Die stumme Braut - Renate Krüger - E-Book

Die stumme Braut E-Book

Renate Krüger

4,4

Beschreibung

Die Erzählung führt den Leser unmittelbar ins spätmittelalterliche Mecklenburg am Vorabend der Reformation mit seinen farbigen Anschauungen, differenzierten Lebensformen und folgenreichen Konflikten. Die Fabel kreist um den Sternberger Judenpogrom, der im Jahr der Entdeckung Amerikas stattfand, dem 27 Menschen zum Opfer fielen und der schließlich dazu führte, dass Mecklenburg „judenfrei“ gemacht wurde. Der Leser erhält Einblicke in das Schicksal historischer und erfundener Personen. Da ist die niederländische Begine Dorothea van der Gheenst, die vom mittelalterlichen Mantelrecht der Frau Gebrauch macht und damit der schönen Chane das Leben rettet. Da ist der Sternberger Priester Peter Däne, der aus reiner Habgier den in Sternberg lebenden Juden geweihte Hostien überlässt und dafür, wie die jüdischen Mitangeklagten, vom herzoglichen Gericht zum Tode verurteilt und auf dem Scheiterhaufen vor den Stadttoren verbrannt wird, Opfer des sozialen und geistigen Umbruchs. Da kämpft der Emporkömmling Jürgen Kruse gegen den seherisch begabten Maler Henning Schnytker. Da ist vor allem die Jüdin Chane, an deren Hochzeitstag das Verhängnis seinen Lauf nahm und sie so stark traf, dass sie Erinnerung und Sprache verlor. In die Handlung führt eine Pilgerfahrt nach Santiago del Compostela ein. Andere Handlungsorte sind Wismar, vor allem die Georgenkirche, sowie Rostock, Sternberg und das Antoniterhospital Tempzin, in dem die vom tödlichen „Antoniusfeuer“ Befallenen letzte Zuflucht finden. Die vor allem von Frauen getragene Handlung ist eingebettet in zeitgenössische Frömmigkeitsformen, Magie, soziale Konflikte, Politik und Zukunftsvisionen. Die Erzählung ist geeignet, den Lesern wesentliche Bereiche des mecklenburgischen mittelalterlichen Erbes neu zu erschließen und auf Anfangspunkte weitreichender Konflikte hinzuweisen. Somit erhält sie auch einen aktuellen Bezug. INHALT: Die Mantelfrau Der verpfändete Grapen Das Glockenspiel

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Impressum

Renate Krüger

Die stumme Braut

Erzählung

ISBN 978-3-86394-316-5 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung des Kupferstichs „Der Künstler und seine Frau Ida“ von Israel van Meckenem der Jüngere.

Das Buch erschien erstmals 2001 im Hinstorff Verlag GmbH, Rostock.

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

I. Die Mantelfrau

1. Kapitel

Mit der Morgendämmerung stellte sich auch ihre Angst wieder ein. Die Kälte der Nacht verband sich mit dem Heulen der Wölfe, dem schleichenden Schnüffeln des anderen Raubgetiers und den zerfetzten Wolken, die über den Mond jagten. An all das konnte sie sich gewöhnen. Manchmal wurde es still und friedlich; sie konnte einschlafen, und ihr Atem ging ruhig. Über kühne Traumbrücken tänzelte sie in ein Leben zurück, das ihr nicht mehr gehörte. Dann rollte sie sich zu einer Kugel zusammen und blieb im Innern warm, überzeugt davon, dass die Wärme von dem Buch ausging, das sie in einem Lederbeutel unter dem Hemd trug und das auf ihrem Herzen ruhte. Oder war das Buch ihr Herz?

Doch sobald der Horizont grau wurde, schien das Buch zu ermüden und half nicht mehr gegen Angst und Hunger. Ein paar Wurzeln, eine Handvoll Beeren - das machte ja auch nicht satt.

Manchmal fand sie eine Erdhöhle, in der sie sich verbergen und den allzu hellen Tag vorübergehen lassen konnte. Oder einen verlassenen Stall, in dem sie auf die Dunkelheit wartete, von Angst und Durst gepeinigt. Hunger war zu ertragen, aber Durst machte rasend. Fand sie eine Quelle oder einen klaren Wasserlauf, trank sie so viel in sich hinein, dass sie ganz davon durchströmt wurde und sich neu belebt fühlte. Sie hob die Arme, atmete tief und langsam und schmiegte sich dann in immer neuen Bewegungen an die Erde.

Schwerfällig schob sich eine Gruppe von etwa hundert Personen gegen die Strahlen der untergehenden Sonne auf Pferden, rumpelnden Planwagen und zu Fuß dem nächsten Rastplatz entgegen. Die zehnte Tagereise ging zu Ende, und das Ziel war ein kleines Stück näher gerückt. Am Ende der ausgemalmten Straße tauchte ein gedrungener spitzer Kirchturm auf - das Tagesziel war erreicht. Glockengeläut versetzte die abendliche Stille in Schwingungen; man hatte im Dorf den Pilgerzug gesehen und hieß ihn nach altem Brauch willkommen.

