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Viktor ist Schriftsteller. Als solcher liebt er die Frauen, denn ohne sie fällt ihm nichts ein. Seine Seitensprünge, behauptet er gerne, sind dringend benötigte Inspirationsquellen, nichts anderes. Als seine Ehefrau Ellen ihm geschickt eine Affäre nach der anderen verdirbt, gerät Viktor in eine ernsthafte Schreibkrise, die beider Ehe in größere Turbulenzen stürzt, als es die Liebschaften je gekonnt hätten...
»Der Liebessalat« ist eine wunderbar aberwitzige und turbulente Komödie über die amourösen Abenteuer und Verwicklungen im Leben des Schriftstellers Viktor Goldmann. Dieser, ein Seelenverwandter Woody Allens, versucht mit aller Kraft, das Leben nicht zu ernst und tragisch zu nehmen und die Liebe in all ihren Facetten zu erforschen und auszukosten. Bei den Frauen rennt er damit offene Türen ein. Es sind eher seine (wenigen) männlichen Freunde, die Bedenken gegen seinen Lebenswandel anmelden. Doch am Ende ist es Viktor, der mitsamt seinen Ansichten gestärkt aus allen Anfechtungen hervorgeht...
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Seitenzahl: 740
PeP eBooks erscheinen in der Verlagsgruppe Random House
Copyright © 2002by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH
ISBN 3-89480-757-1
www.pep-ebooks.de
Die ZugfahrtEin unverhofftes WiedersehenDie TscherkessinNacht ohne SchlafDie Frauen im BadDas Märchen von der Prinzessin AzaDas GästezimmerFräulein StrindbergNachhilfestundenDer leere Kühlschrank und die Macht der IronieOh, herrliches Geheimnis!Die BesucherinnenDer LiebessalatDie schönste Frau der WeltBriefe an PenelopeViktors VisionenDie große TourLo stambecco innamoratoÜber das BuchÜber den Autor
In caso di nebbia
Sie fahren mit Abstand besser
Der Zug fuhr in vierzig Minuten, und Viktor stand noch unter der Dusche. Am späten Vormittag brauchte das Taxi zum Bahnhof eine Viertelstunde – wenn alles glatt ging. Wenn es nicht glatt ging, wenn der Verkehr kein rasches Fahren erlaubte – daran wollte Viktor lieber nicht denken. Man konnte nicht immer an das Schlimmste denken.
Viktor dachte nie an das Schlimmste. Er war nicht Ingenieur in einem Atomkraftwerk. Die müssen an das Schlimmste denken. Oder Flugzeugkonstrukteure. Nicht Viktor. Viktor lebte, solange er denken konnte, mit dem Gefühl: Es wird schon gutgehen. Und es ging gut. Kein Unglück bisher. Viktor war zweiundvierzig.
Die Frage war, ob es nicht hätte besser gehen können. Zweifellos. Viktor konnte sich manchmal eine glücklichere Ehe vorstellen. Manchmal aber erschien sie ihm auch ideal. Und er könnte erfolgreicher sein. Er hatte einen Beruf, in dem ein und dieselbe Leistung völlig verschieden honoriert wird. Viktor war Schriftsteller. Ein Jahr Arbeit konnte genügend Geld und genügend Ruhm, oder auch genügend Ruhm und zu wenig Geld, oder auch genügend Geld und zu wenig Ruhm, oder auch zu wenig Geld und zu wenig Ruhm einbringen.
Heute abend würde Viktor in Hannover lesen. Die Veranstalter rechneten mit hundertfünfzig Leuten. Es gab Autoren, zu deren Lesungen kamen zweitausend. Bei anderen fanden sich nur zwei Dutzend ein. Von wieder anderen wollte kein Mensch etwas wissen. Insofern ging es Viktor gut. Er konnte vom Schreiben leben, und zwar nicht schlecht.
Die Tür zum Bad öffnete sich. »Es ist kurz vor halb zehn, um zehn geht dein Zug. Du kriegst ihn nie mehr!« Das war Ellen, Viktors Frau.
»Ich kriege ihn!« rief Viktor. Es würde diesmal besonders knapp werden, aber er würde den Zug kriegen. Er mußte ihn kriegen. Es gab von Zürich aus keinen späteren Zug, mit dem man rechtzeitig in Hannover war. Ellen konnte sich nicht vorstellen, daß er zum Abtrocknen, Anziehen und Zusammenpakken nur wenige Minuten brauchte. Auch wenn er es schon Hunderte Male bewiesen hatte. Kein Salben, kein Föhnen, kein zögerndes Wählen, welches Hemd und welche Hose. Das war ihr als Frau unbegreiflich.
Rasieren allerdings war heute nicht mehr drin. Und die Fingernägel würde sich Viktor auch nicht mehr feilen können. Schade. Er hatte gern sorgfältig gefeilte Nägel, wenn er unterwegs war. Es gab Frauen, die einem auf die Hände schauten. Während der Bahnfahrt hätte er genug Zeit, aber im Zug konnte man sich nicht die Fingernägel feilen. Diese Souveränität besaß er nicht. Wobei man sich fragen konnte, ob das noch souverän war oder schon ekelhaft. Die Schuhe sahen stumpf aus, er hätte sie gern eingecremt und poliert. Auch daran war nicht mehr zu denken.
Susanne war schuld, daß er jetzt so elend spät dran war. Er hätte ihren Brief nicht öffnen sollen. Nein: er war selbst schuld! Man sollte keine Post öffnen, wenn man in Eile ist.
