frauen und Mitgliedern der LGBTQI-Community sowie der Gigantomie beim Bau der WM-Stadien hatte den Gastgeber in den Monaten vor Beginn des Turniers überrascht, schockiert und irritiert. Gleichzeitig stand die WM in Katar als Symbol für den korrumpierten und kommerzialisierten globalen Fußball, der sich längst von den Fans entfernt zu haben scheint und der von gierigen Technokraten und Funktionären wie Infantino ausschließlich als Gelddruckmaschine instrumentalisiert wird.4 Mit der WM in Katar wurde der Sport endgültig zum Politikum und führte zu einer häufig polemischen, undifferenzierten und eindimensionalen Debatte zwischen einer ablehnenden Haltung bei einem Teil der europäischen Fans, Politik und Medien auf der einen Seite und den Verteidiger:innen der WM auf der anderen Seite, die in den Vorwürfen eine islamophobe und überhebliche Diffamierungskampagne des respektlosen Westens sahen. Von Heuchelei, Doppelmoral und Eurozentrismus war die Rede.5 Katar fühlte sich im Zuge der massiven Kritik ungerecht behandelt, verraten und westlicher Arroganz ausgesetzt, was den katarischen Emir dazu bewegte, sich einige Tage vor Beginn des Turniers in fast schon trotziger Vehemenz den externen Attacken zu stellen und den Kritiker:innen Scheinheiligkeit und Pseudo-Moralisierung vorzuwerfen. Er beklagte eine »beispiellose Kampagne, die noch kein Gastgeberland jemals erlebt hat.«6 Umso wichtiger wurde die Siegerzeremonie für die katarische Führung, die das Momentum strategisch klug nutzte, um sich als professionelle und trotz der Anfeindungen erfolgreiche WM-Gastgeberin zu inszenieren.
Diese Episode steht allerdings auch stellvertretend für den Aufstieg Katars und der anderen Golfmonarchien zu internationalen Schwergewichten in den letzten Jahren.7 Die WM hat endgültig die globale und regionale Bedeutung der arabischen Golfmonarchien ins Zentrum der Weltöffentlichkeit gerückt. Der Sport dient dabei nur als ein relevantes Instrument dieses Bedeutungszuwachses: Im Wettkampf der Systeme zwischen dem nach wie vor von den USA angeführten sogenannten »Westen« und der neuen Supermacht China suchen die Golfmonarchien ihren Platz und etablieren sich als neue mächtige Strippenzieher in einer zunehmend multipolaren Weltordnung. Ziel der Monarchien auf der arabischen Halbinsel – Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Kuwait, Oman und Bahrain – ist das Überleben ihrer Herrscherdynastien – um jeden Preis.
Um ihre Macht zu sichern und sich in einer volatilen Welt zu behaupten, müssen die mächtigen Männer am Golf alte Gewissheiten über Bord werfen und sich und ihre Gesellschaften neu erfinden. In den vergangenen Jahrzehnten beruhte die Stabilität der Monarchien auf einer Kombination aus Wohlstand und Wohlfahrt: Durch die enormen Einnahmen aus der Öl- und Gasproduktion gelang es den Herrscherfamilien in den einzelnen Golfmonarchien, ihre omnipräsente Funktion als Vollkaskoversorger auszubauen und zu manifestieren, indem den einheimischen Bevölkerungen jahrelang umfangreiche Annehmlichkeiten wie kostenlose Gesundheitsversorgung oder Steuerfreiheit zur Verfügung gestellt wurden, um im Gegenzug die bedingungslose Loyalität der Untertanen einzufordern.8 Dieser Gesellschaftsvertrag galt über Jahrzehnte als Erfolgsrezept und Stabilitätsgarant der Golfmonarchien: Während die Dynastien mit einer komplexen »Teile und Herrsche«-Strategie einflussreiche Akteure wie mächtige Händlerfamilien (wie im Fall Kuwaits9), Stammesverbände oder die Religionsgelehrten (wie im Fall Saudi-Arabiens10) als enge Partner in den Kreis des Vertrauens einbanden, um damit ihre eigene Macht zu bewahren, blieben weite Teile der Bevölkerung von diesem elitären Kreis ausgeschlossen, genossen aber die paradiesischen Vorteile des allumfassenden Wohlfahrtsstaates. Dieser Balanceakt zwischen kompromissloser Machtbewahrung, Kooption von Günstlingen und Konzentration auf die Aufrechterhaltung des Status quo entwickelte sich zum Charakteristikum der golfarabischen Monarchien und sorgte lange Zeit für eine gewisse wirtschaftliche und politische Stabilität. Im Zuge dieses komplexen Machtsystems werden die Herrscher am Golf auch als »aufgeklärte Modernisierungsmanager«11 bezeichnet, die trotz ihres autokratischen Regierungsstils über die Loyalität weiter Teile ihrer Bevölkerungen verfügen.
Allerdings erfolgte dieser Aufstieg der Golfstaaten nicht spannungsfrei und war geprägt von unzähligen Krisen, Konflikten und Konkurrenzdenken: Vor allem die sogenannten »Arabische Aufstände«, die mit dem Sturz der autokratischen Regimes in Ägypten und Tunesien 2011 begannen, sorgten bei vielen Golfmonarchien für einen Schock und zeitgleich für eine neue Ära des »golfarabischen Momentums« (»Gulf moment«12), welches sich durch verstärktes politisches, entwicklungspolitisches und wirtschaftliches Engagement der Golfmonarchien Saudi-Arabien, VAE und vor allem Katar auszeichnete.13 Die Schwäche traditioneller Regionalmächte wie Ägypten, Irak und Syrien14, die in inneren Konflikten und Bürgerkriegen versanken, verhalf den Golfmonarchien zu einem deutlichen Einflussgewinn, und es gelang ihnen, das entstandene Machtvakuum in der Region zu füllen.15
Somit begriffen die Golfmonarchien nach einer Phase der Angst die Umwälzungen in der arabischen Welt zunehmend als Chance: Insbesondere Saudi-Arabien16, die VAE17 und Katar haben sich seitdem als dominierende Regionalmächte etabliert, denen es gelungen ist, globale und regionale Netzwerke aufzubauen, mithilfe ihres wirtschaftlichen Wohlstands Einfluss zu nehmen und die politischen Geschicke der Region zu bestimmen; längst sind die Golfmonarchien unersetzlich geworden. Wie Spinnen in einem globalen Netz bewegen sie Finanzströme, agieren als potente Investoren in Asien, Afrika, den USA und Europa und haben sich als ressourcenstarke Wirtschaftskräfte im Tourismus, der Logistik, der Unterhaltung oder dem Sport etabliert. Auch Deutschland wird von den schwerreichen Golfinvestoren längst als lukrativer Markt betrachtet, was u. a. das umstrittene Sponsorship von Qatar Airways beim Fußball-Rekordmeister und sportlichen Schwergewicht Bayern München zeigte, welches im Juni 2023 nach fünfjähriger Vertragslaufzeit und kontroversen Debatten zwischen Fans und Verein beendet wurde.18 Mithilfe der Öl- und Gaseinnahmen, durch die Rekrutierung von Millionen von günstigen Arbeitskräften aus dem Ausland und der engen Zusammenarbeit mit internationalen Partnern sind die arabischen Golfmonarchien in die Elite der global players aufgestiegen. Heute gehören die golfarabischen Gesellschaften zu heterogenen multiethnischen und -konfessionellen Schmelztiegeln der hypermobilen globalisierten Arbeitswelt.19
Hinter diesem Streben nach globalem Einfluss verbirgt sich ein Plan, eine Strategie und eine kompromisslose Machtpolitik: Eine neue Generation von Herrschern löst sich aus dem Schatten ihrer Vorgänger, die eher darauf bedacht waren, den Status quo zu bewahren, Traditionen zu schützen und Zurückhaltung auf internationaler Bühne zu üben. Diese Zeiten sind vorbei: Die WM hat eindrucksvoll bewiesen, dass es den Golfstaaten mehr denn je darum geht, sichtbar und ernstgenommen zu werden. Und dass sie sich nichts mehr von dem Westen sagen lassen wollen, sondern mehr und mehr ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen – in der Wirtschaft, der Politik oder im Sport.
