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Das Sportereignis des Jahres – und die Menschenrechte stehen im Abseits Die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar ist hochumstritten, begleitet von massiven Menschenrechtsverletzungen und von Beginn an geprägt von Gier und Korruption. All dies ist auch Symptom einer chronisch kranken Politik des Westens. Menschenrechte werden nicht vertreten, stattdessen regieren Kommerz und eine Politik des Wegduckens. Doch die WM ist auch eine Chance, unsere Verantwortung wiederzuentdecken. Wir brauchen eine klare Strategie, wie wir mit autoritären Regimen wie Katar umgehen wollen, denn die Golfstaaten können nicht mehr ignoriert werden. Dabei müssen wir wertebasierte und interessensgeleitete Politik vereinen – um endlich glaubwürdig zu agieren und Haltung zu beweisen.
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Seitenzahl: 128
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Sebastian Sons
Menschenrechte sind nicht käuflich
Warum die WM in Katar auch bei uns zu einer neuen Politik führen muss
© by Atrium Verlag AG, Zürich 2022
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Annemike Werth, Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN978-3-03792-222-4
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Es ist ein sonniger Oktobertag in Katar. Ich stehe vor dem hypermodernen Lusail Iconic Stadium, in dem in etwas mehr als einem Jahr das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2022 stattfinden wird. Die monumentale Arena fasst insgesamt 80000 Zuschauer:innen, soll 680 Mio. EUR gekostet haben[1] und gilt als Meisterwerk der modernen Architektur. Hier würde knapp ein Viertel der einheimischen katarischen Bevölkerung von 300000 Menschen Platz finden. Heute, an diesem Oktobertag, liegt das Stadion allerdings verlassen da, umgeben von staubiger Wüste und leeren Autobahnstrecken, die sich durch das monotone Grau-Gelb des katarischen Sandes schlängeln.
Als »Sündenfall des Weltfußballs« oder »Desaster« wurde die WM-Vergabe an Katar im Juni 2010 bezeichnet. Sie entfachte eine Kontroverse, die es im modernen Fußball in diesem Ausmaß noch nicht gegeben hatte und die von Polemik, Polarisierung und Propaganda, von Hysterie, Halbwahrheiten und Hochmut geprägt war und ist. Dieses Stadion ist daher viel mehr als nur eine Sportstätte: Es ist Mahnmal für die Arbeitsmigranten, die auf den Baustellen Katars in den vergangenen Jahren ums Leben gekommen sind, und Sinnbild für die Diskussion um ihre genaue Anzahl.[2] Es ist genauso Katars Metapher für den Aufstieg in die globale Champions League im Zeitraffer[3], wie es auch für die Ambitionen des jungen Emirs Tamim bin Hamad Al Thani steht, sich auf der Weltbühne als einflussreicher Akteur zu positionieren und von seinen Nachbarn in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) zu emanzipieren.[4] Und als steingewordenes Puzzleteil dieser WM der doppelten Standards dient das Stadion schließlich als Inbegriff der grassierenden Korruption im Weltfußballverband FIFA.
