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Sind die Deutschen ein rebellisches Volk?
Die Deutschen, ein Volk von Aufständischen? Angesichts der berühmten großen Revolutionen in Frankreich und den USA wirkt dieser Gedanke fast bizarr. Die Deutschen - das sind doch die Braven, die Angepassten, die zwar viel über ihr vermeintliches Elend lamentieren, aber nur selten auf der Straße für ihre Rechte kämpfen. Nicht umsonst trägt der deutsche Michel eine Schlafmütze, wirkt schlaff und energielos.
Alain Felkel zeigt, dass dieses Bild falsch ist. Anhand zahlreicher bekannter und neu zu entdeckender Beispiele belegt er: Die Deutschen sind ein Volk von Rebellen und Revolutionären, waren es schon immer, zu allen Zeiten, in allen Regionen, gegen mancherlei Herrschaft.
Alain Felkel bringt das rebellische Herz der Deutschen zum Vorschein - allgemein verständlich, erfrischend, eingängig.
Arminius führte die Cherusker gegen die römische Herrschaft in die Schlacht. Widukind kämpfte mit den Sachsen gegen Karl den Großen, Thomas Müntzer und seine Anhänger gegen geistliche Obrigkeit und ständische Ordnung. Vinzenz Fettmilch schließlich protestierte gegen die Misswirtschaft des Frankfurter Stadtrates. Wie viele vor und nach ihnen kämpften diese Rebellen gegen ihre Unterdrücker, für ihre Rechte. Sie standen auf und wehrten sich - wenn auch bisweilen nicht mit dem gewünschten Erfolg.
Anhand zahlreicher Beispiele belegt der Kölner Historiker Alain Felkel, dass es in sämtlichen Epochen Aufstände und Rebellionen gab: von der Varusschlacht über den Weberaufstand bis hin zur Novemberrevolution und zum Mauerfall. Was er zum Vorschein bringt, sind spannende Episoden verdrängter deutscher Geschichte, Geschichten von Heldentum und Verrat - packend und populärwissenschaftlich erzählt. Das Ergebnis: mitreißende Geschichte, lebendig und immer dicht an den historischen Protagonisten.
»Die Welt möge begreifen, [.] dass die Deutschen ein Volk sind, das den Wert der Freiheit kennt, und dass die Deutschen ein Volk sind, das für die Freiheit sich einsetzt.« Der Berliner Bürgermeister Ernst Reuter am 18. Juni 1953, nur einen Tag nach dem Volksaufstand in der DDR
»Welches Land kann sich seine Freiheit erhalten, wenn die Herrscher nicht von Zeit zu Zeit gewarnt werden, dass ihr Volk sich den Widerstandsgeist bewahrt hat?« Thomas Jefferson, US-amerikanischer Präsident 1801-1809
»Wer eine friedliche Revolution unmöglich macht, macht eine gewaltsame unvermeidbar.« John F. Kennedy
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Meinen Eltern und Susann
Welches Land kann sich seine Freiheit erhalten, wenn die Herrscher nicht von Zeit zu Zeit gewarnt werden, dass ihr Volk sich den Widerstandsgeist bewahrt hat?
Thomas Jefferson, US-amerikanischer Präsident 1801–1809
Deutschland 1918: Eine als Soldatenstreik angedachte Matrosenrevolte wird durch politische Agitation erst zum Volksaufstand gegen Hunger und Krieg, dann zur Revolution, die innerhalb weniger Tage das Wilhelminische Kaiserreich hinwegfegt. Es ist der erste überwältigende Sieg einer deutschen Aufstandsbewegung der Neuzeit. Sie bringt ein politisches System zum Einsturz, das für Jahrzehnte unerschütterlich schien, und endet mit der Gründung der ersten Republik Deutschlands.
Die Novemberrevolution von 1918 müsste dementsprechend ein populäres Ereignis der deutschen Geschichte sein. Besonders, weil zum Zeitpunkt des Erscheinens der vorliegenden Zweitausgabe von »Aufstand. Die Deutschen als rebellisches Volk« das 100-jährige Jubiläum jenes fundamentalen historischen Ereignisses ansteht, das in der Deutschen Geschichte eine größere Zäsur darstellt, als es die Wende 1989 war – doch weit gefehlt.
Die jüngst veröffentlichten Monografien zu diesem Thema lassen sich an einer Hand abzählen. Zu sehr haftet dem revolutionären Volksaufstand von 1918 der Makel des Scheiterns an. Dabei wird übersehen, dass die deutschen Revolutionäre binnen weniger Wochen die Existenz von 22 Bundesfürstentümern beendeten und wenig später die politischen Verhältnisse Deutschlands mit der Gründung der Weimarer Republik in die Moderne wuchteten. Die atemberaubende Schnelligkeit, mit der das geschah, musste zu schweren innenpolitischen Verwerfungen und Konflikten zwischen den rivalisierenden revolutionären Kräften von SPD, USPD sowie Arbeiter- und Soldatenräten führen und den Widerstand rechtskonservativer Kräfte wecken. Dass diese sich letztendlich durchsetzten und Hitler den Weg bahnten, ist tragisch, nimmt der Novemberrevolution jedoch nicht ihre Größe. Dass sie eine Terrorherrschaft nach sich zog, mindert nicht ihre historische Bedeutung für die deutsche Geschichte.
Wäre dem so, dürfte England weder eines Oliver Cromwells gedenken, der nach der Hinrichtung von König Karl I. von England eine Diktatur errichtete; noch dürften die Franzosen die Revolution von 1789 als Monumentalereignis ihrer Geschichte vergöttern, die Frankreich die Terrorherrschaft Robespierres brachte. Was jedoch die Novemberrevolution von den geschilderten englischen und französischen Umstürzen unterscheidet, ist, dass ihr charismatische Heldengestalten fehlen und sie nicht zum Stiftungsmythos deutscher Demokratie wurde. Daran konnte auch der kurzlebige Revolutionskult zu Zeiten der DDR nichts ändern. Bis heute ist die Novemberrevolution ein Stiefkind deutscher Geschichte – wie so viele andere Rebellionen und Umsturzversuche auf deutschem Boden.
So haben Volksaufstände wie der Deutsche Bauernkrieg 1525 oder die Revolution von 1848/49 nie wirklich den Weg ins Geschichtsbewusstsein der breiten Öffentlichkeit der BRD gefunden, im Gegensatz zur im Jahre neun nach Chr. geschlagenen Varusschlacht und der 1989 einsetzenden Wende in der DDR.
Zweitausend Jahre bewegter Geschichte liegen zwischen diesen beiden Daten, die als Schlüsselereignisse äußerst bedeutend für die deutsche Nationalidentität und Nationenbildung geworden sind. Eins vor allem kennzeichnet diese epochalen Wendemarken deutscher Geschichte: dass sie siegreiche Aufstände waren – der eine ein klassischer Befreiungskampf, der andere eine Revolution.
Beide Aufstände beseitigten unerträgliche Rechts- und Gesellschaftszustände und brachten das zurück, wonach die Menschheit nach Ansicht des französischen Philosophen Albert Camus seit Anbeginn ihrer Schöpfung strebt: Freiheit, eine gerechtere Gesellschaftsordnung und nationale sowie individuelle Selbstbestimmung. Im Kampf gegen die römischen Unterdrücker und in der Ablehnung des SED-Überwachungsstaats fanden sowohl die Krieger des Arminius wie auch die Demonstranten des Jahres 1989 zu einer neuen gesellschaftlichen Identität, die man mit den berühmten Worten Camus’ treffend beschreiben kann: »Ich empöre mich, also sind wir.«
Einmal begonnen, kannten diese Erhebungen kein Zurück und entwickelten eine seltsame, nicht aufzuhaltende Eigendynamik. Um diese überhaupt entwickeln zu können, mussten sie zunächst in Gang gebracht werden – eine der Hauptschwierigkeiten bei Aufständen. In eindrucksvoller Weise verdichtet Friedrich Schiller in seinem Wilhelm Tell den Schlüsselmoment einer jeden Erhebung, den Punkt ohne Umkehrmöglichkeit, der jedem Aufstand, jeder Revolte und jeder Revolution eigen ist.
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last – greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ewgen Rechte, Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst – Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht – Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben – Der Güter höchstes dürfen wir verteidgen Gegen Gewalt – Wir stehn vor unser Land, Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder!1› Hinweis
Mit dem Verweis auf die Verzweiflung durch Unterdrückung, mit dem Hinweis auf das ewige Recht spielt Schiller auf einen alten menschlichen Traum an: auf den einer idyllischen und gerechten Urgesellschaft, die keine Hierarchien, sondern nur eine freiheitliche Anarchie gleichberechtigter Individuen kennt. Dies ist stets das Programm einer Rebellion: die Wiederherstellung eines alten Rechtszustands, der von der Masse der Bevölkerung im Vergleich zu den gegenwärtigen Verhältnissen als gesellschaftliches Ideal empfunden wird.
Was aber ist der Unterschied zwischen Aufstand, Rebellion und Revolution?
Zunächst einmal gilt festzuhalten, dass ein Aufstand meist eine bewaffnete Erhebung einer größeren gesellschaftlichen Gruppe gegen die herrschende Macht ist. Protestaktionen, die sich in Krawallen und Tumulten erschöpfen, werden meist Aufruhr oder Unruhen genannt.
Zu den schwersten Formen des Aufstands gehören der Volksaufstand, die nationale Erhebung oder der Befreiungskampf gegen eine fremde Besatzungsmacht, die Rebellion oder die Revolution. Volksaufstände – im romanischen und englischen Sprachraum auch »Revolten« genannt – entstehen meist spontan, wie Leo Trotzki, einer der brillantesten revolutionären Taktiker, beschreibt:
Als elementaren Aufstand bezeichnen Historiker und Politiker gewöhnlich eine solche Massenbewegung, die, geeint durch Feindschaft gegen das alte Regime, weder klare Ziele, noch ausgearbeitete Kampfmethoden, noch eine bewusst zum Siege führende Leitung besitzt.
Im Gegensatz zum Volksaufstand können Befreiungskämpfe, Rebellionen und Revolutionen durchaus zentral geleitet sein. Da in diesem Buch neben Volksaufständen vor allem von Rebellionen und Revolutionen die Rede sein wird, lohnt es sich, an dieser Stelle genauer auf ihre Begrifflichkeit einzugehen.
