Aus dem Leben eines Lohnschreibers - - Joseph Westphalen - E-Book

Aus dem Leben eines Lohnschreibers - E-Book

Joseph Westphalen

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Beschreibung

Eine furios-ironische Abrechnung mit dem Literaturbetrieb

Zehn neue Geschichten von Joseph von Westphalen, zehn furiose Prosa-Feuerwerke über bekannte wie ungeahnte Abgründe im Leben von Schriftstellern. Sie leiden an vielem, einem von ihnen hat es sogar die Sprache verschlagen: Er hat eine wunderschöne Frau geheiratet und kann nicht mehr schreiben. Am meisten leiden aber Westphalens Figuren am Literaturbetrieb und an den Moden und saisonalen Vorlieben, die darüber entscheiden können, welche Autoren als bedeutend angesehen werden und welche in der allgemeinen Gunst gerade das Nachsehen haben. Und die darüber bestimmen, was literarisch gerade erlaubt ist und wovor sie sich in Acht nehmen sollen. Wenn sie dann in Zorn geraten, ist vor ihrer Ironie auf die schönste Weise für uns nichts mehr sicher …

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Inhaltsverzeichnis
 
halb wahr
Voll daneben - Eine Verteidigung der Peripherie
Glück gehabt - oder Die Nacht mit der Powerfrau
 
Copyright
halb wahr
Voll daneben
Eine Verteidigung der Peripherie
Der Auftrag kam mir nicht ungelegen. Mein Roman, den ich schon längst fertig geschrieben haben sollte, fing an, mir auf die Nerven zu gehen. Eine kleine Ablenkung konnte ich ebensogut brauchen wie das sicherlich großzügige Honorar. Eine Rede zur Einweihung eines neuen Firmengebäudes sollte es sein. Reden dieser Art halte ich mittlerweile nicht ungern, ich lerne fremde Welten kennen und weiß danach besser Bescheid. Es hat sich herumgesprochen, daß ich für gute Laune sorgen kann. Vor allem fragt man bei mir an, wenn Veranstaltungen steif zu werden drohen. Die Befürchtungen sind begründet: Ein Bürgermeister, ein Bauherr, ein Aufsichtsrat, ein Betriebsratsvorsitzender, eine Alibifrau, ein Ehrenpräsident, ein Staatssekretär, der den Minister vertritt - alle reden, das Gähnen reißt nicht ab, die Schnittchen werden lappig. Man braucht Auflockerung. Ein Tango-Trio ist zu flott, ein Streichquartett zu feierlich und wird nur engagiert, wenn ein Musikschulenanbau eingeweiht werden soll. Ein Kabarettist hat bei Grundsteinlegungen und dergleichen Feierlichkeiten nichts zu suchen. Das wäre zu viel. Ein Schriftsteller ist genau richtig. Er ist nicht vom Fach, er kann sich einen anderen Ton leisten. Er ist niemandem verpflichtet. Er muß keine Danklitaneien aufsagen. Er kann ein bißchen lästern und die Wahrheit sagen. Auch kann man mit ein paar Witzen rechnen.
»Unser Unternehmen ist Ihnen sicher ein Begriff«, sagte der Mann am Telefon. »Jaja«, log ich. Ich hatte den Namen noch nie gehört. Es handelte sich offenbar um eine weltweit bekannte Marke, aber ich bin kein Markenmensch. Sie stellen Dinge her, die ich absolut nicht brauche. Die angeblich berühmtesten Krawatten der Welt. Teuer. Mit Krawatten allein geht es aber nicht mehr. Auch wenn die Japaner ganz wild darauf sind. Deswegen wurde die Produktpalette erweitert. Es gibt Notizbücher, vom selben Designer, die Hunderte kosten. Säcke für Golfschläger, die Tausende kosten. »Ach was!« rief ich dazwischen und freute mich auf mein Honorar.
Der Direktor selbst hatte es sich nicht nehmen lassen, mich anzurufen. Ich fand es sympathisch, daß er sich Direktor nannte. Ein irgendwie altmodisches Wort. Am Schluß solcher Telefongespräche kommt immer die Frage, auf die ich jetzt wartete: »Ihre Honorarvorstellungen?« Das Wort »fünf« lag auf meiner Zunge parat. So ausgesprochen, daß eindeutig klar war, es würde sich um fünftausend handeln. Und zwar Euro. Es war in der Zeit nach der Währungsumstellung, als man das sicherheitshalber hinzufügte.