Dahinter steckt auch das ehrgeizige Ego der Herrscher:20 Als Gastgeber der WM hat sich insbesondere der katarische Emir als Superstar am Golf etabliert. Tamims Erfolg wird jedoch von den mächtigen Männern in Saudi-Arabien und den VAE mit Skepsis betrachtet. Insbesondere der ambitionierte und ehrgeizige junge saudische Kronprinz Muhammad bin Salman, der nur MbS genannt wird, will sein Land in eine neue Ära führen. Und dafür scheut er weder Kosten noch Risiken: Im Eiltempo katapultierte er das einstig als rückwärtsgewandte und erzkonservativ wahrgenommene Königreich in ein neues Zeitalter. Er lässt künstliche Städte wie NEOM am Roten Meer aus dem Boden stampfen, investiert mit dem von ihm geführten Staatsfonds in Unternehmen auf der ganzen Welt und kauft sich mit Newcastle United seinen eigenen Fußballclub.21 Internationale Sportstars wie Cristiano Ronaldo oder Karim Benzema werden mit astronomischen Gehältern in die saudische Fußballliga gelockt, um dem ganzen Land Glanz und Glamour zu verleihen.22 2029 finden die ersten asiatischen Winterspiele in der saudischen Provinz Tabuk statt23 – obwohl die wenigen Schneefälle keinen Wintersport möglich machen.24 Doch der Kronprinz möchte Grenzen austesten und setzt auf künstlichen Schnee in der Wüste. Mit solchen Vorhaben sorgt er für Euphorie bei seinen Landsleuten, aber auch für Kopfschütteln und Irritationen bei Umweltorganisationen, die solche Pläne für abstrus, abenteuerlich und astronomisch, umweltschädlich und damit »gefährlich«25 halten. Dennoch: Saudi-Arabien geht einen Weg der wirtschaftlichen Diversifizierung und der gesellschaftlichen Liberalisierung. Frauen dürfen Autofahren und werden vom Kronprinzen als wichtigste Treiber seiner Rundum-Transformation gefördert und gefordert. Mit seinem Credo von »Höher, schneller, weiter« befreit sich Saudi-Arabien zunehmend von dem althergebrachten Image, ein Land der greisen Könige, der bornierten Geistlichen und der geknechteten Frauen zu sein, sondern strebt danach, den regionalen Vorbildern Dubai oder Katar nachzueifern, die einen ähnlichen Weg der wirtschaftlichen Diversifizierung bereits vor Jahren eingeschlagen haben.
Neben Tamim und MbS hat sich in den letzten Jahren mit Muhammad bin Zayed ein weiterer einflussreicher Strippenzieher etabliert. Auch wenn er möglicherweise weniger im Rampenlicht steht als seine omnipräsenten Nachbarn – unter ihm sind die VAE zu einem Schwergewicht der internationalen Politik und eine Ordnungsmacht geworden.26 Unter ihm haben sich die VAE von einem Ort des Handels und der Finanzwirtschaft zu einem Regionalakteur entwickelt, der sich in den letzten Jahren hochgerüstet hat und in Libyen oder Jemen als militärische Macht reüssiert hat. Die VAE betrachten sich längst nicht mehr nur als »kleine Schweiz«27, sondern auch als »kleines Sparta«.28
Mehr als jemals zuvor in der Geschichte der Golfstaaten müssen sich die Gesellschaften und ihre Herrscher also neu erfinden, um den Herausforderungen in einer sich rapide wandelnden Welt zu stellen und ihre Existenz zu bewahren. Neben den Risiken einer brüchigen Weltordnung und einer durch Krisen und Konflikte geprägten direkten Nachbarschaft besteht allerdings die explosivste Herausforderung in der gesellschaftlichen Transformation: In allen Golfmonarchien tobt ein Ringen um die Zukunft. Junge Menschen und vor allem Frauen drängen nach Teilhabe und nach einer aktiveren Rolle in den patriarchalischen Gesellschaften, brechen aus den traditionellen Normen aus und fordern damit den bisherigen Gesellschaftsvertrag heraus. Ihnen geht es darum, sich aktiv in der Wirtschaft, der Politik, der Kultur oder der Kunst zu beteiligen und stellen damit herkömmliche Hierarchien in Frage. In allen Golfmonarchien liegt der Anteil der Unter-25-Jährigen bei etwa 50%; in Saudi-Arabien ist ein Viertel der Bevölkerung jünger als 14 Jahre, im Oman sind es gar 27%.29
Darauf müssen die Herrscher reagieren. Immerhin gerät das einstige Rentenmodell an seine Grenzen. Phasen des niedrigen Ölpreises, weiterhin wachsende Bevölkerungen und der hohe Anteil der jungen Bevölkerung setzen die Regierungen unter Druck, nachhaltige Lösungen auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssystem oder in der Privatwirtschaft anzubieten. Perioden der regionalen und globalen Krisen wie die Finanzkrise 2008/2009, die »Arabischen Aufstände«, die Phase der niedrigen Ölpreise seit 2014 oder der Ausbruch der Corona-Pandemie haben den golfarabischen Herrschern endgültig vor Augen geführt, dass ihr Wohlstand weder als selbstverständlich betrachtet werden sollte noch ein Bewahren des Status quo langfristig ihre Macht bewahren kann. Der »doppelte Schock«30 der Pandemie, der sich aufgrund der globalen Rezession und des niedrigen Ölpreises auch massiv auf die ölproduzierenden Golfstaaten auswirkte, verlangsamte die wirtschaftliche Entwicklung und sorgte für Unruhe innerhalb der golfarabischen Gesellschaften. Viele junge Menschen sorgen sich um ihre Zukunft, da sie keine familienfreundliche und gut dotierte Beschäftigung im öffentlichen Dienst mehr finden. Es droht die Arbeitslosigkeit, was einhergeht mit sozialer Unzufriedenheit, Konflikten mit den enttäuschten Eltern und geringeren Chancen, sich eine Ehe leisten zu können. Denn in vielen Familien spielt die Frage des sozialen Status, der sich über einen angesehenen Job in Regierungsinstitutionen oder den einflussreichen Staatsunternehmen definiert, noch immer eine entscheidende Rolle. Die Erwartungen an die Jugendlichen sind also hoch. Gleichzeitig haben sich die Rahmenbedingungen verschlechtert: In Saudi-Arabien betrug die Jugendarbeitslosigkeit 2022 trotz aller Bemühungen und zwischenzeitlicher Erfolge noch immer 23,8%31, in Kuwait mehr als 15%32 und selbst in den VAE, das als Vorreiter der wirtschaftlichen Diversifizierung gilt, ist jeder Zehnte zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos.33 Dies führt zu massivem mentalem Druck, dem viele junge Menschen nicht gewachsen sind: Die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt ebenso wie die Scheidungsrate oder der Anteil der Singlehaushalte. Viele junge Menschen – vor allem Frauen – wollen sich nicht frühzeitig binden, sondern streben nach Karriere – ein Ausdruck von wachsender Selbstbestimmung und beruflicher Perspektive. Dennoch stellt die Realität auf den umkämpften Arbeitsmärkten die Jugend vor massive Herausforderungen: Viele junge Universitätsabsolvent:innen verdienen in ihren ersten Berufsjahren zu wenig, um sich die steigenden Lebenshaltungskosten in den Städten leisten zu können. Da die meisten von ihnen ihre Elternhäuser verlassen, um in den großen Städten wie Riad oder Maskat ihr Glück zu suchen, brechen traditionelle Familienbindungen auf und sorgen für ein Gefühl der Verlorenheit, der Identitätssuche und der Überforderung, aber gleichzeitig auch der Freiheit, der Flexibilität und der Mobilität. Sogar Beschäftigungen in Regierungsinstitutionen, die früher als angenehme Arbeitsplätze galten, da sie gut bezahlt waren und familienfreundliche Arbeitszeiten boten, werden heute von steigendem Leistungsdruck dominiert. Um die Karriereleiter erklimmen zu können, arbeiten junge Regierungsbeamte – insbesondere Frauen – härter als jemals zuvor, müssen für ihre Vorgesetzten auch spätabends oder an den Wochenenden erreichbar sein, um die Anforderungen erfüllen zu können. In Ländern wie Kuwait, Oman und Saudi-Arabien führt der Zwang zur wirtschaftlichen Diversifizierung zu erhöhtem Leistungsdruck, der mehr denn je die soziale Resilienz und die Belastungsfähigkeit des Einzelnen herausfordert.