Die drei Anführer brachten ihre Pferde zum Stehen, strichen Kleider und Haar glatt und rollten die Banner aus, hinter denen sie fast ganz verschwanden. Auf dem mittleren prangte die Jungfrau Maria mit dem Kinde im züngelnden Strahlenkranz. Sie wurde flankiert vom heiligen Ritter Georg, der den Drachen niederstach, und dem heiligen Apostel Jakobus, zu dessen Grab im fernen Spanien sie unterwegs waren. Der mittlere Bannerträger war der einzige, der des Weges kundig war, der Antonitermönch Peter Kleinvogt.

Die Pilgergruppe glich einer kleinen reisenden Stadt, in der Recht und Gesetze herrschten, Ämter und Dienste geregelt waren, in der es sogar Gerichtsbarkeit gab. Man brach von einer Jakobskirche mit dem Ziel der nächsten Jakobskirche auf. St. Jakobus war allgegenwärtig; indem man ihn verließ, näherte man sich ihm bereits wieder. Man musste nur achtgeben, dass man die anderen Heiligen nicht allzu sehr vernachlässigte. Möglicherweise wurden sie eifersüchtig und rächten sich für die erfahrene Zurücksetzung. Nur gut, dass auch die Banner des heiligen Ritters Georg und der allerseligsten Jungfrau Maria vorangetragen wurden!

Ein besonders stattliches Bild gab der Georgsträger ab, der Kaufherr und Schiffseigner Jürgen Kruse, der sich mit dieser Pilgerfahrt den Meisterstuhl der Bauhütte an der großmächtigen St. Georgenkirche zu Wismar verdienen wollte. Er sei zwar reich, sagten die anderen Mitglieder dieses einflussreichen, aber sehr verborgenen Zirkels, er besitze ein Haus mit vier Schornsteinen und habe viele Ämter inne, aber es fehle ihm noch an einem geheimen, verborgenen Wissen, um den Vorsitz der Bauhütte einnehmen und sie zur einstigen Größe zurückführen zu können.

Die anderen Mitglieder wussten zwar auch nicht, worin dieses Wissen bestehen könnte und was es mit der einstigen Größe auf sich hätte. Sie hatten solche Reden und die dazugehörigen Mienen auch schon von ihren Vorgängern übernommen. Über die neue Größe hatte man sehr genaue Vorstellungen. Der Turm musste endlich vollendet werden! Noch immer stand er als hässlicher Stumpf da, notdürftig gegen Regen, Schnee und Sturm gesichert.

Bisher hatten die Mitglieder der Bauhütte keinen Erfolg in der Beschaffung von Mitteln gehabt. Man kam an die Geldquellen einfach nicht heran. Ablassgelder (Eine Art von Bußgeld) und Legate (Vermächtnisse) flossen an St. Georgen vorbei zur Ratskirche St. Marien, und der heilige Ritter Georg blieb ein schmächtiges Männchen, das mit einer zu kurzen Lanze auf einen mageren Drachen einstechen musste.

Geheimes Wissen - davon war Jürgen Kruse überzeugt - geheimes Wissen war vor allem die Kenntnis, wie und woher man Geld beschaffen könne ... Ein hoher Turm für St. Georgen in Verbindung mit seinem Namen freilich, das wäre schon etwas ...

Man verpflichtete Jürgen Kruse zur Pilgerfahrt nach Santiago del Compostela (Ort in Nordspanien. Santiago de Compastela war nach Rom und Jerusalem der wichtigste Wallfahrtsort der mittelalterlichen Welt), denn dort - und schon auf dem Weg dorthin - ließ sich zweifellos viel geheimes Wissen erwerben. Kruse hatte zwar keinerlei Vorstellung davon, wie das geschehen könne, aber er ließ sich gern die Pilgerzeichen auf Hut und Kleidung nähen und die Anführerschaft übertragen, denn er liebte große Auftritte und außergewöhnliche Situationen. Und wie sollten die anderen Mitglieder der Bauhütte sein neu erworbenes geheimes Wissen prüfen, wenn ihre Vorstellungen von den alten Geheimbünden auch nur sehr verschwommen waren und sie nicht wussten, was das alles mit den ständigen und teuren Instandhaltungsarbeiten an der Georgenkirche zu tun haben sollte?

So kaufte er sich einen prächtigen Schimmel und genoss seine Anführerschaft, die er freilich mit dem Maler und Bildschnitzer Henning Schnytker teilen musste, was ihm durchaus missfiel. Man konnte dem Farbenreiber nicht ansehen, ob er mit seinen Gedanken ganz vorn oder ganz hinten war. Man musste vor ihm auf der Hut sein und wusste nicht einmal, warum. Ständig fühlte Jürgen Kruse sich von ihm beobachtet, und wenn er dann genau hinsah, blickte er in ein abwesendes Bücher- und Bildergesicht, dem ein Wismarer Kaufmann völlig gleichgültig war.