Die Frage kam nicht. Er wird mich am Schluß zu seiner Sekretärin durchstellen, die das mit dem Mammon regelt, dachte ich. Statt dessen bat er mich um ein Treffen. Ich verwies auf meine knappe Zeit. Kann man doch alles am Telefon besprechen. »Sie sollten das neue Firmengebäude vorher schon einmal gesehen haben«, sagte er, halb flehend, halb mahnend. Er war wohl sehr stolz auf seinen Palast. Ich wies ihn höflich darauf hin, daß es E-Mails und Fotos und per E-Mail blitzschnell versendbare Fotos gäbe, daß mir das reichen würde, um einen Eindruck zu bekommen, im übrigen könne ich ja am Tag der Einweihung zehn Minuten vorher kommen. Schließlich sei es ein großer Vorteil der Architektur gegenüber der Literatur, daß man sich zu einem Bauwerk in wenigen Sekunden ein Urteil bilden könne und nicht stundenlang lesen müsse. »Das geht so nicht«, sagte er, »Sie müssen sich schon einmal vorher hierher bemühen. Es ist ein Erlebnis«, fügte er hinzu. Er nannte eine Adresse. »Wo ist denn das?« Ich glaube, ich schrie die Frage.
 
Es war noch hinter dem Flughafen. Ich Idiot hatte kein Taxi genommen und irrte mit meinem Auto herum. Sechs, dachte ich, das kostet euch sechstausend. Neue Straßen, keine Namen - die Hölle. Ich verfuhr mich. Kein Mensch weit und breit, den man fragen könnte. Baumaschinen ohne Arbeiter. Als wäre die Pest ausgebrochen. Sieben, dachte ich, das kostet euch siebentausend. Ich hasse Baugelände und Bautätigkeiten. Aufgerissene Erde ist obszön. Ich sehnte mich nach meinem Schreibtisch, nach meinem auch unfertigen, aber vergleichsweise übersichtlichen Roman.
Das Firmengebäude immerhin war fertig, die Gegend drum herum noch eine Art Todesstreifen. »In vier Wochen sind die Bagger weg«, sagte der Direktor. Jetzt erst spürte ich meine eigene verdrießliche Miene, mit der ich aus dem Fenster starrte. Seine Sekretärin brachte Tee. Eine Chinesin. Hübsch. Sehr hübsch. Sehr, sehr hübsch. Ich war etwas versöhnt. Die Irrfahrt hierher war nicht ganz sinnlos gewesen.
»Wie sind Sie auf mich verfallen?« fragte ich den Direktor. »Ich selbst lese leider nicht, keine Romane«, sagte er. »Keine Zeit, Sie verstehen.« Ich nickte. Das alte Lied. »Aber sie«, sagte er und deutete auf die sehr, sehr hübsche Chinesin - und zwar so, daß ich sicher war (und einen Augenblick später auch schon neidisch): Er hat etwas mit ihr. Das Lächeln der Chinesin wurde strahlend. Sie hatte ein Buch von mir gelesen und dabei ab und zu lachen müssen, und als man nach einem Schriftsteller suchte, der eine heitere Rede halten sollte, hatte sie mich vorgeschlagen. Ich schmolz. Ich bedankte mich stürmisch. Ich küßte ihre Hand. Sie kicherte. »Sie versteht kein Deutsch«, sagte der Direktor. Seltsame Sekretärin. Der Direktor erriet meine Frage. »Der ganze Schriftverkehr ist hier englisch«, sagte er. Sie hatte mich auf Englisch gelesen! Ich bedankte mich sofort auf Englisch bei ihr: »For years I’ve been waiting to meet someone who’se read one of my books in English«, log ich entzückt und verkniff mir den schmierigen Zusatz, daß ich nicht im Traum daran gedacht hätte, daß es sich bei diesem Fabelwesen auch noch um eine so schöne Frau handeln könne. »I’ve read your book in Chinese«, sagte sie.
