Aufbruch aus Mecklenburg - Renate Krüger - E-Book

Aufbruch aus Mecklenburg E-Book

Renate Krüger

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Beschreibung

Renate Krüger geht in ihrer Darstellung erstmalig auf die besonderen familiären und emotionalen Beziehungen der Gertrud von le Fort zu Mecklenburg ein. Denn gerade auch durch ihr Werk wurde Mecklenburg zum literarischen Ort. Eine lebendige Einführung in Werk und Leben der großen humanistischen Dichterin. - Gertrud von le Fort (1876-1971) und Mecklenburg - Das Leben in Ludwigslust und auf dem Familiengut in Boek/Müritz - Gertrud von le Forts Heimatbeziehung - Die literarischen Strömungen in der Zeit Gertrud von le Forts - Gertrud von le Forts christlicher Humanismus Das sehr gut recherchierte Buch erschien erstmals 2001 im Allitera Verlag. INHALT: Dabei gewesen ... Die Familienbiografie Kindheitsparadiese Ludwigslust - Glanz untergegangener Epochen Literarische Umschau Aufbruch und Studium Rom Das Frühwerk Götterdämmerung Verlust und Gewinn Literatur als Zeitzeugnis Das Leben Das Werk Literaturverzeichnis (Auswahl, ohne Zeitschriftentitel)

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Impressum

Renate Krüger

Aufbruch aus Mecklenburg

Gertrud von le Fort und ihre Welt

ISBN 978-3-86394-299-1 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung eines Gemäldes von Maria Goessler-Berger, 1915.

Das Buch erschien erstmals 2001 im Allitera Verlag, München.

© 2013 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Der Verwalterin des Nachlasses von Gertrud von le Fort, Frau Eleonore von La Chevallerie, sei für vielfältige Hinweise, Ratschläge und Unterstützung herzlich gedankt.

Dabei gewesen ... Die Familienbiografie

Gertrud von le Fort wurde am 11. Oktober 1876 in Minden geboren. Dort stand ihr Vater, ein preußischer Offizier, gerade in Garnison. Die familiäre Situation einschließlich des Geburtsortes und der frühen Prägung der Kinder wurde von Dienst und Pflicht bestimmt. Dennoch blieb man sich der heimatlichen Wurzeln stets bewusst, und diese Wurzeln liegen vor allem in Mecklenburg.

Im Geburtsjahr von Gertrud von le Fort erblickten auch die Malerin Paula Modersohn-Becker, der Politiker Konrad Adenauer und Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII., das Licht der Welt. Das victorianische Zeitalter mit seiner Prüderie, seinem Kolonialismus und seinem Imperialismus stand in voller Blüte.

Gertrud von le Forts Lebensgefühl wird durch geschichtliche Kontinuität in seltener Fülle und Vielfalt und die feste Überzeugung bestimmt, dass die le Forts eigentlich überall dabei gewesen waren. Und sie identifiziert sich bis ins Letzte mit der langen le Fort-Reihe. Ihr Geschichtsbewusstsein umfasst nicht nur das Rationale, für sie ist Geschichte in Gemüt und Gefühl verankert, denn in ihren Vorfahren war ja auch sie dabei gewesen. Geschichte ist für sie immer auch lebendige Familienerinnerung, und gerade diese Art von Vergangenheit wurde für sie zum Aspekt einer leiser und dunkler gewordenen Gegenwart.

Dabei gewesen ... Dabei-sein ..., Inter-esse, Dazwischen-sein ... Das bedeutet nicht nur Einfühlung, sondern auch Zeugenschaft, Authentizität und somit Wahrheit. Und es hat den Aspekt, dass das Dabeigewesensein in die Zukunft wirkt. Die le Forts sind gewissermaßen auch noch bei der Abfassung der literarischen Werke ihrer Nachfahrin dabei gewesen. Alle le Forts ... Sie wirken somit direkt auf den Leser.