Die Bezeichnung eines Aufstands als »Rebellion« bedeutete im 18. Jahrhundert noch wortwörtlich nichts anderes als »Wiederaufnahme des Krieges«, und zwar meist durch die zuvor unterlegene Partei. Später wurde der Begriff zu einem weiteren Synonym für Revolte, Empörung und Aufstand. Innerhalb dieser Begriffsgruppe nimmt die »Revolte« eine Sonderfunktion ein. Sie kennzeichnet oft einen lokal begrenzten, unmittelbar entstehenden Aufstand einer relativ kleinen Gruppe Unzufriedener wie beispielsweise der Matrosen des III. Geschwaders während der Kieler Matrosenrevolte 1918.
Der Begriff »Revolution« ist spätlateinischen Ursprungs und entstammt dem astronomischen Werk De revolutionibus orbeum coelestium (»Von der Umdrehung der Himmelskörper«) von Nikolaus Kopernikus. Er bedeutet so viel wie »Umwälzung« oder »Umdrehung« und beschrieb ursprünglich nichts anderes als die Umlaufbahnen von Planeten. Bald jedoch wurde der Begriff politisiert. Als »Revolution« bezeichnete man vorerst einen durch Gewalt herbeigeführten Umsturz ohne tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen, zum Beispiel die 1688 erfolgte »Glorious Revolution« in England, die mit dem Sturz Jakobs II. und der Einführung der konstitutionellen Monarchie endete. Erst später wurde der Begriff durch die Französische Revolution von 1789 zu dem, was wir heute idealtypisch unter »Revolution« verstehen: eine durch einen gewaltsamen Umsturz bedingte, tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung, die den Willen zum Neuen hat und meist mit der völligen Entmachtung der herrschenden Gesellschaftsschicht endet. Albert Camus sah den Unterschied zwischen »Revolte« (Aufstand/Rebellion) und »Revolution« darin, dass die Revolte nur Menschen, die Revolution aber Menschen und Prinzipien tötet und aufgrund einer Idee von Herrschaft ein neues System errichtet.
Doch Camus’ Erklärungsmuster, so trefflich es auch ist, richtet den Revolutionsbegriff allzu starr an den Ergebnissen der Französischen Revolution aus und berücksichtigt nicht ihre schrittweise Eskalation. Die Französische Revolution verlief weder nach Plan, noch dachten die Bastillestürmer an einen Systemwechsel. Denn 1789 war aufseiten der Empörer zwar der Wille zur politischen Veränderung da, aber kein systemumwälzendes Programm vorhanden. Alles begann mit einem Volksaufstand, mit dem Sturm auf die Bastille, der – wenn man so will – Frankreich jene »Glorious Revolution« brachte, die in England bereits 110 Jahre früher erfolgt war. Infolge des Bastillesturms wurden die regierenden Minister gestürzt und die absolutistische Macht des Königs beschnitten, nicht aber das Königtum selbst als politisches System gefährdet. 1789 endete für Frankreich mit einer Verfassungsreform, der Erklärung der Menschenrechte und der Abwandlung des monarchischen Prinzips.
Der von Camus beschworene Systemwechsel erfolgte in aller Radikalität erst ab 1792 mit dem Zusammentritt des Nationalkonvents und der Hinrichtung Ludwigs XVI. im Jahre 1793. Damit war der Übergang Frankreichs von einer konstitutionellen Monarchie zur Republik besiegelt.
Der Übergang vom Aufstand zur Revolution kann also fließend sein. Oft beginnen Aufstände mit der Revolte Einzelner, die sich gegen einen von ihnen als Unrecht empfundenen Zustand empören. Erfasst diese Revolte von Individuen kleinere Gruppierungen und springt sie von diesen auf größere Teile der Bevölkerung über – und sogar andere Landesteile –, wird diese Revolte zur Rebellion oder zum Aufstand.
Wird dieser Aufstand von Volksmassen getragen und entsteht er spontan, spricht man vom Volksaufstand. Ein Volksaufstand, der nicht nur auf bloßer Ablehnung unbeliebter Regierungsmaßnahmen beruht und lediglich punktuelle Veränderungen fordert, sondern das ganze Herrschaftssystem beseitigen will und ein revolutionäres Programm entwickelt, ist eine Revolution.
Aufstände, die sich gegen die Vertreter einer fremden Besatzungsmacht und deren Unterdrückung richten, sind Befreiungskämpfe. Meist haben diese Befreiungskämpfe die Form von Volksaufständen.
Aber gab es überhaupt derartige Aufstandsbewegungen, Volksaufstände, Rebellionen und Revolutionen in Deutschland? Die Antwort lautet Ja – nur sind die meisten deutschen Aufstände und Revolutionen der Allgemeinheit bestenfalls noch skizzenhaft bekannt, weil sie im Schulunterricht oder in den Medien unter »ferner liefen« eingeordnet und oberflächlich angerissen werden. Ausnahmen bestätigen natürlich auch hier die Regel: So wurde der Novemberrevolution in der schulischen und politischen Bildung der DDR viel Raum eingeräumt, die Verfassungsbewegung der 1848er-Revolution durch die bürgerliche Geschichtsschreibung der Bundesrepublik als Meilenstein in der demokratischen Entwicklung Deutschlands eingeordnet und entsprechend vermittelt.
Und trotzdem herrscht in Deutschland die Meinung vor, die Deutschen seien ein Volk, das in der Vergangenheit fast sklavisch alles erduldete, was fürstliche und staatliche Autoritäten verordneten, das nie lernte, um seine demokratische Freiheit zu kämpfen. Noch immer herrscht der Irrglaube vor, dass die Deutschen erst mit den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Einigkeit vertraut wurden, als französische Revolutionstruppen 1792 in Deutschland einmarschierten oder die über Hitler siegreichen Alliierten sie 1945 damit beglückten. Das Gegenteil ist der Fall. Die Deutschen sind ein rebellisches Volk, das hinsichtlich seiner Aufstandsgeschichte den Vergleich mit anderen Nationen nicht zu scheuen braucht. Der deutschen Geschichte mangelt es nicht an Helden und Mythen, tragischen Niederlagen und glorreichen Siegen im Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit. Sicher, es gab ihn wirklich, den in der Karikatur verewigten sprichwörtlichen »deutschen Michel«, jenen bis zu Trotteligkeit gutmütigen Spießbürger; es gab den unterwürfigen Untertan, der ohne zu murren gehorchte, oder den Mitläufer des Dritten Reiches, der von all den Verbrechen der Nazis nichts gewusst haben will, obwohl er sie selbst in die Tat umsetzte, indem er stur seine Befehle ausführte.
Aber die deutsche Geschichte bietet auch vieles mehr: ein Sammelsurium freiheitsliebender Recken wie Arminius und Widukind, gesellschaftlicher Utopisten vom Schlage eines Thomas Müntzer, verwegener Volkstribunen und Bauernführer, die nicht davor zurückschreckten, selbst den Kaiser herauszufordern. Die namenlosen deutschen Demokraten und Republikaner der Jahre 1848/49, die Arbeiter und Matrosen der Novemberrevolution 1918, die protestierenden DDR-Bürger der Jahre 1953 und 1989 – sie alle waren keine gefügigen Untertanen, sondern Rebellen in Geist und Tat.
Von ihnen handelt dieses Buch. Es ist der Versuch, Schlüsselereignisse deutscher Geschichte so packend nahezubringen, wie sie sich ereignet haben, und dabei ein freiheitliches Selbstverständnis im Umgang mit der eigenen Historie und der nationalen Identität herzustellen. Daher fiel die Wahl auf Freiheitskämpfe, Volksaufstände und Revolutionen, die einerseits charakteristisch und andererseits für die politische Entwicklung Deutschlands von entscheidender Bedeutung waren. Zur Vertiefung finden sich am Ende der jeweiligen Kapitel weiterführende Literaturhinweise.
Schließlich – last but not least – danke ich Susann Schindler und Richard Mestwerdt herzlich für ihre Unterstützung bei der Arbeit an diesem Buch.
Ein Hinweis zur Orthografie: Die Schreibweise der Zitate wurde zugunsten einer besseren Lesbarkeit behutsam an die neue Rechtschreibung angeglichen.
Deutschland, verlass mich nicht mit deinen Fluren, Bergen, Tälern und Männern! Ich kämpfe ja nur deinethalb: die Feinde sollen deine Waldungen nicht zum Schiffsbau zerschlagen, dir deine Herrlichkeit, deinen Söhnen ihr Blut und ihre Freiheit nehmen! − Du mit ewigem Grün prangender Rhein, du donnernde Donau, du, meine Weser, und du, leuchtende Elbe, die ihr in allen so vielen Schlachten uns zur Seite wart, helfende, blitzende unendliche Schwerter, − ihr solltet speichelleckend fluten unter dem Brückengekett des Römers? Nein, wir sind dankbar und werden euch erlösen.2› Hinweis
Diese hehren Worte – dem Cherusker 3› Hinweis Arminius, hier verdeutscht zu Hermann, von dem Dramatiker Christian Dietrich Grabbe 1836 in den Mund gelegt – sind symptomatisch für das Bild, welches sich im 19. Jahrhundert die Öffentlichkeit Deutschlands vom »Befreier Germaniens« machte. So und nicht anders stellten sich seit Ulrich von Huttens Arminiusgedicht deutsche Dichterpatrioten ihren Arminius vor, der 9 n. Chr. drei römische Legionen unter der Führung des Publius Quinctilius Varus vernichtet hatte: als Urgestalt deutschen Heldentums, die sich aus Heimatliebe gegen auferlegtes Unrecht gewehrt habe und damit nicht nur zum Befreier Germaniens, sondern zum Bezwinger Roms geworden sei.
Dichter wie Klopstock, Kleist oder der erwähnte Grabbe erspürten den charismatischen Zauber von Arminius und die einzigartige historische Bedeutung seiner Rebellion, die sie als einen weichenstellenden Sieg feierten.
Der Cherusker eignete sich aufgrund seiner kurzen Heldenvita für unterschiedliche Projektionen: Mal stand wie bei Grabbe das Motiv der nationalen Erhebung in Form des Freiheitskrieges im Vordergrund, mal wie bei Kleist die tragische Heldenfigur des auf dem Höhepunkt seiner Macht durch Verrat gescheiterten Reichseinigers.