Alles mußte ein Irrtum sein. Nicht ich war gemeint. Es gab keine chinesische Übersetzung irgendeines Buches von mir. Sie ging in ihr Zimmer und holte ein Buch. Es kam mir bekannt vor. Vor Jahren hatte mein Verlag mir ein solches Exemplar als Beleg zugeschickt, zusammen mit einem Scheck von zweihundert Mark und dem ironischen Glückwunsch, daß man in Südkorea ein Kinderbuch von mir übersetzt habe. Stimmte also nicht. War gar nicht Korea. »No, no, it’s China, it’s mainland China«, sagte die Chinesin und lachte so hinreißend, daß ich meine Rede am liebsten auf Englisch gehalten hätte, um sie erneut zum Lachen zu bringen. Sie hatte kein Alter. Sie konnte ebensogut 30 wie 50 sein.
Plötzlich stand der Direktor auf, ging zum Schreibtisch und überreichte mir einen unförmigen Karton. Der Deckel war durchsichtig. Eine Krawatte! Ähnlich abscheulich wie die, die er selbst trug. Selbst aus Seide lag sie auf einem Seidenbett, wie eine Luxusleiche in einem Luxussarg. »Um Sie ein bißchen an das Unternehmen zu binden«, sagte der Direktor. Dafür, daß er den Kalauer schon öfter losgelassen haben dürfte, kam er erstaunlich frisch.
Dann kam er zur Sache. Auf die Geschichte der Firma brauche ich in meiner Rede nicht einzugehen, dies sei seine leidige Pflicht. Ich nickte und war ziemlich sicher, daß er mich gleich bitten würde, auf die Transparenz des Bauwerks einzugehen. Ich hatte allein im vergangenen Jahr zwei Reden zur Einweihung von Gebäuden halten müssen, und manchmal sind aller guten Dinge drei. Jedesmal war ich von den Bauherrn gebeten worden, über die Transparenz zu sprechen. Das waren ziemlich simple Reden gewesen, denn ich plauderte einfach nur aus, daß ich gebeten worden sei, die Transparenz zu loben, die jeder Architekt erzeugen und jeder Bauherr haben wolle - nur könne keiner mehr die Transparenzlobhudelei ertragen, daher habe man mich engagiert. So beschwerte ich mich zehn Minuten lang über das, was ich sagen sollte, sagte es damit auch, die Rede war fertig - und alle waren zufrieden, auch die Architekten, die sich endlich einmal ironisch gewürdigt fühlten. Dieses neue Luxusseidenkrawattengebäude hier war zwar alles andere als transparent, um so besser und ironischer würde meine Rede sein.
Irrtum, es war nicht die mißratene Architektur, die ich mit lockeren Worten als gelungen darstellen sollte. Die Lage war das Fatale. Als der Umzug hierher drohte, habe es zum ersten Mal in der Geschichte der Firma eine Demonstration der Belegschaft gegeben, sagte der Direktor. 1968 sei alles ruhig geblieben, obwohl man doch damals gegen Krawatten einiges hätte vorbringen können. Nun aber seien die Mitarbeiter mit Spruchbändern skandierend durch die Straßen der Innenstadt gezogen: NIE, NIE, NIE - AN DIE PERIPHERIE.
