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"Drei Männer, zwei Länder und eine Firma in explosiver Gemengelage: "King"s Moving" ist das Umzugsunternehmen von David King, der sich in New York und New Jersey nicht nur um Lagerung und Logistik kümmert, sondern mühsam die Scherben seiner Ehe und im Leben seiner launischen Tochter Tammy aufräumt. Dem Wunsch seiner Sekretärin nach einem gemeinsamen Leben entzieht er sich, willigt aber ein, dass sich sein Neffe Yoav aus Israel bei ihm einquartiert. Der hat den Militärdienst hinter sich und verbringt nun den obligatorischen Auslandsaufenthalt als Kistenschlepper. Kaum des Englischen mächtig, holpert Yoav im Truck des Onkels ebenso fremd durch Manhattan wie vorher durch den Gazastreifen. Als Luter, ein Schwarzer in Schwierigkeiten, die Hypothek für sein Haus nicht mehr abbezahlen kann, kommen Davids Logistik und Yoavs Muskelkraft ins Spiel: Doch der Räumungsauftrag mündet in einem Desaster.Joshua Cohen, Autor von "Vier neuen Nachrichten" und "Buch der Zahlen", erweist sich in seinem neuen Roman als mitreißender Erzähler und satirischer Beobachter des menschlichen Seelenhaushalts."
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Seitenzahl: 322
Inhalt
[Cover]
Titel
Widmung
Motto
David (Gepfändet)
Yoav und Uri (Nach Lage der Dinge)
LET MY PEOPLE STAY
Avery Luter, Imamu Nabi (Anders besetzt)
Autorenporträt
Übersetzerporträt
Kurzbeschreibung
Impressum
Für BC, DC und MC
Auftrag für Moving Kings
Ich verstummte, es zerfielen meine Gebeine, da ich den ganzen Tag schrie.
Psalm 32, Vers 3
David (Gepfändet)
An ihren Fahrzeugen sollt ihr sie erkennen: die blauen Laster, die Sie auf dem Weg zum Flughafen immer schneiden, an der Seite eine schmuddelige weiße Krone, auf den verbeulten Stoßstangen der Aufkleber PROBLEMMITMEINEMFAHRSTIL? RUFNUMMER 1-800-212-KING!
An ihrer Werbung sollt ihr sie erkennen: auf den freien Kabelsendern und im Rushhour-Radio, auf diesen Plakatwänden, die immer Hinweisschilder verdecken, sodass Sie die Abfahrt zum Flughafen verpassen, mit ihren Angeboten kostenloser Immobilienschätzung übers Telefon und hundertprozentiger Geld-zurück-Garantie.
Oder vielleicht kennen Sie wie 180000 weitere zufriedene Kunden seit 1948 in allen fünf New Yorker Bezirken und den drei angrenzenden Bundesstaaten diese Leute auch als Königliche Kuriere© oder Höfische Helfer© oder die Monarchen unter den Möbelpackern™ – und haben ihnen Eintritt in Ihr Heim gewährt, haben sie Ihre wertvollsten Besitztümer ins neue Heim transportieren lassen – oder in einen ihrer sechs rund um die Uhr geöffneten, ständig überwachten, klimatisierten, praktisch und bequem über die Metropolregion New York verteilten Lagerräume.
Oder vielleicht ist auch alles, was Sie wissen, ganz falsch, weil Sie gerade ihre Bewertungen im Netz gelesen haben.
King’s Moving (Geschäftsführer, Sprecher, Auffanglager für Krisen, Stress und Pfandsachen: David King) war ein großes Kleinunternehmen mit Konzession, Bankaval und beschränkter Haftung, spezialisiert auf – einmal dürfen Sie raten – Transporte … und Lagerung … und Parkplatzbetrieb … und Abschleppdienst … und Bergungsarbeiten … und Abfallverwertung, eine Spanne von Tätigkeiten, die Blut und Schweiß von plusminus 40 Vollzeit- und 60 Teilzeitbeschäftigten forderte und sich auf 50 Fahrzeuge, drei Parkplätze, fünf Garagen, sechs rund um die Uhr geöffnete, ständig überwachte, klimatisierte, praktisch und bequem über die Metropolregion New York verteilte Lagerräume stützte – nicht zu reden vom Hauptquartier in Jersey City, direkt am Hafenkai.
Vor allem aber war King’s Moving ein Familienunternehmen. Im Besitz der Familie, unter Leitung der Familie. Familie, Familie, Familie … Wenn Sie das berücksichtigen wollen, Euer Ehren …
Es war Sommer, ging auf das Ende einer Feiertagswoche zu – nach den Umzugstagen (Monatsletzter, Monatserster) kam der Unabhängigkeitstag –, und David King war irgendwo in den Hamptons auf einer Geburtstagsparty für Amerika, zu der er als Mitglied des Empire Clubs geladen worden war, wobei von allen Eingeladenen erwartet wurde, dass sie mindestens 4000 Dollar spendeten, um unter der Schirmherrschaft des Parteikomitees der Republikaner im Staat New York verdünnten Alkohol und in Soßen ertränktes Grillgut genießen zu dürfen.
Zu einer Party einzuladen und dann dafür zahlen zu lassen: das hatte Klasse. So sicherten Milliardäre ihre Milliarden.
Und David, dem schon die Maut für den Long Island Expressway zuwider war, fragte sich unwillkürlich, ob er schon Leute im Wert von 4000 Dollar getroffen hatte – er konnte nicht anders, er musste alles geschäftlich bewerten: die Menschen, das Grundstück, das auf viktorianisch getrimmte ehemalige Pfarrhaus, das den Swimmingpool überragte. In seiner Hosentasche vibrierte wieder das Handy.
Er drückte den Anruf weg – er war bei der Arbeit.
Er arbeitete, indem er eine Party besuchte, wo er niemanden kannte oder nur aus der Öffentlichkeit kannte: Namen, Gesichter, Steckbriefe.
Es war Arbeit, sich im Zaum zu halten, um nicht Firmenfusionen zu erwähnen, von denen er nur gelesen hatte, Übernahmen, die nicht seine waren, die noch andauernden Scheidungs-/Sorgerechtsprozesse fremder Prominenter – und stattdessen die Gespräche über Initiativen zur Meeressauberkeit und Strandaufschüttung zu erdulden, wo er doch bloß wissen wollte: Frau oder Tochter? Wo er nur fragen wollte: Weiß irgendjemand, wo unser Gastgeber steckt? Es war Arbeit, so zu tun, als würde er sich unter die Leute mischen, dazupassen, als würde er nicht schwitzen und hätte selbst noch einen Zweitwohnsitz und wäre ein alter Hase der Hamptons, und zuzustimmen, dass der Heliport an der Meadow Lane in letzter Zeit so überfüllt und dass Landschaftsgärtner Ray von Elite Landscapers einfach der Beste sei.