Die Kontroverse um die WM erzählt jedoch nicht nur etwas über die Missstände in Katar, sondern hält auch uns den Spiegel vor. Darauf weist mich mein katarischer Bekannter hin, der mich bei meinem Ausflug nach Lusail begleitet und nun fragt: »Warum lehnt ihr diese WM so ab? Schau dir an, was wir geschaffen haben.« Er deutet auf das vor uns liegende menschenleere Stadion und sieht mich interessiert an. In seinem Blick liegt weder Enttäuschung noch Frustration, sondern ehrliche Neugierde. Ich kenne ihn mittlerweile seit vielen Jahren, wir vertrauen uns. Für ihn ist diese WM mehr als nur ein Turnier. Sie ist der ultimative Beweis, dass es seine Heimat geschafft hat, aus einem kleinen unbedeutenden Wüstenfleckchen an der Peripherie der wirtschaftlichen und politischen Zentren eine moderne und erfolgreiche Nation zu formen, die sogar das Privileg und die Bürde schultern darf, mit der WM das größte sportliche Megaevent der Welt zu organisieren. Doch ihm fehlt der Respekt von »euch«, wie er sagt. »Ihr« – das ist für ihn der »Westen« und damit auch Europa, Deutschland, Österreich und die Schweiz. Für ihn ist unsere Kritik an der WM in Katar ein Ausdruck von Überheblichkeit, europäischer Arroganz und neo-imperialistischer Verlogenheit. Ich habe solche Vorwürfe in den vergangenen Jahren bei vielen Gesprächen mit Kolleg:innen in den arabischen Golfstaaten vernommen – nicht nur in Katar, sondern auch in Saudi-Arabien oder den VAE. »Der Westen« sei verkommen und trage eine Vorstellung von Freiheit und Menschenrechten vor sich her, die nur dann Gültigkeit besitze, wenn sie eigenen Interessen nicht im Wege stehe – so der Tenor. Der Westen und die Menschenrechte – das ist für viele meiner Bekannten in Doha, Riad oder Abu Dhabi eine selbstherrliche Vergewisserung der eigenen moralischen Überlegenheit. Für sie zeigt die Kritik an der WM nur das Versagen des Westens, die eigenen Werte zu vertreten und Haltung zu bewahren.
Wenn wir diesen Standpunkt ernst nehmen und genau hinschauen, müssen wir feststellen, dass sie in vielen Bereichen recht haben, auch wenn dieses Eingeständnis schwerfällt. Der Umgang mit der WM in Katar kann als Symptom einer chronisch kranken Politik bei uns betrachtet werden. Menschenrechte werden nicht ernsthaft verteidigt. Sie sind Folklore eines in sich gespaltenen Westens geworden. Anstatt mit aller Macht die Werte einer freiheitlichen Gesellschaft zu vertreten, regieren der Kommerz, das Gewinnstreben und eine Politik des Wegduckens und -schauens. Die deutsche Außenpolitik kann bei dieser Problematik in vielfacher Hinsicht als exemplarisch für Europa und den gesamten Westen gelten. Auf der einen Seite werden die Verletzungen der Menschen- und Arbeitsrechte in Katar von der Politik, den Medien und der Zivilgesellschaft massiv kritisiert. Auf der anderen Seite haben deutsche Unternehmen mit dem katarischen Staat milliardenschwere Verträge zum Bau der WM-relevanten Infrastruktur geschlossen. Einerseits fordern Faninitiativen einen Boykott der WM, andererseits ist der europäische Spitzenfußball ohne Katar als Investor nicht mehr denkbar. »Wir haben in den letzten Jahren viel Unsinn angestellt, da wir im Umgang mit golfarabischen Autokratien keine wirklichen Stoppschilder aufgestellt haben«, beschreibt ein Kollege aus dem Dunstkreis der Berliner Politik das Versäumnis des Westens. Das Ergebnis: die Erosion der Menschlichkeit. Anstatt entsprechend unserer Kritik an der WM zu handeln, lassen wir uns durch die lukrativen Geschäftschancen und die gewachsene politische Bedeutung Katars blenden und vernachlässigen dadurch unsere Werte und Überzeugungen.