Ellen erschien kurz als Schatten hinter der Glastür. »Also, ICH fahr dich nicht!« rief sie unmißverständlich. Darum würde Viktor sie auch nicht bitten. Ihre Drohung war natürlich ein Angebot, ihn trotz seiner Unbelehrbarkeit, trotz seines selbstverschuldeten Spätdranseins zum Bahnhof zu fahren. Das würde ihr Viktor nie zumuten. Sie hatte besseres zu tun. Sie müßte längst in ihrem Büro sein.
»Vielleicht könntest du doch ein Taxi kommen lassen«, rief Viktor, stellte die Dusche aus und griff zum Handtuch. Ellen hatte seine Bitte nicht gehört, und Viktor fiel ein, daß sie einmal gesagt hatte, es sei keine Zumutung für sie, sie fahre ihn gern zum Bahnhof, da könne man wenigstens noch ein bißchen miteinander reden. Viktor fand diese Bemerkung damals etwas sehr pathetisch. Miteinander reden – das klang ungut nach Aussprache. Dann aber war ihm eingefallen, daß sie das klassische vielbeschäftigte Paar waren, das wenig Zeit füreinander hat. Zwanzig Minuten zusammen im Auto würden sie wieder etwas zusammenbringen. Ellen hatte wieder einmal recht. Sie hatte ihn dann gefahren – und es war tatsächlich angenehm gewesen. Viktor hatte sich widerspruchslos die Schulprobleme angehört, die der Sohn von Ellens Schwester hatte, und mit einigen Nachfragen seine Aufmerksamkeit bewiesen. »Was ist los?« hatte Ellen gefragt. »Ich will nie wieder hören, daß ich mich nicht für deine Familie interessiere«, war Viktors Antwort gewesen.
In den letzten Tagen hatten sie, wie so oft, »aneinander vorbeigelebt«, wie Ellen es mit ihrer zum Glück seltenen Neigung zum Dramatisieren ausdrückte. Wenn sie jetzt zwanzig Minuten miteinander im Auto säßen, könnte das nicht schaden. Er würde sich nach den Lernstörungen des Sohns von Ellens Schwester und nach den Kosten seiner Nachhilfestunden erkundigen. Viktor sah sich schon entspannt im Taxi sitzen und an Susanne denken, aber dazu würde er im Zug genug Zeit haben.
Er öffnete die Badezimmertür und rief in die große Wohnung: »Ellen! Bist du noch da?« Sie antwortete nicht, aber er hörte sie in der Küche. Er legte alle Reue, zu der er fähig war, in seine Stimme und flehte: »Wenn du mich doch zum Bahnhof fahren könntest, wäre das vielleicht meine Rettung!«
Er hörte Ellen fluchen: »Ich wußte es!« Sofort bereute er seine Bitte. Sie konnte es nicht gewußt haben. »Dann komm aber auch!« Wie ungnädig sie das sagte. Wieder bereute Viktor, schlüpfte in ein Hemd, griff ein paar Socken, zwei Hemden, das Nötigste. Er wählte eine kleine Reisetasche und verzichtete auf das Mitnehmen eines zweiten Paars Schuhe. Wenn man drei Tage unterwegs war, waren ein zweites Paar Schuhe und eine weitere Hose angenehm. Zu spät. Viktor gelobte klammheimlich Besserung: mehr Ordnung, mehr Vorbereitung, mehr Organisation.
Plötzlich stand Ellen neben ihm, jetzt plötzlich amüsiert und milde: »Kann ich dir helfen?«
»Ich werde mich bessern!« sagte Viktor. Als er die Floskel ausgesprochen hatte, meinte er sie plötzlich ein bißchen ernst: weniger Liebesgier, mehr Konzentration, weniger Susanne, mehr Ellen würden solche Aufbrüche friedlicher machen.
Es war Viktor nicht angenehm, daß Ellen Einblick in die offene Reisetasche hatte. Es war nicht verboten, neben seinem Mann zu stehen und ihm beim Packen zuzusehen. Etwas indiskret war es vielleicht, etwas taktlos. Oder war es eine kleine Rache? Da lag Susannes geöffneter Brief neben anderen geschlossenen Briefe. Es war nicht verboten, Fanpost zu bekommen und auf eine Reise mitzunehmen. Aber man mochte nicht dabei ertappt werden. Zur Besserung gehört vor allem, dachte Viktor, in Zukunft so rechtzeitig und in aller Ruhe zu packen, daß solche Situationen nicht mehr eintreten können. Einmal hatte Susanne Fesselungen erwogen, und Viktor war mit allerlei Riemchen gereist. Zum Glück waren diese Praktiken aufgegeben worden. Solche rätselhafte Ware im offenen Gepäck wäre ihm jetzt wirklich peinlich gewesen.