Dahinter steckt ein fast schon obsessiver Zwang der Herrschenden, ihre Volkswirtschaften endgültig an das Modell des Turbo-Kapitalismus anzupassen. In allen Golfmonarchien dienen sogenannte »Entwicklungsvisionen« als Blaupausen für den Umbau der Wirtschaft, definieren ambitionierte Zielindikatoren in allen Wirtschaftsbranchen, forcieren die Nationalisierung der Arbeitsmärkte und führen effiziente Leistungskontrollen ein. Die Herrscher betrachten sich als CEO’s ihrer Gesellschaften und ihre Länder als zu modernisierende Unternehmen. Geprägt durch den Stillstand und die Friedhofsruhe zu Zeiten ihrer Vorgänger will die aktuelle Generation der Herrscher vieles anders machen und betrachtet daher den stetigen Wandel als einzige Konstante. Dies führt einerseits zu erheblichem Veränderungsdruck und einer rapiden Umgestaltung der Gesellschaftsstrukturen, schlägt sich andererseits aber auch in einer dynamischen Transformation nieder, den viele junge Menschen – gerade Frauen – trotz aller Herausforderungen als Chance begreifen. In Ländern wie Saudi-Arabien, den VAE oder Oman sind die Frauen die größten Profiteurinnen dieser komplexen Transformation. In fast allen Golfstaaten stellen sie die meisten Universitätsabsolventinnen. Auch auf dem Arbeitsmarkt übernehmen sie immer mehr Verantwortung, erringen als Sportlerinnen und Wissenschaftlerinnen internationale Erfolge, gründen ihre eigenen Start-Ups und prägen die virale Kunst- und Kulturszene. Sie präsentieren sich als selbstbewusste, karrierebewusste und leistungsorientierte Vertreterinnen einer neuen Elite, die sich aus den verkrusteten und erstarrten Vorstellungen der älteren Generationen lösen wollen. Doch dieser Weg birgt Risiken und ist steinig. Immerhin bestehen in allen Golfmonarchien traditionelle Familien- und Geschlechterrollen fort, die von patriarchalischen Strukturen geprägt sind, und Frauen nach wie vor gesellschaftlich und rechtlich benachteiligen. Insbesondere beim Übergang vom Studium zum Arbeitsmarkt herrscht noch immer eine gewisse Diskrepanz: In Saudi-Arabien arbeitet nur jede dritte Frau, wenngleich der Anteil in den letzten Jahren im Zuge der Arbeitsmarktreformen rapide gestiegen ist, lag er doch 2017 bei nur 20,1%.34
Somit muss der Zwang nach Veränderung nicht nur als ein von oben gesteuertes Regierungsprojekt betrachtet werden, sondern fordert fundamentale Elemente der nationalen, individuellen und kollektiven Identität heraus. Es handelt sich um einen komplizierten und komplexen Aushandlungsprozess, der von Generationenkonflikten und Geschlechterkämpfen charakterisiert wird und tradierte Realitäten zum Einsturz bringt. In diesem Kaleidoskop aus Fort- und Rückschritt, aus Aufbruch und Beharrungskräften, aus Optimismus und Stagnation übernehmen die Herrschenden die Rolle der Dirigenten: Sie bestimmen das Konzert des Wandels, legen das Tempo, die Inhalte und die Profiteur:innen der Transformation fest und sind damit zentrale Drahtzieher in der Neu- und Umgestaltung des Gesellschaftsvertrags. Ganz nach dem Motto »Der Staat bin ich« haben Muhammad bin Salman in Riad oder Muhammad bin Zayed in Abu Dhabi ihre Macht schrittweise zentralisiert und monopolisiert und betrachten sich als Fixsterne des nationalen Kosmos: Ohne sie geht nichts. Ohne sie wird nichts entschieden.
Daher findet die gegenwärtige Transformation der Golfstaaten auf verschiedenen Ebenen statt: Während sich durchaus eine unumkehrbare und reale gesellschaftliche Liberalisierung und eine ernstgemeinte wirtschaftliche Diversifizierung konstatieren lässt, hat gleichzeitig die politische Repression zugenommen. In allen Golfstaaten existieren Merkmale eines Polizei- und Überwachungsstaats, die während der Pandemie unter dem Vorwand des Gesundheitsschutzes noch zugenommen haben. Die Renaissance der Autokratien findet nicht nur in Osteuropa, der Türkei, China oder Russland statt, sondern auch am Golf: Zwar waren die Golfstaaten immer Monarchien, sollten jedoch nicht als absolut bezeichnet werden.35 Alle Herrscher mussten sich in unterschiedlichem Umfang mit einflussreichen Partnern arrangieren, Machtstrukturen aushandeln und ausbalancieren und sich teilweise dem Druck von externen Eliten beugen; so begriffen sich beispielsweise saudische Könige lange Zeit als Primus inter Pares.36 Doch die neue Generation agiert kompromissloser und machtbewusster, indem sie mit vehementer Konsequenz ihre Vorstellungen einer prosperierenden Gesellschaft durchsetzt – koste es, was es wolle. Nach dem Credo »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich« etablieren sie einen exklusivistischen Nationalismus37 und propagieren eine strikt definierte Identitätspolitik, in der Andersdenkende ausgegrenzt werden. Unter Muhammad bin Salman ist die Zahl der Hinrichtungen im Jahr 2022 auf ein Rekordhoch seit drei Jahrzehnten gestiegen38, während in den VAE Menschenrechtsaktivist:innen in Haft sitzen.39 In Bahrain wird die schiitische Bevölkerungsmehrheit noch immer benachteiligt. Und obwohl es in Katar keine politischen Gefangenen gibt, basiert das Gesellschaftssystem auf einer strikten sozialen Hierarchie, in der vor allem Niedriglohnarbeiter:innen aus Südasien oder Afrika schikaniert werden.40 Diese strukturelle Gewalt gegen Arbeitsmigrant:innen hat sich durch die internationale Kritik im Vorfeld und während der WM zwar reduziert, indem rechtliche Verbesserungen eingeführt worden41, doch das System der Ausbeutung besteht fort. In allen Golfstaaten leiden die Millionen Arbeitsmigrant:innen noch immer unter systemischer Benachteiligung. Soziale Stigmatisierung sowie rechtliche und politische Benachteiligungen von ethnischen und religiösen Minderheiten gehören nach wie vor zum Alltag in allen Golfmonarchien, was sich darin zeigt, dass kritischen Individuen oder Stammesmitgliedern die Staatsangehörigkeit entzogen wird oder bestimmten Bevölkerungsgruppen wie den »Staatenlosen« (bidun) z. B. in Kuwait zivilrechtliche Privilegien trotz einiger Verbesserungen vorenthalten werden.42 Die Marginalisierung der »Anderen«43 gehört seit vielen Jahrzehnten zum Herrschaftsmodell der golfarabischen Eliten, um ein Narrativ von Abgrenzung und Zugehörigkeit zu kreieren, welches ihre Ausnahmestellung als alleinige Machtmonopolisten zementiert und bei einigen ein Klima der Angst schafft. Gleichzeitig werden Feindbilder konstruiert, um einen nationalistischen Populismus bei denen auszulösen, die sich zugehörig fühlen und nicht als Außenseiter und Netzbeschmutzer wahrgenommen werden. Daraus folgt, dass viele Missstände und Probleme weder offen diskutiert noch kritisch reflektiert werden können, sondern stattdessen eine Atmosphäre der Selbstzensur oder der offenen Repression entstanden ist, in der Entscheidungen der Herrschenden nicht infrage gestellt werden dürfen, um das nationale Projekt des Fortschritts nicht zu gefährden. Stattdessen definiert die herrschende Elite, welche sozialen Brennpunkte kritisiert werden. In Saudi-Arabien ist es daher durchaus legitim, die weiterhin existierende Benachteiligung von Frauen oder die mangelhafte Effizienz in den Regierungsinstitutionen anzuklagen, während direkte Kritik am Kronprinzen oder seinen ambitionierten Investitionen in den Unterhaltungs- und Tourismussektor sanktioniert werden. In den VAE proklamiert der Staat zwar die religiöse Toleranz und den interkonfessionellen Dialog, indem eine offizielle Begegnungsstätte der drei monotheistischen Weltreligionen Islam, Christentum und Judentum errichtet wurde.44 Offene Kritik an der umstrittenen Normalisierung mit Israel ist allerdings nur vereinzelt zu hören, wird aber lauter.45 Und in Bahrain haben die Proteste während der »Arabischen Aufstände« dazu geführt, dass zivilgesellschaftliche Initiativen und regierungskritische Stimmen aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend verschwunden sind. Alle Golfstaaten werden im Freedom Index als unfrei definiert46 und die Menschenrechtssituation gestaltet sich als problematisch.