Unsere Kritik an der WM und an Katar ist somit nicht nur Ausdruck einer moralisierenden Weltsicht, die Deutungshoheit für sich beansprucht und allein die eigenen Maßstäbe gelten lässt. Sie ist auch ein Paradebeispiel unserer Hilf- und Planlosigkeit, wie wir mit problematischen Partnern wie den ölreichen Monarchien am Golf umgehen sollen. Die Debatte um die WM zeigt, dass wir gefangen sind zwischen einer moralisierenden und wertebasierten Argumentation und dem realpolitischen Zwang, mit umstrittenen Partnern wie Katar zusammenarbeiten zu müssen – ob wir wollen oder nicht. Uns ist zwar einerseits bewusst, dass diese Staaten nicht mehr ignoriert werden können, da sie wirtschaftlich und politisch zu wichtig geworden sind. Andererseits graut es uns davor, mit ihnen enger zu kooperieren – weil sie unseren Wertevorstellungen widersprechen und als »Schmuddelkinder« gelten, wie mir ein Mitarbeiter im deutschen Auswärtigen Amt einmal offen gestand. Eine solche Politik der Doppelmoral muss aufhören: Stattdessen braucht es einen klaren Kompass, wie wir mit autoritären Staaten wie Katar umgehen können. Die Golfstaaten sind »mehr als nur ein Objekt unserer Außenpolitik«[5], sie sind auch unsere gar nicht so weit entfernten Nachbarn. Viele wirtschaftliche und politische Ziele Europas lassen sich ohne die Golfstaaten nicht mehr realisieren: In einer globalisierten Welt hängt alles mit allem zusammen. Geflüchtete aus den in Krieg und Krisen versinkenden Syrien und Libyen versuchen sich nach Europa zu retten; die eskalierenden Konflikte am Golf sorgen für Furcht vor einem Flächenbrand; unser Ziel, uns von russischem Öl und Gaslieferungen zu lösen, könnte uns direkt in eine neue Abhängigkeit von fossilen Ressourcen aus den Golfstaaten führen. Kurzfristig mag uns ein solches Vorgehen zwar vor Energieengpässen bewahren, langfristig droht allerdings die Verzögerung der grünen Energiewende, was die dramatischen Konsequenzen des Klimawandels beschleunigen würde. Bei all diesen Herausforderungen spielen die Golfmonarchien eine Schlüsselrolle – und sind uns damit näher, als uns lieb ist. Deswegen muss eine kohärente Strategie im Umgang mit den Golfstaaten auf explizit formulierten Interessen beruhen, die die Bewahrung der Menschenrechte zum obersten Ziel haben. Dafür bedarf es eines ganzheitlichen Ansatzes. Unter anderem müssen wir dabei auch verstehen, welche politischen Beweggründe Katar dazu motiviert haben, die WM auszurichten, und wie im Sport die regionalen Rivalitäten zwischen den Golfstaaten eskalieren. Basierend auf einer solchen Analyse gilt es, kluge Schlussfolgerungen zu ziehen, um einen neuen strategischen Ansatz im Umgang mit den Golfstaaten zu entwickeln. Ein klarer Kurs kann dazu beitragen, den Ruf des Westens als verantwortungsbewusster Akteur wiederherzustellen und Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Um dies zu erreichen, braucht es ein neues Narrativ der Humanität, das die eigenen Werte ernst nimmt und sie nicht nur mit erhobenem Zeigefinger vor sich herträgt. Es muss uns gelingen, moralische Werte und Interessen miteinander zu vereinen und Haltung zu zeigen. Dafür plädiere ich in diesem Buch. Denn: Menschenrechte sind nicht käuflich.
Es war ein historischer Moment, als der damalige FIFA-Präsident Sepp Blatter am 1. Dezember 2010 mit strahlendem Lächeln den Umschlag öffnete, in dem der Name des Gastgebers für die Fußballweltmeisterschaft 2022 enthalten war. Als er mit Katar den Sieger verkündete, sprangen der damalige katarische Emir Hamad bin Khalifa Al Thani und seine Ehefrau Sheikha Moza bint Nasser al-Misnad freudetrunken auf. Mit 14:8 Stimmen war der einzige verbliebene Mitkonkurrent USA übertrumpft worden. Im Gegensatz zu dieser Euphorie aufseiten des unerwarteten Siegers rief die WM-Vergabe bei vielen jedoch nicht nur ein skeptisches Stirnrunzeln, sondern tiefes Misstrauen, offenen Zorn und Enttäuschung hervor. Seit jenem Mittwoch im Dezember wird die Entscheidung der FIFA als »sportpolitischer Sündenfall«[6] oder als »Katarstrophe«[7] bezeichnet.