Ellen wußte, daß Viktor litt, weil sie neben ihm stand. Seit acht Jahren lebten sie zusammen. Sie wußte auch, daß er niemals sagen würde: »Was stehst du hier herum! Ich fühle mich kontrolliert!« Solche Sätze fand Viktor stillos. Und sie würde niemals sagen: »Du Chaot! Wie du packst, du Pfau! Beweihräucherungspost nimmst du mit, anstatt eine vernünftige Hose!«
Ellen genügte es zu wissen: Er weiß, daß ich das denke. Als der Alltag ihres Zusammenlebens begann, hatten sie sich eine Weile gegenseitig mit dergleichen Bemerkungen noch offen traktiert: »Steh nicht so da!« Dahinter stand der Seufzer: »Sei nicht so! Wärst du doch anders!« Als sie merkten, daß die klassischen Qualworte sie zermürbten, hatten Viktor und Ellen sie bleibenlassen. Auch damals hatte der Aufbruch zu einer kleinen Lesereise den Anstoß gegeben: »Nimm doch nicht den Pullover mit dem Loch mit!« Unerträglich, wie Ellen das gesagt hatte. Sie fand: ganz harmlos. Er fand: infam bevormundend. Viktor war laut geworden: »Raus! Du machst mich wahnsinnig!« Im Zug hatte er ihr dann geschrieben. »Laß uns nie wieder solche erbärmlichen Ausdrücke benutzen. Was mich betrifft, will ich sie in Zukunft unterdrücken und verdrängen. Ich bin für Verschwiegenheit. Man soll nicht alles sagen, was man denkt. Das ist gegen die Würde. Ich will nicht den Mist hören und sagen, der miesen Schauspielern in miesen Fernsehproduktionen aus dem Mund kommt. Das ist es, was kaputt macht!«
Diese Zeilen waren eine Art Ehevertrag geworden, an den sich beide fortan hielten. Es war einer der wenigen Briefe, die Viktor an Ellen geschrieben hatte. Er schrieb viele Briefe, lange Briefe, und manchmal bedauerte sie, keine Post von ihm zu bekommen, wenn er verreist war. Manchmal war sie eifersüchtig, wenn sie Viktor Briefe schreiben sah. Doch was sollte sie schon sagen. Sie hatte nicht alle seine Bücher gelesen, aber genug, um zu wissen, was er ihr antworten würde. Es gab genügend Ehefrauen in seinen Romanen, die sich bei ihren Männern beklagten: »Warum schreibst du mir keine Briefe mehr?« Ellen hatte es schwarz auf weiß in verschiedenen Versionen gelesen, was Viktor denken und nicht sagen würde, sollte sie das je fragen. »Was soll man sich schreiben«, würde er sagen, »wenn man zusammenlebt? Zusammenleben ist nicht romantisch. Die Sehnsucht ist beim Teufel. Sie sucht sich andere Ziele. Ich habe diese verfluchte Ehe nicht erfunden. Wir hätten nicht heiraten und zusammenziehen müssen. Vielleicht hätte ich dich dann ein Leben lang in vielen Briefen angeschmachtet. Wäre dir das lieber?« So sprachen die Männer klagender Frauen in Viktors Büchern.
Ellen hatte keine Lust auf Viktors Lebensweisheiten. Daher sagte sie nichts, was zu Grundsatzerklärungen führen könnte, sondern nur: »In fünf Minuten. Deinetwegen rase ich nicht. Ich will meinen Führerschein behalten.«
Den Ton mochte Viktor. Sachlich. Unsentimental. Schnippisch. Er küßte flüchtig Ellens Nacken. Plötzlich gefiel ihm ihr Rock. »Schon gut«, sagte sie und ließ ihn mit seiner offenen Reisetasche allein. Das Auto parkte zwei Straßen weiter. Sie würde hupen, wenn sie vor der Haustür stand. Viktor hatte noch genug Zeit, eine Nagelfeile aus seinem Arbeitszimmer zu holen. Sie lag auf dem Schreibtisch, weil er gern an seinen Nägeln herumfeilte, wenn er sich den Anfang eines neues Kapitels überlegte.
Ellen war schnell. Schon hörte er die Hupe. Viktor griff seine Tasche und blickt auf die Uhr. Auf einmal gab es reichlich Zeit. Selbst mit einem kleinen Stau würden sie es schaffen. Er würde sich am Bahnhof noch Zeitungen kaufen und den Brief an Susanne einstecken können. Es wäre ein bißchen dreist gewesen, Ellen darum zu bitten. Susanne würde ihn morgen bekommen. Wieder einmal war alles gut gegangen. Er freute sich auf die Reise, auf das Lesen im Zug, auf die Lesung am Abend. Er freute sich auf Susanne und darauf, daß er sie nicht schon heute abend in Hannover, sondern erst übermorgen in Köln treffen würde. Das wäre ihm nicht angenehm: von Ellen zum Bahnhof gefahren und einige Stunden später von Susanne am Bahnhof abgeholt zu werden. Das wäre geschmacklos. Jedenfalls in seinem Alter. Zwischen dreißig und vierzig war es erlaubt. Damals hatte Viktor nichts dabei gefunden, von einer Frau zur anderen zu taumeln. Jetzt mochte er das nicht mehr. Er empfand es als unanständig. Es hätte auch etwas Behindertes. Als müsse er ständig betreut werden. Ging man von einer Frau zur anderen, war eine Quarantäne angebracht. Susanne würde ihn übermorgen in Köln am Bahnhof abholen, und da war genau die richtige Zeit dazwischen. Damit das klappte, hatte er ihr noch rasch schreiben müssen: das Hotel, die Ankunftszeit des Zuges. Er hatte die Auskunft anrufen müssen. Das dauerte. Susanne lebte in Zürich. Sie mußte den Brief morgen haben. Deswegen mußte er heute noch in Zürich eingeworfen werden. Deswegen hatte er noch rasch geschrieben werden müssen. Deswegen war alles so spät geworden. Wenn Viktor den Brief im Zug geschrieben und in Hannover eingeworfen hätte, könnte ihn Susanne morgen nicht haben. Dann hätte es übermorgen in Köln mit Susanne nicht geklappt. Das aber wäre ein Jammer. Viktor wollte nicht bei Susanne anrufen. Es gab Kinder, es gab einen Mann, der nichts wußte und nichts wissen sollte. Bloß keine Dramen auslösen.