Immer aber wurde Arminius/Hermann als Projektionsfigur auserkoren, wenn es in Deutschland darum ging, sich auf die urwüchsige Kraft des Germanentums zu beziehen, das seit der Wiederentdeckung von Tacitus’ Germania4› Hinweis mit dem Deutschtum gleichgesetzt wurde. Die historische Tatsache, dass es den Germanen zwischen Elbe und Rhein unter Arminius gelungen war, sich von der römischen Herrschaft zu befreien, wurde unter Bismarck vollends zum identitätsstiftenden Mythos der deutschen Nation geschmiedet. Der Cherusker mutierte zum Supermann, triumphierend den Fuß auf das Natterngezücht besiegter römischer Legaten, Legionäre und Liktoren setzend, und die Varusschlacht wurde in grenzenloser Verzerrung ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung von deutschen Historikern wie Theodor Mommsen zum Wendepunkt der Geschichte und zur Zeitenwende Roms hochstilisiert.
Noch bevor das Hermannsdenkmal 1875 nach 37-jähriger Bauphase eingeweiht werden konnte, war der Sieger der Varusschlacht zum Vielzweck-Freiheitsmythos erstarrt, dessen schimmernde Wehr als deutungsoffene Projektionsfläche den jeweiligen politischen Strömungen diente, die sich später des Helden bemächtigten. Das wilhelminische Kaiserreich wie das Dritte Reich schlachteten den Arminius-Mythos weidlich aus. Die Nachkriegszeit war hingegen eher von einem verhaltenen Umgang mit dem einstigen Helden der Varusschlacht geprägt, bis am Ende des 20. Jahrhunderts neueste archäologische Entdeckungen bei Kalkriese – und in deren Gefolge darauf fußende historische Filmdokumentationen – erneut einen regelrechten »Arminius-Boom« auslösten.
Doch wer war die historische Figur hinter diesem kraftvollen Mythos? Was war dran am Arminius-Aufstand, der wie keine Erhebung der deutschen Geschichte den Archetypus der Rebellion auf deutschem Boden verkörperte?
Im Herbst des Jahres 9 n. Chr. schien Roms Triumph über die letzten freien Stämme Germaniens perfekt. Fast vier Jahre lang hatte der Pannonische oder Illyrische Aufstand gewütet, bis es Augustus’ Feldherrn, dem späteren Kaiser Tiberius, gelungen war, die rebellischen Balkanvölker so vernichtend zu schlagen, dass ihre Führer die Kapitulation anboten. Der römische Kaiser konnte wieder erleichtert aufatmen. Endlich würde wieder Frieden in allen Provinzen des römischen Imperiums herrschen. Jetzt bot sich ihm die Möglichkeit, mit aller Macht gegen den letzten Rivalen Roms vorzugehen: den Markomannenherrscher Marbod, dessen jenseits der Elbe gelegenes Reich direkt an den römisch beherrschten Teil Germaniens grenzte.
Doch es kam anders, und Augustus’ Traum zerplatzte wie eine Seifenblase. Fünf Tage nach Beendigung des Pannonischen Aufstands überbrachte ihm ein Bote Marbods ein seltsames Behältnis. Es enthielt den in Honig eingelegten Kopf jenes Mannes, den Augustus bei bester Gesundheit wähnte und der seit zwei Jahren römischer Statthalter in Germanien war: Publius Quinctilius Varus. War dieser Anblick schon grauenvoll genug, so berichtete der Bote Marbods noch weitaus Schrecklicheres. Was dem Kaiser zu Ohren kam, war nichts weniger als die Apokalypse der augusteischen Germanienpolitik.
Nicht nur Varus hatte in einer gewaltigen militärischen Auseinandersetzung im tiefsten Innern Germaniens den Tod gefunden. Zusammen mit dem Statthalter Roms waren alle Legaten (Legionskommandeure), Lagerpräfekten und hohen Offiziere gefallen. Drei römische Legionen, die besten und erfahrensten Roms, waren zusammen mit fünf Kohorten und der gesamten Reiterei – alles in allem eine mindestens 20 000 Mann umfassende Kampftruppe – in den germanischen Wäldern niedergemetzelt und buchstäblich in Stücke gehauen worden. Die Zenturionen ersten Ranges hingen gekreuzigt in den Bäumen der heiligen Haine, ein Teil der Legionäre lag erschlagen und aufgeschlitzt in den Opfergruben der alten Götter ihrer Feinde, der Rest fristete ein erbärmliches Dasein in Gefangenschaft.
Die wenigen Streitkräfte, die dem Gemetzel entkommen waren, hatten sich zu einem befestigten Lager namens Aliso geflüchtet und kämpften gegen die von Blutrausch und Beutegier entfesselten Stämme der Marser, Brukterer, Chatten 5› Hinweis und Cherusker um ihr Leben. Der Rest der noch verbliebenen römischen Streitkräfte in Germanien zog sich in Eilmärschen zur Rheinlinie zurück, einerseits, um weitere Angriffe der Aufständischen aufzuhalten, andererseits, um zu verhindern, dass der Funke des Aufstands nach Gallien übersprang.
Das Schlimmste aber war nicht einmal die militärische Niederlage des Varus, sondern das aus ihr resultierende politische Desaster. Die in endlosen Feldzügen unterworfenen germanischen Stammesgebiete zwischen Rhein und Elbe wurden innerhalb weniger Wochen verloren, römische Militärlager, Siedlungen und Marktplätze gingen in Flammen auf. Damit war die Errichtung einer germanischen Provinz gescheitert.
Für Augustus brach eine Welt zusammen. Fassungslos flehte er den Geist von Varus an, ihm seine Legionen wiederzugeben, und ließ sich als Zeichen seiner Trauer und Verzweiflung einen Bart wachsen.
War Rom zwischen Rhein und Elbe jahrzehntelang in der Offensive gewesen, so hatte sich das Blatt deutlich gewendet. Jetzt sah es so aus, als ob die Germanen jederzeit die Alpen überqueren und in Italien einfallen könnten. Panik ergriff die italische Bevölkerung, und die Urangst vor dem Furor Teutonicus, dem scheinbar unaufhaltsamen Ansturm entfesselter Germanenhorden, griff bis nach Rom um sich. Auch vor Augustus machte sie nicht halt: Sofort nach Erhalt der Nachricht von Varus’ Niederlage trennte er sich von seiner vornehmlich aus Batavern 6› Hinweis bestehenden Leibgarde, die ihm jahrelang treu und ergeben gedient hatte.
Verursacher dieses Desasters war ein Cherusker, der viele Jahre seiner Jugend als politische Geisel in Rom gelebt hatte und sogar in den römischen Ritterstand befördert worden war: Arminius, Sohn des Cheruskerfürsten Segimer und Militärpräfekt der unter dem Oberbefehl von Varus stehenden Bundestruppen in Germanien.
Was hatte sich mit dem Amtsantritt des Varus als Statthalter geändert? Trug Rom selbst Schuld am ersten schriftlich überlieferten Aufstand auf deutschem Boden?
Stoßen wir in den von wissenschaftlichen Glaubenskämpfen 7› Hinweis durchzogenen Morast der sogenannten »Varuskatastrophe« vor und befassen uns näher mit Roms Germanienpolitik, die einen Teil der unter Augustus stattfindenden imperialen Neuausrichtung bildete.
Nachdem Octavian – dem später der Ehrenname Augustus verliehen wurde – im Machtkampf gegen seine anfänglichen Verbündeten, dann seine Konkurrenten Lepidus und Marcus Antonius triumphiert hatte, setzte er sich die Erneuerung des römischen Staatswesens zum Ziel. Das mahnende Beispiel des Attentats auf Cäsar vor Augen, verzichtete er darauf, den römischen Senat seine faktische Alleinherrschaft allzu deutlich spüren zu lassen, und regierte Rom als princeps, als Erster unter Gleichen.
Diese Staatsform, der Prinzipat, erwies sich als effektiv für die Befriedung Roms nach all den blutigen Bürgerkriegsjahren, die der Ermordung Cäsars gefolgt waren, und zog gewaltige Reformen im Innern nach sich. Innerhalb weniger Jahrzehnte schuf Augustus aus der blutleeren Republik ein neues Rom und begründete eine Staatsform, die in der westlichen Reichshälfte bis zum Untergang Roms 476 Bestand haben sollte: das römische Kaisertum. Den Ehrentitel eines Cäsaren im Namen führend, verhielt sich Augustus bald wie ein mit allen Vollmachten ausgestatteter hellenistischer Alleinherrscher. Fern davon, ein spiritueller Romantiker zu sein, belebte Augustus alte, fast in Vergessenheit geratene religiöse Kulte und führte neue ein, zu deren Oberpriester er sich selbst ernannte.
Wesentlich für die Erneuerung der Staatsorganisation war die Reorganisation des Reiches, indem er die Provinzen neu gliederte. Vor allem setzte er die Expansion Roms mit allen Mitteln fort: Im Osten schloss er mit den Parthern Frieden und setzte durch, dass Armenien ein römisches Klientelkönigtum wurde. Im Norden eroberte er 15 v. Chr. nach gewaltigen Offensiven das nördliche Alpenvorland, auf dem Balkan stabilisierte er die römische Herrschaft im Illyricum.
Fast schien es so, als könnte nach all den Eroberungsfeldzügen der Janustempel, dessen Türen anzeigten, ob im Reich Krieg oder Frieden herrschte, endlich geschlossen werden, als die germanischen Stämme der Sugambrer, Usipeter und Tenkterer in Ostgallien einfielen. Die germanischen Raubscharen plünderten die Grenzregion und schlugen die unter dem Statthalter Marcus Lollius zu Hilfe eilende 5. Legion vernichtend, bevor sie sich mit ihrer Beute wieder über den Rhein zurückzogen − eine derartige Provokation konnte sich Rom nicht bieten lassen.
Die Niederlage der 5. Legion schmälerte nicht nur das militärische Prestige Roms – zumal sie auch den Legionsadler, ihr höchstes Feldzeichen, verloren hatte –, sondern wies zugleich auf die Verwundbarkeit der gallischen Ostgrenze hin. Schon Agrippa hatte den ursprünglich rechtsrheinisch siedelnden Stamm der Ubier auf das linke, also gallische Flussufer am Niederrhein umgesiedelt und ihm Aufgaben der Grenzverteidigung zugewiesen. Genauso war er weiter im Süden mit den Stämmen der Vangionen, Nemeter und Triboker verfahren, die die gallische Ostgrenze am Oberrhein gegen germanische Angriffe aus dem Osten sicherten. Doch dieser Schutzschild konnte das immer häufiger stattfindende Einsickern germanischer Raubscharen in Gallien nicht verhindern.