Denn Tatsache blieb, dass David noch nie so weit draußen auf Long Island gewesen war und dass er nicht sagen konnte, in welchem der Hamptons er sich befand, nicht einmal, wie viele Hamptons es gab, oder wie sich die Hamptons unterschieden, oder wodurch ein Hampton – Singular – überhaupt zum Hampton wurde.
»Ich hoffe, wir halten Sie nicht auf?«, bemerkte eine Dame.
»Wie bitte?«, fragte David.
»Sie schauen dauernd auf Ihr Telefon.«
»Ich mache internationale Geschäfte, da ist nie Feierabend. Irgendwo ist schon der fünfte Juli.«
Entschuldigend zog er sich aus diesem Rasenkreis und der Versammlung weiblicher Bohnenstangen mit flatternden Kleidern in Rot, Weiß und Blau zurück.
Ruth, seine Büroleiterin, hatte angerufen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Jetzt schickte sie ihm Kauderwelschnachrichten: entschuld. bill krank muss bill jr bball training bring.
Und dann: PS: finde magnetkarte nicht.
David schob sich zwischen Zelten und Buffettischen entlang, wo geschnitten und gerieben und ausgeschenkt wurde – der Trick war, in Bewegung zu bleiben.
Kinder – wenn David in Gesellschaft von Kindern war, stellte er sich immer vor, welche zu haben, und dann erst fiel ihm ein, dass er eine Tochter hatte, die inzwischen erwachsen war – Kinder bekamen die Gesichter mit Kriegsfarben bemalt. Sie hüpften auf einer riesigen aufblasbaren Galeone herum und fochten mit Ballonschwertern.
Eine Brise trug den Mistduft vom Elefantenreiten heran.
Er bewegte sich zwischen Servicekräften, die $ 8,75 die Stunde verdienten, mit anderen Worten etwa 14 Cent pro Minute, 14,5833 Cent genau, er rechnete es im Kopf aus, die ihm Rostbraten absäbelten oder Scotch einschenkten oder ihn und seine Mentholzigaretten zu einem Raucherbereich wiesen.
Gespräche häuften sich, wie sie geführt wurden, in weiten Kreisen. Über Aktien, über Immobilien, über Aktien. Über Renovierungen und die Mühen, ein Haus für die Saison zu öffnen. Zwei Häuser zu besitzen hieß offenbar immer, mindestens eines von beiden zu vernachlässigen. Über Alarmanlagen, Sprinkleranlagen, Sumpfpumpen, weißen Schimmel vs. schwarzen Schimmel. Über Politik.
Davids politische Absichten strebten nach Höherem und waren darum minderwertig: Er war für Kontakte und Kontrakte, für das Recht, keine Diät zu halten und sich in der Nachtischschlange vorzudrängeln.
So ein Mann war David King: Wenn eine langjährige Angestellte sich kurzfristig einer Verpflichtung entzog, weil ihr Exmann zu krank war, ihren Sohn zum Baseballtraining zu bringen, dabei war es nicht mal richtiger Baseball, sondern bloß Softball für Weicheier, oder wenn sein Rostbraten eher medium war als rosa, dabei war das schon ein rückgratloses Zugeständnis gewesen, oder wenn sein 18 Jahre alter Dewar sich als erst 15 oder 12 herausstellte oder, Gott bewahre, mit einem Eiswürfel oder auch nur einem Spritzer Wasser serviert wurde, oder wenn die Schlange an der Nachtischtheke so unentschlossen lahm voran kroch, dass sein Eis geschmolzen wäre, ehe er bis zu seinen Lieblingsgarnierungen vorgedrungen war – es war ja nicht seine Schuld, dass er bei den Toppings so wählerisch war –, dann schrie er los, dann bekam er einen Anfall, doch sobald er seinen Eisbecher mit Toffees und einer Kirsche verziert hatte, war er ganz Ohr, ganz zufrieden schuldbewusst kindlich aufmerksam, als er dem Vortrag irgendeines Studenten von einer Elite-Uni zweiten Ranges lauschte – über die neuen Gulfstream-Modelle (obwohl David kein eigenes Flugzeug besaß), über die besten Segeltörns (obwohl David kein eigenes Boot besaß), über die besten Springturniere (obwohl David nicht mal ein Pony besaß), über den Bundesstaat New York, der die meisten Vorschriften und Regelungen der gesamten USA hatte, die höchsten Steuern, die höchsten Energiekosten, die höchsten Benzinpreise, die höchsten Versicherungsprämien und dazu ein kompliziertes Haftpflichtrecht, neben dem selbst das Justizsystem der Nazis unparteiisch und milde wirkte, und dass Soundso der einzige Kandidat war, der echte Pläne sowohl für den Nahen Osten als auch für den amerikanischen Mittelstand habe (unser zusammengesetzter zweitklassiger Elitestudent kannte offenbar seine Zuhörerschaft) – der einzige Kandidat, der wahrhaftig »Pro Wachstum« war, und dieser Ausdruck, dieser Politjargon blieb bei ihm hängen, denn er sah sofort ein kleines, bescheidenes, ordentliches Gebäude vor sich, ein vierstöckiges Vorkriegsstadthaus im Village zum Beispiel, das mit jeder Stimme für einen Republikaner ein Stockwerk größer wurde, bis es zu einem großen, glänzenden Turm gewachsen war, der ganz Manhattan überragte, und dann wanderten seine Gedanken assoziativ unter den Gürtel, der schon im letzten Loch hing, unter seinen Bauch, der wie eine keuchende Zunge darüberlappte, zu seinem blutleeren Schwanz, der – als hätte sein Herz das Parteiprogramm »Pro Wachstum« verraten – schlaff und nutzlos darunter baumelte.
Es war verstörend – für andere, nicht für ihn selbst, denn er bemerkte es gar nicht –, wie er sich veränderte. Wie er sich von oben herab belehren ließ. Wie er in bestimmten Situationen vielleicht nicht direkt unterwürfig, aber doch fügsam, handzahm wurde. Ein Jude. Und so bedankte er sich am Ende noch immer bei seinem Gesprächspartner für die Herablassung, für die aeronautische, seemännische, reiterliche oder staatsbürgerliche Fortbildung. So wie er sich, nachdem er Ruth zusammengebrüllt hatte, bei ihr entschuldigte und ihr Gehalt erhöhte, so wie er den Menschen, die ihn bedienten, immer zu viel Trinkgeld gab – sogar bei einer Veranstaltung wie dieser, wo sie Ärger bekamen, wenn sie welches annahmen.