Heiter ging Viktor die bequeme Altbautreppe hinab. Als er zu Ellen ins Auto stieg, fand er sie rassig. Der Wagen war ein charakterloser kleiner Japaner, aber er stand ihr. Sie hörte Nachrichten und zwar konzentriert. Wie eine Agentin, die eine verschlüsselte Botschaft nicht verpassen darf, fand er. »Sei still«, sagte sie, obwohl er gar nichts gesagt hatte, und fuhr los.
Die Wohnung lag im dritten Stock. Sie war hell und groß genug. Seit etwa zwei Jahren wohnten Viktor und Ellen hier. Ellen war Anwältin. Der Job in Zürich gefiel ihr. Eine der Supermarktketten, die nicht nebenher das große Geld mit Waffengeschäften macht. Rechtsabteilung. Vorher hatten Ellen und Viktor in Frankfurt gelebt. Erst hatte sie vorgehabt zu pendeln und eine Wochenend-Ehe führen. »Das wird uns gut tun«, sagten sie beide, und zwar im selben Augenblick. Sie lachten über diese einmütig vorgebrachte Zweistimmigkeit und fanden, wer so gleich denkt, kann auch weiter zusammenwohnen. Als Viktor die Wohnung in Zürich sah, hatte er sofort Lust auf einen Umzug. Endlich genug Platz. Endlich zwei Arbeitszimmer. Hin und her gehen können wie Goethe. Vormittags Sonne hier. Nachmittags Sonne da. Solides Parkett. Angenehme Lage. Und vor allem: nicht mehr in Deutschland leben. Nicht ständig dieser Zwang, sein eigenes Land zu kritisieren. Seitdem Viktor in Zürich lebte, waren ihm die Machenschaften und das Gezeter der deutschen Politik erholsam einerlei. Der Dreck und das falsche Gold der Schweiz gingen ihn wenig an. Dem Gastland gegenüber war man milde. Er war ein luxuriöser Asylant. Er fühlte sich frei. Ab und zu kümmerte er sich um die Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung. Ein angenehmer Spaziergang zum »Amt für Migration«. Das war alles. Wenn er von Deutschland kommend bei Basel, Schaffhausen oder Konstanz in die Schweiz eintauchte, überkam ihn noch immer das Wohlgefühl, eine Verpflichtung los zu sein. Er genoß sein Schweizer Konto und die Währung: Rappen und Franken wie im Märchen.
Wien wäre Viktor, von seiner Architektur und Geschichte, der Sprache seiner Bewohner her als Wohnsitz noch lieber gewesen. Die österreichischen Laute hörte er lieber als die schweizerischen. Und Zürich hatte manchmal keinen Charakter. Dafür war es näher an Frankfurt. Viktor und Ellen hatten ihre Wohnung in Frankfurt nicht aufgegeben. Weniger, weil sie nicht wußten, wie sich Ellens Job bewähren würde, sondern weil sie keine Lust hatten, mit allem Hab und Gut umzuziehen. Als Viktor damals angefangen hatte, die Bücher in Kisten zu verpacken, war nach zwei Sechzehn-Stunden-Tagen erst eine Kiste gefüllt. Dreißig Kisten würden es werden. Das heißt, zwei Monate lang würde er sechzehn Stunden täglich zum Einpacken der Bücher brauchen. Oder vier Monate bei einem normalen Achtstundentag. »Du bist nicht normal!« hatte Ellen gesagt. Viktor hatte erklärt, daß er noch viel zu flüchtig arbeite, daß er eigentlich für das Verpacken jedes einzelnen Buches ein bis zwei Stunden Zeit bräuchte, ein Umzug sei die Chance, die Lesevergangenheit Revue passieren zu lassen, sich an die Umstände der Lektüre zu erinnern, die Bücher, die man einst mochte, zu überprüfen, sich über seinen Geschmack von einst zu wundern und wehmütig zu werden, noch wehmütiger zu werden bei dem Gedanken, wahrscheinlich keine Zeit mehr zu haben, Hamsuns Hunger und Dostojewskijs Dämonen und Stendhals Rot und Schwarz und fünfhundert andere einmal verschlungene Bücher jemals noch einmal zu lesen; zu verzweifeln bei der plötzlichen Erkenntnis, daß man vom Inhalt seiner Lieblingsbücher achtzig bis neunzig Prozent vergessen hat, noch heftiger zu verzweifeln darüber, wie viele der Bücher, die man besitzt, man nie gelesen hat. Man konnte sich aussuchen, was schlimmer war: das Unwissen oder die Vergeßlichkeit. Tausende von Büchern, Tausende von Beerdigungen. Keine Chance mehr auf eine Wiedergeburt. In Zürich würden sie wieder aus der Kiste kommen und in ein Regal, aber das wäre nur ein scheinbares Erwecken. Die Bücher blieben Leichen. Es waren zu viele. »Und ich trage bei zu diesem Wahnsinn!« Viktor, sonst eher robust, war am Boden zerstört. Wehmut, Schwermut, Unmut drückten ihn. Er griff sich an den Kopf. Diese Melancholie war nur auszuhalten, wenn man sie sofort aufschrieb. Dann war sie gebannt. So hielt Viktor, wie Hamlet den Totenkopf, jedes Buch vor sich hin, blätterte darin herum, stöhnte und notierte seine Einfälle. »Mein Stöhnen ist echt«, sagte er, als Ellen ihn bat, schneller zu packen und weniger affektierte Laute von sich zu geben. Er hatte selten Zeit für Weltschmerz und fand, wenn er ihn überkomme, müsse er die trübe Stimmung literarisch nützen. Er legte ein Melancholie-Heft an, um später daraus zu schöpfen, wenn er in guter Laune eine Passage mit verdrießlichen Gedanken brauchte. Mit den Schallplatten und CDs würde dasselbe bevorstehen. Da hatte Viktor aufgegeben.