Es missfiel ihm auch, dass er unterwegs nicht, wie erhofft, neue Geschäftsverbindungen knüpfen konnte, denn dazu blieb keine Zeit. Die größten Augenblicke des Tages waren für ihn, wenn er das Banner ausrollen und den Pilgerzug in die nächste Herberge des endlos scheinenden Jakobsweges führen konnte. Dann fühlte er sich wie der leibhaftige heilige Ritter Georg, und er bedauerte nur, dass ihm da kein Drache in den Weg kroch und besiegt werden wollte.

Der Erwerb von geheimem Wissen war aber nicht der einzige und auch nicht der eigentliche Grund, der Jürgen Kruse zur Pilgerfahrt nach Santiago del Compostela verpflichtete. Man hatte ihm nämlich Fürkauf nachgewiesen und zum Vorwurf gemacht. Er hatte Salz billig erworben und solange eingelagert, bis ein großer Mangel entstand und die Fischer und Schlachter ein Vielfaches von dem bezahlen mussten, was sie zu normalen Zeiten auf den Tisch legten. Sie wehrten sich und zeigten Jürgen Kruse beim Rat an. Der wusste bei der Gerichtsverhandlung den Vorwurf zwar zu entkräften, - die Preisspanne sei schließlich der Gewinn jedes ehrenwerten Kaufmanns - , aber es fiel doch wie ein weißer Frost auf Kruses blond gekräuseltes Haar. Das Gelübde zur Pilgerfahrt wirkte jedoch auch hier Wunder, und die Strafe fiel gering aus und betrug nur einen Bruchteil des Spekulationsgewinnes.

Der Pilgerzug näherte sich einem Jakobsort. Die Priester legten ihren Ornat an und setzten das große Rauchfass in Bewegung. Die Beginen stiegen von ihren Pferden und lösten den Rosenkranz (Gebetsschnur mit aufgereihten Perlen) vom Gürtel. Aus dem hinteren Teil des Zuges klang das alte Wallfahrerlied mächtig auf: „In Gottes Namen fahren wir ...“

Auch die Begine Doortje van der Gheenst stimmte ein, während sie die Plane des Wagens ein wenig aufrollte, um hinauszuschauen. Sie konnte nicht im Zuge mitgehen, denn sie fühlte sich schwach und hinfällig, und die Beine wollten nicht gehorchen. Nun lag sie auf einem der beiden Proviantwagen zwischen Brotfladen, Wasserschläuchen, getrockneten Pflaumen und Birnen, Weinflaschen und Kräuteressenzen und erhoffte sich Heilung schon auf dem Weg zu Sankt Jakob.

Das Unterwegssein tat Doortje wohl, obgleich ihr Körper gegen das Rumpeln und Holpern anschrie. Das Bild hinter der Wagenplane veränderte sich ständig: Bäume, Felder, Hügel, Kirchtürme, ein weiter Himmel, über den vielgestaltige Wolken segelten, Häuser, Vogelschwärme, Schweine, die in Pfützen wühlten, Hunde, die mit dem Schwanz wedelten oder wütend kläfften.

Jeder Blick fing etwas anderes ein. Oft spürte Doortje das unzähmbare Verlangen, in die Hütten und Häuser am Wegrand einzutreten und sich umzuschauen, sich den Bewohnern verständlich zu machen, den Frauen beim Wassertragen zu helfen, den Kindern über das Haar zu streichen, die Blumen zu bewundern, von der Suppe zu kosten, das neugeborene Kälbchen zu begrüßen. Doch sie musste liegen bleiben und darauf warten, dass ihr jemand die steifen schmerzenden Glieder bewegte.

Die Dorfbewohner ließen es sich nicht nehmen, die Jakobspilger in feierlicher Prozession einzuholen, überzeugt davon, dass alle Nöte und Bedrängnisse bei ihnen wohl aufgehoben waren und an das Apostelgrab mitgenommen wurden. Sankt Jakobus selbst begrüßte, von vier Männern getragen, unter einem goldgestickten Baldachin seine Bittstellerschar, umgeben von Priestern und Ministranten, gefolgt von vielen Neugierigen.

Die Anführer des Pilgerzuges senkten ihre Banner vor dem hölzernen Standbild, das Rauchfass entsandte dichte duftende Schwaden, und das Wallfahrerlied steigerte sich zu immer größerer Lautstärke. Die Dorfpriester segneten die Wallfahrer, und die Priester unter den Wallfahrern segneten die Dorfbewohner.

Auf dem Dorfanger brannten die Nachtfeuer. Man bot Brot, Käse und Wurst zum Verkauf an, desgleichen Heu für die Pferde. Wasser wurde umsonst gereicht. Die Wagen stellte man hinter der Kirche in einer Erdmulde ab, und die Wallfahrer lagerten sich um den Dorfbrunnen, wuschen ihre Kleider und sich selbst, sättigten sich, und manche sanken gleich zur Seite und schliefen ein.