Es wurden Stimmen laut, die den zukünftigen Ausrichtern und der FIFA massive Korruption vorwarfen. Im Dezember 2010 habe man es schlichtweg »zu dolle getrieben«, stellte auch Dietrich Schulze-Marmeling fest, gemeinsam mit Bernd-M. Beyer Autor des Buches Boykottiert Katar: »Stimmenverkauf, Korruption, Geldwäsche, alles, was man sich so unter White-Collar-Kriminalität vorstellen kann.«[8]
In den Fokus geriet vor allem der katarische Fußballfunktionär, steinreiche Bauunternehmer und einflussreiche Strippenzieher Mohamed bin Hammam, der 1996 zum Mitglied des FIFA-Exekutivkomitee und damit zu einem der mächtigsten und umstrittensten Männer im Weltfußball aufgestiegen war.[9] Im Vorfeld der WM-Vergabe soll er Schmiergelder an Mitglieder des Vergabeausschusses gezahlt haben, um Katar in die Favoritenrolle und die anderen Mitbewerber Australien und die USA in Misskredit zu bringen.[10] Im Jahr 2011 war bin Hammams Karriere im Weltfußball beendet: Er musste aufgrund dieser Korruptionsvorwürfe alle Ämter niederlegen und wurde lebenslang gesperrt[11] – bis dahin war er noch als aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge von Sepp Blatter als FIFA-Präsident gehandelt worden. Jahre später bestätigte bin Hammam, dass er im Zuge der deutschen WM-Bewerbung für 20066,7 Mio. EUR erhalten hatte – das unrühmliche Schmierentheater in der skandalträchtigen Geschichte der WM-Vergaben hatte einen neuen Hauptdarsteller.[12]Doch sein Fall war nur die Spitze des Eisberges: Im Zuge der WM-Vergabe wurden 28 von 43 angeklagten Funktionären wegen Geldwäsche oder Bestechung verurteilt.[13]
Korruptionsvorwürfe sind Teil der traurigen Realität bei der Vergabe von Weltmeisterschaften geworden. Katar stellt da keineswegs eine Ausnahme dar: Seit 1998 ist »mit großer Sicherheit keine WM mehr ohne Schmiergelder vergeben worden«.[14] Im Vorfeld der Weltmeisterschaften in Südafrika, Brasilien und Russland wurden ähnliche Vorwürfe laut, und selbst das sogenannte Sommermärchen während der WM2006 in Deutschland ist längst in Verruf geraten[15] – wie nicht zuletzt die Verstrickung bin Hammams zeigt. Korruption ist ein alltägliches Instrument beim knallharten Wettbewerb um die Ausrichtung des wichtigsten Sportereignisses der Welt, und Katar scheint dieses Spiel im Fall der WM2022 am erfolgreichsten und am perfidesten gespielt zu haben.
Die Verlegung der WM aus den Sommermonaten in den November und Dezember 2022 wurde von vielen sogenannten traditionellen Fußballländern in Europa wie Deutschland, England oder Italien als Verrat an der eigenen Fußballkultur verstanden. Die italienische Repubblica bezeichnete die Entscheidung als »den letzten Wahnsinn des Fußballs« und der englische Guardiansprach von einem »Chaos der Ungereimtheiten«.[16] Die österreichische Tageszeitung Der Standard kritisierte die »sklavenähnlichen Zustände«[17] im Land, während die Neue Zürcher Zeitung aus der Schweiz von einem »kolossalen Schlamassel« sprach.[18]
Sollte die WM zu Beginn noch wie in den Jahrzehnten zuvor in den Sommermonaten Juni und Juli ausgetragen werden, rückten die Organisator:innen von diesem Plan bald ab: Es wurde aufgrund der drückenden Hitze im Sommer mit zu erwartenden Temperaturen von über 40 Grad Celsius entschieden, den Rahmenkalender zu ändern und das Turnier in den klimatisch angenehmen Herbst Katars zu verlegen – für Fußballnostalgiker:innen ein weiterer Verrat am Kulturgut Fußball und ein neuerlicher Beweis für die grassierende Kommerzialisierung des Fußballs.