Erstaunlich rasch hatte sich Ellen überzeugen lassen: Wir ziehen nicht um! Wir behalten die Wohnung. Wir nehmen nur das Nötigste mit. Ein erlösender Entschluß. Die Züricher Wohnung würde wunderbar unvollgestopft bleiben. Sollte man Lust haben, Effie Briest in der alten Ausgabe zu lesen, konnte man das Buch in Frankfurt holen. Viktor dachte daran, daß es auch wegen Beate praktisch wäre, die Frankfurter Wohnung nicht aufzugeben. Beate war in Frankfurt das gewesen, was jetzt in Zürich Susanne war: Viktors Liebste. Beate war Lehrerin und eine seiner wenigen Eroberungen, die er nicht in seiner Funktion als Schriftsteller gemacht hatte. Viktor fand, sie sah brasilianisch aus. Ellen hatte ihn einmal gesehen, wie er mit Beate in einem Straßencafé saß– zum Glück in einer völlig unverfänglichen Situation. Trotzdem die Frage der Ehefrau: »Wer war das?« Viktor beschloß, die Frage zulässig zu finden: »Eine Lehrerin.« Darauf Ellen: »Du triffst dich mit Lehrerinnen!« Der Ausruf kam mit einer Arroganz, fand Viktor, als seien Lehrerinnen weniger wert als lächerlich volljuristische Rechtsanwältinnen. Er hatte damals nichts erwidert. Wenn er Beate, die Lehrerin, in Schutz genommen hätte, hätte Ellen womöglich Verdacht geschöpft. Möglicherweise hatte sie schon einen Verdacht, und dies war eine Falle. Viktor lächelte daher nur. Ellens Arroganz kam ihm nicht ungelegen. Wenn Ellen so herablassend von dem mühseligen Beruf einer Lehrerin sprach, dann konnte er sie mit um so besserem Gewissen mit eben dieser Lehrerin betrügen. Seine Liebschaft mit Beate war ihm plötzlich fast wie eine nötige Entschädigung vorgekommen, eine liebevolle Inschutznahme, um Ellens diskriminierende Äußerung wiedergutzumachen. »Sie sieht aus wie eine Dattel«, sagte Ellen. Mehr sagte sie nicht. Fortan sah auch Viktor die Ähnlichkeit von Beate zu einer Dattel – und es störte ihn, daß er sie sah. Es war Ellens Fluch, der seine hitzige Lust auf Beate zwar nicht nahm, aber doch um einige Grad minderte. Mit Beate hatte sich Viktor in der Frankfurter Zeit in Hotels getroffen. Nicht ganz billig, diese Nächte. Wenn sie die Wohnung in Frankfurt behielten, könnte er sie als Liebesnest nutzen. So dachte er.
Viktor war kein Schlußmacher, und wenn eine Frau von sich aus das Verhältnis für beendet erklärte, fing er an zu kämpfen. So gab es Beate, die Dattel, noch immer. Bisher hatte die Frankfurter Wohnung allerdings nur ein einziges Mal als Liebesnest genutzt werden können. Susanne zog Hotels vor. Die üppige Miete zahlte Viktor von seinem Geld. Es fiel ihm nicht schwer. Er und Ellen verdienten gut. Er zahlte die Frankfurter Miete für das befreiende Gefühl, in Zürich mit einem Bruchteil seines Eigentums gut leben zu können. Er kam mit drei Prozent seiner Bücher, zehn Prozent seiner Platten und CDs und einem Viertel seiner Kleider bestens über die Runden. Und er zahlte sie für den Luxus, selten benutzte, aber erinnerungsreiche Schuhe und Jakken oder Balzac-Gesamtausgaben nicht weggegeben zu haben, sondern zusammen mit Hunderten von anderen Dingen verfügbar zu halten. Die zwei Wohnungen waren oft das Gesprächsthema, wenn Freunde zu Besuch waren. Viktor stilisierte sich gern: Ein Umzug konfrontiere ihn derart unerfreulich mit der Vergänglichkeit und der Vergeblichkeit, daß er keine Zeile mehr schreiben könne. Ellen sagte, sie sei eine Wegwerferin, sie brauche die alten Sachen nicht mehr, das sei Viktors Sache, wenn er sich diesen wahnsinnigen Luxus leiste, bitte. Dabei nutzte auch sie die teuren Lagerräume. »Drei riesige Schränke mit ihren ungetragenen Kleidern und zwei noch größere mit dem von ihrer Mutter geerbtem Geschirr stehen in Frankfurt«, sagte Viktor.