Geschichte - das ist für Gertrud von le Fort die lange Reihe der Familienporträts im Herrenhaus Boek am Ufer der Müritz, ernst und nachgedunkelt. Dieses Motiv kehrt im Werk der Dichterin immer wieder und entwickelt sich in Verbindung mit dem Bild der alten Stutzuhren, durch die die Zeit zäh und unaufhaltsam tropft, zu eigentümlicher atmosphärischer Dichte. Das Familienarchiv (nach dem 2. Weltkrieg verloren gegangen), in dem die Dokumente über die le Forts gesammelt wurden, war ein besonderes Angebot zur Stärkung des familiären Geschichts- und Selbstbewusstseins. Es enthielt das Bildnis des russischen Zaren Peters des Großen in goldgefasstem Medaillon und die kaiserlichen Akten aus dem Wiener Adelsarchiv.

Das Geschichtsbewusstsein anderer maß Gertrud von le Fort daran, ob einer dabeigewesen war oder nicht. Sie lässt die Großmutter im Roman Das Schweißtuch der Veronika die Historiker einteilen in solche, die dabei waren und in solche, die nicht dabei waren ... Von Gregorovius (Ferdinand Gregorovius, Kulturhistoriker und Schriftsteller, 1821 bis 1891; gab von seinen ausgedehnten Reisen durch Südeuropa und den Orient klassische Reiseschilderungen und beschrieb die mittelalterliche Geschichte der Städte Rom und Athen) erzählte die Großmutter, die deutsche Kolonie habe ihn immer den Mann genannt, »der im Mittelalter gewesen sei« ... Von Mommsen (Theodor Mommsen, Historiker und Jurist, 1817-1903; Begründer der systematischen antiken Rechtsgeschichte. 1902 Nobelpreis für Literatur) meinte sie, er sei »nicht dabeigewesen«.

Die le Forts also sind an Brennpunkten der Weltgeschichte, auf Höhepunkten zukunftsweisender historischer Prozesse dabei gewesen, und diese Tatsache ist für die Dichterin Lebenswert und Schaffensimpuls.

An einem solchen Brennpunkt ist nach Gertrud von le Forts Meinung bereits der erste namentlich bekannte le Fort zu finden, der um das Jahr 1237 von der Insel Cypern nach Rom aufbrach, um in den Streitigkeiten zwischen Papst Gregor IX. und Kaiser Friedrich Il. zu vermitteln. Schon diese Tatsache macht ihn für seine späte Nachfahrin interessant. War er ein aus Frankreich gebürtiger Kreuzritter? Er nannte sich le Fort de Vallerin. Den letzten Teil dieses Namens hat die Dichterin als Pseudonym für ihren 1926 veröffentlichten historischen Kriminalroman Der Kurier der Königin gewählt, auch dies eine Identifikationsgeste. Wie sollte sie sich wohl nicht mit einem Vermittler zwischen verfeindeten Mächten identifizieren?

So empfängt Gertrud von le Fort schon aus den spärlichen und nicht einmal gesicherten Informationen über den ersten le Fort Impulse zu eigenen Reflexionen über Reich und Kirche. Der gleichfalls so offen und einladend daliegenden Thematik der Kreuzzüge aber hat sie sich nicht zugewandt, obwohl das aus dieser Welt stammende Familienwappen mit dem Elefanten und dem Palmbaum ein kreativ-fabulierträchtiger Anstoß hätte sein können. Dieses Familienwappen ziert bis zum heutigen Tage die Fassade des Herrenhauses in Boek.

Ihre Vorfahren waren unter dem Namen li Forti (Lifforti) durch Jahrhunderte in Norditalien, in Savoyen, ansässig gewesen und hatten hier zur religiösen Minderheit der Waldenser gehört. Um ihrer religiösen Überzeugung willen nahmen sie Flucht und Emigration auf sich und ließen sich unter dem französischen Namen le Fort in Genf nieder, wo sie für sich und ihre Nachfahren das unverlierbare Bürgerrecht erwarben, von dem die Dichterin noch nach dem Zweiten Weltkrieg Gebrauch machen konnte. Auch dieser Abschnitt der Familiengeschichte ist von erstaunlicher Kontinuität geprägt.