»Dabei ist das Wort Peripherie ja noch ein Euphemismus für das hier«, sagte der Direktor und starrte nun auch geradezu selbstmörderisch aus dem Fenster. Ich schwieg. Recht hatte er. Das Unternehmen war bis vor kurzem da gewesen, wo ein so traditionsreiches Unternehmen hingehört: im Herzen der Stadt. Wunderschönes Gründerzeitgebäude. Genügend Platz für die zweihundert Mitarbeiter und die paar Nähmaschinen, die man zum Fertigen von den Edelkrawatten braucht. Die Golfschlägersäcke werden woanders zusammengenäht. In China. Die Geschäfte liefen wie am Schnürchen. Mit der Erweiterung der Produktpalette habe man die Krise gut überstanden. Nur leider ist das Unternehmen in Familienhand. Es gibt nichtsnutzige Erben, die eine zweite Mittelmeerjacht haben wollen. So ist die Kapitaldecke immer dünner geworden. Nun hat man den Stammsitz der Firma verkaufen und hier draußen bauen müssen. Hier! Ein Trauerspiel! Die älteste Krawattenfabrik der Welt …
»Am Arsch der Welt«, ergänzte ich - und zwar wirklich voller Mitleid. »Sie sagen es«, sagte der Direktor. Meine Aufgabe sei es, ebendies in meiner Rede vergessen zu machen. »Trösten Sie uns, trösten Sie mich, trösten Sie unsere Geschäftspartner, die hier herausfahren müssen, sagen Sie irgendwas Nettes, erheitern Sie uns, machen Sie uns vor, daß es hier nicht so schlimm ist, wozu sind Sie Dichter.«
»Harter Job, Sie muten mir etwas zu«, sagte ich, auch um ihn zu erinnern, daß wir noch nicht über mein Honorar gesprochen hatten. Dafür hatte er mit seiner Klage über die dünne Kapitaldecke schon angedeutet, daß ich mich mit meinen Forderungen würde mäßigen müssen. Ich ahnte: Wer sich an die Peripherie hat drängen lassen, der wird Festredner nicht üppig entlohnen können. Als er von sich aus nicht darauf zu sprechen kam, fragte ich ihn: »Wie stellen Sie sich meine Honorarvorstellungen vor?« Die Frage war nicht unkomisch, fand ich, erstaunlich, zu welchen relativ geistreichen Formulierungen einen relativ geistlose Menschen anregen können. Aber der Direktor lachte nicht, sondern sagte, die anderen Redner machten das umsonst. Ich klärte ihn auf: Ein freier Schriftsteller sei kein Bürgermeister mit einem Gehalt. Er versuchte mir klarzumachen, daß dieser schauerliche Krawattenleichnam in diesem schauerlichen Krawattensarg ein kostbares Geschenk sei, ein Exemplar aus der limited edition. Ich war fassungslos, und er belehrte mich: »Das ist mehr wert als so manches Honorar.« Jetzt tat er mir nicht mehr leid, er hatte sein Schicksal verdient. An den Rand mit solchen Leuten! »Ich mache mir nichts aus Krawatten«, sagte ich. Der Hinweis kränkte ihn nicht. »Bei ebay sollen Krawatten unserer limited edition schon für über fünf weggegangen sein«, sagte er verschwörerisch und präzisierte: »Fünftausend. Euro.« - »Versteigern Sie Ihre Krawatten selbst«, sagte ich, wollte gehen und weder diesen Mann noch diesen Ort je wiedersehen. Da schaute die Chinesin ins Zimmer und fragte, ob wir etwas bräuchten.
Tausend. Mehr waren nicht drin. Entweder dem Unternehmen ging es wirklich schlecht, oder der Direktor war ein guter Schauspieler. Wegen der Chinesin sagte ich dann doch zu. Sie allein war es wert, noch einmal die Fahrt hierher zu machen. Auch konnte es mir nicht schaden, ein bißchen über das Wesen der Peripherie nachzudenken. Rechtsanwälte verteidigen immer wieder abscheuliche Verbrecher und plädieren für milde Strafen, warum also nicht als Autor den Advokat des Teufels spielen und Argumente zusammensuchen, die für die abscheuliche Lage eines Arbeitsplatzes sprechen.
 
Vier Wochen später war es soweit. Diesmal kam ich mit dem Taxi, und der Fahrer verfuhr sich. Ich hatte den Namen der Straße vergessen. Irgend etwas mit Sechs Eichen oder Drei Birken. Oder An der Buchenhecke. Buchenwald war es nicht, das Kainsmal hätte ich mir gemerkt. Oder Moorweg? Im kühlen Grund? Oder war es gar ein adornisches Im Wiesengrund? Nein, das wäre mir aufgefallen. »Ist doch egal«, sagte der Taxifahrer. Richtig, es war egal, die Straßenschilder waren noch immer nicht angebracht, und kein Mensch war unterwegs, den man fragen könnte. Die Fahrt kostete ein Vermögen. Vermutlich würde mir zur Begleichung der Taxirechnung eine weitere Krawatte angeboten werden. Für die Taxis war die Peripherie ein Segen.