Spott war der Umgangston, der nun schon seit einigen Jahren Viktor und Ellen zusammenhielt. Um Streitereien zu vermeiden, wich Viktor aus. Einmal entfuhr es ihm: »Das Leben ist ein Bühnenstück.« Weil Ellen nickte, fuhr er fort: Alles was man tun könne, sei, zu vermeiden, daß es eine Strindberghölle werde. Aber auch kein blutrünstiger Shakespeare mit Intrigen bitte. Und, Tschechow in Ehren, nicht dieses Lamento. Auch nicht alles mit Bonmots zugestopft wie in einer Oscar-Wilde-Komödie. Dann lieber banal. Aber bitte nicht platt. Kein Boulevardstück. Kein Tourneetheater in der Provinz. Und nie nie nie ein Fernsehrührstück.
Ellen hatte kurz geschwiegen, fast zustimmend, fand Viktor. Dann sagte sie: »Eine billigere Lebensweisheit habe ich noch nie gehört.« Viktor senkte sofort ertappt und einsichtig den Kopf. Doch Ellen ließ noch nicht ab: Genau solchen Blödsinn könne man auch in einem schlechten Stück von Oscar Wilde in einer miesen Provinzinszenierung hören.
Jetzt im Auto auf dem Weg zum Bahnhof war weder Viktor noch Ellen nach Definitionen ihres Zusammenlebens zumute. Ellen hörte die Nachrichten zu Ende und stellte das Radio erst nach dem Wetterbericht ab. Es würde so heiter bleiben, wie es war. »Das von den britischen Inseln kommende Hoch ‘Susanne’ hat Mitteleuropa fest im Griff«, wie der Nachrichtensprecher es formulierte. Viktor bedauerte, daß Ellen nichts von Susanne wußte. Wäre Susanne eine gemeinsame Freundin von ihnen, könnten sie sich gemeinsam über die Formulierung amüsieren und erwägen, dieser Susanne eine entsprechende Postkarte zu schicken. Aber es gab keine gemeinsame Susanne. Es war seine Susanne. Schade, daß der Brief an sie schon verschlossen war, er hätte zu gern den Wetterbericht zitiert, mit einer beziehungsreichen Anspielung: »Hast du alles im Griff?« Er fragte sich, ob man einer verheirateten Frau namens Susanne anstelle des Absenders hinten auf das Kuvert den Satz schreiben konnte: »Radio Schweiz: das von den britischen Inseln kommende Hoch ‘Susanne’ hat Mitteleuropa fest im Griff.«
»Alles dabei?« fragte Ellen freundlich. Viktor nickte.
»Genug Kondome?«
»Klar«, sagte Viktor, »willst du nachzählen?« Vor einiger Zeit, bei einem ähnlich eiligen Aufbruch, war Ellen eine verschlossene Packung mit vierundzwanzig Kondomen aufgefallen, die Viktor sich zurechtgelegt hatte. »Du hast ja was vor!« hatte sie gesagt. Viktor war begeistert von ihrer Souveränität. Als er nach einigen Tagen zurückkehrte, war Ellen zufällig hinzugekommen, als er seinen Koffer auspackte, und als sie lächelte, wußte er, daß ihr Blick auf die ungeöffnete Kondome-Schachtel gefallen war.
»Ich möchte nicht wissen, was du so treibst, wenn du auf Schicht bist«, sagte Ellen jetzt.
Viktor legte eine Hand auf ihr Knie: »Auf Schicht ist gut! Den Ausdruck darf ich übernehmen, ja?«
Ellen reichte ihm einen Apfel. Zum Frühstücken war Viktor nicht mehr gekommen. Er nahm den Apfel: »Ist der nötig?« Und dann noch leiser: »Rieche ich aus dem Mund?« Ellen lächelte triumphierend und gab keine Antwort. Sie wußte: Wenn Viktor etwas irre werden ließ, dann die Angst, aus dem Mund zu riechen. Deshalb tat sie immer so, als täte er das. Vor allem bei solchen Aufbrüchen. Dabei lächelte sie milde, als mache ihr das nichts aus. Alle anderen Frauen, die Viktor mutig und testbereit anhauchte, versicherten immer, er rieche frisch. Entweder verging der Mundgeruch bei sexueller Erregung, oder Ellen belog ihn. Was ihr gutes Recht wäre. Er belog sie schließlich auch. Wollte sie ihn quälen? Auch das hätte er verdient, dachte er und biß in den Apfel.
»Es gibt Männer«, sagte er, »die sind nicht in der Lage, ihre Koffer selbst zu packen, weißt du das! Die Frauen müssen ihnen die Koffer packen, stell dir das vor! Diese Kinder. Ich finde, du bist mit mir ganz gut bedient.«
»In der Beziehung schon.« Ellen gab Gas und fuhr über Rot. »Jedenfalls werde ich die Tage ohne dich genießen.«
Viktor war begeistert: »Haben wir nicht einen schönen, ruppigen, offenen Umgang miteinander!«
»Offen?« sagte Ellen. Und dann: »Sei nicht so selbstgefällig.«
Sie kamen am Bahnhof an.