Die le Forts sind auch in konfessionellen Auseinandersetzungen dabei gewesen, und sie standen nicht auf Seiten der Stärkeren, sondern hatten den Mut zum Status der Minderheit. Auch in dieser Haltung fand Gertrud Identität, auch diesen Prozessen trug sie in ihrem Werk Rechnung.

Mit dem mächtigsten und bedeutendsten Vertreter der le Forts hat sich Gertrud merkwürdigerweise literarisch nicht beschäftigt, nämlich mit Francois le Fort. Im Jahre 1653 als Sohn eines Kaufmanns in Genf geboren, lernte er das Handelsgeschäft in Marseilles und trat 1674 für kurze Zeit in holländische Kriegsdienste. Danach kam er über Archangelsk nach Moskau und wurde zunächst Sekretär des dänischen Gesandten. Dann nahm er Dienst bei Fjodor Alexejewitsch, dem Bruder des Zaren. In dieser Umgebung lernte er 1689 den jungen Zaren Pjotr Alexejewitsch kennen und gewann schnell dessen Gunst. Sein Einfluss auf den Herrscher vergrößerte sich rasch.

Im Jahre 1694 wurde er Großadmiral und Obergeneral des russischen Heeres, 1697 Gouverneur von Nowgorod. Schließlich gehörte er auch noch zur Szenerie der Oper Zar und Zimmermann von Albert Lortzing. Bei der Auslandsreise des Zaren 1697 war er Wortführer der russischen Gesandtschaft, während sich Peter I. inkognito im Gefolge aufhielt. Die Früchte seines Aufstiegs aber konnte Francois le Fort nicht mehr ernten, denn er starb schon 1699 in Moskau, wo sein Name auch im Lefortowo-Palast (dem späteren NKWD-Gefängnis) lebendig blieb.

Ein zeitgenössisches Bild zeigt ihn in Admiralsuniform vor dem Hintergrund brennender Schiffe. Nach seinem früh verstorbenen Sohn, bei dem Peter der Große Pate stand, wurde seither jedes Mitglied der Familie le Fort Peter oder Petrea getauft.

Der Wirkungsradius der Familie erstreckte sich über halb Europa. Einige Mitglieder traten in französische Dienste, und zwei von ihnen fielen auf Seiten des Königs beim Sturm auf die Tuilerien. Die im Familienarchiv aufbewahrten Briefe, in denen die Atmosphäre der Zeit besonders lebendig wird, inspirierten Gertrud von le Fort später bei der Gestaltung ihrer Novelle Die Letzte am Schafott. Somit wies sie selbst auf ihre Identität hin, denn die le Forts in französischen Diensten vermittelten ihr zweifellos nicht nur die notwendige historisch-kulturelle Atmosphäre, in ihnen ist sie auch selbst wieder einmal dabei gewesen.

Ein Neffe des Admirals kam als Generalleutnant im Zuge des Nordischen Krieges nach Mecklenburg und erwarb dort Landbesitz. Somit wurden die le Forts in Norddeutschland ansässig, und ihr Gesichtsfeld konzentrierte sich auf die ostelbische norddeutsche Feudalaristokratie, in deren Maßstäben die Dichterin aufwuchs. Die le Forts gehörten zur mecklenburgischen Ritterschaft.

Die Ritterschaft stellte die Versammlung der fürstlichen Vasallen dar, deren wirtschaftliche Grundlage der Großgrundbesitz war und die in der Zusammenkunft der Stände, dem Landtag, die stärkste Macht bildeten. Seit dem Mittelalter war es Aufgabe des Landtags, den Interessenausgleich zwischen Fürsten, Vasallen und Städten in Mecklenburg herbeizuführen und zu garantieren. Es gelang keiner der Ständeversammlungen, diesen Konsens zur Zufriedenheit aller Partner zu erreichen.

Im wechselseitigen und teilweise sehr erbitterten Kräftespiel und -kampf formte sich im 18. Jahrhundert eine Festlegung, eine »Verfassung« heraus. Sie verkörperte den programmatischen Anspruch: »So soll es sein.« Eine maßstabsetzende rechtliche Fixierung erhielt diese erste Verfassung des Herzogtums und Ständestaats Mecklenburg-Schwerin 1755 im Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich. Auch die landtagsfähigen Vertreter der mecklenburgischen Ritterschaft setzten diese Verfassung, die bis 1918 Bestand haben sollte, durch ihre Unterschrift in Kraft. Darunter befindet sich auch der Namenszug eines le Fort.