Seine üblichen gesellschaftlichen Verpflichtungen waren Besuche von Polizeirevieren, Feuerwachen und Schulaulas, wo er solch bedeutende Persönlichkeiten traf wie: Leiter der Hafenbehörde, Mitglieder des Bundesstaatparlaments, Stadträte, Bezirksbürgermeister, Bezirksratsmitglieder, Quartiersbeiräte, die Vorstände der Transportgewerkschaft, Ortsgruppen Union City und New York, und die Leiter des Baudezernats, des Stadtplanungsdezernats, des Verkehrsdezernats und der Gesundheitsbehörde von New York. Diese Veranstaltung jedoch war auf Bürgermeisterebene und darüber hinaus – auf Kongressebene und darüber hinaus – für die Entwickler, die Investoren, die protestantisch-altehrwürdigsten Macher, für die sämtliche Ausnahmen, Abschläge und Befreiungen galten. Menschen, die große Energieversorger leiteten, nicht ein paar Tanklager und Entsorgungsfirmen. Bankiers, die Zinssätze lenkten, und Generäle, die Orden besaßen, nicht die pensionierten Polizisten, die gepanzerte Limousinen lenkten, und die ehemaligen Taxifahrer, die noch eine Lizenz besaßen. Inmitten dieser Schicht war er unsicher, verlegen und beklommen geworden; weil er immer aus dem Mundwinkel redete, zu viel gestikulierte, mit klebrigen Fingern am Hosenstall nestelte.
Alle inneren Kämpfe waren an seiner Miene abzulesen. All seine Rollen rangen miteinander: König, einfacher Bürger, Selfmademan, Unvollendeter. Der Alkohol, das rote Fleisch, die Milchprodukte. Die Tabletten – angeblich gegen hohen Blutdruck, angeblich gegen hohen Cholesterinspiegel, und die, bei denen er nicht sicher war: gegen Angstzustände. Er traute keiner davon, er schluckte sie bloß. Nie wusste er, was er sagen sollte, oder er wusste es, aber verärgerte seine Zuhörer trotzdem, verhedderte sich in den Spielregeln, verbog sich, wenn er ganz er selbst hätte sein sollen, und umgekehrt. Golf mit Tennisbegeisterten, Tennis mit Golfern. Mit einem belgischen Diplomaten unterhielt er sich über die Regenwahrscheinlichkeit. Mit der Vorstandsvorsitzenden eines Kosmetikunternehmens hatte er darüber gesprochen, dass die meisten Menschen Perser für Araber hielten. Es war auch nicht sonderlich hilfreich, dass die meisten Menschen hier es zutiefst anstößig fanden, ihre berufliche Tätigkeit oder Untätigkeit preiszugeben oder dazu gedrängt zu werden, sodass er außer Militärs in Uniform und Leinwandprominenz nur die Bediensteten eindeutig zuordnen konnte, weshalb er schließlich mit ihnen plauderte: Warum er eine Erhöhung des Mindestlohns nicht unterstützen würde, ob sie den Gastgeber gesehen hatten oder nicht, und dann steckte er ihnen Dollarscheine in die Taschen und wies sie an, ihm Bescheid zu geben, wenn sie ihn entdeckten. Er war also vor allem da, um der Veranstaltung etwas Regionalkolorit zu verleihen, nur dass er sich außerhalb seiner gewohnten Region bewegte. Wahrscheinlich hielten sie ihn für hart im Nehmen, ein Raubein. Wahrscheinlich glaubten sie, er stecke mit der Mafia unter einer Decke.
David trieb am Rand der Menge, die sich um die Tanzfläche drängte, wo ein professionelles Paar Profitänzer schwang und sprang und wirbelte. Tasten, Gitarre, Bass und Schlagzeug vereinten sich zu einer Art Jazz, die alle Welt in einen Fahrstuhl verwandelte, und die Bläser erhoben sich und warfen Melodiefetzen aus. Rechts und links der Bühne hingen an provisorischen Schallwänden großformatige Adlergemälde, zu gewinnen bei der Tombola. Das Stück mündete in einen Trommelwirbel und der in Applaus, während der Conferencier einen Scherz übers Schwarzsein machte und den Kandidaten vorstellte.
David war schon draußen – am Strand, ein weites, laues Panorama. Leuchtendes Wasser, leuchtender Sand. Wegen der Winde brauchte es viele Haltungswechsel, viele Streichhölzer, bis er seine Newport-Zigarette angezündet hatte. Dann griff er zum Telefon und rief Ruth an.
»Hallo?«
»Ruthie.«
»David – hallo? Sitzt du im Auto?«
»Sprich einfach. Was ist Sache?«
»Ich kann dich kaum – wenn du fährst, mach das Fenster zu.«
»Ich bin im Freien – da gibt’s kein Fenster.« Er schirmte das Telefon mit der Hand ab. »Was ist los?«
»Ich hab’s doch gesagt. Ich kann nicht hin.«
»Kannst nicht oder willst nicht?«
»Es geht mir nicht so gut.«
»Ich dachte, es liegt an Bill, an Bill junior. Jetzt schmeißt du deine Ausreden durcheinander.«
»Keine Ausreden.«
»Du schaffst es tatsächlich nicht, einen Kühlschrank zu bestücken, Küchengeräte hinzubringen und vielleicht eine Decke oder so?«
»Ich habe hier einen Sohn an der Backe, der ein Play-off-Spiel hat, und einen sturen und spuckenden Exmann.«
»Nur das Nötigste, Ruthie.«
»Besser, wenn Paul sich darum kümmert.«
»Paul ist nicht häuslich, der ist nicht mal stubenrein. Außerdem hat er mir schon einen großen Gefallen mit den Möbeln getan, als er den Auszug der Bengalen geregelt hat.«
»Bangladescher.«
»Haben sie alles anständig hinterlassen? Du solltest doch saubermachen.«
»Ich stehe im Haus meines Exmanns, in der Kotze meines Exmanns, und mir wird auch schon übel.«
»Das ist eine Sache zwischen dir und Bill, aber jetzt hast du es zu einer Sache zwischen dir und mir gemacht. Und meinen Neffen reitest du auch noch in die Scheiße.«
»Du bist ein Arsch, David. Die Sache ist erledigt.«
»Soll das heißen, du erledigst es jetzt?«
»Das soll heißen, ich drücke jetzt auf den roten Knopf und beende das Gespräch.«
So was passierte, wenn man sich auf eine Büroleiterin verließ, die noch mit ihrem Ex verstrickt war, oder wenn man mal seine Büroleiterin gevögelt hatte, die noch mit ihrem Ex verstrickt war – der reinste Treibsand, die Loyalitäten verknoteten sich wie Seetang, Angelschnur und Köder. Eine Barkasse glitt vorbei, beladen mit Feuerwerkskörpern, und David schnippte seine Kippe in die Richtung, als hoffte er, ein Windstoß könnte sie im hohen Bogen übers Wasser tragen und eine Lunte anzünden.