»Du solltest Rallye-Fahrerin werden«, sagte Viktor, »das fände ich sexy.« Er versuchte ungeschickt eine kleine Umarmung im Auto. Ein Anflug echter Lust war da, und diese Kostbarkeit wollte er zeigen. Ellen ließ es geschehen. »Jetzt, wo es zu spät ist«, sagte sie, »ist es keine Kunst. Gestern Abend hättest du mich in den Arm nehmen sollen. Aber nicht so – nicht so künstlich!«
Viktor stöhnte lautlos und nickte: »Gestern Abend mußte ich mich auf die heutige Lesung vorbereiten.« Das war gelogen. Er mußte sich nicht vorbereiten. »Gut«, sagte er, »erhol dich von mir. In drei oder vier Tagen bin ich wieder da.«
Seitdem Ellen in einem Buch von Viktor gelesen hatte, daß ein Mann sich unfrei fühlt, wenn seine Frau zum Abschied »Ruf mal an!« sagt, zitierte sie diese drei Worte entweder ironisch, oder sie schwieg. Viktor machte sich Sorgen, wenn das Zitat nicht kam. Er hatte es gern, wenn Ellen ihn verspottete. Wenn sie nichts sagte, kam sie ihm so resigniert vor. Sie sollte glücklich sein. Er liebte sie. Auch wenn er ihr wie jeder anderen Frau immer wieder versichert hatte, sie sei nicht sein ein und alles. Er hätte das nicht zu sagen brauchen. Er hatte Ähnliches seine Romanfiguren oft genug sagen lassen. Gern auch brachten seine Heldinnen ihre Verehrer mit solchen Sätzen aus der Fassung. »Ich ruf mal an«, sagte er.
Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt des Zugs. Viktor kaufte deutsche Zeitungen und Zeitschriften. Er war die letzten Wochen aus Zürich nicht herausgekommen und wollte wissen, was die Leute in Deutschland beschäftigte. Nach Lesungen wird oft geredet. Dann wollte er präzise, originelle, bissige Ansichten über den großen Quatsch haben. Das war er sich und seinem Ruf schuldig.
Ellen war ihm noch so nah, daß er den Brief an Susanne nicht sofort einsteckte. Wenn Susannes Brief heute morgen nicht gekommen wäre oder wenn er ihn nicht aufgemacht hätte, wäre es nichts geworden mit seinem Plan, sich mit ihr in Köln zu treffen. Einen Augenblick lang erschien es ihm als erholsam, sie nicht schon wieder zu sehen. Das Alleinsein zu genießen. Mit einem späteren Zug von Dresden nach Köln zu fahren. In Köln um sechs aufstehen zu können und nicht bis halb elf mit Susanne im Bett liegen und bis zwölf frühstücken zu müssen. Dann hatte er Susannes Blick vor Augen. Keine Frau hatte ihn je so begehrlich angeschaut wie Susanne. Wenn Kernphysikerinnen ordinär werden. Irgendwie ein Triumph. Ein Sieg über die Naturwissenschaft. So etwas hatte Viktor noch nie gesehen. Eine Mischung aus emanzipiert und hingabebereit. Dieser Blick war es, der Viktor zu einer bis dahin ungeahnten Leidenschaft befähigte. Er sah Susanne vor sich, zu allem bereit, warf den Brief an sie in den Kasten – und ärgerte sich, daß er vergessen hatte, den Wetterberichtsatz auf den Rücken des Kuverts zu schreiben: »Fest im Griff!«
Im Zug suchte Viktor mit dem Fahrschein in der Hand nach seinem reservierten Platz, den er in einem Abteil entdeckte, in dem gleich drei Manager-Prototypen saßen. Ein graumelierter Sechzigjähriger und zwei weitere zwischen dreißig und vierzig. Das war zu viel. Einer der Jüngeren hatte einen Laptop auf dem Schoß, auf dessen Bildschirm eine Tortengrafik zu sehen war. Die beiden Jüngeren deuteten auf die Grafik und nickten wichtig. Der Graumelierte blätterte in einem Ordner. Einer der Jüngeren griff zu einem Handy und begann zu telefonieren.
Viktor betrachtete die drei mit begeistertem Ekel. Es fiel ihm auf, daß eine der gerahmten Reklamen über den Sitzen ein fast identisches Tableau zeigte: drei verschiedene Manager im Zugabteil mit Laptop und Ordner. Tortengrafiken auf dem Laptopschirm sollten eine Versicherungsgesellschaft vertrauenserwekkend erscheinen lassen. Eine wunderbare Doublette, ein Beweis, daß die Werbung der Wirklichkeit entspricht und die Wirklichkeit der Werbung. Viktor öffnete die Glasschiebetür. Einer der Jüngeren räumte beleidigt Papiere vom freien Sitz. Viktor winkte ab und deutete auf das Reklamebild. »Sind Sie das?«
Die drei Herren verstanden nicht.
Viktor schob die Tür zu, atmete aus wie einer, der dem Unheil entronnen ist, ging weiter in die zweite Klasse und verharrte dort an einem leeren Platz. Daneben eine übermäßig korpulente Blondine, die ihm freundlich zunickte, ohne daß er gefragt hatte. Viktor war von der Vorstellung der erdrückenden Platznachbarschaft nicht angetan, bemerkte Schweißflecken unter den Ärmeln der Seidenbluse, nickte höflich zurück und ging hastig dankend weiter.
Endlich ein leerer Sitz vis-à-vis einer jungen Frau, die ihm sympathisch war. Viktor deutete mit Fragemiene auf den Platz.
»Reserviert, aber bis jetzt ist niemand gekommen«, sagte sie. Gepflegte schweizerische Klangfarbe. Kein krachiges Schweizerdeutsch.