In Katar und anderen arabischen Ländern sorgte diese Aufregung allerdings ebenfalls für Unwillen: So wurde mir immer wieder gesagt, dass es sich nicht nur um eine WM für Europa handele, sondern für Nationen auf der ganzen Welt, sodass das Argument einer »Winter-WM« als eurozentristischer Arroganzanfall der Fußball-Beharrungskräfte bewertet wurde. Dem Vorwurf, bei den Golfstaaten handele es sich um Entwicklungsländer des Fußballs ohne Tradition, begegnen beispielsweise Fans und Funktionäre in Saudi-Arabien, dass die saudische Nationalmannschaft immerhin drei Mal die Asienmeisterschaft gewonnen habe.[19] In Katar wird argumentiert, diesen Wettbewerb auch ein Mal für sich entschieden und seit 1976 mit der Ausrichtung des Arabian Football Cup unzählige Sportevents organisiert und damit enorme Erfahrung gewonnen zu haben.[20]
Diese Debatte um fehlende Fußballtradition in Katar dient also als Vorwand des Westens, die alleinige Deutungshoheit über das »Kulturgut Fußball« behalten zu können: Das Produkt der Sehnsucht soll nicht geteilt werden, um weder Kontrolle noch Gewinne zu verlieren. Infolgedessen wird der globale Volkssport Fußball zu einem exklusiven Gut, das nur den Privilegierten im Westen zur Verfügung stehen soll, während andere Regionen, in denen die Begeisterung für den Sport mindestens ebenso groß ist wie hierzulande, systematisch zu Konsument:innen zweiter Klasse degradiert werden. In dieser überheblichen Haltung der selbsternannten Fußballtraditionalist:innen werden Stereotype bedient, die sich gegen Veränderung und Öffnung des Fußballs richten und an überholten Traditionen festhalten, um das eigene Geschäftsmonopol zu bewahren.
Die Diskussion um die Lage der Arbeitsmigranten in Katar hat sich seit der WM-Vergabe zu einem Brandbeschleuniger entwickelt, der mehr als jemals zuvor die Situation der Menschenrechte in einem Austragungsland in den Fokus der Weltöffentlichkeit rückte. In westlichen Medien sowie von Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften wurden insbesondere die tödlichen Unfälle auf WM-Baustellen und die katastrophalen Bedingungen der Arbeitsmigranten als »moderne Sklaverei«[21] kritisiert. In europäischen Medien kursierten Schätzungen von 6500 Toten[22], die in direktem Zusammenhang mit Unfällen auf WM-relevanten Baustellen standen, was der umstrittene FIFA-Präsident Gianni Infantino – der »Skrupellose«[23] – vehement abstreitet.[24] Infantino und andere Befürworter:innen der WM in Katar werfen den Kritiker:innen vor, mit »Fake News« Katar bewusst in Verruf bringen und die Durchführung der WM gefährden zu wollen, während die Gegenseite in Infantinos und Katars Argumentationsweise eine Verschleierungstaktik sieht, um sich in der Frage der Menschenrechte von jeglicher Schuld reinwaschen zu wollen. Fest steht: Die Zahl der 6500 Toten ist irreführend, da sie sich auf die Gesamtzahl der in Katar gestorbenen Gastarbeiter:innen aus Indien, Nepal, Pakistan, Bangladesch und Sri Lanka zwischen 2010 und 2020 bezieht – unabhängig von ihren Tätigkeitsfeldern.[25] Das ist die eine Seite der Medaille.
Doch die Wahrheit kleidet sich in einem komplexen Gewand und ist oftmals trügerisch. Denn faktisch stellt die statistische Erhebung der Todesfälle, die im direkten Zusammenhang mit der WM-Infrastruktur stehen, ein bisher ungelöstes Problem dar: Eindeutige Daten liegen nicht vor, und die katarischen Behörden müssen mit dem Vorwurf leben, in den letzten zwölf Jahren keine umfassende Aufklärung zu den Todesursachen geleistet zu haben.[26] Es erscheint zumindest äußerst fragwürdig, dass die große Mehrheit der Todesfälle auf natürliche Ursachen oder »Herzfehler« zurückgeführt wird – bei Gastarbeitern, die meist zwischen zwanzig