Er stampfte zurück zur Party (und schnappte sich ein Glas Punsch mit Bourbon), knirschte über den Muschelkalk der Auffahrt (und stellte sein Glas ins Gras). Ein Autoparker nahm seine Quittung entgegen und grinste: »Was für Auto? Bentley oder Rolls?«
»Du weißt genau, was für einer. Ein Lieferwagen, cabron. Ein Plymouth Estupido.«
Zwei Männer kamen näher, und als sie gerade die Schieferstufen zum ehemaligen Pfarrhaus emporsteigen wollten, blieb einer der beiden stehen: »Ach du meine Güte – ach du meine Güte – David King, sind Sie das? Umzugskönig David King fährt jedes noch so bescheidne Ding?«
Der Mann, Schwimmerfigur im eng geschnittenen Anzug, gelockerte Krawatte um den Hals hängend, schüttelte David kraftvoll die Hand: »Das war ein Klassiker. Ein absoluter Klassiker.«
Zu seinem Begleiter sagte er: »Ich hatte gerade in einer Kanzlei in Washington angefangen, aber ich kam ständig wieder nach New York, um Peg zu besuchen«, dann zu David: »Meine Frau.«
Der Mann ließ seine Hand los und rieb sich die Stirn, wurde nostalgisch. »Sie ging jedenfalls immer früh schlafen, Peg, damals machte sie noch die Morgenshow auf WFAN, darum saß ich abends oft allein in Unterhose rum und guckte Channel J – kennen Sie Channel J? Gab es den nur in der Stadt? Frei zugänglich. Der Wahnsinn. 1-900-Partytelefone, Talkshows mit Wahrsagern, Anrufsendungen mit Neuigkeiten über Schneestürme oder Meinungsumfragen. Gibt es alles nicht mehr. Sie hatten so einen Werbespot, wo eine Familie um den Tisch versammelt ist, Mutter und Tochter erzählen sich von ihrem Tag, der Vater sitzt auf einem Thron am Tischende, und dann kommen die Möbelpacker rein und tragen ihn weg, und das machen sie so clever und elegant, dass es keiner merkt – das war genial. War das Ihre eigene Familie? Kam mir immer so vor. Wie geht es der?«
David lächelte schmallippig – er war eitel. Seit diesem Werbespot, seit er diese Frau verlassen hatte, hatte er sich Haare transplantieren und neue Zähne machen lassen.
»Der Familie geht es bestens, danke«, antwortete er. »Aber ich habe seitdem so einiges gemacht. Und Sie? Immer noch lange wach bei meinen neuen Werbespots?«
Der Mann lachte, und sein Begleiter fragte: »Die Rede hat Ihnen also gefallen, nehme ich an? Der Senator kann mit Ihrer Stimme rechnen?«
David versuchte so zu tun, als hätte er gescherzt. »Entschuldigen Sie, Senator, das sollte ein Witz sein.«
»Natürlich«, sagte der Senator und nickte seinem Begleiter zu, der nicht gelacht hatte. »Darf ich Ihnen unseren Gastgeber vorstellen?«
Die Hand, die David jetzt schüttelte, gehörte wie so vieles andere in New York Fraunces Bower – von den Bowers des Corn Exchange und der Dodgemoor Estates, von Bryant Park Nummer Eins und Greenwich Street 388, Sanierer von Roosevelt Island und Governors Island, Miteigentümer des Rockefeller Center – die Bowers, die über jeden Bezirk der Stadt Einkaufszentren und Sozialwohnungen verstreut hatten und so viele Hektar gepfändete Grundstücke draußen in den kahlen Außenbezirken besaßen, dass dieser überflüssige Grund und Boden, sollte man ihn jemals zu einer Einheit zusammenfügen und über Manhattan abwerfen, den gesamten Central Park bedecken würde.
Fraunces Bower, der vollständig und korrekt Fraunces Bower III hieß – inzwischen Direktor der familiären Vermögensverwaltung »Bower Asset Management« –, war groß und feingliedrig, von schmaler Gestalt, in Seersucker gekleidet. Ein Sonnenstrahl umkränzte sein Haupt mit Glanz, sodass David nicht erkennen konnte, wie kahl er war.
»Erfreut, Sie kennenzulernen, Mr. Bower.«
»Fraunces, bitte«, sagte er und drückte Davids Hand so fest, als wollte er einen Handschuh daraus machen.
»Ihre Karosse wartet«, sagte der Senator.
Tatsächlich, es ließ sich nicht leugnen: der verschrammte blaue Lieferwagen, dessen weiße Beschriftung blätterte: KINOVING.
Der Parkdiener klirrte mit dem Schlüsselbund, während David seine Brieftasche zückte und auf die Scheine schaute: ein Dollar oder hundert? Er entschied sich für $100.
Verkehr gab es keinen – niemand fuhr in seine Richtung, tat keiner jemals. Denn seine Richtung war ein Kreis, jedenfalls würde es einer werden, er schlug einen großen Bogen gegen den Uhrzeigersinn quer über Long Island, durch Queens, Brooklyn, Manhattan und schließlich nach Jersey, nur um dann wieder umzukehren und durch Brooklyn nach Queens zu fahren.
Oder er könnte von Jersey nach Süden fahren und es über Staten Island riskieren.
Eine echte Strafe, eine Fahrt zum Erbrechen. Schönen Dank, Ruthie. Er war noch ein bisschen betrunken, und es sah nach Regen aus. Er steckte sich eine Kippe in den Mund, nur um an etwas zu nuckeln.
Als er vor der Brücke nach Manhattan an einer Ampel warten musste, schaute er auf sein Handy: Sein Neffe war gerade pünktlich abgeflogen.