Die Begine Doortje van der Gheenst wartete in ihrem Planwagen, dass eine ihrer Mitschwestern käme, um sie zu reinigen und für die Nacht vorzubereiten. Man musste sie wieder einmal vergessen haben. Oder ließ man sie absichtlich ohne Pflege? Wollte man sich ihrer entledigen? Auch am Vortag hatte man sie lange warten lassen, und sie war doch auch in den kleinen Dingen des Alltags ganz auf andere angewiesen, brauchte Hilfe, um ihre Notdurft zu verrichten und sich bequem lagern zu können. Zwar waren die Lebensmittel in erreichbarer Nähe, aber ihre Glieder schmerzten, und sie hätte sich auch gern ein wenig unterhalten.

Doortje wurde von Angst befallen und fürchtete, das Ziel nicht erreichen zu können. Das Wallfahrtsgelübde würde sie zwar erfüllen, auch wenn sie unterwegs starb, aber die Heilung ... Tränen brachen auf und rollten über das Gesicht. Nein, schrie es in ihr, nein - ich will nicht sterben! Noch nicht. Ich bin noch nicht so weit. Heiliger Jakobus, lass mich doch wenigstens noch in Santiago ankommen, dort soll Gott über mich entscheiden. Aber bis dahin ...

Über solchen trüben Gedanken glitt Doortje in einen leichten Schlaf, der ihr reich gedeckte Tische und bereitwillig helfende Hände vorgaukelte. Sie wachte auf, als endlich jemand in den Wagen kam; man hatte sie also doch nicht ganz vergessen. Das konnte nur Birgitta sein. Sie würde es doch bis zum Jakobsgrab schaffen. Sankt Jakob würde sie retten, und das Leben konnte neu beginnen.

„Birgitta! Dem Himmel sei Dank, dass du doch noch gekommen bist! Was hast Du mir Schönes mitgebracht?“

Weshalb antwortete Birgitta nicht? War sie schon wieder verschwunden?

„Birgitta! Ich bin wach, ich schlafe nicht!“

Leises aufgeregtes Atmen war zu hören, und Doortje glaubte den Schatten einer Hand zu sehen.

„Hilf mir doch, Birgitta, um des heiligen Jakobus willen! Ich habe große Schmerzen ... Und auch sonst ...“

Draußen wurden Stimmen hörbar. „Hierher muss er gelaufen sein! Schnell, bringt eine Fackel!“

Nun war die Gestalt ganz nahe, es war nicht Birgitta! Doortje bekam vor Angst kein Wort mehr heraus. Ein Dieb, ein Räuber, ein Mörder! Sie spürte, wie jemand ihre Hand nahm, aber nicht rau und hart, sondern zart und behutsam, fast kindlich. Und es musste eine kleine Hand sein. Nun drückte die unsichtbare Gestalt ihre Stirn in Doortjes Handfläche, eine schmale schweißnasse Stirn.

„Wer bist du?“, flüsterte Doortje. „was willst du?“

Ein Kuss wurde auf ihre Hand gedrückt, nicht begehrlich fordernd, sondern ängstlich und kindlich flehend. Die Angst, die von dieser Gestalt ausging, griff Doortje ans Herz. Die kleine Hand ertastete in der Dunkelheit den rauen Beginenmantel, in den sich Doortje gehüllt hatte. Die Begine spürte, wie sich die Gestalt einen Mantelzipfel über den Kopf zog.

„Wer bist du?“, flüsterte Doortje noch einmal, „so sprich doch! Verstehst du mich denn nicht?“

Nun wurde der Wächter an der Plane sichtbar.

„Wo ist Birgitta?“, rief Doortje ihm entgegen. „Weshalb kommt sie nicht?“

„Du bist im Wagen, Frau Doortje? Hast du einen Dieb gesehen?“

„Einen Dieb? Nein! Doch nun hole mir Birgitta!“

„Ich werde sie nicht wecken. Und wenn du etwas von einem Dieb spürst, dann schrei!“

Der Wächter entfernte sich beruhigt, um den Knecht zu wecken, der ihn ablösen sollte. Vielleicht würde noch ein Spielchen herausspringen; beide spielten für ihr Leben gern.

Doortje wandte sich wieder der geheimnisvollen Gestalt zu.

„So, du siehst, mein Mantel hat dir geholfen! Aber nun hilf mir auch und gib dich zu erkennen! Bist du alt oder jung, kommst du aus Angst oder in böser Absicht?“

Keine Antwort. Doortje spürte nur, wie ihre Hand gestreichelt wurde und die Gestalt sich tief herabbeugte, um immer wieder diese Hand zu küssen.