Es sind diese Widersprüchlichkeiten, die den politischen Umgang des Westens mit den Golfmonarchien so kompliziert gestalten. Auf der einen Seite hat sich der Grad der Repression deutlich erhöht, einige Golfstaaten sind in militärischen Konflikten wie im Jemen oder Libyen involviert, während sie gleichzeitig in Zeiten des Angriffskriegs auf die Ukraine eine klare Verurteilung des russischen Aggressors vermeiden und eng mit China – dem systemischen Rivalen des Westens, wie es u. a. die deutsche Bundesregierung formuliert47 – zusammenarbeiten. Auf der anderen Seite sind die Golfmonarchien zu wichtig und einflussreich geworden, als dass sie noch ignoriert oder isoliert werden könnten. Wirtschaftlich bieten die Golfmonarchien attraktive Potenziale für intensivierte Zusammenarbeit, wie die Energiepartnerschaften Deutschlands mit Saudi-Arabien, den VAE und Katar unter Beweis stellen. Die durch den Ukraine-Krieg ausgelöste Energiekrise führt auch zu einer »Zeitenwende«48 im Umgang mit den Golfmonarchien: Während sie lange Jahre als »Schmuddelkinder« mit Distanz und Skepsis betrachtet worden, führt der Druck der Energiediversifizierung zu einem neuen Pragmatismus auf Seiten der deutschen Bundespolitik: Der Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz im September 202249 oder Außenministerin Annalena Baerbock im Mai 2023 in Saudi-Arabien50, die Verhandlungen mit der katarischen Regierung über Gaslieferungen und das gewachsene Interesse, mit den Golfstaaten in der Wasserstoffproduktion enger zusammenzuarbeiten, zeigen, dass auch hierzulande die gewachsene Relevanz der Golfmonarchien politisch akzeptiert wird – wenn auch teilweise zähneknirschend, sieht man doch in ihnen problematische Partner, die den deutschen Vorstellungen einer werteorientierten Außenpolitik widersprechen. Doch trotz dieser sich verändernden Wahrnehmung existiert keine kohärente Strategie im Umgang mit den problematischen Partnern am Golf. In Zeiten der multipolaren Weltordnung muss allerdings eine solche Debatte geführt werden, um das politische Dilemma aufzulösen, wie eine werteorientierte und gleichzeitig interessensbasierte Außenpolitik gegenüber autokratischen Systemen aussehen, auf welchen Prämissen sie basieren und welche roten Linien sie definieren sollte. Eine solche Strategie existiert gegenüber den Golfstaaten bislang nicht, was eine systemische Leerstelle schafft und Deutschland in eine nachteilige Position bringt, die Transformation in den Golfstaaten konstruktiv und kooperativ aber auch kritisch und kontrovers zu begleiten.51
Vor diesem Hintergrund soll dargelegt werden, dass wir eine Strategie im Umgang mit den Golfstaaten brauchen, die Interessen formuliert, Instrumente der Zusammenarbeit definiert und Grenzen dekliniert. Die Kooperation mit problematischen Partnern ist daher keine Frage des politischen Willens, sondern der realpolitischen Notwendigkeit. Dafür braucht Deutschland eine konkrete Haltung und einen klaren Kompass, um Menschenrechte zu achten und gleichzeitig ziel- und zweckorientiert mit den Golfmonarchien zu kooperieren. Dieser Balanceakt wird eine Herausforderung bleiben, der sich die deutsche Politik jedoch stellen muss.
1 https://www.aljazeera.com/opinions/2022/12/20/how-lionel-messis-bisht-exposed-the-western-medias-racism-again.
2 https://edition.cnn.com/2022/12/19/football/lionel-messi-bisht-world-cupt-rophy-lift-spt-intl/index.html.
3 https://newlinesmag.com/argument/messis-crowning-moment-became-cultural-lightning-rod/.
4 https://www.zeit.de/sport/2022-11/wm-katar-profifussball-kommerzialisierung-boykott.
5 https://www.deutschlandfunk.de/heuchelei-doppelmoral-katar-fussball-wm-100.html.
6 https://www.sueddeutsche.de/sport/fussball-kritik-an-katar-emir-sieht-beispiellose-kampagne-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-221025-99-255746.
7 K. Coates-Ulrichsen: The Gulf States and the Rebalancing of Regional and Global Power, James A. Baker III Institute for Public Policy, 8. Januar 2014, https://www.bakerinstitute.org/sites/default/files/2014-01/import/CME-Pub-GulfStates-010813.pdf.
8 D. B. Roberts: Security Politics in the Gulf Monarchies. Continuity amid Change, New York: Columbia University Press 2023.
9 M. Herb: The Origins of Kuwait’s National Assembly, LSE Kuwait Programme Paper Series 39, März 2016, https://eprints.lse.ac.uk/65693/1/39_MichaelHerb.pdf.
10 D. Commins: The Gulf States. A Modern History, London und New York: I.B. Tauris 2012; G. Steinberg: The Wahhabi Ulama and the Saudi State: 1745 to the Present, in: P. Aarts, G. Nonneman (Hrsg.): Saudi Arabia in the Balance. Political Economy, Society, Foreign Affairs, London: NYU Press 2006, S. 11–34.
11 C. Derichs und T. Demmelhuber: Monarchies and Republics, State and Regime, Durability and Fragility in View of the Arab Spring, in: Journal of Arabian Studies 4 (2014): S. 180–94, S. 184.
12 A. Abdulla: »The Arab Gulf Moment«, in: D. Held und K. Coates Ulrichsen (Hrsg.): The Transformation of the Gulf. Politics, Economics and the Global Order, London. Routledge 2011: S. 106–124.
13 A. L. Jacobs: Regional and Global Power Competition Deepens Fault Lines Across the Southern Mediterranean, Arab Gulf Institute in Washington, 21. Oktober 2020, https://agsiw.org/regional-and-global-power-competition-deepens-fault-lines-across-the-southern-mediterranean/; C. Barnett: GCC-Maghreb Relations in a Changing Regional Order, Center for Strategic and International Studies, 14. August 2013, https://www.csis.org/analysis/gcc-maghreb-relations-changing-regional-order.
14 R. Hermann: Die Achse des Scheiterns. Wie sich die arabischen Staaten zugrunde richten, Stuttgart: Klett-Cotta 2021; M. Lynch: The Arab Uprising. The Unfinished Revolutions of the New Middle East, New York: Public Affairs 2013.
15 V. Gervais: The Changing Security Dynamic in the Middle East and its Impact on Smaller Gulf Cooperation Council States: Alliance Choices and Policies, in: K. S. Almezaini und J.-M. Rickli (Hrsg.): The Small Gulf States. Foreign and security policies before and after the Arab Spring, London und New York: Routledge 2017, S. 31–46.
16 G. Steinberg: Anführer der Gegenrevolution. Saudi-Arabien und der arabische Frühling, SWP-Studie 2014, https://www.swp-berlin.org/publications/products/studien/2014_S08_sbg.pdf.
17 K. Coates Ulrichsen: The United Arab Emirates. Power, Politics, and Policymaking, London und New York: Routledge 2017; K. Coates Ulrichsen: Qatar and the Arab Spring, New York: Oxford University Press 2014.
18 https://www.spiegel.de/sport/fussball/fc-bayern-und-qatar-airways-beenden-umstrittenen-sponsorendeal-a-e7df1b4e-b3d8-45b8-91d8-bb45122b95d1.
19 F. Heard-Bay, The United Arab Emirates: Statehood and Nation-Building in a Traditional Society, in: Middle East Journal 59(2005)3, S. 360.