An der Abzweigung auf die Canal Street stand ein Typ – weder Straßenhändler noch Scheibenputzer, und obwohl er mit seinen Lumpen und Abszessen sowohl arbeits- als auch obdachlos wirkte, schien er nicht zu betteln. Allerdings hielt er ein Pappschild in der Hand, das BEWAHRTDENHUDSON forderte und, als er es wendete, BEGRABTDENHUDSON, worauf er es gleich wieder umdrehte – David fragte sich, ob er auch bloß ein Kandidat im Wahlkampf war und ob die beiden Seiten seines Schildes nicht das Gleiche aussagten: Man bewahrte den Fluss, indem man ihn unter die Erde verlegte, wo er unberührt fließen konnte.
Er ließ das Seitenfenster hochfahren.
Aus dem Tunnel herauszufahren, getränkt vom Schmutzwasser der Sümpfe, war eine Wiedergeburt – mit dem Kopf voran, vorbei an Liberty Island und Ellis Island. Wo alles anfing, wie David sich gern sagte, als wäre das der Marken-Claim der Marschlande, auch wenn es gar nicht hier war, wo alles anfing, denn Davids Vater war erst nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten gekommen, und während die Freiheit unvergänglich auf ihrem feuchten Fleckchen thronte, war Ellis Island schon eingemottet gewesen, und das Schiff, auf dem sein Vater herkam, war in Jersey angelandet. Ausfahrt 14A, David gab in Kurven immer Gas. Er ließ das Fenster wieder herunter, alle Fenster, um den Gestank zu spüren, das Methan, das wie ein Furz hereinrauschte. Von Port Jersey zur Colony Road: ein spärlich beleuchteter und durchweichter Streifen, der schilfige Inselchen verband und den man nur befuhr, wenn man eine Firma besaß oder für eine arbeitete, die daran lag, oder wenn man sich verfahren hatte, und der langsam im Dunkel versank. Die Trostlosigkeit war erstickend, besonders an heißen Tagen. Zu seiner Rechten lag der Greenville Yard, wo die Schiffscontainer wie massige Backsteine zu Baracken gestapelt waren, jede Menge blaue aus Korea, aber in letzter Zeit auch viele von den grünen aus Deutschland oder den roten und gelben aus China. Zur Linken lagen die Piers, und ihre ernsten Kräne grüßten die vorübergleitenden Tanker. Darunter im Trüben entledigte man sich der Morde und der Waffen, die aus Menschen Mordfälle machten. Dort versenkte man seine kurzgeschlossenen Buicks, auf einem Unterwasserparkplatz für kaputte Heizkessel, leckende Mikrowellen und alle Arten Batterien.
Fast am Ende dieser Straße lag Kings Hauptquartier, umgeben von Stacheldraht.
David zerrte seine hinternwarme Brieftasche heraus und suchte nach der Magnetkarte. Er hätte Ruth niemals eine geben dürfen. Aber wenn nicht Ruth, wer sollte dann eine haben? Wer würde sich im schlimmsten Fall um seine Tochter kümmern?
Um seine Tochter, nicht um Ruths.
Er hängte sich aus dem Fenster, wischte mit der Plastikkarte über den Sensor, und das Tor glitt auf der Schiene zur Seite.
Grelle, von Motten umschwärmte LED-Leuchten, Metallgitterstufen hinauf zu einem Bürogebäude aus narbigem Backstein, von dem Lagerhäuser abgingen, sich wie blindes Vertrauen ins Trübe streckten.
Tim Brynks alias Tinks saß hinter dem Schreibtisch, im Stuhl festgenagelt, den Blick fest auf Monitore gerichtet: einer zeigte einen Porno, die anderen fünf die Bilder der Überwachungskameras.
»Tut mir leid«, sagte David, »dass ich deine Wichsstunde unterbrechen muss.«
Tinks wandte den Blick nicht von den Bildschirmen. »Ich wichse nicht.«
»Hier nicht?«
»Überhaupt nicht.«
»Quatsch.«
»Kein Quatsch«, jetzt zuckte Tinks und drehte sich um. »Mir gefällt die Spannung, wenn ich es mir aufspare, die hält mich wach – und mir gefällt, dass sie nicht reden.«
David ging zum Mini-Kühlschrank und holte ihnen zwei Tecate-Biere.
»Und warum bist du im Büro? Der Computer zu Hause abgestürzt?«
David nahm einen Schluck und zog eine Grimasse. »Ganz ehrlich«, sagte er. »Sachen mit Schwänzen drin habe ich nie verstanden.«
Es lief so, dass Sie einen Vertrag unterschrieben – einen Frachtbrief. Darin versicherten Sie, dass Sie das Risiko ganz allein trugen und dass Sie selbst und Ihre Erben, Nachlassvollstrecker, Nachfolger oder Rechtsnachfolger hiermit das Unternehmen King’s Moving Inc. und seine leitenden Angestellten und Mitarbeiter von jeglichen Ansprüchen und Forderungen schad- und klaglos hielten sowie auf alle Rechtsmittel und Anschuldigungen wegen unabsichtlicher und/oder fahrlässiger Beschädigungen oder Verluste verzichteten.
Dann packten Sie all Ihr Hab und Gut und transportierten es oder ließen es einpacken und in die nächstgelegene Lagereinrichtung von King’s Moving bringen, in einen der blauweißen Fertigschandflecke in Manhattan (Downtown), Manhattan (Uptown), Brooklyn, Queens, Staten Island oder der Bronx, und dort blieb es, dort ruhten die Dinge: all Ihre zu klein gewordenen Kindersachen, Kinderwagen, Kinderbetten, all Ihre Schlittschuhe, Woks und Mixer. Aber wenn Sie dann beispielsweise Ihre Anschrift ändern und vergessen, das mitzuteilen, und dadurch mit den Gebührenzahlungen in Rückstand geraten. Wegen der Unterhaltszahlungen. Oder wegen medizinischer Ausgaben. Oder weil Sie pleite sind oder ins Gefängnis gewandert oder einfach gestorben. Nach sechs Monaten Mahnbescheiden mit steigendem Zinsaufschlag und einer folgenden zweimonatigen Gnadenfrist, ab der die Buchhaltung, also Ruth, Ihre nächsten Angehörigen aufspüren und zur Begleichung der Außenstände auffordern musste – Angehörige, die nie gefunden würden, oder wenn doch, sich üblicherweise weigern würden, derlei Schulden zu begleichen –, wurde der gesamte Schrott hierher gebracht und ging in den Besitz von King’s Moving über, die dann versuchten, ihre Verluste auszugleichen.