Am Anfang steht die Versicherung und Verpflichtung des Herzogs: Wir verkünden und versprechen hiermit gleich anfangs Unserer gesamten Ritterschaft und Landschaft vollkommene Sicherheit und Erhaltung bei ihren Rechten, Gerechtigkeiten, Freiheiten, Vorzügen und Gebräuchen ...

Im Jahre 1842 erwarb der Klosterhauptmann von Dobbertin, Peter von le Fort, das Gut Boek östlich der Müritz, des mecklenburgischen Binnenmeeres. Das Kloster Dobbertin gehörte zu den vier Versorgungseinrichtungen des mecklenburgischen Staates für die unverheirateten Töchter des Adels, und man kann sich eine Atmosphäre vorstellen, die sehr ähnlich der Welt des Klosters Wutz ist, die Theodor Fontane in seinem Roman Der Stechlin schildert. Gertrud von le Fort hielt sich mehrfach in Dobbertin auf, um ihre dort lebenden Verwandten zu besuchen, und machte Notizen über das Klosterleben.

Gertrud von le Fort war ein Vaterkind. Der Vater galt ihr als Inbegriff der Welt. Und die Welt schien ihr zu gehören, denn sie wurde von ihrem Vater über alles geliebt.

Lothar Freiherr von le Fort wurde 1831 geboren und schlug die militärische Laufbahn ein. Er war Soldat durch und durch. Seine Begriffe und Haltungen von Dienst, Befehlen und Gehorchen, von Verantwortung und Unterordnung hatten großen Einfluss auch auf seine drei Kinder. Diese Soldatenwelt schien einfach und leicht überschaubar, eine Welt des Entweder-Oder, ohne Zwischentöne. Warum wurde Lothar von le Fort gerade preußischer Offizier?

Die Gründung des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867 war ein Schritt zur Vergrößerung des territorialen Gefüges und leitete auch für Mecklenburg, das bisher in relativer Unabhängigkeit und beträchtlicher Isolierung gelebt hatte, eine neue Epoche ein. Einerseits musste der alte Territorialstaat auf einige Souveränitätsrechte verzichten, andererseits aber war endlich eine stärkere Öffnung und somit eine bescheidene Einbeziehung in das sich kräftig entwickelnde Industriezeitalter möglich.

Die Einwohner erhielten das Recht auf Freizügigkeit. Ein weiterer Schritt in die Moderne war der Anschluss Mecklenburgs an das norddeutsche Post- und Fernmeldenetz und das neue einheitliche metrische Maß- und Gewichtssystem. Schließlich kam das Land auch in den Genuss der norddeutschen Währungsunion, und man zahlte hinfort mit den Banknoten des Bundes. Eine weitere einschneidende und von vielen bedauerte Veränderung war, dass auch das mecklenburgische Militär nun unter preußischem Kommando marschierte.

Zu den fürstlich verordneten Inhalten mecklenburgischer Identität gehörte daher als neues Element auch die gute Beziehung zu Preußen. Sie wurde jedoch nur halb integriert. Man war einerseits zwar stolz darauf, dass Großherzog Friedrich Franz II. (1842-1883) wie ein echter Hohenzoller aussah, die preußische Mobilmachung gegen Österreich war in Mecklenburg jedoch auf Unverständnis gestoßen. Dennoch war man in Kreisen der Aristokratie stolz darauf, wenn ein Mitglied bei den Preußen stand.

Lothar von le Fort heiratete wie viele Offiziere erst im vorgerückten Alter. Als seine älteste Tochter Gertrud geboren wurde, war er schon fünfundvierzig Jahre alt, ein überaus ernster Mann von unerschütterlichen Prinzipien, den nur Gertrud bisweilen umzustimmen vermochte. Auch der Weg von der Mutter zum Vater führte meist über die Tochter zum gewünschten Erfolg. Gertrud erreichte fast alles. Der Vater schenkte ihr sogar eine Katze, obgleich er als Kavallerist sonst nur Pferde und Hunde als Haustiere gelten ließ.