20 M. Herb: All in the Family. Absolutism, Revolution, and Democracy in the Middle Eastern Monarchies, New York: Suny Press 1999.
21 https://www.deutschlandfunk.de/jahrestag-newcastle-uebernahme-100.html.
22 https://www.deutschlandfunk.de/saudi-arabien-liv-golf-sport-100.html.
23 https://www.arabnews.com/node/2174656/sport.
24 https://www.zawya.com/en/life/leisure-and-travel/saudi-arabia-makes-artificial-snow-in-trojena-a51qr10w.
25 https://www.france24.com/en/live-news/20221005-greenpeace-blasts-dangerous-saudi-site-for-asian-winter-games.
26 D. Esfandiary: New Order in the Gulf. The Rise of the UAE, London: I.B. Tauris 2022.
27 https://www.thenationalnews.com/opinion/comment/2023/03/21/the-uae-is-more-than-just-the-switzerland-of-the-middle-east/.
28 Joost Hiltermann: Is ‘Little Sparta’ Stepping Back? How the UAE Is Recalibrating in the Gulf, International Crisis Group, 3. Dezember 2021, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabian-peninsula/united-arab-emirates-saudi-arabia-qatar-oman-0.
29 https://www.unfpa.org/data/world-population-dashboard.
30 https://www.worldbank.org/en/region/mena/brief/coping-with-a-dual-shock-coronavirus-covid-19-and-oil-prices.
31 https://data.worldbank.org/indicator/SL.UEM.1524.ZS?locations=SA.
32 https://data.worldbank.org/indicator/SL.UEM.1524.ZS?locations=KW.
33 https://data.worldbank.org/indicator/SL.UEM.1524.ZS?locations=AE.
34 https://data.worldbank.org/indicator/SL.TLF.CACT.FE.NE.ZS?locations=SA.
35 S. Foley: The Arab Gulf States. Beyond Oil and Islam, Boulder: Lynne Rienner Publishers 2010, S. 85f.
36 G. Steinberg: Saudi-Arabien: Sicherheit für Öl, in: J. Braml, Josef, W. Merkel und E. Sandschneider (Hrsg.): Außenpolitik mit Autokratien, Berlin: Verlag DeGruyter Oldenbourg 2014, S. 136–144.
37 N. Partrick: Nationalism in the Gulf States, in: D. Held und K. Coates Ulrichsen (Hrsg.): The Transformation of the Gulf: Politics, Economics, and the Global Order, London: Routledge 2012.
38 https://www.amnesty.org/en/latest/news/2023/06/saudi-arabia-imminent-execution-of-youths-would-violate-kingdoms-promise-to-abolish-death-penalty-for-juveniles/.
39 https://www.reuters.com/world/middle-east/un-document-uae-keeping-rights-activists-jail-past-end-sentences-2023-06-02/.
40 S. Sons: Menschenrechte sind nicht käuflich. Warum die WM in Katar auch bei uns zu einer neuen Politik führen muss, Hamburg: Atrium 2022.
41 https://www.hrw.org/news/2021/08/02/migrant-workers-and-qatar-world-cup.
42 Bertelsmann-Stiftung: BTI 2020 Country Report: Kuwait, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2020_KWT.pdf.
43 T. Matthiesen: The Other Saudis. Shiism, Dissent and Sectarianism, London: Cambridge University Press 2014.
44 https://www.abrahamicfamilyhouse.ae.
45 https://www.haaretz.com/israel-news/2023-05-22/ty-article/.premium/neta-nyahu-govt-hampering-arab-normalization-efforts-emirati-analyst-says/00000188-4408-dc2a-a798-f59b9cb50000.
46 https://freedomhouse.org/countries/freedom-world/scores.
47 https://www.bmbf.de/bmbf/de/europa-und-die-welt/vernetzung-weltweit/asiatisch-pazifischer-raum/china/china.html.
48 https://www.bundesregierung.de/resource/blob/992814/2131062/78d39dda6647d7f835bbe76713d30c31/bundeskanzler-olaf-scholz-reden-zur-zeitenwendedownload-bpa-data.pdf.
49 https://www.sueddeutsche.de/politik/staatsbesuch-saudi-arabienscholz-1.5663189.
50 https://www.tagesspiegel.de/internationales/menschenrechte-jemenkrieg-erneuerbare-energien-baerbock-besucht-saudi-arabien-und-katar-9823580.html.
51 S. Sons: Menschenrechte sind nicht käuflich. Warum die WM in Katar auch bei uns zu einer neuen Politik führen muss, Hamburg: Atrium 2022.
Kapitel 1
Abdulaziz Ibn Saud, in der saudischen Historiographie als Gründer des modernen Saudi-Arabiens verewigt, König zwischen 1932 und 1954 und einer der schillerndsten und spannendsten Personen der golfarabischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, war ein Meister des strategischen Machtspiels. 1902 gelang es ihm, nach dem Untergang der ersten beiden saudischen Reiche im 18. und 19. Jahrhundert, aus dem kuwaitischen Exil nach Zentralarabien zurückzukehren und die alte Hauptstadt Riad im Nadschd von der rivalisierenden Rashid-Familie zurückzuerobern.1 Um seine eigene Position zu stärken und die dominierenden Imperien seiner Zeit nicht zu provozieren, unterzeichnete er Verträge mit den damaligen Großmächten Großbritannien sowie dem Osmanischen Reich.2 1927 gestand er den Briten die Kontrolle der östlichen Küstenregionen auf der arabischen Halbinsel zu, um im Gegenzug die Unabhängigkeit seines saudischen Königreichs zu garantieren, sodass Saudi-Arabien nie unter formeller britischer Kontrolle stand.3 Als Resultat erlangte er die Kontrolle über al-Hasa sowie den Hidschaz mit den beiden Heiligen Stätten Mekka und Medina sowie der Hafenstadt Dschidda, was seinen Aufstieg zum mächtigsten Mann der arabischen Halbinsel beschleunigte. 1925 ließ er sich zum König des Hidschaz ausrufen.4 Vier Jahre später schaltete er in der Schlacht von Sibila mithilfe der Briten die Beduinentruppe der Ikhwan (»die Brüder«) aus, die sich unter seiner Kontrolle zu einer mächtigen militärischen Kraft während der saudischen Eroberungszüge entwickelt, allerdings aufgrund ihrer ideologischen Indoktrination und wiederholter Übergriffe auf von Großbritannien kontrollierte Regionen in Transjordanien und Irak das Vertrauen Ibn Sauds verloren hatten.5 Überfälle auf muslimische Pilger sowie die zeitweise Besetzung und Plünderung von Taif und Mekka führten zu einem Bruch zwischen den Ikhwan und ihrem einstigen Protegé Ibn Saud.6 Sie hatten wiederum Ibn Saud für seine engen Beziehungen zu den »ungläubigen« Briten, seine vielen Ehen sowie die Besteuerung der lokalen Bevölkerung kritisiert. 1926 bestanden sie aus 150.000 Mann.7 Mit dem Sieg über die Ikhwan war es Ibn Saud gelungen, sich als unumstrittener Anführer der saudischen Stämme zu etablieren, was mit einer klugen Heiratspolitik manifestiert wurde8: Insgesamt soll er 50 Mal verheiratet gewesen sein und hatte 45 Söhne.9 Gleichzeitig zementierte er die Zentralisierung des Staats und schwächte damit den Einfluss der Stämme. Seiner enormen Reputation als erfolgreicher Feldherr, frommer Muslim und weiser Stratege nutzte das Image als potenter Übermann10 ebenso wie die missglückten Anschläge auf ihn, die er alle überlebte. Im Jahr 1932 war er am Ziel seiner Bestrebungen: Das Königreich Saudi-Arabien wurde gegründet.