Wie Tacitus berichtet, wurde der Druck der Sugambrer so groß, dass Augustus ab 16 v. Chr. von seiner Friedenspolitik gegenüber Germanien abwich und von nun an offensiv gegen die östlich des Rheins siedelnden Völkerschaften vorging.
Ob Augustus tatsächlich Germanien erobern wollte oder ob es lediglich seine Absicht war, die gallische Ostgrenze auf dem rechten Rheinufer durch eine mit Militäranlagen gesicherte Pufferzone zu schützen, kann aufgrund der heutigen Quellenlage nicht eindeutig geklärt werden. Fest steht, dass die römische Expansion nach Germanien hinein in mehreren Etappen erfolgte und von Augustus’ Stiefsohn Drusus energisch durchgeführt wurde. Zwischen 16 und 12 v. Chr. errichtete der frisch gekürte Oberbefehlshaber der Rheinarmee vier große Operationsbasen am Rhein: das Lager Castra Vetera (das heutige Birten bei Xanten), Numaga (Nimwegen), den Flottenstützpunkt Fectio (Vechten unweit von Utrecht) und Moguntiacum (Mainz) an der Einmündung des Mains in den Rhein. Überall entlang der gallisch-germanischen Wassergrenze entstanden militärische Stützpunkte wie Novaesium (Neuss), sodass das linke Rheinufer bald vor römischen Waffen starrte. Damit waren die Operationsbasen für die folgenden Feldzüge gegen die Germanen geschaffen.
Während der Jahre 12/11 v. Chr. verheerte Drusus mit seinen Truppen das Land der an der Niederlage des Lollius maßgeblich beteiligten Stämme der Sugambrer und Usipeter, ohne die Germanen in einer großen Entscheidungsschlacht vernichtend schlagen zu können. Ein Jahr später zog er entlang des Maintals durch die Wetterau gegen die Chatten, die sich zusammen mit den Sugambrern gegen Rom verbündet hatten. Bei den im Jahr darauf folgenden Kämpfen stieß Drusus nach harten Gefechten gegen Sueben und Cherusker bis zur Elbe vor, wo ihm – wie Cassius Dio 8› Hinweis berichtet – eine germanische Seherin seinen nahen Tod weissagte.
Eine Frau, größer als Menschenmaß, war ihm begegnet und hatte gesagt: »Wohin eilst du, unersättlicher Drusus? Es ist dir nicht vergönnt, dies alles hier zu sehen. Kehre um! Das Ende deiner Taten und deines Lebens ist gekommen.« Nun ist es zwar ein Wunder, dass ein solches Wort von der Gottheit an einen Menschen ergeht, doch habe ich keinen Grund den Glauben zu versagen.9› Hinweis
Die Prophezeiung der riesenhaften Seherin sollte sich erfüllen. Auf dem Rückzug von der Elbe stürzte Drusus auf dem Weg ins Winterlager vom Pferd und brach sich ein Bein. Die Verletzung war so schwer, dass der römische Feldherr bald darauf an ihr verstarb. Er wurde von Augustus durch seinen Bruder Tiberius ersetzt, der an der Spitze der Rheinarmee die von Drusus begonnenen Eroberungen derartig erfolgreich fortsetzte, dass die Sugambrer und alle anderen Stämme Germaniens Rom schließlich um Frieden baten.
Jetzt trug die römische Zermürbungstaktik endlich Früchte. Ein gewaltiger Schuss Perfidie besorgte den Rest: Listenreich wie Odysseus ließ Augustus, der zu diesem Zeitpunkt in Gallien weilte, den germanischen Stämmen verkünden, dass es ohne die Teilnahme der Sugambrer keine Friedensverhandlungen mit den anderen germanischen Stämmen geben würde, was die zuerst noch verhandlungsunwilligen Sugambrerfürsten aufgrund des Drucks ihrer Bundesgenossen an den Verhandlungstisch zwang. Was dann folgte, war zwar ein genialer Coup römischer Außenpolitik, aber selbst für damalige Verhältnisse ein brutaler Verstoß gegen geltendes Kriegsrecht. Augustus ließ die Gesandten der Sugambrer gefangen setzen und raubte somit dem stärksten politischen Widersacher in Germanien die politische Führung. Entmutigt und verzweifelt, ihren Todfeinden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, brachten sich die gefangenen sugambrischen Stammesvertreter selbst um.
Mit diesem harten Schlag glaubte Augustus das Sugambrerproblem ein für alle Mal gelöst und Germanien befriedet. Nirgendwo regte sich noch Widerstand. Die zwischen Weser und Elbe siedelnden Cherusker hatten sich nach anfänglicher Gegenwehr 11 v. Chr. ebenfalls unterworfen und die römische Vorherrschaft in Nordgermanien anerkannt. Ein durch Geiselgestellung bekräftigter Vertrag räumte ihnen den Status von römischen Bundesgenossen ein. Dadurch waren sie zwar verpflichtet, Rom für seine Kriegszüge ein Truppenkontingent zu stellen, blieben aber von Tributzahlungen verschont.
Die anschließende Zwangsumsiedlung germanischer Stämme durch die Römer veränderte die politische Landschaft innerhalb Germaniens schlagartig. Folgt man den Berichten Suetons 10› Hinweis , so wurden 40 000 der ursprünglich im Siegerland beheimateten Sugambrer und Sueben auf das linke Rheinufer umgesiedelt. Nur wenig später mussten auch die Hermunduren 11› Hinweis auf römischen Druck hin ihre angestammten Siedlungsplätze am Quellgebiet der Elbe verlassen und neue Wohnsitze am oberen Main und im heutigen Mittelfranken beziehen, welche wiederum zuvor von den Sueben geräumt worden waren. Derjenige Teil der Sueben, der nicht an den Oberrhein deportiert worden war, zog 6 v. Chr. unter der Führung eines jungen Adeligen namens Marbod freiwillig in das einstige Siedlungsgebiet der keltischen Bojer auf dem Gebiet des heutigen Böhmen. Wahrscheinlich hatte Marbod, der sich wie Arminius als Geisel seines Stammes in Rom aufgehalten hatte, seine Stammesangehörigen davon überzeugen können, dass weiterer militärischer Widerstand gegen die Supermacht am Tiber aussichtslos sei. Es kann mit Sicherheit angenommen werden, dass neben dem politischen Weitblick Marbods die Drohkulisse marschbereiter römischer Legionen der entscheidende Motor für den Exodus der Sueben war.
Wie hoch die Gebietsverluste der Chatten und Brukterer gewesen sein mögen, ob sie überhaupt welche hatten, lässt sich anhand der Quellen nicht nachvollziehen. Sicher ist, dass die römische Politik der Umsiedlung gegnerischer germanischer Stämme das Gebiet zwischen Rhein, Main und Weser dauerhaft veränderte. Auch nach dieser kontrollierten Völkerwanderung scheint Rom weiterhin an seiner systematischen Eroberung Germaniens festgehalten zu haben, denn in den Jahren 1 bis 4 n. Chr. tobte noch einmal ein großer Krieg in Germanien, der sogenannte Immensum Bellum, welcher erst durch das Eingreifen von Tiberius siegreich beendet werden konnte. Als im Jahr 5 n. Chr. die an der ostfriesischen Küste siedelnden Chauken unterworfen und die ins Hoheitsgebiet der Cherusker eingedrungenen Langobarden wieder auf ihre ostelbischen Siedlungsgebiete zurückgeschlagen werden konnten, befand sich ganz Germanien zwischen Rhein und Elbe fest unter römischer Vorherrschaft. Nicht ohne Anmaßung berichtete Velleius Paterculus 12› Hinweis in seiner Historia Romana:
Es gab in Germanien nichts mehr zu besiegen außer dem Stamm der Markomannen, der unter seinem Führer Marbod seine früheren Wohnsitze verlassen, sich ins Innere des Landes zurückgezogen hatte und nun das Land innerhalb des Herzynischen Waldes bewohnte.13› Hinweis
So klug Marbods Taktik anfänglich war: Rom konnte man nicht entkommen. Die Mühlen der römischen Expansion mahlten unentwegt weiter, die Türen des Janustempels blieben geöffnet. Berauscht von ihren Erfolgen marschierten im nächsten Jahr zwölf Legionen unter dem Kommando des Tiberius an den Grenzen des Markomannenreichs auf, sechs an der Oberelbe, sechs an der pannonischen Nordgrenze.
Doch ausgerechnet der gegen das Markomannenreich geplante Feldzug wurde den römischen Expansionsgelüsten zum Verhängnis. Der entscheidende Schlag traf die gegen Marbod aufmarschierten römischen Legionen nicht etwa in Germanien, sondern im längst unterworfen geglaubten Illyricum. Dort sorgten die Zwangsrekrutierungen der jungen wehrfähigen Bevölkerung und die Einführung des Zensus für wachsende Unruhe, bis sich die Spannungen in einem gewaltigen Aufstand entluden.
Zunächst ermordeten die aufständischen Illyrer fast alle römischen Händler, Siedler und Legionsveteranen, dann stürmten sie gegen römische Stützpunkte und Zwingburgen wie Sirmium (Sremska Mitrovica) oder Salonae (Solin bei Split) an. Der Siegeslauf der Rebellen bewirkte, dass der Aufstand nach und nach große Teile Illyriens erfasste. Der Zulauf an Wehrfähigen war so groß, dass Velleius Paterculus behauptete, das Heer der Rebellen habe 200 000 Mann betragen, was sicher übertrieben ist. Diese Angabe darf aber zumindest als Beleg dafür angesehen werden, dass die Aufständischen zahlenmäßig überlegen waren. In der Folge stellte Rom seine germanischen Angriffspläne zurück, schloss einen Waffenstillstand mit Marbod und zog schleunigst Truppen nach Illyrien zurück. Der Krieg war mörderisch, und die Illyrer taktierten geschickt: Wenn sie überlegen waren, suchten sie die offene Schlacht, doch sobald sie sich unterlegen fühlten, zogen sie sich in die Berge zurück und zerstreuten sich.
Nach und nach war Augustus gezwungen, 150 000 Mann – darunter schnell mobilisierte Freiwilligenheere und 10 000 eigens in den Dienst zurückbeorderte Veteranen – unter der Führung von Tiberius gegen die Illyrer ins Feld zu führen. Erst gute vier Jahre später, im Jahr 9 n. Chr., siegte die römische Armee doch noch über die Aufständischen, die aufgrund der römischen Verwüstungsstrategie und von Versorgungsengpässen dem Hungertod nahe waren und letztendlich aufgaben.