In diesem Komplex in Jersey City wurde die Beute gelagert: Ihr übereignetes Eigentum, in Betonschachteln gelagert, die in brackiger Bakterienbrühe schwammen.
Die ältesten Abschnitte dieser Lagerhallen waren immer noch nicht abgewickelt und daher zur Auktion aufgebaut, was ziemlich irre wirkte: Sie sahen aus wie Minitheater, wie Schrumpfkulissen. Hinter den metallenen Vorhängen lagen Räume, in denen sich andere Räume befanden: ein Wohnzimmer aus den 1950ern (Cocktailsessel, Nierentische), nebenan ein Arbeitszimmer aus den 1970ern (jede Menge Teak), auf der anderen Seite des Gangs ein Freizeitraum aus dem Jahr 1984 in erstklassigem Zustand, inklusive Kunstrasen, Fernsehsessel und einem Wimpel der Olympischen Spiele in Los Angeles – alle enthielten die Einrichtung und bewegliche Habe der ursprünglichen Standorte, nur etwas gedrängt, ein wenig überladen, denn die Lagereinheiten waren klein: sechs mal sechs Meter, viereinhalb mal viereinhalb, drei mal drei. Man erwartete beinahe, Menschen darin zu finden. Stattdessen entdeckte man nur Andeutungen, Hinweise, materielle Spuren von Geisteshaltungen: Radkappen, ein Schweißgerät, ein Laufband, ein Sexspielzeug namens Sybian. Jede Einheit enthielt ein ganz eigenes Drama, jede war eine Bestandsaufnahme des Lebens abwesender Menschen durch den ganzen Kram, mit dem sie nicht leben konnten, den sie aber nicht loswerden wollten: eine Einheit voller ausgeweideter Fotoalben, die Bilder über dem Boden verstreut; eine andere vollkommen leer bis auf ein Puppenhaus ohne Dach.
Die Boxen des zweiten Lagerhauses waren bereits bearbeitet und daher nach Gegenstandskategorien geordnet, was leichter zu ertragen war: Sie waren weniger menschlich. Es gab Einheiten nur mit Regalen, von einer Wand bis zur anderen lose aufgereiht; Einheiten, die bis unter die Sprinkler an der Decke mit Kisten und Koffern zugestapelt waren; die Einheit voller einzelner Schubladen. Dinge, die jede Beziehung zu ihren Besitzern verloren hatten, sogar die Beziehung zu den anderen Habseligkeiten ihrer Besitzer, waren jetzt nur noch aufeinander bezogen. Auf andere Dinge ihrer Art. Sie waren zu ihresgleichen gesperrt worden und damit sterilisiert, gereinigt, repariert. Lampen zu Lampen. Stereoanlagen zu Stereoanlagen. So waren sie leichter im Netz zu bepreisen und zu posten, in der Hoffnung, die Zwischenhändler zu umgehen und die Sekretäre und Zweiersofas und Teddybären direkt an Sammler von Sekretären und Zweiersofas und Teddybären zu verkaufen.
Weiter unten am Gang lag der Raum mit den Uhren, durch dessen Rollladen kratziges, kränkliches Ticken drang.
David eilte weiter ins dritte Lagerhaus – ließ das Neonlicht seine Bewegung spüren und flackernd angehen, ließ die Lampen im Hall seiner Schritte sirren und flackern. Handtücher, Bettwäsche. Schalen und Teller. Das fehlte im Haus noch: die häuslichen Kleinigkeiten.
Er überlegte, was die eigentlich waren – was seine Eltern besessen hatten. Was er besessen hatte. Die Gerätschaften der Kindheit. Wenn er auch nur die Hälfte davon fand, würde es für seinen Neffen reichen.
Er fand ein großes Rollbrett und stapelte Geschirr und Besteck darauf. Er hatte keinerlei Hemmungen, Bestecksätze aufzuteilen. Wie viele Messer brauchte ein Mann? Wie viele Töpfe und Pfannen? Er nahm sechs Gedecke, weil er sich dachte, dass sein Neffe nicht besonders scharf aufs Spülen sein würde. Er nahm drei Wassergläser, drei Weingläser, dann noch eine glänzende Suppenterrine, die wie ein Schneckenhaus gewunden und groß genug war, ein Baby darin zu baden. Er wickelte sie in ein Tischtuch und stellte sie vorsichtig aufs Rollbrett. Es war dumm gewesen, Ruth überhaupt darum zu bitten. Ruth, die ewig versucht hatte, ihn für immer an sich zu binden. Ruth, die versucht hatte, ihn sesshaft zu machen. Sie zu bitten, das alles auszusuchen, und zwar das Richtige auszusuchen, im Grunde ein Heim auszustatten, das aber niemals ihr Heim werden würde – das war grausam. Immerhin hätte sie gewusst, was sie nehmen sollte, was angemessen war. Was war zum Beispiel nötig, wenn sein Neffe koscher lebte? Würde er da nicht all das noch einmal brauchen, separat? David ging vorsichtshalber noch einmal zurück, nahm automatisch die besser für Milchiges geeigneten schlichten Gerätschaften aus Porzellan und Aluminium in Augenschein, griff nach weiteren Töpfen mit Deckeln und einer Fleischpfanne, nach Fleischmessern mit falschen Holzgriffen, nach efeuumrankten Fleischschüsseln und Fleischtellern.
So viel Bücken beim Öffnen der Rollläden, beim Beladen des Rollbrettes, er hatte Schmerzen. Die verdammten Lendenwirbel.
Er keilte das beladene Rollbrett gegen eine Innentür und tippte Daten in das Tastenfeld: erst das Jahr, in dem seine Tammy geboren war, dann das Jahr, in dem er seine Frau verlassen hatte oder von ihr verlassen worden war. Das Licht hier drinnen musste er selbst anknipsen, ohne zu stolpern. Schwarze Kästen standen im Weg, schwarze Safes sammelten sich in den Ecken. Garderoben voller Handtaschen und Lederjacken, Kühlräume mit Massen von Pelzen; die Felle, die er erbeutet hatte, bibberten auf Bügeln. Ungefähr einmal im Jahr versammelte er hier seine Experten aus New York. Abartige Typen, die auf Münzen und Briefmarken und Sportdevotionalien stehen und seine Tonnen voller signierter Trikots, Baseballschläger und Bälle sichteten. Außerdem so ein mürrischer Herkunftsforscher aus dem Amish-Gebiet in Pennsylvania, die führende Autorität auf dem Gebiet des Bürgerkriegsnippes.