„So, nun lass das. Ich glaube dir, dass du mich nicht umbringen willst. Was willst du also ... Hast du Hunger? Musst du dich verstecken?“

Sie murmelte diese Fragen vor sich hin, als wisse sie, dass die Gestalt mit der kleinen Hand und der schmalen Stirn sie nicht verstand. Sie langte hinter sich und fand ein Stück Brot, sie tastete damit nach der Gestalt, das Brot wurde ihr aus der Hand genommen und eilig gegessen ... Doortje fingerte nach dem nächsten Stück Brot, dann nach dem Wasserschlauch, und sie ertastete sogar ein Säckchen mit getrockneten Pflaumen. Alles verschwand wieder in der Dunkelheit, doch kein Ton wurde laut, kein Dank, keine Klage, nichts.

Der Mond ging auf, und Doortje hatte für einen Augenblick die Vorstellung einer schlanken knabenhaften Gestalt, von der keine Bedrohung ausging. Eine verirrte Nachterscheinung, die nach einer Höhle suchte, um sich zu verbergen. Ein Kind, das eine Mutter brauchte.

„Leg dich hin und schlafe. Morgen werden wir weiter sehen ...“

An den regelmäßigen ruhigen Atemzügen hörte Doortje, dass das seltsame Wesen eingeschlafen war. Es fühlte sich also sicher. Als die Vögel erwachten und der Morgendämmerung entgegensangen, fiel auch die Begine in einen kurzen tiefen Schlaf.

Am Morgen fand sich Doortje van der Gheenst allein auf dem Wagen; die nächtliche Gestalt war verschwunden. Neben dem Wagen standen Rehe und taten sich am frischen Grün gütlich. Voller Pracht und Schönheit ging die Sonne auf, doch Doortje war fast ein wenig enttäuscht. Dann wieder kam es ihr vor, als habe sie geträumt. Aber sie hatte doch Angst gehabt, das Herz hatte ihr bis zum Hals geschlagen!

Während sie gewaschen, gereinigt und in die Kirche getragen wurde, dachte sie ununterbrochen an die ungewöhnliche stumme Begegnung im Dunklen. Sie empfand nicht nur Dankbarkeit darüber, dass ihr nichts Böses zugestoßen war, nein, sie war von einer unerklärlichen Sehnsucht ergriffen, von einem Gefühl, das sie längst vergessen glaubte.

Als die Priester den Pilgersegen für die heutige Wegstrecke erteilten, war sie nur halb dabei. Ob der Segen auch das unbekannte stumme Wesen erreichte und begleitete? Ohne recht zu wissen, was sie tat, legte sie Brot und getrocknetes Fleisch zurecht, den Wasserschlauch daneben und erwartete ungeduldig den Abend.

An diesem Tag spähte sie nicht oft unter der Plane auf den Weg, sondern drehte immer wieder ihre Sanduhr um. Am Abend bat sie die Begine Birgitta, sich zu beeilen, sie sei heute besonders müde. Birgitta war es zufrieden, dann brauchte sie wenigstens kein schlechtes Gewissen zu haben, dass sie sich nur so kurz mit Doortje beschäftigte und schnell ihrem eigenen Nachtlager zustrebte.

Doortje lag in ihrem Planwagen am Waldrand hellwach und lauschte mit allen ihren Kräften. Es wurde ihr zu Gewissheit: das stumme Wesen würde kommen. Und es kam ... Es war also dem Pilgerzug gefolgt.

„Komm, verirrter Nachtmar, iss und trink und ruh dich aus, du wirst es nötig haben.“

Es huschte durch das stockfinstere Wageninnere, die Gestalt rollte sich neben Doortje zusammen und ließ sich sättigen. Doortje fühlte einen kurz geschorenen Kopf, also ein entlaufener Gefangener, der begriffen hatte, dass ein Pilgerzug Zuflucht bot.

Doortje tastete weiter, das Recht musste sie sich schließlich nehmen, und sie traute ihren Händen nicht. Doortje spürte es warm und rund und weich unter ihren Fingern: die Gestalt war eine Frau! Und sie gab sich auch bereitwillig als Frau zu erkennen. Eine sehr junge Frau, fast noch ein Kind.

Eine Hure, die sich in den Pilgerzug einschleichen wollte? Doortje verwarf diesen Gedanken gleich wieder. Eine Hure würde wohl anders vorgehen. Und warum sprach sie nicht? Doortje tastete nach dem Mund der Fremden und spürte, wie er sich heftig bewegte, aber keinen Laut herausließ. Eine Stumme? Die Fremde schmiegte sich in Doortjes Hand. Bald danach wurden wieder die ruhigen Atemzüge hörbar, die junge Frau war eingeschlafen. Am nächsten Morgen fand sich Doortje wieder allein auf dem Wagen.

„Fühlst du dich nicht wohl, Doortje?“, fragte Birgitta, während sie die Kranke für den neuen Tag zurüstete. „Hast du Schmerzen? Du bist so still und gar nicht richtig bei uns. Kann ich dir helfen?“

„Nein, nein, mir geht es gut, sogar besser als sonst. Ich bin nur ein wenig nachdenklich, und das geziemt sich ja auch für eine Pilgerfahrt.“

Birgitta war beruhigt und erleichtert, dass sie nicht noch mehr Zeit für Doortje aufwenden musste.