Ob Arminius in Illyrien auf römischer Seite kämpfte und sich dabei auszeichnete, ist unter Historikern umstritten und letzten Endes von der Interpretation einer Textstelle in der Historia Romana von Velleius Paterculus abhängig. Doch auch wenn nicht eindeutig bewiesen werden kann, dass Arminius in Pannonien gekämpft hat, mag er aufgrund von Berichten anderer die richtigen Schlüsse aus dem Verlauf des Aufstands gezogen haben.
Wie die Illyrer war sich Arminius sicher, dass die römischen Legionen zu bezwingen waren, wenn man sich nicht auf ihre konventionelle Kampfweise einließ und stattdessen eine Art Guerillataktik anwendete. Aber wieso glückte ihm, was den Illyrern trotz aller Tapferkeit und taktischem Geschick versagt blieb? Eine mögliche Antwort gibt die Biographie des germanischen Helden.
Von Arminius’ Herkunft weiß man wenig. Nach gängiger Lehrmeinung wurde er 18 v. Chr. geboren und wuchs zur Zeit der augusteischen Germanenkriege auf. Er stammte aus einer der führenden Familien der Cherusker, eines germanischen Stammes, der nördlich des Harzes das Land zwischen Weser und Elbe besiedelte. Sein Vater war der Cheruskerfürst Segimer, sein Onkel ein weiterer Anführer der Cherusker, Ingiomerus. Beide, Vater wie Onkel, waren Vertreter der prorömischen Partei des Germanenstammes. Arminius kam höchstwahrscheinlich als Geisel nach Rom, um dem Bündnis zwischen Rom und Cheruskien mehr Gewicht zu verleihen. Während seiner Dienstzeit brachte er es nicht nur zum Militärpräfekten, der eine eigene Auxiliareinheit anführte, er bekam sogar aufgrund besonderer Verdienste und wohl auch wegen seiner privilegierten Abstammung die römische Ritterwürde verliehen. Damit erhielt Arminius das römische Bürgerrecht. Diese Praxis war ein bewährtes Mittel der Römer, um die unterworfenen oder in Abhängigkeit gebrachten Führungseliten Germaniens fester an sich zu binden und sie so als Bundesgenossen ihrer Herrschaft zu gewinnen. Auch Arminius’ Bruder, der nur unter seinem römischen Namen Flavus − »der Blonde« − bekannt ist, trat wie Arminius in den römischen Heeresdienst und machte dort Karriere.
Mit dem römischen Bürgerrecht war der cheruskische Fürstensohn in den Augen seiner römischen Kampfgenossen vollends zum Römer geworden. In welch hohem Ansehen Arminius bei den Römern stand, belegt die Tatsache, dass er als Militärpräfekt die Truppen der Bundesgenossen kommandierte − ein Umstand, der später entscheidend für den siegreichen Verlauf seiner Erhebung werden sollte.
Wie Arminius zu seinem Namen gekommen ist, ob er wirklich »Hermann« oder »Irminius« hieß, was dann latinisiert wurde, lässt sich anhand der Quellen nicht mehr nachvollziehen. Viel wichtiger als sein Name ist für unsere Betrachtung Arminius’ Charakter. Im Gegensatz zu den von späteren Generationen auf ihn projizierten »germanischen« Eigenschaften wie Heldenmut und körperliche Stärke verkörperte Arminius vor allem römische Sittsamkeit: Vernunft, Disziplin und politische Umsicht. Diese Tugenden paarten sich in seinem Fall mit persönlichen Qualitäten wie Kühnheit, Tatkraft, einem ungeheuren Ausmaß an strategischem Geschick und politischer Beredsamkeit, was kein anderer als Velleius Paterculus bestätigt:
Es gab damals einen jungen Mann aus vornehmem Geschlecht, der tüchtig im Kampf und rasch in seinem Denken war, ein beweglicherer Geist, als es die Barbaren gewöhnlich sind. Er hieß Arminius und war der Sohn des Sigimer, eines Fürsten jenes Volkes. Im letzten Feldzug hatte er beständig auf unserer Seite gekämpft und hatte mit dem römischen Bürgerrecht auch den Rang eines römischen Ritters erlangt.14› Hinweis
Arminius war stark romanisiert und hatte gelernt, die untereinander zerstrittenen germanischen Stämme mit den Augen eines Römers zu sehen und sie als politisch-kulturelle Einheit wahrzunehmen. Nach dem Abschluss seiner militärischen Ausbildung war er im Dienstrang eines Militärpräfekten oberster Befehlshaber der cheruskischen Hilfstruppen geworden und hatte damit innerhalb der römischen Militärhierarchie die höchste Stufe erklommen, die einem »Barbaren« zu Zeiten des Prinzipats möglich war.
Arminius schien völlig assimiliert, doch der Schein trog. Ohne es zu wissen, hatte die römische Wölfin jahrelang eine Schlange an ihrer Brust genährt, die sich bald häuten sollte, um die zweifelhaften Früchte römischer Zivilisation aufs Heftigste zu bekämpfen. Noch stand Arminius treu zu Rom, als ein Mann die Bühne betrat, der den Auftrag hatte, aus Germanien eine römische Provinz zu machen.
Publius Quinctilius Varus wurde etwa 7 n. Chr. Statthalter in Germanien. Mit ihm war kein unerfahrener Neuling nach Germanien gekommen, sondern ein gestandener Verwaltungsfachmann, der sich mehrfach bewährt hatte. Varus stammte aus altpatrizischer Familie, und seine Laufbahn konnte sich sehen lassen: 13 v. Chr. war er zusammen mit Tiberius Konsul gewesen, 5 v. Chr. hatte er als Prokonsul die Provinz Africa verwaltet. Dann war er von Augustus, dessen Großnichte Claudia Pulchra er geheiratet hatte, als Statthalter nach Syrien abkommandiert worden, wo er wenig wählerisch schien, wenn es darum ging, dem römischen Steuerrecht Geltung zu verschaffen und sich dabei hemmungslos zu bereichern. Auf gut römisch: Varus war kein Mann, der lang fackelte, wenn es um den eigenen Vorteil ging, wie Velleius Paterculus lakonisch hinsichtlich seiner Statthalterschaft in Syrien anmerkt: »Arm betrat er ein reiches Land, reich verließ er ein armes.«
Ebenso wie Velleius lässt auch der römische Geschichtsschreiber Cassius Dio in diesem Punkt keinen Zweifel aufkommen und bringt das Verhalten Varus’ unmissverständlich auf den Punkt:
Als jedoch Quinctilius Varus Statthalter der Provinz Germanien wurde und in Wahrnehmung seines Amtes sich auch mit den Angelegenheiten dieser Volksstämme befasste, da drängte er darauf, die Menschen rascher umzustellen, und erteilte ihnen nicht nur Befehle, als wenn sie tatsächlich römische Sklaven wären, sondern trieb sogar von ihnen, wie von Unterworfenen, Steuern ein. Eine derartige Behandlung wollten sie sich aber nicht gefallen lassen.15› Hinweis
Und damit nennt Cassius Dio einen der wichtigsten Gründe, weswegen Arminius den Aufstand wagte: drückende wirtschaftliche Not der unterworfenen Germanenstämme aufgrund von Tributeintreibung – und damit hatten die Römer aus cheruskischer Sicht den Bundesvertrag gebrochen. Dieser verpflichtete die Cherusker zwar dazu, Roms Vorherrschaft anzuerkennen und Bundestruppen zu stellen, befreite sie aber im Gegenzug von Zahlungen an das Imperium.
Dies änderte sich unter Varus. Offensichtlich hatte der römische Statthalter den Auftrag, die im Immensum Bellum unterworfenen Gebiete zu provinzialisieren und wegen der enormen Kosten des Illyrischen Aufstands schnellstens Tribut in Germanien einzutreiben – was er gegen alle Widerstände der Einheimischen rigoros tat. Denn in Sachen schneller Steuererhebungen ohne Rücksicht auf Verluste war Varus ein Experte, wie seine Karriere verrät: Schon in Syrien war es unter seiner Herrschaft wegen Tributeintreibungen zu Spannungen gekommen, die sich in einem Aufstand entladen hatten.
Wie in Syrien ging Varus auch in Germanien dazu über, nicht nur Tribute einzutreiben, sondern Recht zu sprechen, und das mit einer den Germanen gleichermaßen unvorstellbaren Schnelligkeit, Konsequenz und Grausamkeit. Der römische Historiker Lucius Annaeus Florus 16› Hinweis berichtet:
Nachdem jener [Drusus] gestorben war, begannen sie, des Varus Quinctilius Wollust und Stolz nicht weniger als seine Grausamkeit zu hassen. Er wagte es, Landtage abzuhalten, und sprach das Recht im Lager, als könnte er das Ungestüm der Barbaren durch die Ruten des Liktors und des Herolds Stimme dämpfen.
Die Tatsache, dass Varus im cheruskischen Hoheitsgebiet römisches Recht einführte und völlig willkürlich anwandte, ist aufgrund der Quellenlage eindeutig. Von der heutigen Forschung wird der Akt der Rechtsprechung als Beleg für den Provinzialisierungsauftrag von Varus angesehen. Dies bedeutete einen klaren Bruch mit alten germanischen Rechtstraditionen. Jahrhunderte zuvor war es das Privileg der Hohen Priester gewesen, im Thing, der Volksversammlung, Recht zu sprechen. Todesurteile wurden nur selten und erst nach Abstimmung aller im Thing Versammelten im Namen der Götter an den Verurteilten vollzogen. 17› Hinweis
Damit war jetzt Schluss. Der neue Statthalter Germaniens hatte nach römischem Rechtsverständnis das alleinige Recht, Todesstrafen zu verhängen. Und Varus war ein Mann, der dieses Machtinstrument oft anwandte, denn mit Exekutionen kannte er sich bestens aus. In Judäa hatte er etwa zeitgleich zur Geburt Jesu König Herodes bei der Niederschlagung eines Aufstands unterstützt und somit an der Kreuzigung von 2000 Juden mitgewirkt, sodass die Rebellion in sich zusammenbrach und die aufständische Provinz seitdem für befriedet gelten konnte. Vertrat Varus den Standpunkt, dass das einmal Erfolgreiche sich immer wieder bewährt? Brach er den Widerstand, der sich gegen die Tributeintreibung richtete, mit immer drakonischeren Strafen?