Lothar von le Fort überwachte seine Kinder streng und eifersüchtig, hielt unkontrollierte Einflüsse von ihnen fern, filterte die Lektüre, schloss den Besuch einer öffentlichen Schule von vornherein aus und ließ nur Hauslehrerinnen zu. Von frühester Kindheit prägte er ihnen ein, dass die le Forts Freiherren des alten, des »ersten« Reiches seien, dass ihr Adel schon 1698 unter Kaiser Leopold I. rezipiert worden sei. Dass sie nicht etwa »nur« zum neuen preußischen Militär- oder Beamtenadel gehörten.

Für Gertrud musste also die Gestalt des Vaters identisch sein mit Kaiser, Reich, Tradition und Geschichte. Lothar Freiherr von le Fort interessierte sich sehr für Geschichte. Dieses sein Interesse hatte sich in ihm vor allem durch das Studium der Kriegsgeschichte entwickelt. Er war ein leidenschaftlicher Verehrer Rankes (Leopold von Ranke, Historiker, 1795-1886. Schuf mit der von ihm ausgebildeten Quellenkritik die Grundlagen der modernen Geschichtswissenschaft) und empfahl ihn seiner Tochter als wegweisende Lektüre. Er stand ganz und gar auf dem Boden von Kants Kategorischem Imperativ, nämlich so zu handeln, dass die Maxime des eigenen Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte. Ein schöpferischer Befehl, der maßstabbildend auch auf die Tochter wirkte.

Es ging im Hause le Fort immer um das Prinzip, und das im besten Sinne. Man erwartete von sich selbst und allen Familienmitgliedern uneingeschränkte Vorbildlichkeit. Das eigene Handeln sollte immer als Maßstab auch für andere gelten können. Der Gerechtigkeitssinn des Vaters war allerdings nicht immer frei von zwanghaften Zügen.

Der junge Offizier Lothar von le Fort verurteilte während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 einen seiner Untergebenen zu einer schweren Strafe, weil er einer französischen Frau, bei der er einquartiert war, aus Mutwillen einige Töpfe zerschlagen hatte. Es waren zwar nur irdene Töpfe von geringem Wert, aber wohin sollte eine Armee kommen, wenn sie Kränkungen der Zivilbevölkerung duldete? Eine Lesebuchanekdote, geeignet zu harmonisierender Klischeebildung. Im Übrigen zeigte Lothar Freiherr von le Fort auch Verehrung für Julius Langbehn (August Julius Langbehn, Kulturphilosoph, 1851-1907; beeinflusste besonders die Jugendbewegung), den »Rembrandtdeutschen«. Langbehns 1890 erschienenes Buch Rembrandt als Erzieher wurde zum Bestseller. Langbehn vertrat die Meinung, sowohl die Demokratie als auch der Sozialismus seien veraltet und müssten durch das Prinzip wahrer Autorität ersetzt werden. Von ganz besonderem Übel seien die Großstadtkultur, das zeitgenössische neureiche Bürgertum und die kapitalistische Industrie. Allein der Aristokrat im ursprünglichen Sinne des Wortes könne Wegweiser aus diesen Ausweglosigkeiten sein.

Wegen der starken Konzentration auf den Vater wurde die Heimat des Freiherrn Lothar von le Fort in besonderer Weise zum Vaterland für die junge Gertrud: Mecklenburg, das Land des Vaters.

Er liebte Mecklenburg, er liebte seine Charakter- und gemütvollen Menschen, er liebte auch seinen Humor ... Man sagte in meiner Jugend allgemein, Mecklenburg sei rückständig. Ich bin überzeugt, wenn die moderne Zeit auf der Schwelle dieses lieblichen Landes länger als an anderen Orten den Atem anhielt, so tat sie es, betroffen von dem Reichtum der Möglichkeiten, die sich gerade in diesem leisen Zögern und Erwartenkönnen einem hastenden Geschlecht mit fast mütterlicher Gebärde anboten. Alles, was zur Tiefe drängt, braucht die Behütung eines gütigen Abseits. (Aufzeichnungen und Erinnerungen)

Gertrud von le Forts Liebe zu Mecklenburg wurde wohl auch aus der Wandermüdigkeit des Vaters genährt, der nach langem versetzungsreichem Dienstleben den begreiflichen Wunsch nach Sesshaftigkeit und dauerhafter Häuslichkeit hatte, und seine Heimat und sein Ziel Mecklenburg nahmen schon früh verklärte Züge an.