Theaterregisseur sollte man sein. Ich malte mir eine moderne Aufführung der »Göttlichen Komödie« aus: Dante in einem Taxi mit einem gutgelaunten Fahrer namens Vergil, der sich heillos verfahren hat, während der Fahrgast in edlen Versen spricht: »Dem Höhepunkt des Lebens war ich nah … da ich verirrt den Weg nicht wieder fand … viel bittrer kann der Tod nicht sein … ich weiß nicht recht, wie ich hierher geriet … bis daß ich abkam weit vom rechten Weg.« So heißt es gleich zu Beginn des ersten Gesangs. Dante mußte prophetisch die Peripherie der modernen Großstädte vor Augen gehabt haben, als er die Suche nach der Hölle beschrieb. In der Hölle der Randgebiete schmoren die Unseligen. Im Himmel der Innenstadt flanieren die Erlösten. Schade, daß ich keine Rede zum Umzug einer Firma von Jottwede ins Zentrum zu halten hatte.
Der Oberbürgermeister war nicht gekommen, nur der dritte Bürgermeister und ein Stadtrat. Der Vorsitzende eines internationalen Golfclubs, der ein Grußwort sprechen sollte, sei unterwegs, hieß es. Der Direktor stellte mir einen sonnenbraunen Schönling vor - der einzige Mann außer mir, der keinen Schlips trug. Er schüttelte mir solidarisch die Hand. Ein Sproß der Inhaberfamilie. Ich versuchte, ein klassenkämpferisches Gesicht zu machen. So also sah der Teufel aus, wegen dem die armen Unschuldigen aus dem Paradies vertrieben und fortan hier draußen am Stadtrand schmachten mußten.
Die Chinesin war nicht da. Und weg war meine Inspiration. Nur mit dieser Frau im Publikum vor Augen hätte ich die Kraft aufgebracht, in meiner Rede den verstiegenen Einfall aufzublasen, ein Vorteil der Peripherie sei, daß das zunächst Unschöne an ihr mit Schönheit ausgeglichen werden müsse - und daß diese Kompensation ein heilsamer Zwang sei. Macht euch schön, macht es euch schön! Wenn der Gedanke beim Publikum angekommen wäre, hätte ich ihn mit dem Zitat eines surrealistischen Poeten gekrönt: »Arbeiterinnen aller Länder: seid schön!«
Nach der lustlosen Rede des dritten Bürgermeisters und dem Grußwort des Golfclub-Präsidenten, das aus der neckischen Schilderung einer Taxi-Irrfahrt hierher bestand, mit der eigentlich ich hatte beginnen wollen, war ich an der Reihe und begann damit, daß die heute so verpönte Peripherie einen königlichen Ursprung habe. Der klassische Monarch sei auf Ausdehnung seines Reiches wie auch seines Wanstes aus gewesen. Nur ein dicker König ist ein guter König. Im 18. Jahrhundert habe man, wenn man einen dicken Bauch meinte, von einer »kolossalen Peripherie« gesprochen. Ein Ausdruck der Machtfülle.
Vereinzelt wurde höflich geschmunzelt, der Einstig war nicht der Brüller. Es wäre besser gewesen, mit meiner Version der Taxifahrt zu beginnen. Ich kam dann vom Bauch zum Nabel der Welt, schließlich zum Herzen der Stadt und landete beim Arsch der Welt, das ließ sich gar nicht vermeiden. Ich sah, wie der Direktor zusammenzuckte. Genau dieses Wort hatte er nicht hören wollen. Genau das hatte ich in meiner Rede ja vergessen machen sollen, daß man sich hier am Arsch der Welt befindet. Wäre er mit seinem Honorar nicht so knauserig gewesen, hätte ich mir das besser überlegt.
Da überkam mich wieder das Mitleid mit den Unglücklichen, die täglich hier herausfahren müssen und ich fing an, den Arsch als etwas Wunderschönes zu beschreiben, in Brasilien habe man bereits erkannt, daß es sich um den wichtigsten Teil des Körpers handle, und auch im alten Europa werde die Zeit kommen, wo die Aussage »Ich wohne am Arsch der Welt« oder »Mein Arbeitsplatz ist am Arsch der Welt« positiv verstanden werden und sogar Sozialneid hervorrufen würde. Selten habe ich mit an den Haaren herbeigezogenen Argumenten derart herumjongliert.
Der Direktor sah mißtrauisch zu mir her, und der schlipslose Inhabersproß lachte laut auf. Seine Zustimmung war mir unangenehm. Ich fing an die Zentren zu beschimpfen. Nur der Pöbel tummle sich im Zentrum. (Aufmerksamkeit.) Was sei denn das Zentrum heute? Nur noch immer gleiche Fußgängerzone. Wenn schon Zone, dann lieber Zonenrandgebiet. (Unsicheres Lachen.) Das gebe es in Deutschland nicht mehr. Aber dafür hätten wir die Peripherie. (Ratloses Schweigen.)