Ein Ausschnitt aus einer antirömischen Schmährede, die Arminius im Jahr 15 n. Chr. an sein Heer richtete, bestätigt diese Vermutung:
Die echten Germanen würden es niemals verzeihen, dass sie zwischen Elbe und Rhein Ruten, Beile und Togen erlebten. Andere Völker hätten nichts von Hinrichtungen erfahren, sie wüssten nichts von Tributen, weil sie die Römerherrschaft nicht kennen gelernt hätten.18› Hinweis
Was Arminius hier ansprach, musste jeden freien Germanen zur Weißglut treiben. Der Unmut der Cherusker wuchs zur Erbitterung: Kein germanischer Priester, sondern ein römischer Statthalter sprach über Germanen Recht, ohne Vertreter der Bevölkerung vorher zu konsultieren. Römische Rechtsdiener, die Liktoren, stäupten die Delinquenten mit Ruten oder brachten sie grausam mit dem Beil zu Tode, wenn sie sie nicht kreuzigten, was umso qualvoller war. Dies muss während Varus’ Statthalterschaft recht häufig geschehen sein. Anders ist es nicht zu erklären, dass die aufständischen Germanen nach ihrem Sieg über Varus’ Legionen auf so unbeschreiblich grausame Art und Weise Rache an den römischen Verwaltungs- und Justizbeamten nahmen:
Nichts war unerträglicher als der Spott der Barbaren, vorzüglich gegen diejenigen, die mit der Rechtsprechung des Varus zu tun gehabt hatten […] Einigen stachen sie die Augen aus, anderen schnitten sie die Hände ab, einem nähte man den Mund zu, nachdem man ihm vorher noch die Zunge herausgeschnitten hatte. Der Barbar, der sie in der Hand hielt, spottete: Endlich, Schlange, hast du aufgehört zu zischen!19› Hinweis
Aber nicht nur harte Tribute und eine aus germanischer Sicht grausame Rechtsprechung ließen die verbündeten Aufständischen zum Schwert greifen. Es war auch die stetig wachsende Anzahl römischer Stützpunkte, die den Rebellen unter Arminius ein Dorn im Auge war.
Um die römischen Standlager und Kastelle mit ständiger Besatzung bildeten sich Marktflecken. Römer und Germanen trieben in friedlicher Koexistenz Handel. Vor allem scheint es zu ersten systematischen Stadtgründungen durch die Römer gekommen zu sein, wie der spektakuläre Fund der Römerstadt bei Waldgirmes in Hessen beweist. Hier stießen Archäologen 1994 zum ersten Mal auf einstmals chattischem Gebiet auf Steinmauern einer rechtsrheinischen Römerstadt des augusteischen Zeitalters, die aufgrund ihrer Größe und systematischen Anlage alle Anzeichen einer Provinzhauptstadt aufweist. Dendrochronologische Gutachten zeigen, dass die Hölzer eines Brunnens um 4 v. Chr. geschlagen wurden. Germanische Keramikfunde in Waldgirmes bestätigen, dass es einen Warengüteraustausch zwischen römischen Besatzungstruppen und einheimischer Bevölkerung gab. Das Abreißen der Münzfunde nach 9 n. Chr. weist in den Augen der Archäologen darauf hin, dass die Stadt infolge der nach der Varusschlacht entbrannten Kämpfe von den Römern aufgegeben werden musste. Und damit belegt die Ausgrabung bei Waldgirmes, dass es sich bei der freigelegten Stadtsiedlung um ein gezieltes Kolonisationsprojekt gehandelt hat. Die Provinzialisierung Germaniens war demnach 9 n. Chr. in vollem Gange.
Arminius und seine Mitverschwörer mussten handeln, wollten sie das Rad der Geschichte zurückdrehen. Die alte Freiheit konnte nur verteidigt werden, solange der Widerstandswille der Cherusker noch nicht völlig gebrochen war und die römische Besiedlung noch nicht alle Teile Germaniens erfasst hatte.
Da es bei den Germanen keine schriftliche Überlieferung gab, wissen wir von dem Aufstand nur das, was römische Quellen berichten. Wie Cassius Dio schildert, war die Erhebung von langer Hand geplant und keine spontane Unmutsreaktion auf ein durch Varus ausgelöstes Ereignis – was angesichts der römischen Truppenstärke auch ein Himmelfahrtskommando gewesen wäre.
Sie empörten sich indes nicht in aller Offenheit, da sie sahen, dass viele römische Truppen am Rhein, viele aber auch in ihrem eigenen Lande standen. Stattdessen nahmen sie Varus bei sich auf, taten so, als wollten sie alle ihnen erteilten Befehle ausführen, und lockten ihn auf diese Weise weit vom Rhein weg, ins Cheruskerland bis an die Weser. Dort zeigten sie sich höchst friedlich und freundschaftlich und erweckten damit in ihm den Glauben, sie könnten auch ohne die Anwesenheit von Soldaten ein unterwürfiges Leben führen.20› Hinweis
Nach Cassius Dios Bericht führten Arminius und seine Mitverschwörer Varus gründlich in die Irre und wiegten ihn in Sicherheit. Arminius nutzte geschickt seine Sonderstellung als Militärpräfekt der Auxiliareinheiten aus und bewog Varus dazu, immer kleinere Truppenkontingente in entlegene Regionen und Krisenherde seiner Provinz zu entsenden, um so für die öffentliche Sicherheit zu sorgen. Varus ging auf die Vorschläge von Arminius ein, was verheerende Folgen haben sollte.
Varus behielt daher seine Legionen, wie es in einem Feindesland richtig gewesen wäre, nicht beisammen, sondern verteilte viele seiner Soldaten an schwache Gemeinwesen, die ihn darum baten, angeblich zu dem Zweck, entweder verschiedene Punkte zu bewachen oder Räuber festzunehmen oder gewisse Lebensmitteltransporte zu geleiten.21› Hinweis
Die Zersplitterung römischer Truppenteile war mit Sicherheit ein begünstigender Faktor im Falle einer Erhebung, jedoch keine Erfolgsgarantie. Um den Großteil der Legionen sofort auszuschalten, mussten Tausende von Mitstreitern unter höchster Geheimhaltung gewonnen werden. Erschwerend kam für die Rebellen hinzu, dass sie sich aus verschiedenen germanischen Stämmen – Marser, Brukterer, Chatten, Cherusker – rekrutierten, die noch Jahre zuvor untereinander verfeindet gewesen waren. Die organisatorische Hauptschwierigkeit bestand hingegen darin, ihre Kampfverbände unbemerkt von den römischen Spähern zur selben Zeit an einem zuvor bestimmten Ort zu versammeln, um dann an einem Tag losschlagen zu können. Dies war vor allem wichtig, um den weitaus besser gedrillten und bewaffneten Gegner schon in der Anfangsphase vernichten zu können, das heißt bevor er seine drückende Überlegenheit im Feld ausnutzen konnte. Arminius wusste um die große Gefahr, die die Durchführung des Unternehmens in sich barg. Seit der Zeit der Kimbern und Teutonen hatten die Germanen nie wieder einen derartig starken römischen Kampfverband in offenem Kampf besiegt. Arminius’ einzige Trümpfe waren die ihm unterstellten kampferprobten cheruskischen Auxiliartruppen, die Todesverachtung seiner Anhänger und die Ahnungslosigkeit des Gegners.
Die Terminierung des Aufstands auf einen festen Zeitpunkt barg in sich große Probleme: Sie musste einerseits im Geheimen vonstattengehen, andererseits den Anführern des Aufstands genug Zeit lassen, ihre Krieger zusammenzurufen. Je größer der zeitliche Vorlauf der Mobilisierung der Aufständischen, desto höher wurde das Risiko, dass den Römern der Plan verraten wurde. Arminius ging deshalb äußerst behutsam vor und erweiterte nur langsam den Kreis der Verschwörer, wie Velleius zu berichten weiß:
Erst weihte er nur wenige, dann mehrere in seinen Plan ein. Die Römer könnten vernichtet werden, das war seine Behauptung, mit der er auch überzeugte. Er ließ den Beschlüssen Taten folgen und legte den Zeitpunkt für den Hinterhalt fest.22› Hinweis
Die Pläne der Verschwörer fanden nicht überall Beifall, sondern stießen bei der römerfreundlichen Partei auf energischen Widerstand. Ihr Anführer war Segestes, dessen Verhältnis zu Arminius unfreiwillig ein ganz besonderes war: Er hasste Arminius, weil dieser seine Tochter Thusnelda entführt und ohne seine Zustimmung geehelicht hatte. Aber das Schicksal meinte es gut mit den Plänen des Brauträubers. Obwohl Segestes den Plan seines ungeliebten Schwiegersohns noch in der Nacht vor dem Aufstand verriet, verhallten seine Warnungen bei Varus ungehört. Wahrscheinlich vermutete der römische Statthalter, dass Segestes Arminius aus niederen persönlichen Motiven verleumdete, und ließ die Sache auf sich beruhen.
Damit waren die Würfel gefallen, Arminius’ List war geglückt. Zum Zeitpunkt von Segestes’ Verrat hatte sich die Schlinge um die Legionen, Kohorten und Reitergeschwader der Varusarmee immer enger gezogen. Cherusker, Marser, Brukterer und Chatten warteten nur darauf, zuzuschlagen.
Was folgte, war ein grausames Gemetzel, über dessen Verlauf sich bis heute die Gelehrten streiten, weil es auf germanischer Seite keine Quellen und auf römischer Seite nur wenige schriftliche Überlieferungen gibt, die sich zum Teil widersprechen.
Es ist kaum möglich, über die Varusschlacht zu schreiben, ohne sich auf den Pfad der Rekonstruktion und der Lokalisierung des Tathergangs zu begeben. Die Forschung ist auf die Verortung der Schlacht fixiert, ihr Verlauf stößt auf geringeres Interesse. Da es aber gerade die Varusschlacht ist, die Arminius – weit mehr als sein Abwehrkampf gegen Germanicus – zum Mythos machte, scheint an dieser Stelle ein Wort angebracht zu den hinsichtlich des Verlaufs der Ereignisse geführten Kontroversen.
Heute wie damals ist von elementarer Bedeutung die Frage, welchen Schriftquellen man Vorrang einräumt: ob man der Schilderung von Cassius Dio oder der von Lucius Annaeus Florus folgt und wie man die Berichte von Tacitus und Velleius Paterculus interpretiert.