Das Bild des Vaters stand lebenslang auf dem Schreibtisch der Tochter. Es zeigt einen sehr ernsthaften und nicht gerade breitschultrigen Offizier mit dem Ordensband des Eisernen Kreuzes im Knopfloch. Nach Überzeugung der Tochter verkörperte er ganz den romanischen, »lateinischen« Typ der Familie, eher klein als groß, dunkel, beweglich.

In der Gestalt der Dichterin gibt es zwar verwandte Züge, aber die äußere Ähnlichkeit liegt doch wie hinter einem zarten Schleier. Unter der starken Vaterprägung schichteten sich andere Interessenlagen und Möglichkeiten, unvergleichlich reicher und vielfältiger als die väterliche Mitgift. Spätere Reflexionen der Dichterin befassten sich mit der stetigen Transzendierung und Umwandlung des Vaterbildes und seiner maßstabsetzenden Prägung, mit der ständigen Auseinandersetzung um Reich und Vaterland, Ehre und Stärke, Macht und Größe.

Obgleich Gertrud von le Fort ein Vaterkind war, befinden sich unter ihren literarischen Gestalten mehr starke Frauen als heldenhafte Männer. Solche gibt es zwar auch, Männer werden in ihrem Werk nicht herabgesetzt. Ein Kampf der Geschlechter findet nicht statt. Aber die Frauen hinterlassen einen stärkeren Eindruck.

Die Mutter, Elsbeth Freifrau von le Fort, stammt väterlicherseits aus dem märkischen Adel derer von Wedel-Parlow, mütterlicherseits jedoch aus süddeutschem Bürgertum mit praktisch-technischer Begabung. Ihr Großvater, Andreas Friedrich Bauer, war in Würzburg an der Erfindung der Schnellpresse beteiligt und Mitinhaber des Industrieunternehmens Bauer & König.

Die künstlerischen Fähigkeiten von Gertrud von le Fort, die Lust zu fabulieren, stammen aus der mütterlichen Familie. Die Mutter besaß nicht nur malerisches und zeichnerisches Talent, sondern beherrschte tausend kleine Künste. Sie verstand sich ebenso gut auf die Verzierung von Ostereiern wie auf die Anfertigung von Puppen. Viele Sonntagnachmittage im Familienkreis waren mit dem Zeichnen von Porträts ausgefüllt, wobei auch Karikaturen eine Rolle spielten. Die Mutter hatte ebenso viel Sinn für Humor wie für Poesie. Die Werke von Fritz Reuter konnte sie einfühlsam und lebendig vorlesen.

Alles, was durch ihre Hände ging, nahm einen ganz bestimmten persönlichen Reiz an. Das trifft besonders auf das schmückende Beiwerk für die großen Feste des Jahres zu. Der Weihnachtsbaum im Hause le Fort war berühmt wegen der Rosen aus rosa Seidenpapier, mit denen er in überreicher Fülle geschmückt war. Sie galten als das Schönste am Weihnachtsfest, weil sie das Einzigartige unseres Christbaums bedeuteten. (Hälfte des Lebens) Rose für Rose ließ die Mutter fleißig und geduldig vor den Augen der Kinder entstehen. Was ich damals nur staunend bewunderte, schreibt Gertrud von le Fort später, habe ich später selbst zu winden gelernt - nie hat es in meinem Hause einen Christbaum gegeben, der nicht mit Rosen geschmückt war, und immer wurde dann das Weihnachtsfest des Elternhauses noch einmal Gegenwart. (Hälfte des Lebens)Die Rose war für Gertrud von le Fort nicht nur Dekoration, sondern vielschichtiges Symbol.