Einmal hatte er eine Urne gehabt, die sich als ägyptisch herausstellte, Neues Reich, etwa 14.–13. Jahrhundert v.u.Z., auf $ 400000 geschätzt, bei der Auktion für $ 620000 weggegangen.
Der Schmuck war in der Wand.
Er wandte sich zur Kamera, die mittig an der Wand angebracht war, und überlegte, ein Laken darüber zu hängen, aber warum sollte es ihm peinlich sein? Und warum nicht eher Tinks?
Er winkte Tinks zu. Grüß mir die Lesben.
Er zog die Magnetkarte durch den Leser am Tresor und tippte dann dieselben Jahreszahlen wie eben ein, nur in umgekehrter Reihenfolge: erst das Trennungsjahr, dann Tammys Geburtsjahr. Die Ablagekästen drinnen waren mit weichem, dunklem Samt gepolstert.
Er nahm ein Halsband mit Anhänger und ließ es lose in seine Tasche gleiten.
Von dort war es ein anstrengendes Geschiebe die Rampe zum Hof hinunter, rüber zum Reparaturschuppen, wo er sich Wischmopp und Eimer schnappte; dann schob er das Brett weiter durch den Schlamm, trat gegen die Räder, um sie gleich auszurichten – und merkte erst auf halbem Weg, dass es besser gewesen wäre, das Brett oben auf der Rampe stehen zu lassen und mit dem Transporter rückwärts heranzufahren.
Die Zapfsäulen ohne Preisanzeige. Ein aufgerolltes Tau schlief auf einer Ladefläche. Die schlummernden Laster. Tinks tankte den Transporter voll – »Was hast du gesagt, was das hier wird, um diese Uhrzeit?«
»Mein Neffe«, antwortete David, nahm Tinks die Zigarette aus dem Mund, zog daran und trat sie aus. »Nicht beim Tanken.«
Tinks schnalzte mit der Zunge im Takt der klickenden Mengenanzeige.
»Mein Neffe aus Israel kommt, um bei uns zu arbeiten. Morgen. Heute. Ich richte ihm die Wohnung ein.«
»Weil es in Israel keine Arbeit gibt?«
»Weil es keine Wohnungen gibt.«
»Er findet nichts Preiswertes in Palästina?«
»Sie haben ihn gerade aus dem Militär entlassen.«
Tinks hängte den Einfüllstutzen ein. »Hört sich schwul an.«
»Das machen sie alle: in Israel macht jeder Mensch Militärdienst, und wenn sie fertig sind, gehen sie reisen.«
»Alle? Und wer bleibt dann noch in Israel? Ist Israel leer? Wissen die moslemischen Länder davon?«
»Der Zweck ist, dass sie ein bisschen runterkommen, durchatmen oder so.«
»Durchatmen von was? Vom Araber umbringen?
»Genau, vom Araber umbringen.«
»Okay, verstehe – da klingt sogar ein Speditionsjob ruhiger.«
Tinks half David beim Einladen, und als sie fertig waren, fragte David: »Ob du mir wohl helfen kannst, da draußen wach zu bleiben?«
»Jetzt schon?«
»Ich habe dich eine ganze Zeit nicht mehr gefragt.«
»Seit deinem Herzinfarkt nicht mehr.«
»Machst du so was nicht mehr?«
»Hab ich nie gemacht«, aber Tinks trottete schon zu seinem Dodge. Er wühlte in einem Fach neben der Kupplung und kam mit einer Ampulle zurück.
»Ich schulde dir was«, sagte David. »Schreib’s auf meine Rechnung.«
»Kleiner Tipp vom Profi?«, sagte Tinks.
David schniefte vom Autoschlüssel. »Was?«
»Du solltest die Kantenpolster fest an die Radkästen keilen und die Ladung abdecken, damit nichts bricht.«
Der Weg führte über die 440 durch Bayonne – die Abgase hingen trübe im Wind, die Abwässer würzten die Wiesen. Hinter dem Blinken des Erdgaskraftwerks erhoben sich Druckbehälter wie fremde Monde, in denen Öl brodelte. Darauf verließ sich David. Darauf verließ sich die Stadt: die Verladestationen, die Kanäle und Brückenpfeiler, die Umspannwerke, die Transformatoren und Strommasten. Das Netz hinter dem Netz, die Wahrheit, die all die Fäulnis und Verderbnis stützte. Das sagte David auch immer seiner Tochter: Ohne diese ganze Industrie würden die Bistros nichts mehr servieren, die Stände mit Latte für sechs Dollar würden zumachen. Keine Telefone, keine Bildschirme. Keine G-Strings aus dem Ausbeuterladen.
Staten Island war bloß eine Straße zwischen Brücken und ein Nieseln, das ihm bitter in der Kehle blieb. Der Brückenbogen auf die Insel war so klein und geduckt, der Bogen Richtung Stadt hingegen war eine pompöse Hängebrücke, mehrere Ebenen, zahlreiche Spuren. Er nahm immer die obere Ebene, die äußere Spur zum Wasser. Er war mitten über der Bucht und schnäuzte sich, als der Himmel explodierte.
Wasserfälle, Feuerblumen, Knaller und Heuler. Mächtige Lichtarterien zerreißen die Nacht, riesige geplatzte Äderchen und Venen. Das Besondere am Feuerwerk war die zugehörige Erwartung. Man war nie sicher, ob es schon vorbei war. Eine Ladung ging los, die Helligkeit erreichte den Höhepunkt und verdampfte, und man sagte sich, das war’s, das war jetzt das Finale. Aber dann zischte es, und man sagte sich, nur Geduld, das Ende kommt noch.
In der Hinsicht war es wie Älterwerden oder das Warten auf den Tod.
Das Radio sendete patriotisches Trommeln mit Pfeifen und Dudelsäcken, aber mit einem Rap in der Mitte, und David gefiel der Beat, oder vielleicht auch, dass er den Text kannte. Er nahm noch einen Hit auf dem Brooklyn-Queens-Expressway, aus der Ampulle direkt auf den Fingernagel. Dann zog er die Halskette aus der Tasche und hängte sie an den Rückspiegel, eine nie verlöschende Wunderkerze, die einfach nur baumelte und leise gegen den E-ZPass klirrte, die Chipkarte für die Maut. Er widerstand der Versuchung, seine Tochter anzurufen.