„Sind neue Pilger zu unserem Zug gestoßen?“, fragte Doortje.

„Nein. Warum fragst du?“

„Nur so ... Es hätte ja sein können ...“

In der nächsten Nacht kam der seltsame Gast atemlos und von Angst getrieben in den Wagen, verfolgt von den Schreien der Wächter.

„Haltet den Dieb! Er ist auf den Proviantwagen gestiegen! Frau Doortje, ist dir etwas geschehen?“

Und schon wurde die Plane auf die Seite gerissen, und im Schein der Fackeln wurde eine knabenhafte Gestalt sichtbar, die sich unter Frau Doortjes Mantel zu verbergen suchte.

„Da ist er! Reißt ihn herunter! Wir haben ihn!“

„Halt!“, rief Doortje van der Gheenst. „Ich breite meinen Mantel über diesen Menschen!“

„Bist du von Sinnen? Über einen Dieb und Räuber? Oder ist dieser da gar dein Liebhaber?“

Und ein andere schrie: „Nun gib uns den Burschen heraus, damit wir Gericht halten und endlich zur Ruhe gehen können!“

„Nein!“, sagte Doortje.

„Dann müssen wir dich samt Mantel und Dieb vom Wagen tragen.“

„Nur zu, ich will sehen, ob das Recht der Faust stärker ist als das Recht des Mantels.“

Vom Mantelrecht wusste Doortje nur vom Hörensagen, und eigentlich stand es lediglich Fürstinnen und besonders vornehmen Frauen zu, Hilfesuchenden unter ihrem Mantel Schutz zu bieten.

Doortje spürte, wie ihr etwas in die Hand gedrückt wurde. Es fühlte sich wie Leder an, aber das war nur eine Hülle für etwas anderes. Schnell ließ sie das flache Päckchen in ihrer Tasche verschwinden. Dann wurde ihr der Mantel von der Schulter gezogen und mitsamt der darunter verborgenen Gestalt vom Wagen gehoben.

Doortje selbst wurde von kräftigen Fäusten gepackt und hinterhergeschoben. Ihre Empörung über dieses ungehobelte Verhalten war groß, aber ihre Neugier auf diese Nachtgestalt noch größer. Fast alle Pilger waren auf den Beinen. Frau Doortje hat einen Liebhaber auf ihrem Wagen! Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und die Angst vor Dieben und Räubern trat dahinter zurück.

Am Feuer stand Henning Schnytker, dem der Schiedsspruch in der Pilgergemeinde anvertraut war.

Die Wächter legten Frau Doortje vor ihm auf die Erde, das Mantelpaket daneben, und dann begannen sie mit ihrer Anschuldigung. Ein Dieb werde von der Begine geschützt! Die Schuld falle also auf die Mantelträgerin. Man müsse untersuchen, ob gar Unzucht vorliege und die Strafe des Himmels die ganze Pilgerschar treffen werde.

„Nichts für ungut, Frau Doortje“, begann Schnytker, „du bist mir und den anderen gut bekannt, aber das Recht verlangt, dass du deinen Namen und deinen Stand bekannt gibst.“

„Nichts für ungut, Henning Schnytker, wenn ich dir und den anderen so gut bekannt bin, dann werdet ihr wissen, dass ich Dorothea van der Gheenst bin, Witwe des ehrenwerten Jan van der Gheenst, Maler und Werkstattbesitzer aus Brügge, Gott erbarme sich seiner Seele.“

„Kannst du beweisen, dass du diesen Mann nicht um niedriger Beweggründe willen begünstigt und geschützt hast?“

„Ich kann es. Seht ihn euch doch einmal genau an, diesen - Mann.!“

„Heda, steh auf und zeig dich.“

Die Gestalt unter dem Mantel rührte sich nicht.

Schnytker zog den Mantel weg und fand die Gestalt zusammengerollt liegen, das Gesicht nach unten auf die Hände gepresst.

„Steh auf, sage ich dir, ich habe die Gewalt.“

Die Gestalt rührte sich nicht. Schnytker beugte sich nieder und versuchte die Hände vom Gesicht zu ziehen, ohne Erfolg. Sofort waren zwei Männer zur Stelle und rissen die Gestalt hoch. So wie Doortje erging es nun den meisten: sie waren betroffen von so viel Schönheit.

Im Licht der Fackeln sah Doortje zum ersten Mal das Gesicht des nächtlichen Wesens. Übergroße schwarze Augen mit weit gespannten feinen Brauen und langen Wimpern, ebenmäßige sehr zarte Züge, über denen eine tiefe Trauer lag, kurzes dichtes schwarzes Haar. Schmale weiße Hände mit langen Fingern. Eingehüllt war die sehr große Gestalt in zerlumpte Männerkleider von ungewöhnlichem Zuschnitt, die einstmals reich und prächtig gewesen sein mussten, mit Gold- und Silberfäden gestickt, mit farbiger Seide gefüttert. Die Füße waren bloß und zerschunden.