Cassius Dio schildert, wie das Varusheer auf dem Marsch vom Sommer- zum Winterlager aufgrund einer Kriegslist vom Hauptpfad in unwegsame Gebiete weggelockt wird und auf einem dreitägigen Todesmarsch durch fortwährende Hinterhalte der Germanen zugrunde geht. Für diese Version sprach sich bereits im 19. Jahrhundert der große Althistoriker Theodor Mommsen aus, und ihr wird von der Mehrheit der Historiker und Archäologen bis heute der Vorzug gegeben.
Aufgrund sensationeller Bodenfunde bei Kalkriese nimmt Wolfgang Schlüter, der Leiter der Ausgrabungen, sogar an, den genauen Ort der Varusschlacht gefunden zu haben: Zum ersten Mal fand man in Deutschland tierische wie materielle Relikte eines mörderischen Kampfes zwischen Germanen und Römern, die nicht älter als 9 n. Chr. sind.
Trotz dieser Fundfülle bleiben viele Fragezeichen. Das Ausmaß der Streuung der oft zitierten Münz- und Militärfunde bei Kalkriese deckt sich bis jetzt nicht mit den Berichten von der vernichtenden Niederlage eines 20 000-Mann-Heeres, das nach Meinung der Archäologen einen 15 Kilometer langen Heerwurm gebildet hatte und in der Kalkrieser Enge mit Mann und Maus unterging. Die heute als unumstößliche Wahrheit formulierte These, dass die Römer bei Kalkriese in eine Falle gerieten und nach einer dreitägigen Schlacht auf dem Marsch vernichtet wurden, erscheint voreilig.
Nirgendwo in den Quellen von Velleius, Tacitus und Florus findet sich ein Beleg dafür, dass die Varusarmee während ihres Marsches angegriffen und vernichtet wurde. 23› Hinweis Denn eines impliziert die Information Cassius Dios: Ein dreitägiger Marsch von drei Legionen hätte das Vorhandensein dreier Marschlager vorausgesetzt. Diese Lager müssten, sollte die Schlacht bei Kalkriese stattgefunden haben, dort auch in der Nähe zu finden sein. Dieser Nachweis konnte bisher nicht erbracht werden.
Die einzige Textstelle, die etwas über das Auffinden der Varuslager durch Germanicus’ Truppen berichtet, findet sich bei Tacitus. Sie liefert eine ganz andere Information als Dio:
Dann betreten sie die Stätte der Trauer, für den Anblick wie für die Erinnerung grauenvoll. Das erste Lager des Varus zeigte durch seinen weiten Umfang und die Absteckung des Feldherrenplatzes, dass drei Legionen daran gearbeitet hatten. Weiterhin erkannte man an dem halbverfallenen Wall und flachen Graben, dass sich dort die schon zusammengeschmolzenen Reste gelagert hatten.24› Hinweis
Fügt man kriminalistisch die enthaltenen Informationen zusammen, ergibt sich eher, dass es − wenn überhaupt − zwei Legionslager gab: das ursprüngliche Dreilegionenlager und eine notdürftige, provisorische Verteidigungsanlage, die entweder auf der Grundfläche des Dreilegionenlagers oder zumindest davon unweit von den zusammengeschmolzenen Resten der Varuslegionen bis zur Kapitulation verteidigt wurde.
Der Bericht Cassius Dios enthält vor allem teils unglaubwürdige, teils widersinnige Details: So plant Arminius einen Aufstand, der voraussetzt, dass unter höchster Geheimhaltung ein gesamtgermanischer Heerbann von mindestens 20 000 Männern einst verfeindeter Stämme zusammenberufen wird, ohne dass dies den Römern auffallen würde. Da marschiert Varus trotz heftigstem Widerstand, trotz eigener Verwundung und schweren Verlusten unbeirrt weiter ins tiefste Feindesland, um seine Männer ausgerechnet an einer Stelle, die für die Aufstellung als Kampfformation ungeeignet ist, endgültig massakrieren zu lassen, während er sich stilgerecht ins eigene Schwert stürzt. Cassius Dio berichtet weiter, dass die Römer inmitten germanischer Urwälder vernichtet wurden, obwohl Tacitus schildert, dass ihre Leichen sechs Jahre später von den Truppen des Germanicus »in medio campo«, das heißt mitten auf dem Feld, aufgefunden wurden. 25› Hinweis
Eine völlig gegenteilige Schilderung des Kampfgeschehens bietet der römische Historiker Lucius Annaeus Florus: Ihm zufolge wurden die römischen Truppen völlig überraschend an einem Gerichtstag überfallen und nach mehrtägigen Gefechten vernichtet. Bestand in dieser Überrumpelung die List des Arminius?
So griffen sie ihn [Varus], der an nichts dachte und nichts derart fürchtete, unversehens an, während er sie – welche Sorglosigkeit! − vor seinen Richterstuhl rief; von allen Seiten drangen sie ein und plünderten das Lager; drei Legionen wurden vernichtet. Varus folgte freiwillig dem Strom des Verderbens. Nichts war blutiger als dieses Gemetzel in Sümpfen und Wäldern.26› Hinweis
Diese Version, in der historischen Forschung von der Mehrheit nach wie vor meist ohne Angabe von wirklich stichhaltigen Argumenten als unglaubwürdig abgetan, deckt sich in vielen Punkten mit den Berichten von Velleius Paterculus und Tacitus. Vor allen Dingen ist sie plausibel und lässt keinen Erklärungsnotstand zu – erst recht nicht, wenn man berücksichtigt, welche Vollmachten Varus als Provinzstatthalter in Germanien besaß.
Zu den Pflichten eines Provinzstatthalters gehörte es, die unterworfene Bevölkerung zu Landtagen einzuberufen und Recht zu sprechen. Folgt man der Schilderung Florus’, so wäre für Arminius die Notwendigkeit entfallen, umständliche und riskante Pläne zu schmieden, um die Römer zu einer bestimmten Zeit an einer bestimmte Stelle in eine Falle zu locken: Dann hätte Arminius einander begünstigende Faktoren ausgenutzt, anstatt sie erst hervorzurufen. Und dann fügt sich das Zusammenströmen der eigens von den Römern einberufenen männlichen cheruskischen Bevölkerung an einem Gerichtstag nahtlos an die von Dieter Timpe 27› Hinweis angenommene Verschwörung cheruskischer Bundestruppen unter der Führung von Arminius.
Vor allem offenbart sich durch Florus’ Version des Geschehens eine natürliche Mechanik der Rebellion: Ein symbolträchtiges Ereignis wird zu einem öffentlich wirksamen Manifest des bewaffneten Widerstands benutzt, der politische Gegner vollständig überrascht – was die vollständige Niederlage des ansonsten haushoch überlegenen römischen Heeres erklärt. In diesem Fall symbolisiert der Anlass des Aufstands, nämlich ein römischer Gerichtstag, sogar noch die politische Drangsal: die widerrechtliche Aneignung politischer Herrschaftsrechte durch die römischen Besatzer und ihre blutige Abstrafung durch die Rebellen unter Arminius.
Paul Höfer, der entschiedenste Gegenspieler Theodor Mommsens, entwickelte in seinem 1888 veröffentlichten Buch Die Varusschlacht basierend auf Florus eine überzeugende Indizienkette jenes denkwürdigen Ereignisses, das, sollte er recht haben, besser den Namen »Varusmassaker« verdient hätte. 28› Hinweis
Sobald der Feldherr das Tribunal bestieg, pflegten Adler- und Standartenträger mit ihren Feldzeichen sich auf beiden Seiten des Tribunals aufzustellen. […] Am Fuße des Tribunals standen während der Ansprachen und Gerichtssitzungen, wie auf dem Forum zu Rom, so auf dem Forum des Lagers die Herolde und Liktoren, gewärtig, die Befehle und Strafen des Prokonsuls auszuführen. Als Prokonsul hatte Varus 12 Liktoren. Diese bildeten aber auch den einzigen Schutz, dessen sich Varus auf dem Tribunal bediente. […] Der weite Platz vor dem Tribunal war von Cheruskern besetzt, deren Rechtssachen hier entschieden werden sollten. In dieser Situation lag jedenfalls die strafbare Nachlässigkeit, jene »summa socordia«, welche Velleius [an Varus] tadelt. Die Soldaten standen nicht unter Waffen.29› Hinweis
Sind Höfers Überlegungen korrekt, dann hatte Varus in sträflichem Leichtsinn einen tödlichen Fehler gemacht, und Arminius’ Überraschungstaktik war in allen Punkten aufgegangen. Er hatte nicht nur den Zeitpunkt geschickt gewählt, er hatte dem Gegner zudem auch Ort und Kampftaktik aufgedrängt, wobei er – so Höfer – tiefgehende Kenntnis römischer Rechtsgepflogenheiten bewies.
Wir wissen von Varus, dass es ihm zumindest vorläufig gelang, sich vor den Germanen in Sicherheit zu bringen. Andere Römer hatten weniger Glück. Wie die Berichte von den später erfolgten Hinrichtungen der Oberzenturionen beweisen, wurden diese sowie große Teile des im Heer anwesenden römischen Adels von den Cheruskern lebend gefangen genommen. 30› Hinweis
Die Legionäre, die zu den Adlern, den Feldzeichen, eilten, um sich zum Widerstand zu sammeln, wurden niedergemacht, ebenso diejenigen, die ihr Heil in der Flucht suchten, wie Tacitus in seinen Annalen andeutet.
Mitten auf dem Felde lagen die bleichen Knochen, bald zerstreut, bald haufenweise, je nachdem die Soldaten geflohen waren oder Widerstand geleistet hatten.31› Hinweis
Inmitten des Durcheinanders muss es Arminius’ Kohorten und den zum Gericht berufenen Verschwörern gelungen sein, die Lagertore zu öffnen. Damit war die römische Niederlage besiegelt. Aus den umliegenden Wäldern strömten Tausende germanischer Krieger in das Dreilegionenlager und machten nieder, was ihnen vor die Klinge kam. Die römische Führung versagte, an geordneten Widerstand war nicht mehr zu denken. Schlimmer noch: Einer der Legaten, Numonius Vala, der Oberbefehlshaber der Reiterei, ließ mit seiner Truppe die Fußsoldaten im Stich und versuchte, sich auf eigene Faust mit seinen Männern zum Rhein durchzuschlagen. Der fahnenflüchtige Legat starb, so schreibt Velleius, als Deserteur; doch ob durch Germanenhand während des Durchbruchs oder später wegen Fahnenflucht durch den römischen Henker, das ist aufgrund der Zweideutigkeit der Textstelle bis heute nicht geklärt. 32› Hinweis Trotzdem gelang es Varus und einigen seiner Offiziere und Legionäre zu entkommen. Wahrscheinlich rettete sie am ersten Kampftag die Beutegier der Germanen vor der totalen Vernichtung.