Ibn Saud ist eines der prominentesten Beispiele für die Fähigkeit der Monarchen am Golf, sich gegen viele Widrigkeiten von innen und außen zu behaupten und standhaft ihren Führungsanspruch zu verteidigen. Die herrschenden Familien in den Golfmonarchien waren in ihrer spannungsreichen Geschichte vielfältigen Gefahren ausgesetzt, denen sie mit einer ausgeklügelten Strategie aus Kooption und Kooperation, Repression und Rentenökonomie begegneten. Dafür mussten sie sich in einer unwirtlichen Landschaft nicht nur gegenüber der unbarmherzigen Natur, sondern auch gegen rivalisierende Stammesverbände und konkurrierende Händlerfamilien behaupten. Extreme Wetterbedingungen mit sengend-heißen Temperaturen von bis zu 50 Grad Celsius tagsüber und Minusgraden in der Nacht, Sandstürmen, Dürren, Taifunen und Springfluten an den Küsten prägen die Region bereits seit Jahrhunderten und haben sich in den letzten Jahrzehnten im Zuge des Klimawandels dramatisch verstärkt. In dieser Umgebung mussten die Einwohner:innen, darunter die Beduinen (bedu) sowie die sesshaften Bewohner:innen der Siedlungen und Städte (hadar) eine disziplinierte Widerstandskraft gegen die Gewalten der Natur entwickeln, um überleben zu können. Anpassung an die Natur wurde zum Überlebenselixier und von den regionalen Beduinen perfektioniert: Sie tauschten tierische Produkte gegen Getreide und Reitausrüstung und arbeiteten als Führer und Eskorten für Karawanen, sodass sie die arabische Halbinsel mit Syrien und dem Mittelmeerraum verbanden.11 Gleichzeitig nutzten sie die extremen Wetterverhältnisse aus, um ein regionales Handelsnetzwerk aufzubauen, das bis nach Indien und Afrika reichte: Händler waren auf den Monsunwind angewiesen, der ihre Schiffe in den Sommermonaten gen indischen Subkontinent trieb und sie im Winter zurückkehren ließ.12 Etwa dreiviertel aller Güter dieser Zeit flossen nach Indien13 und die indische Rupie war während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Leitwährung am Golf.
In der Ära der Perlenfischerei entwickelten sich einstig verlassene und von der Welt vergessene Flecken der golfarabischen Küstenregion im heutigen Kuwait oder Bahrain zu pulsierenden Zentren des lokalen Handels.14 Während heute die VAE und Katar im Fokus der Weltöffentlichkeit stehen, galten Mitte des 20. Jahrhunderts Bahrain und Kuwait als das »Dubai ihrer Zeit«15, basierte ihr damaliger Erfolg doch auf jahrhundertealten Handelsnetzwerken und einer kosmopolitischen Kultur des Austauschs.16 Diese polyglotte Kultur der Anpassung, des Austauschs und der Arbeitsmigration bildet bis heute die Basis der golfarabischen Widerstandsfähigkeit.17 In ihrem Zentrum: Die Herrscherfamilien.
Mithilfe des Handels entwickelten sich die im 17. Jahrhundert noch unbewohnten Siedlungen in Doha, Abu Dhabi, die peripheren Häfen in Kuwait oder Bahrain zu internationalen Umschlageplätzen für Gewürze, Perlen, Edelsteine, Datteln und andere Konsumgüter von globalem Interesse.18 Mit externen Mächten wie den Portugiesen im 15. Jahrhundert sowie dem Osmanischen Reich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und vor allem dem britischen Empire im 19. und 20. Jahrhundert schlossen die einflussreichen Familien der Golfregion Handels- und Sicherheitsabkommen, womit es ihnen gelang, konkurrierende Kräfte gegeneinander auszuspielen. Insbesondere die Briten etablierten an der Ostküste der arabischen Halbinsel bereits vor dem Deal mit Ibn Saud ein System der indirekten Herrschaft und kooperierten auf unterschiedlichen Ebenen mit den jeweiligen Herrscherdynastien.19 Dabei zielten letztere darauf ab, mithilfe der Briten ihre Position gegen externe Rivalen wie das Osmanische Reich oder die iranische Qajaren-Dynastie abzusichern20, während das Empire die Golfregion als strategischen Knotenpunkt seiner indischen Kolonie und Protektoratsgebiet betrachtete.21 Es wollte seine Vormachtstellung als dominante europäische Seemacht absichern und suchte dafür die Zusammenarbeit mit den mächtigen Herrschern am Golf. Diese profitierten ebenfalls von der kolonialen Präsenz, sodass sich ein reziprokes Beziehungsgeflecht entwickelte, in dem beide Seiten voneinander abhängig waren und blieben.22
Mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg und dem langsamen Niedergang des britischen Empires in Folge des Zweiten Weltkriegs mussten die Herrscher am Golf neue Bündnispartner suchen. Diese fanden sie in den USA, die für viele Golfstaaten auch heute noch den wichtigsten Partner darstellen – auch wenn diese Allianz Risse bekommen hat.23 Diese Politik der wechselnden Bündnisse wurde zu einem charakteristischen Merkmal der golfarabischen Machtpolitik und setzt sich bis heute fort. Dabei verfolgen die mächtigen Familien einen Kurs des opportunistischen Pragmatismus, der insbesondere das eigene Überleben bewahren soll, was sich in der heutigen Pendeldiplomatie der Golfmonarchien zwischen den miteinander rivalisierenden Weltmächten China und USA zeigt, aber auch schon im 19. Jahrhundert im Umgang mit den Großmächten jener Zeit eine wesentliche Basis der golfarabischen Politik darstellte.
Dabei stützten sich die Dynastien in den Golfmonarchien ähnlich wie Ibn Saud auf eine ausgeklügelte Heirats- und Bündnispolitik, vergaben attraktive Konzessionen an US-amerikanische oder britische Ölunternehmen und konnten mithilfe ausländischer Expertise und den steigenden Einnahmen aus der Öl- und Gasproduktion schrittweise Staatsinstitutionen und Verwaltungsapparate aufbauen. Nach ihrer Unabhängigkeit von Großbritannien profitierten die Herrscherdynastien in Kuwait, Bahrain, Katar und den VAE von den früheren Seilschaften und Geschäftsverträgen mit den Briten, was ihnen half, ihre Monopolstellung auszubauen. Dabei entwickelten sich die Herrscherfamilien zu einem Staat im Staate: In Saudi-Arabien beträgt die Anzahl der königlichen Prinzen etwa 5.000–15.000, von denen viele finanzielle und politische Annehmlichkeiten erhalten und damit den Einfluss und die Strahlkraft der Monarchie sichern. In Katar soll gar jeder Vierte der einheimischen Bevölkerung familiäre Verbindungen zu der Al Thani aufweisen.24 Allerdings: Der Aufstieg der Herrscherfamilien verlief keineswegs konfliktfrei.
Katar: Opportunistischer Pragmatismus als Erfolgsrezept
Am Beispiel der katarischen Al Thani-Familie zeigt sich, welchen Widrigkeiten die golfarabischen Herrscher trotzen mussten, um sich in einem zähen Ringen mit lokalen Mitkonkurrenten als unumstrittene Herrscher durchzusetzen. Seit mehr als 150 Jahren ist das Schicksal des modernen Katars eng mit der Geschichte der Al Thani verbunden, die während des 18. Jahrhunderts aus dem heutigen Saudi-Arabien an die Ostküste der arabischen Halbinsel ausgewandert war. Dort etablierte sie sich als dominante Kraft im lokalen Handel und entwickelte die 1638 gegründete Ortschaft al-Zubara zum regionalen Umschlagplatz für den Warenverkehr, musste allerdings die dominierende Familie der Al Khalifa aus dem heutigen Bahrain verdrängen, die sich ebenfalls als Handelsmacht positionieren wollte. Die Al Khalifa stammt aus Zentralarabien und wanderte in den 1760er Jahren an die Küste des Golfs, baute dort ein Handels– und Fischereiimperium auf und geriet dadurch rasch in Konkurrenz mit der Al Thani.25 Weiterhin befand sich die Al Thani in einer Dauerfehde mit einflussreichen persischen Kräften, was zu wechselnden Machtverhältnissen führte; 1783 eroberten die Al Khalifa Bahrain, wo sie heute noch herrschen, und al-Zubara. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts nahmen die saudischen Al Saud al-Zubara ein und bedrohten damit den Machtanspruch der Al Thani. Während der 1820er Jahre verlor al-Zubara jedoch an wirtschaftlicher Bedeutung und wurde in den Folgejahren von der heutigen katarischen Hauptstadt Doha als neues Wirtschaftszentrum abgelöst: Die Bevölkerung stieg von 400 im Jahr 1850 auf 12.000 zum Ende des 19. Jahrhunderts.26 Der Aufstieg Dohas wurde vom damaligen katarischen Emir Muhammad bin Thani vorangetrieben, der sich 1849 dort niederließ und zwei Jahre später mit dem einstigen saudischen Rivalen unter Faisal bin Turki Al Saud gegen die vorrückenden Al Khalifa koalierte – ein Zweckbündnis gegen einen gemeinsamen Feind.