„Wer bist du, wie heißt du?“

Um die Pause nicht noch zu verlängern, sagte Doortje: „Das habe ich auch schon einige Male gefragt. Und damit ihr es gleich wisst: das ist eine Frau.“

Eine Frau ... Das war unfassbar. Und so schön und geheimnisvoll, als sei sie nicht von dieser Welt. Man zündete noch mehr Fackeln an, um sie besser sehen zu können. Die Flammen züngelten und warfen ein flackerndes Feuerspiel auf die hoch aufgerichtete Frau, die die Augen geschlossen und die Lippen fest aufeinandergepresst hatte. Schnytker schlug vor Verwirrung die Augen nieder, diese seltsame Schönheit brachte seine Sinne durcheinander.

„Und wie kommt sie auf deinen Wagen?“

„Ganz einfach, sie ist heraufgestiegen und war da. Ich weiß auch nicht warum, aber jedenfalls wurde sie uns geschickt, und Sankt Jakob wird es uns lohnen, wenn wir uns ihrer annehmen.“

Schnytker atmete auf.

„Holt auch die anderen Anführer, dies ist mehr als ein Schiedsspruch. Auch sie sollen ihre Meinung sagen.“

Der Mönch vom Tönnieshof hatte einen leichten Schlaf, er war schnell zu Stelle und hatte eine schnelle Antwort.

„Ein Pilgerzug ist wie ein wanderndes Hospital, kein Mühseliger und Beladener, kein Kranker und Leidender sollte abgewiesen werden.“

Jürgen Kruse war anderer Meinung.

„Wegen einer solchen Dahergelaufenen werden wir nun aus dem Schlaf gerissen ... Auch Mühselige und Beladene kosten Geld. Hat sie welches bei sich? Vielleicht ist sie von einer ansteckenden Krankheit befallen.“

„Ich habe eure Meinungen gehört und werde entscheiden“, sagte Schnytker. „Frau Doortje wird sich der Fremden annehmen und ist für sie und ihr Tun verantwortlich. Niemand soll von uns sagen, dass wir das Mantelrecht missachten. Willst du bei uns bleiben, Fremde?“

Die junge Frau spürte, dass diese Frage ihr galt, sie öffnete die Augen und blickte in wilder Angst um sich.

„Mir scheint, sie kann nicht sprechen“, sagte Doortje. „Seht ihr nicht, dass sie von edlem Geblüt ist? Sie hat eine Botschaft für uns.“

Schnytker konnte seine Augen nicht von dieser Gestalt lösen. Verschwommene Erinnerungen stiegen in ihm auf; er hatte Mühe, ihnen auf die Spur zu kommen. Diese Gestalt war wie ein Gruß aus einer unendlich schönen und reichen Welt, und er spürte eine wilde Sehnsucht, in diese Welt einzukehren. Seltene Pflanzen. Düfte. Fremdartige Klänge. Das Rauschen eines strahlend blauen Meeres.

Doortje van der Gheenst fiel störend in seine Träume.

„Du bist mein Zeuge, Meister Schnytker! Ich verlange, dass sich der Wächter wegen seiner üblen Verleumdung bei mir entschuldigt, denn er hat meine Ehre verletzt.“

Die Fackeln waren heruntergebrannt und verbreiteten nur noch einen rötlichen Schein, die geheimnisvolle Gestalt stand im Dunklen.

„Morgen, Frau Doortje, morgen ... Nimm die Fremde mit dir, Gott wird uns zeigen, wen er uns da geschickt hat,“ sagte Schnytker. Eine Hexe? Eine Zigeunerin? War sie etwa krank und ausgestoßen? Hatte sie eine von diesen schrecklichen neuen Krankheiten, vor denen sich alle Welt fürchtete?

Die aufgeloderte Stimmung war erloschen, selbst die Neugierigsten konnten sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten. Die Anstrengungen des vergangenen Tages waren noch nicht einmal vergessen, und schon erwachte der nächste Tag mit neuer Mühsal.

„Tragt mich in den Wagen zurück“, sagte Doortje, „es ist jetzt alles gesagt.“

Die hat es gut, dachten die Träger, die kann sich fahren lassen.

Wie weit ist es mit mir nur gekommen, sann Doortje in sich hinein. Da liege ich vor einem jungen Mann im Staub und bitte um das Leben einer Fremden ...

Auch dem Mönch Peter Kleinvogt, dem Vorsteher des Antoniterklosters Tempzin, das weit und breit unter dem Namen Tönnieshof bekannt war, ging das Bild der Fremden nicht aus dem Sinn. Er wusste, dass auch um seine Person etwas Geheimnisvolles lebte, dass man ihn nicht so recht einzuordnen wusste - war er nun ein Priester oder ein Arzt, ein Heiliger oder ein Zauberer? Und so erging es ihm nun mit der Fremden. Zweifellos war sie etwas Besonderes, doch war es gut oder böse?