Als die Nacht einbrach, verschanzten sich die Reste der Legionen hinter hastig aufgeworfenen Erdwerken. Doch dies war nur ein Aufschub der Tragödie. Von Verzweiflung übermannt, wohl wissend, dass er Schmach und Schande durch seinen Leichtsinn auf sich geladen hatte, stieß sich Varus das Schwert in den Leib. Damit war das Schicksal der Legionen besiegelt.
So weit die Ansicht von Paul Höfer, dessen Ausführungen auf der fundierten Analyse sämtlicher verwendbarer Schriftquellen beruhen und den Wahrheitsgehalt von Florus’ Schilderung in keinster Weise anzweifeln. Für die Anhänger des »Todesmarsch-Mythos« hat diese Version natürlich einen großen emotionalen Nachteil: Es raubt dem Arminius-Mythos das Element der mit großer Feldherrentaktik bis ins letzte Detail vorausgeplanten Vernichtungsschlacht und befleckt die Heldenpose mit dem hässlichen Schandfleck des Verrats. Der Aufstand wird zur Messerstecherei wagnerianischen Ausmaßes, die Schlacht zum Massaker.
Egal welche Version man für richtig hält: Trotz aller Widersprüchlichkeit schildern beide Berichte die völlige Ausweglosigkeit der Lage, in die sich Varus mit seinen Legionen aufgrund von Arminius’ List manövriert hatte. Ob es ein klassischer Hinterhalt war, der einer marschierenden Armee gelegt wurde, wie Cassius Dio meint, oder ob der Hinterhalt darin bestand, dass die Römer inmitten von Bergen, Wäldern oder Sümpfen ohne ihr Wissen umzingelt waren, mag dahingestellt sein.
Klar ist, dass das von Arminius geplante Überraschungsmoment sofort nach Eröffnung der Feindseligkeiten zu Buche schlug, dass die Römer gleich zu Beginn die schwere Ausrüstung und den Proviant verloren, ja so gravierende Verluste erlitten, dass sie von Anfang an kaum an offensive Gegenschläge denken konnten. Nirgendwo schimmert in den Berichten durch, dass die Legionäre überhaupt den Hauch einer Siegeschance hatten. Ganz im Gegenteil: Sie, die grausamen und allseits gefürchteten Bezwinger Germaniens, standen gleich zu Beginn der Schlacht mit dem Rücken zur Wand, wie Velleius mit Bitterkeit bemerkt.
Die tapferste Armee von allen, führend unter den römischen Truppen, was Disziplin, Tapferkeit und Kriegserfahrung angeht, wurde durch die Indolenz des Führers, die betrügerische List des Feindes und die Ungunst des Schicksals in einer Falle gefangen. Weder zum Kämpfen noch zum Ausbrechen bot sich ihnen, so sehnlich sie es auch wünschten, ungehindert Gelegenheit, ja einige mussten sogar schwer dafür büßen, dass sie als Römer ihre Waffen und ihren Kampfgeist eingesetzt hatten. Eingeschlossen in Wälder und Sümpfe, in einem feindlichen Hinterhalt, wurden sie Mann für Mann abgeschlachtet – und zwar von dem Feind, den sie ihrerseits wie Vieh abgeschlachtet hatten – dessen Leben und Tod von ihrem Zorn und Mitleid abhängig gewesen war.33› Hinweis
Der hohe Blutzoll, Varus’ Selbstmord und der Verlust ihrer höchsten Befehlshaber – durch Tod oder Flucht – wirkte sich neben der Ausweglosigkeit der Lage zersetzend auf die Kampfmoral der Legionäre aus. Nach hinhaltendem Widerstand ergaben sie sich letztendlich der immer größer werdenden Masse von Aufständischen, deren Zahl in der Hoffnung auf Beute durch Zulauf der umliegenden Stämme auf ein Vielfaches anschwoll, während die römischen Truppen kontinuierlich zusammenschmolzen.
Arminius’ Prophezeiung, dass die Römer geschlagen werden könnten, wenn man es nur richtig anstellte, war in Erfüllung gegangen. Das abschließende Blutgericht zeigt, dass die Einführung römischer Gesetze ein entscheidendes Motiv für den Aufstand gewesen war. Wie es scheint, parodierte Arminius den gefallenen Statthalter, indem er von einer erhöhten Stelle − etwa dem Tribunal? − über Angehörige der Varusarmee drakonische Strafen verhängte. Anschließend wurden die zum Tode Verurteilten gekreuzigt oder in Martergruben erschlagen.
Selbst die Gefallenen fanden keine Schonung, wie der Umgang mit Varus’ Leiche zeigt:
Den halb verkohlten Leichnam des Varus rissen die Feinde in ihrer Rohheit in Stücke. Sie trennten sein Haupt ab und sandten es zu Marbod. Dieser schickte es zu Caesar Augustus, der ihm trotz allem die Ehre eines Familienbegräbnisses gewährte.34› Hinweis
Arminius hatte einen vollständigen Sieg errungen. Die römische Niederlage war so desaströs und in den Augen von Augustus und dessen späterem Nachfolger Tiberius so beschämend, dass die vernichteten Legionen nie mehr aufgestellt wurden und keine neugegründete Legion ihre Nummern 17, 18 und 19 trug. Des Weiteren verfügte Augustus eine absolute Nachrichtensperre über die wahren Gründe der Niederlage, und keiner der Überlebenden durfte das italische Festland zu seinen Lebzeiten je wieder betreten. Dies hatte nach dem römischen Ehrenkodex nichts damit zu tun, dass die Betroffenen vernichtend geschlagen worden waren. Augustus selbst hatte sich nach der Katastrophe von Carrhae 35› Hinweis gegen die Parther noch jahrelang darum bemüht, die Gefangenen der Armee des Crassus auszulösen und die verlorenen Feldzeichen wiederzuerlangen. Die Varusarmee hatte vielmehr durch unehrenhaftes Verhalten Schande auf das bis dahin ungebrochene Prestige der römischen Armee geladen, und der Nimbus von der Unbesiegbarkeit Roms hatte einen empfindlichen Schlag erlitten.
Um den Schaden klein zu halten, war es Geschichtsschreibern zu Lebzeiten von Augustus verboten, die Schlacht zum Thema ihrer Werke zu machen. Der Arminiusaufstand sollte nicht zum Lehrstück antirömischer Erhebungen werden. Auf diesem Umgang mit der Niederlage des Varus fußt das Mysterium, welches bis heute die Schlacht beziehungsweise das Massaker umgibt, und dass der genaue Ort der Niederlage und der Hergang vergessen oder nur bruchstückhaft überliefert wurden.
Arminius hatte eine Schlacht gewonnen, nicht den Krieg. Jetzt galt es, den Sieg auszunutzen und die Römer bis zum Rhein zurückzutreiben. Die Germanen eroberten alle römischen Stützpunkte bis auf das Kastell Aliso, das von den geflohenen Resten der Varusarmee und einigen Abteilungen des Asprenas gehalten wurde. Hier endete vorerst der Siegeslauf, und die Offensive geriet ins Stocken, wie der byzantinische Historiker Johannes Zonaras 36› Hinweis feststellt:
Die Barbaren nahmen sämtliche Befestigungen in Besitz, mit Ausnahme einer einzigen […] Indes konnten sie die Festung doch nicht erobern, da sie sich nicht auf die Belagerungskunst verstanden, die Römer aber über zahlreiche Bogenschützen verfügten, mit deren Hilfe die Feinde wiederholt zurückgeschlagen wurden und sehr schwere Verluste erlitten.37› Hinweis
Aber Arminius gab nicht auf. Die Köpfe der Getöteten ließ er auf Lanzen an den feindlichen Wall herantragen, um auf diese Weise die Moral der Belagerten zu brechen. Diesmal aber war dem siegreichen Cherusker kein leichter Erfolg beschieden. Aliso hielt Stand.
Währenddessen suchte Augustus in Rom fieberhaft nach einem Ausweg aus der Misere. Die Varuskatastrophe und der verzweifelte Kampf um Aliso riefen nach einem Germanienexperten. Der Kaiser fand ihn in keinem Geringeren als Tiberius. Der einstige Bezwinger der germanischen Stämme eilte sofort an den Rhein, um die Lage zu stabilisieren und die Belagerung von Aliso aufzuheben. Im Jahr 10 n. Chr. ergriff er dann die Initiative, überquerte den Rhein und stieß mit mehreren Legionen auf dem Landweg ins Innere Germaniens vor, während sich gleichzeitig eine zweite römische Armeegruppe einschiffte und auf dem Wasserweg das vorgesehene Marschziel zu erreichen suchte.
Tiberius agierte vorsichtig. Anders als Varus kannte er das Land seiner Feinde, hatte er doch von 9 bis 5 v. Chr und von 4 bis 6 n. Chr. den Oberbefehl in Germanien innegehabt und war mit der germanischen Mentalität bestens vertraut. Die Tiberius-Offensive stellte das Selbstvertrauen der römischen Truppen wieder her und nahm Druck von der belagerten Festung Aliso, da viele Germanen sich von der Belagerung zurückzogen, als das Gerücht umging, dass ein Entsatzheer heranrücke. Der Belagerungsring um Aliso dünnte aus. Als sich dieses Gerücht von Tiberius’ Anmarsch nicht bestätigte, durchbrachen die römische Besatzung und die Überlebenden der Varuskatastrophe auf eigene Faust den Belagerungsring um Aliso. Mit Glück kämpften sie sich bis zum Rhein durch, was allerdings nichts an der strategischen Gesamtsituation in Germanien änderte: Rom hatte alles Land jenseits des Rheins verloren.
Die Römer mussten aufgrund der germanischen Erfolge beinahe wieder bei null anfangen. In den Jahren 11/12 n. Chr. ließ Tiberius im Vorfeld des östlichen Rheinufers eine Verteidigungslinie errichten, neue Legionen wurden aufgestellt und bezogen ihre Standlager. Der Sohn des Drusus, Germanicus, löste Tiberius im Oberkommando der Rheinarmee ab. Es schien, als ob alles für die letzte Auseinandersetzung bereit wäre, als Augustus 14 n. Chr. starb.