Die Mutter war es auch, die poetische Impulse vermittelte, besonders durch den vertrauten und selbstverständlichen Umgang mit dem evangelischen Kirchenlied. Vor allem liebte sie Paul Gerhardts (Paul Gerhardt, evangelischer Pfarrer, 1607-1676; seit 1669 Archidiakonus in Lübben; hervorragender Kirchenliederdichter) Befiehl du deine Wege.

Von der Mutter nahm Gertrud die besondere Art der Religiosität an, eine Frömmigkeit, die auf Erfahrung beruhte, die sehr unmittelbar, zart und verschwiegen war und auf salbungsvolle Reden verzichten konnte.

Gertrud von le Fort betonte immer wieder, dass ihr späterer Übertritt zur katholischen Kirche keinen Bruch mit der Vergangenheit bedeutete. Es handele sich vielmehr auch um eine entfaltende Weiterentwicklung früherer mütterliche Einflüsse.

Im Gegensatz zum Vater war die Mutter eine fleißige Kirchengängerin, sie hatte eine Beziehung auch zur religiösen Gemeinschaft, zur Gemeinde. Sie liebte die regelmäßige religiös-meditative Lektüre und bevorzugte darunter die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeinde, das Buch von der Nachfolge Christi des Thomas a Kempis (Thomas a Kempis, niederländischer Augustinerchorherr, 1379-1471, Vertreter der Devotio moderna, gilt als Verfasser der aszetischen Schrift Nachfolge Christi)und, wie schon erwähnt, die poetischen evangelischen Kirchenlieder.

Jeder Tag begann mit einem der Lieder von Paul Gerhardt, an denen Gertrud von le Fort lebenslang nicht nur religiösen Trost, sondern auch dichterische Freude fand. Die Mutter vergaß auch niemals das Sonntagsevangelium vorzulesen. Allerdings konnte es dabei geschehen, daß mein Schwesterchen einmal die Hände faltend treuherzig sagte: „So, jetzt wollen wir vom Os-terhäschen lesen.“ (Hälfte des Lebens)

Gertrud von le Fort besaß ein feines, tief empfundenes Pastellbild der Mutter aus dem Jahre 1908. Es zeigt ein zartes schmales Gesicht mit getürmter Frisur und hochgeschlossener Bluse, sehr großen hellen Augen und einem ausdrucksvollen Mund, der depressive Neigung verrät. Doch Humor und Schwermut halten sich die Waage.

Die Altersjahre der Freifrau von le Fort waren von wachsenden Ängsten gekennzeichnet. Nach dem Tode des Mannes musste sich ständig eine ihrer Töchter in ihrer Nähe aufhalten, um die Angst vor dem Alleinsein zu vertreiben.

Im Übrigen war Elsbeth von le Fort eine echte Landedelfrau mit einem unüberwindlich großen Hang zu ländlich großen Vorräten: noch heute zehrt der Haushalt ihrer Kinder von ihren Leinenschätzen. (Aufzeichnungen und Erinnerungen)

Kindheitsparadiese

Die Familiensituation auf dem Familiengut Boek an der Müritz führte dazu, dass sich der preußische Major a.D. Lothar Freiherr von le Fort im Jahre 1898 mit seiner Frau und den beiden Töchtern in Ludwigslust niederließ, immerhin noch über einhundert Kilometer von Boek entfernt. Das Gut wurde von zwei unverheirateten und kinderlosen Vettern des Vaters bewirtschaftet und sollte nach deren Tod an Gertruds Bruder Stephan fallen, der zur Zeit des Umzugs bei den Ulanen stand. Boek war die finanzielle Zukunft der Familie, und der zukünftige Lebensraum hieß Mecklenburg.

Das Land war den le Forts nicht nur deshalb bekannt, weil es die Heimat des Familienoberhauptes war, sondern vor allem, weil man stets die Ferien in Boek und auf den uckermärkischen und pommerschen Gütern der mütterlichen Familie verbracht hatte.

Boek blieb lebenslang die eigentliche Heimat für Gertrud von le Fort, und sie erinnerte sich bis ins hohe Alter genau an die Ausstattung des