2. Kapitel

Frau Doortje stammte aus einem wohlhabenden Elternhaus in der Stadt Brügge, die man allenthalben die Schöne nannte. Ihr Großvater hatte seinen Reichtum mit dem Handel von Spitzen und Bordüren erworben und ihr Vater das Vermögen kräftig vermehrt.

Schon als Kind äußerte Doortje Wünsche und Gelüste, über die sich alle Welt wunderte, die einen mit Staunen und Respekt, die anderen mit Bedenken und Zweifel: das war doch nichts für ein Mädchen! Doortje kannte nämlich kein größeres Vergnügen, als ihr Schreibtäfelchen und die Wände ringsum mit Kritzeleien zu bedecken, aus denen sich zur Überraschung der Umstehenden bald erkennbare Formen entwickelten, Pflanzen, Häuser, Tiere, Menschen. Alles, was Doortje vor die Augen kam, floss durch ihre Hände auf irgendeine Fläche, oftmals sehr zum Missfallen der Eltern. Was hatte die Gestalt eines Reiters auf einer Schranktür zu suchen? Wie kam das Kind dazu, Blumen auf die weiß gekalkte Wand seines Schlafkämmerchens zu malen?

Es war, als sei das Mädchen besessen. Seit es auf die Bilder gekommen war, wurde es nicht müde, sich alle Farben und Formen, denen es begegnete, fest einzuprägen. Doortje wurde zu einer Meisterin im Beobachten. Sie blickte aufmerksam hin, sah etwas, schloss die Augen, stellte sich das Bild vor, öffnete die Augen wieder, verglich ihr inneres Bild mit der Wirklichkeit und freute sich, wenn beides übereinstimmte.

Dieses Beobachten und Erschauen war für sie die schönste Kurzweil. Woher sie das nur hat? wunderte sich die Mutter. Die Besessenheit steigerte sich noch, als Doortje in eine Malerwerkstatt mitgenommen wurde, wo der Vater ein Dorotheen-Altärchen in Auftrag gab, das er in die Kapelle der Spitzenhändler stiften wollte. Zuerst stand das Kind überrascht und erstaunt da, dann kam mit der Neugier auch der Mut. Auch die Erwachsenen trieben solche Spiele! Und sie gaben sich nicht mit Wänden und Schränken zufrieden, sondern stellten eigens kleine und große Malflächen her, präparierten sie mit Kreide und Leim und umgaben sie mit geschnitztem Schmuck.

Fortan sann Doortje Tag und Nacht darüber nach, wie sie Zutritt in die Malerwerkstatt finden könnte. Einige Male konnte sie den Vater begleiten, der das Entstehen seines frommen Bildes miterleben wollte. Da er stolz auf die Wissbegierde seiner Tochter war, hatte er nichts dagegen, dass sich die Besuche in der Werkstatt meist sehr in die Länge zogen. Doortje kam darauf, dass sie auch allein das Malerhaus aufsuchen konnte, wenn sie dort etwas vergessen hatte, und sie vergaß oder verlor meist etwas: ihr Haarband, ihr Spitzentüchlein, ja sogar ihren Schuh.

Die Mutter schüttelte zwar den Kopf, sah aber nicht ohne Wohlgefallen, wie Doortje sich so selbstständig und zielsicher durch die Straßen der schönen Stadt Brügge bewegte. In der Malerwerkstatt freute man sich über das lebendige Kind und gewöhnte sich an seine Besuche, und der Lehrjunge Jan hatte nichts dagegen, dass Doortje an seinen Mal- und Zeichenübungen teilnahm, seine Figuren nachstrichelte, und die Festigkeit seines Kreidegrundes prüfte. Jan lobte die Geschicklichkeit und Ausdauer des Kindes und wurde dabei selbst geduldiger, beharrlicher und gründlicher im Umgang mit Stift und Farbe.

Bald trat Doortje so selbstbewusst und sicher in der Malerwerkstatt auf, als gehöre ihr das alles oder wenigstens ihrem Vater, als sei sie dort zu Hause. Als sie wahrnahm, dass kaum jemand ihr zu widersprechen wagte, erprobte sie immer neue Formen des Forderns und Befehlens und triumphierte, wenn man tat, was sie wollte. Bald wünschte sie ein eigenes Maltischchen am vorderen Fenster. Und dann ein Klappaltärchen mit ihrer Namenspatronin, der heiligen Dorothea, die Kirschen in ein Körbchen pflücken sollte. Der Geselle Jan van der Gheenst malte ihr in den späten Abendstunden das Altärchen. Danach stand ihr der Sinn nach einem Körbchen mit echten Kirschen. Jan besorgte es.

Den nehme ich mir zum Mann, beschloss Doortje. Aber das sagte sie nicht laut, denn natürlich musste es so aussehen, als werde sie zur Frau genommen.