Ich versuchte es mit Goethe, »Harzreise im Winter«, mit einer eigenwilligen Interpretation der berühmten Zeile »Aber abseits, wer ist’s?« (Ratloses Schweigen.) Ich mußte etwas populärer werden. Das Abseits sei nicht immer eine Falle, sagte ich. (Bonbon für die Fußballfreunde, wurde sofort mit Aufmerksamkeit belohnt.) Das Abseits sei der klassische intellektuelle und literarische Ort. Im Abseits, in der Peripherie, sagte ich, stünden nicht all die ordinären Wichtigtuer, die sich sehen lassen wollten, die versuchten, immer im Mittelpunkt zu stehen. Im Zentrum herrsche Gedränge, die Peripherie hingegen sei luftig und der ideale Ort für die Lässigen, die Dandys, die Souveränen. Am Rand könne man sich anlehnen und die Arme verschränken und dem lächerlichen Treiben in der Mitte mit dem nötigen Abstand zusehen. Im Abseits zu stehen sei edel.
Langsam fing ich an, meinem eigenen Gerede zu glauben. Sogar der Betriebsratsvorsitzende lächelte milde. Den Rest meiner zehn Minuten nutzte ich zu einem kleinen Lob des Umherirrens. Da Irren bekanntlich das Menschlichste überhaupt sei, könne man sagen, daß die Peripherie, in der man sich nicht zurechtfinde, die Menschlichkeit fördere. Den Verlust der Mitte zu beklagen sei konservativer Schwachsinn, es lebe die Randnotiz, sie lebe hoch. Die Randnotiz enthalte das Wesentliche. Die Marginalien - nur in ihnen sei Wahrheit, peripher sei mein Lieblingswort. Angesichts dieses neuen Firmenstandorts, dies werde mir immer klarer, forme sich in meinem Kopf wie von selbst der Grundstein zu einem neuen Buch mit dem bekennenden Titel »Ich bin ein Bewohner der Peripherie«. (Klatschen.)
Ich bat das Publikum, sich die Worte »beiläufig« und »nebensächlich« auf der Zunge zergehen zu lassen und ihren Gehalt zu schmecken. Zum Teufel mit dem Mainstream, auf den Abwegen sei es spannender. »Was vermeid ich denn die Wege, wo die andren Wandrer gehn« sei das Lied der Peripherie. Schubert, »Winterreise«. Zum Teufel mit den Hauptstädten und den Hauptwerken der Kunst, das habe nur zu dem Wahnsinn von Warteschlangen und Voranmeldungen geführt! Die Museen am Rande mit ihren Nebenwerken seien ungleich wichtiger. Die Jugend habe längst begriffen, daß Leute, die ihre Mitte gefunden hätten, nervtötende Langweiler und miese Karrieristen seien, die interessanten Typen seien die, die abseitiges Zeugs machten. Keine höhere Auszeichnung, als »voll daneben« zu sein. (Trotz meiner Feurigkeit leichte Skepsis im Publikum.) Analog zur klassischen Nebenfrau des Erfolgsgatten sei der Nebenmann für die emanzipierte Frau zu fordern, denn auch in der Liebe müsse das Periphere zu seinem Recht kommen. (Schmunzeln der Älteren, ausdruckslos die Gesichter der Askesemanager.)
In Anlehnung an die ehrenwerten Protestsprechchöre, mit denen die aufgebrachte Belegschaft einst gelobt hatte, nie, nie, nie an die Peripherie umzuziehen, erlaubte ich mir arbeitnehmerunfreundlicherweise die Umkehrung des Schlachtrufs: Sag niemals nie - zur Peripherie. (Leider Klatschen des Inhabersprosses.)