Auf der Atlantic Avenue ging es schneller, grüne Welle – vorbei an der Bar, wo er sie zuletzt getroffen hatte, keine coole Bar, hatte sie gesagt, aber manchmal half sie dort aus, dann vorbei an den Bars, wo sie normalerweise arbeitete, die immer angesagter wurden, hatte sie gesagt, je weiter draußen sie lagen, je schlechter die Gegend wurde – dieser letzte Aspekt war natürlich nur seine Sicht.
Ein paar Jungs schepperten auf Fahrrädern vorbei und warfen Knaller.
Tammy mochte es nicht, wenn ihr Vater sie besuchte, schon gar nicht in den Bars, wo sie arbeitete. Wo sie Craft-Bier zapfte, das mit gesunden Inhaltsstoffen angereichert war, und Schnäpse, die in winzigen Mengen destilliert wurden, und das neben Lebensmittelläden, die Schilder aufhängen mussten, dass man mit Essensmarken keine Windeln, Tampons, Binden, Briefmarken oder Fertiggerichte kaufen konnte.
An den Vormittagen schrieb sie. Denn Tammy, die Barfrau, war außerdem als Spendensammlerin beschäftigt oder eher unterbeschäftigt, schrieb Anträge für eine gemeinnützige Organisation.
Ihrer Aussage nach war Davids anfängliches Vorurteil ihrem Viertel gegenüber beleidigend, und zwar beleidigend für sie, weil er es als Sorge verkaufen wollte. So war er erzogen worden. Rassist sein und es zugleich verbergen. Für ihn stieg die Verbrechensrate immer, und in Brooklyn lebten nur Statistiken. Crown Heights, Bedford-Stuyvesant. Die Straßen dieser Gegenden waren bloß Namen in den Nachrichten, verbunden mit den jüngsten Leichen der Stadt. Die Jungs fuhren bei Rot vor ihm über die Straße, obwohl er Grün hatte, und starrten ihn provozierend an. Als hätte er die falsche Farbe. Andererseits war jede Farbe an ihm falsch. Zum Judentum bekannte er Farbe, und doch hatte seine Tochter sich Gentrifiziererin genannt. Zum allerersten Mal hatte er dieses Wort aus ihrem Mund gehört, und es klang britisch, modisch, nach Gojim, es klang nicht so, als könne sie so etwas sein, als könne er so etwas gezeugt haben. Seltsam, dass es eine irgendwie männliche Bezeichnung war, weil für ihn Gentleman darin steckte; obwohl die Vorlieben, die damit ausgedrückt wurden, eher feminin waren oder ihm jedenfalls so vorkamen. Damenhaft, elegant. Ladyfizierung hätte sie stattdessen sagen sollen. Sich selbst eine Ladyfiziererin nennen. Nachdem sie aufgehört hatte zu trinken, hatte David ihr das Haus angeboten, das er jetzt seinem Verwandten leihen wollte, der eigentlich ihr Cousin war, aber sie hatte abgelehnt. Sie wollte nur in diesem Viertel leben. Alle ihre Freunde wohnten dort, also hatte er dort etwas gekauft, von einem Chassiden, der mit einem Chassiden verwandt war, dem das Land unter einer von Davids Garagen gehörte. Ein Miethai, der jetzt hoffte, sein eigenes Stadthaus losschlagen und seine kahle Frau und brüllenden Bälger aufs Land schleifen zu können, in eine abgeschiedene Idylle zwischen Talmud und Tora. Tammy bewohnte die beiden oberen Stockwerke und vermietete die Gartenwohnung, was ein Euphemismus der Ladyfizierer für ein Kellerloch war. Die Miete durfte sie einstreichen. David wusste nicht genau, wer im Augenblick dort wohnte. Welcher Sozialfall gerade Rabatt bekam.
Immerhin erwies sich der Hauskauf als solide Geldanlage – das musste er zugeben, seine Tochter hatte ihre pathologischen Störungen, aber sie hatte auch Sechel. Die Gegend war im Aufstieg. Jedes Mal, wenn er vorbeifuhr, hatte sich die Trennlinie einen Block verschoben – mehr Polizisten unterwegs, im Streifenwagen, zu Pferd und zu Fuß, in Wachtürmen, wo sie sich die Rosinen herauspickten – mehr Cafés, Kindergärten, Haustierkindergärten, Fitnessstudios. Ihre Straße war Haus für Haus erblüht: die Mauern neu verfugt, der Stuck restauriert, der Sandstein dampfgestrahlt.
Er bog um die Ecke und hielt am Bordstein. Die Schlitze zwischen den Vorhängen waren schwarz. Er schnappte sich den Schmuck, ließ in erregender Lasterhaftigkeit den Motor laufen, rannte die Eingangsstufen hinauf, hob den Briefschlitzdeckel, ließ den Anhänger über die Kante des Spalts baumeln und die Kette hineinfallen. Sie gab ein weinerliches Klirren von sich.
Queens – den ganzen Weg durch den ungerührten Park schlug Davids Herz schnell, ging sein Atem hektisch und bitter. Um ihn her lag seine Jugend. Wo er die Mädchen von Beth Shalom Zungenküsse gelehrt hatte. Wo er gelernt hatte, Joints zu drehen und Wodka mit Orangensirup zu kippen.
Das war Flushing – oder was davon zwischen Chinatown und Koreatown noch übrig war. Neu eingeteilt, neu aufgeteilt zwischen einer der Chinatowns und einer der Koreatowns. Auf einer der vielen sträflich unregelmäßigen Straßen, die sich zwischen der 37th und der 46th Avenue hereindrängten, schaute er noch einmal auf den Flug seines Neffen und hätte fast einen Auffahrunfall gebaut.
All diese langen Nachmittage, wo er auf dem Fußboden saß und in den Fugen kratzte, die sich gar nicht kratzen ließen, weil die Fliesen nur auf das Linoleum gedruckt waren. All die noch längeren Nächte, in denen seine Eltern sich auf Jiddisch zu knallenden Schranktüren stritten. In dem schäbigen, knauserigen, kupferbraunen Haus, aus dem sein Vater durch seiner Hände Arbeit zu entkommen suchte. Wollte man die Tür aufschließen, musste man den Schlüssel verbiegen, musste ihn so heftig umdrehen und zerren, dass er beinahe abbrach und die PVC-Verkleidung über dem Türrahmen sich ausbeulte. Das war das Zuhause, das seine Mutter geputzt hatte und das Ruth hätte putzen sollen und von dem David jetzt selbst die Fettschichten schrubben musste. In seinem eigenen Heim hatte er noch nie auch nur einen Staubsauger angefasst.