In der katarischen Geschichtsschreibung gilt Muhammad bin Thani aufgrund seiner militärischen und wirtschaftlichen Erfolge als schillernde Figur und Vorbild des katarischen Aufstiegs und erfährt in der Gründungsgeschichte fast schon mythische Hochachtung. Mit der Zahlung von Schutzgeldern an die mächtigen Nachbarn aus Saudi-Arabien und Bahrain versuchte er, die territoriale Integrität seines Herrschaftsgebiets zu bewahren und externe Einflussnahme zu minimieren. Mit der Perlenfischerei wuchs die Bedeutung der Küstenregion weiter an, wovon insbesondere die Herrscherfamilien in Katar und Bahrain profitierten, deren Konkurrenzkampf um die Vormachtstellung am Golf sich wieder intensivierte, während die Bedrohung durch die saudische Al Saud stetig wie ein dunkler Schatten über den kleineren Herrscherhäusern hing.
Diese Rivalität entzündete sich auch an der Perlenfischerei: Allein in Bahrain stieg das Exportvolumen von Perlen zwischen 1873 und 1906 um 600 Prozent27 – ein regelrechter Boom um den damals wertvollsten Rohstoff begann. In den 1860er Jahren betrug die Anzahl der katarischen Perlenfischer bereits 13.000, in Bahrain gar 18.000 und in den heutigen VAE 22.000.28 Immer wieder kam es zu Überfällen, Raubzügen und Intrigen, um den jeweiligen Gegner zu schwächen und die lukrative Perlenfischerei zu kontrollieren, die sich zu einem existenziellen Wirtschaftszweig entwickelt hatte; allein in Katar arbeiteten mehr als 50% der Bevölkerung in diesem Sektor. Aus dem heutigen Iran, Belutschistan und dem Sindh suchten viele ihr Glück in der Perlenindustrie und wanderten an den Golf aus.29 Monatelang blieben die Männer auf See, um dort in bis zu 50 Tauchgängen pro Tag nach Austernmuscheln zu tauchen und diese an einflussreiche Stammesführer, den Scheichs, nach ihrer Rückkehr zu verkaufen.30 Doch mit dem Ende des Perlenrauschs ab Beginn des 20. Jahrhunderts drohte auch der Untergang der Herrscherfamilien und ihren Günstlingen: In Japan befand sich die Zucht von künstlichen Perlen mittlerweile auf dem Vormarsch, wodurch Katars traditionelle Praxis ineffizient und unrentabel wurde.31 Gemeinsam mit Naturkatastrophen (1925 wurde die katarische Perlenfischerflotte durch einen Sturm vernichtet) und der Weltwirtschaftskrise 1929 führte dies zum Niedergang dieses Wirtschaftssektors. Zwischen den 1920er Jahren und 1944 sank die Zahl der Perlenfischer von 60.000 auf 6.000.32 Der Verkaufswert fiel um das Siebenfache und die Zahl der Fischerboote um das Sechsfache.33 In Folge verließen viele einst mächtige Familien das Gebiet des heutigen Katars, während für die verbliebene Bevölkerung die »Jahre des Hungers«34 begannen, wie diese Zeit der sozialen und sozioökonomischen Krise bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs genannt wird. Die Al Thani drohte, ihre Einnahmequellen zu verlieren und damit in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, blieb aber standhaft: Anstatt sich ebenfalls ins Ausland abzusetzen, harrte sie aus. Als 1935 Öl auf dem Territorium der Al Thani gefunden und die ersten Ölförderkonzessionen an die Briten vergeben wurden, ging die Durststrecke zu Ende. Auf einmal verfügten die Herrscher mithilfe ihrer Geduld über einen enormen Wettbewerbsvorteil gegenüber den mit ihnen konkurrierenden Familien, die Katar bereits verlassen hatten. 1939 begann die kommerzielle Ölproduktion, die sich aber erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu einer substanziellen Einnahmequelle entwickelte. Damit einher ging der wirtschaftliche Aufschwung Katars. Die Al Thani hatte sich das Machtmonopol gesichert und verteidigt es bis heute. Neben den steigenden Einnahmen aus der Ölproduktion trug zu diesem Aufstieg auch die kluge Bündnispolitik der Al Thani bei: Insbesondere aus der anwachsenden Präsenz der Briten seit dem 19. Jahrhundert schlug sie Profit. Der »Vater der Nation« Muhammad bin Thani schloss 1868 auf dem britischen Kriegsschiff »Vigilant« eine Vereinbarung mit den Briten, die als Beginn der engen Partnerschaft zwischen den Al Thani und Großbritannien betrachtet werden muss, und von Muhammads Sohn und Nachfolger Jassim nach dessen Tod 1878 ausgebaut wurde. Im November 1916 vertiefte Abdallah bin Jassim Al Thani, Enkel von Muhammad Al Thani, in einem Abkommen mit dem britischen Repräsentanten, Lieutenant-Colonel Sir Percy Cox, diese Partnerschaft.
Die Al Thani fungierte somit als Partner der Briten, was ihnen neue Privilegien und Vorteile gegenüber den lokalen Rivalen brachte und ihre Position stärkte. Großbritannien hingegen trat als Schutzmacht der Al Thani auf – eine Win-Win-Partnerschaft, die die Briten auch mit anderen Familien am Golf eingingen, um mithilfe dieser Vereinbarungen ein System der indirekten Herrschaft aufzubauen und ihre Präsenz als maritime Supermacht am Golf zu festigen. Gleichzeitig vereinbarte die Al Thani in den 1870er Jahren ähnliche Schutzgarantien mit dem Osmanischen Reich – eine clevere Pendeldiplomatie, die auch die heutigen Herrscher in Katar mit anderen Partnern wie den USA oder Iran beherzigen, um möglichst von externen Bedrohungen verschont zu bleiben. Als kleiner und verletzlicher Staat suchte Katar also bereits in der Frühphase seiner Geschichte die Nähe zu größeren Partnern, um das eigene Überleben zu sichern. Heute ist dieses Modell der Vernetzung zu einem Markenzeichen und Symbol der katarischen »Soft Power« geworden.