Die Redezeit ging zu Ende. Ich konnte gerade noch die in der Peripherie des Globus kreisenden Satelliten erwähnen, ohne die das Fernsehen und Telefonieren empfindlich eingeschränkt sei. Oder wäre das ganz erholsam? Und wenn man als Reisender kein Zimmer mehr in einem gemütlichen Hotel im Zentrum bekommt und in ein atemberaubend häßliches »Romantic-Hotel« in einem aus dem Boden gestampften Industriegebiet am Stadtrand ausweichen muß: trösten einen dann der bequeme Parkplatz und die Whirlpoolwanne über den endlosen Weg zu den Sehenswürdigkeiten der Altstadt? Der »Romantic-Hotel«-Mensch an der Rezeption schwört, ohne zu erröten, daß man auf den sechsspurigen Entlastungstangenten und Zubringerspangen nur eine Viertelstunde zum Parkhaus der Innenstadt braucht, wenn man sich nicht verfährt.
Der Direktor tippte auf seine geschmacklose und sicherlich sehr teure Armbanduhr - auch dies eine limited edition, nehme ich an. Eine Minute hatte ich noch, in der ich mit überdrehter Ironie von den neuen Gemeinschaftsgefühlen und zwischenmenschlichen Hilfeleistungen schwärmte und den Zuhörern ausmalte, wie paradiesisch, zumindest kommunikationsfördernd es sei, in der Peripherie fremde Menschen, die sich irgendwann auch hier angesiedelt haben würden, nach dem Weg in die Stadt oder nach der Bushaltestelle zu fragen, und die dann, erlöst von der Einsamkeit in ihren Autos, freundlich sagen würden: Vergessen Sie den Bus, steigen Sie ein, fahren Sie mit!
Mit diesen Worten machte ich Schluß. Nach mir würdigte ein Architekturprofessor den Bau. Wie zu erwarten, pries er dessen Transparenz und sprach von der Chance, die der weite Raum der Peripherie den Architekten gäbe, von der Kreativität, die sich hier entfalten könne, von den Zwängen, denen die Architekten in den Innenstädten unterworfen seien. Dann Sekt und Schnittchen - nicht einmal lappig. Der Direktor winkte mich in sein Gemach. Die Chinesin war doch da, sie hatte das Telefon bewacht und überreichte mir meinen Scheck - und noch mal eine Krawatte in der grotesken Sargschachtel - limited edition. Ich protestierte. Doch sie drückte mir die Gabe fest in die Hand und sagte: »ebay«. Und aus ihrem chinesischen Mund klangen die Silben wie eine uralte konfuzianische Lebensweisheit.
Dann wurden Taxis gerufen. Nicht genügend, oder es fanden nicht alle das Ziel. Gedränge an den vorfahrenden Autos. Auch das ein Vorteil der Peripherie: In der Ödnis rückt man zusammen. Ich stieg zusammen mit der Chinesin in ein freies Taxi. Leider fragten der dritte Bürgermeister, der Präsident des Golfclubs und der Krawattendirektor, ob sie mitfahren könnten. Nur der Inhabersproß fand keinen Platz mehr. »Sie heißen Vergil, stimmt’s«, sagte ich zum Fahrer. Ein Schwarzer. Er nickte geduldig: »Wohin? Zur Hölle?«
Glück gehabt
oder Die Nacht mit der Powerfrau
Ein ganzes Wochenende lang hatte ich mit Leuten von einer großen und bekannten Bank zu tun. Die Westdeutsche Bank gilt als arrogant und aggressiv, sie wollte ein neues Image und einen neuen Slogan haben. Der Vorstand hatte drei Werbeagenturen beauftragt, eine Kampagne zu konzipieren. Die Bank wollte frisch und munter dastehen. Sie hatte Frühlingsgelüste.
Ein Herr aus dem Vorstand war ein Skeptiker. Er hatte mir einen längeren, erstaunlich zutraulichen Brief geschrieben, in dem er mir verriet, auch Banker läsen Bücher. Sie gingen sogar zu Autorenlesungen. Er sei vor einiger Zeit bei einer Lesung von mir gewesen und habe vor allem an den Passagen Gefallen gefunden, in denen mein Romanheld den abgestumpften Geschäftsleuten eins über die Rübe gebe. Den Typus des fiesen Finanzhais hätte ich »herrlich gnadenlos« getroffen, schrieb der Banker. »Mit besten Insiderdetails. Hut ab!«
Den beauftragten Werbeagenturen traue er, ehrlich gesagt, wenig zu, schrieb er mir, er lade mich daher ein, mir einen frischen und flotten Spruch auszudenken und ihn vorzutragen, wenn die Werbeagenturen ihre Slogans und Kampagnen präsentierten. Er glaube, daß nur Reibung gute Ideen erzeuge. Die Werbeagenturen seien alle schon viel zu glatt. Falls ich sein Ansinnen als unzumutbar betrachte, könne er das verstehen und bäte um Entschuldigung. Sollte ich mich aber zu einer Zuarbeit aufraffen können, würde er sich freuen. Noch mehr, wenn ich als Außenseiter die Werbeheinis aussteche. Er könne mir Zehntausend für meinen Vorschlag zahlen. Sollte sein Haus an meinem Slogan Gefallen finden, werde die Bank mir ein angemessenes Angebot machen, um die Nutzungsrechte zu erwerben.