Dass diese Bündnispolitik jedoch nicht immer konfliktfrei verlief, zeigte die Entführung von Ahmad bin Muhammad Al Thani im Jahr 1892 durch die Osmanen. Um seinen Bruder zu befreien und die Machtposition der Al Thani zu bewahren, vereinte der damalige Emir Jassim miteinander verfeindete Stammesverbände und führte sie in der Schlacht bei Wadschbah zu einem sensationellen Triumph gegen die übermächtigen Truppen der Hohen Pforte. Die katarische Historiographie feiert diesen Sieg als kollektives Erweckungserlebnis und als Geburtsstunde der katarischen Nation und stilisiert Jassim als »Nationalheld« und »Staatsgründer«, da er Katar vor der Kolonialisierung durch Istanbul geschützt habe.35
Mit der katarischen Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1971 begann eine neue Zeitrechnung, die mit einem politischen Paukenschlag einherging: 1972 löste der damals 40-jährige Khalifa Al Thani seinen Cousin Ahmad bin Ali Al Thani als Emir ab, während dieser sich auf der Jagd in Iran befand.36 Khalifa musste die junge Nation nun vor neuen und alten Bedrohungen schützen und sah in der Schaffung von staatlichen Zentralstrukturen die einzige Alternative, dieses Ziel dauerhaft zu erreichen.37 Als kleines Land mit der Größe von Schleswig-Holstein stand er vor der massiven Herausforderung, die territoriale Integrität gegen externe Bedrohungen ohne die Unterstützung der Briten zu bewahren, die politischen Entscheidungswege zu institutionalisieren und Katars Wirtschaft und Verwaltungsapparat zu modernisieren. Dabei half ihm die konsolidierte Machtposition der Al Thani sowie die relative Homogenität der katarischen Bevölkerung, in der religiöse oder konfessionelle Divergenzen im Gegensatz zu anderen Golfstaaten kaum zu Verwerfungen führten.38 Während seiner bis 1995 dauernden Herrschaft legte Khalifa die Grundlagen für den heutigen politischen und wirtschaftlichen Status. Doch erst mit seinem Nachfolger, Sohn Hamad (reg. 1995-2013), begann der internationale Triumphzug Katars, der mit der WM seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. In einem unblutigen Putsch hatte Hamad die Macht von seinem Vater übernommen, während sich dieser in Genf aufhielt. Danach setzte Hamad den Modernisierungskurs Khalifas fort, besetzte wichtige Regierungsposten mit engen und vertrauenswürdigen Familienangehörigen und erhob vor dem Hintergrund der traumatischen Erinnerungen an die Invasion Kuwaits durch den Irak 1990/91 die Partnerschaft mit den USA zu einem wesentlichen Pfeiler der katarischen Außenpolitik: 2003 gelang es ihm, dass die USA das Hauptquartier des Central Command (CENTCOM) aus Saudi-Arabien ins katarische Al-Udaid verlegten, was die regionale Bedeutung Katars weiter aufwertete. Neben einer intensivierten Sicherheitspartnerschaft weiteten sich auch die wirtschaftlichen, kulturellen und bildungspolitischen Beziehungen zwischen beiden Staaten unter Hamads Herrschaft aus, ohne jedoch den Kontakt zu anderen regionalen Kräften wie Iran zu vernachlässigen. Dieses Vorgehen steht stellvertretend für die katarische Balancepolitik und weist Ähnlichkeiten zur Pendeldiplomatie der Al Thani zwischen Großbritannien und dem Osmanischen Reich aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert auf. Hamad führte 1999 Wahlen zum Central Municipal Council (CMC) ein und erließ 2003 eine Verfassung, gründete den einflussreichen Satellitensender Aljazeera und investierte in das Bildungs- und Gesundheitssystem. 2013 wurde Hamad von seinem Sohn Tamim abgelöst, der seitdem das Land regiert.39
Die VAE: Als Föderation zum Erfolgsmodell
Im Unterschied zu Katar mussten in den VAE mehrere Herrscherfamilien einen Kompromiss finden, um am Ende aus einzelnen Scheichtümern eine vereinte Förderation zu schnmieden und ihre Egos hintanzustellen. So gelang es Zayed bin Nahyan (reg. 1966–2004) mithilfe der Öleinnahmen und geschicktem politischen Kalkül, die nach der Unabhängigkeit 1971 zerrissene und fragile Union von sieben Scheichtümern zu einen und mit den jeweiligen Herrscherfamilien Kompromisse auszuhandeln.40 Konflikte über die Festlegung nationaler und lokaler Grenzen, persönliche Animositäten sowie die Sorge, auf Kosten einer Zentralregierung an Macht zu verlieren, führten bei den unterschiedlichen Familien zu Unruhe und Misstrauen. Vor diesem Hintergrund drohte die Schaffung der VAE zu scheitern.41 Allerdings ließ die Furcht vor externen Bedrohungen nach dem Abzug der Briten als Sicherheitsgarant die individuellen Sorgen schwinden, was die Gründungsgeschichte eher zu einem pragmatischen Aushandlungsprozess werden ließ anstatt zu einem emotionalisierten Akt des emiratischen Patriotismus. Das siebte Emirat Ras Al-Khaimah schloss sich erst sieben Monate nach der Vereinigung von Abu Dhabi, Dubai, Sharjah, Ajman, Umm Al Quwain, and Fujairah den neuen VAE an. Damals gab es auch Überlegungen in Katar und Bahrain, sich in die emiratische Föderation einzugliedern42, doch am Ende zeigten die unterschiedlichen Herrscherfamilien zu wenig Kooperationsbereitschaft und setzten auf ihre nationale Unabhängigkeit.43 Saudi-Arabien betrachtete die Gründung der VAE ebenso mit Sorge, da das Königreich Anspruch auf Khor al-Udaid, Khor Duwayham und Huwayat erhob. Erst nach der Beilegung dieser territorialen Streitigkeiten erkannte die saudische Führung die VAE 1974 an.44
Trotz der nationalen Einheit prägen auch heute noch lokale Unterschiede in politischer Kultur, administrativer Struktur und Hierarchien das komplexe Beziehungsgeflecht der VAE, werden aber mittlerweile von einer durch die Herrscher propagierten nationalen Identitätspolitik überlagert. Zuständigkeiten bei Verwaltungsprozessen, lokaler Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik liegen weiterhin in der Hand der einzelnen Emirate, was zu einer ausgeklügelten Ausbalancierung der Herrschaftsteilung innerhalb des »erfolgreichsten föderalen Systems in der arabischen Welt« geführt hat.45 Unter Zayed wurde Abu Dhabi 1996 zur Hauptstadt46 – allerdings erst ein Viertel Jahrhundert nach der Unabhängigkeit, was erneut zeigt, wie sensibel er die inner-emiratischen Konkurrenzkämpfe und Eitelkeiten moderieren, orchestrieren und regulieren musste. Noch immer werden die einzelnen Emirate von unterschiedlichen Stämmen regiert: Während sich die Al Nahyan aus Abu Dhabi – auch wegen Zayed – als einflussreichste Familie etabliert hat, folgen in der Hierarchie die Al Maktoum aus Dubai in der inner-emiratischen Hierarchie.47 Die Al Nuaimi aus Ajman, die Al Sharqi aus Fujairah, die Al Qasimi aus Ras Al Khaimah und Sharjah sowie die Al Mu’alla aus Umm Al Quwain spielen in der internationalen Öffentlichkeit zwar eine untergeordnete Rolle, verfügen aber trotzdem über politischen Einfluss, auf den die Al Nahyan Rücksicht nehmen muss.48 Die VAE stellen somit einen Sonderfall innerhalb der Golfmonarchien dar, da ihre föderale Struktur Kompromisse und Konkurrenz noch deutlicher zutage treten lässt als bei ihren Nachbarn, wenngleich sich das Machtgefüge in den letzten Jahren signifikant nach Abu Dhabi verschoben hat. Das Emirat ist von der Fläche sechs Mal größer als alle anderen sechs Emirate zusammen und verfügt bei weitem Abstand über die meisten Ölreserven, was die politische Ausnahmestellung ebenso erklärt wie die wirtschaftliche Dominanz innerhalb des emiratischen Interessensverbands und die Entscheidungsgewalt in der emiratischen Außenpolitik, die fast ausschließlich in Abu Dhabi konzipiert wird.49
Oman: Kosmopolitischer Sonderfall
Für die Mehrheit der omanischen Bevölkerung bedeutete der 11. Januar 2020 einen epochalen Zeitenwechsel. Tausende von Trauernden säumten die Straßen der Hauptstadt Maskat und begleiteten die Zeremonie zu Ehren des verstorbenen Sultans Qaboos bin Said Al-Said (reg. 1970-2020), der den Oman fast ein halbes Jahrhundert und damit länger als jeder andere Machthaber in der arabischen Welt regiert hatte. Sein Ableben nach langer Krankheit beendete eine Ära, die im Unterschied zu Saudi-Arabien, den VAE und Katar weder durch familieninterne Rivalitäten noch von Putschen und Gegenputschen geprägt war, sondern von einer außergewöhnlichen Kontinuität, die Qaboos mit einem Herrschaftsstil zwischen autokratischer Kontrolle und weitsichtigem Kooperationswille bestimmte. Qaboos stammt aus der Al Bu Said, die seit Ahmad bin Said Al Bu Said Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer der einflussreichsten Familien Omans aufgestiegen ist.50
Wie wohl kein anderer golfarabischer Herrscher gilt er als Inbegriff des Vaters der Nation, der sich mit strategischer Klugheit, taktischem Geschick und kompromissloser Härte sein unumstrittenes Machtmonopol sicherte und während seiner Ägide bewahrte. Zu Beginn seiner Amtszeit kontrollierte er zwar ein Territorium, aber keine Nation.51 Während in Saudi-Arabien die Familien der Al Saud oder in Katar die Al Thani regieren, schuf Qaboos in Oman ein auf seine Person zentriertes System: Oman war Qaboos und Qaboos Oman.52 Unter ihm wurde Oman zum »Staat Qaboos«.53