Schon sah ich meine Zukunft inklusive Lebensabend gesichert, antwortete aber reserviert, um mein Gesicht als kritischer Geist zu wahren. Als scharfzüngiger Autor müsse ich mir sehr gut überlegen, ob ich meinen Ruf und meine Unabhängigkeit mit einem solchen Job nicht leichtfertig aufs Spiel setze, schrieb ich und bat um Bedenkzeit, obwohl es nichts zu bedenken gab, sondern nur ein flotter Slogan erdacht werden mußte, der mich endlich aller finanziellen Sorgen entheben würde. Denn mit Romanen ist nicht mehr viel Geld zu verdienen, wenn man kein Ire, Balte, Italiener, Skandinavier, Holländer, Türke, Nord- oder Südamerikaner ist, deren Bücher in unserem aufgeschlossenen Deutschland mehr Interesse wecken als die heimischer Autoren. Nicht nur die deutschen Banken, auch die deutsche Literatur bräuchte ein neues Image.
Von nun an spukten ausschließlich kecke Sprüche für die Bank in meinem Kopf herum und blockierten meine anderen Schreibarbeiten. Zudem benebelte mich die Vorstellung, daß unter den Werbeagenturleuten ein paar bildschöne Frauen sein würden, die die Nase von ihren Werbeagenturkollegen voll hätten und sich nach einem Liebhaber sehnten, mit dem die Liebe nicht werbespotmäßig glatt dahinplätscherte, mit dem noch Reibung und Hitze entstünden. Ein Werbeschnösel würde ihnen eine solche Liebe niemals bieten können. Nur ein Dichter. Ich würde also bei meinem Banksloganpräsentationswochenende nicht nur ein hübsches Sümmchen verdienen, sondern auch die Frau des Lebens finden, nach der ich seit über einem Jahr Ausschau hielt - seitdem die meine gegangen war, nachdem es im Leben mit mir nicht mehr genügend Reibungshitze gab. Denn ein Mensch, der vom Schreiben, also vom Sprücheklopfen lebt, ist im Alltag oft ein Langweiler.
 
In dem Frankfurter Nobelhotel, in dem wir tagen und zweimal nächtigen würden, wurde ich gleich bei der Begrüßung mit der Tatsache konfrontiert, daß ausgerechnet im Zentrum einer Branche, in der Hunderttausende von Dollars für Fotos von wild sich rekelnden Schmollmund-Mädchen an Südseestränden ausgegeben werden, Wesen tätig sind, die an zahme Suppenhühner erinnern. Unter den farblos verbiesterten Frauen der Werbeagenturen befand sich die Frau meiner Träume nicht. Obendrein waren die Werbe-Weibchen und -Männchen unzugänglich irgendwelchen Witzen ihrem Gewerbe gegenüber. Das haben die gemeinsam mit den bildenden Künstlern. Selbst in Gewerkschaften und politischen Parteien ist die Fähigkeit zur Selbstironie ausgeprägter als bei den sogenannten Kreativen.
Die Werbeleute entnahmen ihren Mappen Folien und legten sie mit der Behutsamkeit von Insektensammlern auf die Glasplatte des Overheadprojektors. Offenbar glaubten sie, die nüchternen Banker am ehesten mit altmodischnüchternen Grafiken beeindrucken zu können, wenn es darum ging, ihre Werbestrategie optisch zu erläutern. Die
Verlagsgruppe Random House
 
 
1. Auflage
Originalausgabe
© 2008 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany.
eISBN : 978-3-641-02439-0
 
www.luchterhand-literaturverlag.de
 
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