Viktor riskierte es. Wenn auch das Vertriebenwerden von den rechtmäßigen Platzreservierthabern zu den letzten großen Demütigungen der Wohlstandsgesellschaft gehörte. Diese Sattheit der Inhaber. Diese fetten Käfer mit ihren fetten Käferkoffern. Ihnen Platz zu machen, war vor allem dann unerträglich, wenn man mehrere Gepäckstücke bei sich hatte, mit denen man sich schleppend, ziehend, schiebend, wuchtend, ächzend, schwitzend trollen mußte. Ein Krieg der Käfer. Mit einer handlichen Reisetasche konnte man sich würdig entfernen. Das wäre einen Essay wert, dachte Viktor: Die Reservierung als zentrale Metapher des neuzeitlichen Lebens. Nichts geht mehr ohne Anmeldung. Kein Kauf an der Käsetheke, ohne vorher eine Platznummer gezogen zu haben. Gewaltige Vorteile. Kein Gedränge mehr beim Einkaufen. Andererseits dieser Kulturverlust: keine Wartezimmer voller schniefender, hustender Menschen mit geschwollenen Gesichtern. Einmal im Jahr ging Viktor zum Zahnarzt. Früher war ein halber Tag mit Warten weg gewesen, aber dafür hatte er einen Stapel Regenbogenpresse durchgearbeitet und wußte, was der Hochadel trieb. Das war vorbei. Heute betrug die Wartezeit drei Minuten, das reichte nicht einmal für eine Kurzinformation über neue Paarbildungen im Stamm der Oberen Zehntausend. Drei Viertel der Prominenten war Viktor kein Begriff mehr, weil dieser Wartezimmerüberblick fehlte. Und überhaupt: Die Zuweisung von Terminen und Plätzen, Raum und Zeit. Eine Frechheit, ein Beschneiden der Freiheit. Wer weiß, vielleicht waren die Folgen fataler als die der Genforschung. Ordnung schafft Unfreiheit, das war die These. Das war doch einer der Gründe, warum man mit dem Zug fuhr und nicht flog: daß man ohne jede Vorbestellung einsteigen konnte. Wenn das nicht mehr ging, würde Viktor – ja was würde er dann tun? Nichts natürlich. Sich mokieren. Mehr nicht. Über eine paradoxe Menschheit, die von Spontaneität schwärmt und in Psychogruppen Spontansein übt und andererseits ihr ganzes Leben durchreserviert. Deswegen ging Viktor nicht ins Theater. Wochenlang vorher Karten kaufen kam nicht in Frage.
Viktor hätte jetzt gern seinen Laptop zur Hand gehabt, um Stichworte zu diesem Essay zu notieren. Aber mit Laptop im Zug zu sitzen, das war das Allerletzte. Er hatte keine Lust wie einer dieser Versicherungstortengrafiker auszusehen. Es war eine Stilfrage. Einmal und nie wieder hatte er das bequeme Computerschreibmaschinchen mitgenommen, und hatte sich von Hamburg bis München gehaßt für das Bild, das er abgab. Lieber asozial Nägel feilen im Zug, als Laptoptippen oder telefonieren. Daß er in der Hast des Aufbruchs nicht einmal Papier eingesteckt hatte, war allerdings unentschuldbar. Du mußt dich bessern, Viktor, sagte er sich. Vielleicht doch die Reservierungsaversion etwas abbauen und vorausschauender leben? Er griff in die Tasche nach seinem Buch, aus dem er heute abend lesen würde. Hinten auf den leeren Seiten konnte er Notizen machen. Als er das Buch aufschlug, stellte er fest, daß es das Exemplar war, das er Beate, der Dattel, schicken wollte. Es enthielt eine angefangene Widmung, die ihm dann zu schlüpfrig geworden war. Zum Vorlesen brauchte Viktor sein Vorleseexemplar. Das war bekritzelt mit Strichen und Pfeilen. Von Lesung zu Lesung wurde klarer, welche Passagen für Lesungen geeignet waren. Viktor mochte nicht einfach nur ein Kapitel runterlesen. Das konnten die Leute zu Hause besser. Er wollte im Text hin- und herspringen, Pointen setzen und flexibel auf das Publikum reagieren. Seine Vorlesexemplare glichen Partituren, und nur mit ihnen war seine Art von Lesung möglich. Wenn in den Büchern Musik vorkam, nahm er Platten und CDs mit. Standen Abspielgeräte zur Verfügung, legte er die passenden Stücke auf. Eine kleine Katastrophe, daß er die Exemplare verwechselt hatte. Er hatte sich darauf gefreut, die eben gekauften Zeitungen zu lesen, nun würde er zwei Stunden damit beschäftigt sein, für heute Abend eine Vorlesefassung zu rekonstruieren. Du mußt dich bessern, Viktor, sagte er sich erneut, du mußt dein Leben ändern und ordentlicher werden und deine Zeit besser einteilen. Er sollte sich nicht von Susannes gierigem Blick so verrückt machen lassen. Nein: Verrückt machen lassen schon. Nicht so unter Druck setzen lassen, sollte er sich von ihr und ihrem Blick. Er nahm einen Stift, und begann konzentriert auf den Seiten seines Buchs herumzukritzeln, strich Absätze, formulierte neue Anschlußsätze, malte Pfeile, Wellen und Girlanden in den Text.
Trotz seiner Konzentration kam es zu Blickwechseln mit der Frau vis-à-vis. Sie trug einen Ring in einem Nasenflügel. Viktor fing einen ihrer Blicke ein und tippte an seinen Nasenflügel: »Stört der nicht?« Die junge Schweizerin schüttelte lachend den Kopf: »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so wild in einem Buch herumkritzelt.«
Viktor hatte mit einem Mal keine Lust, Schriftsteller zu sein. Eine Blitzvision zog ihm durch den Kopf: Er ist Lehrer im engen Bern, vollkommen glücklich mit dieser jungen Schweizerin verheiratet. Sie wohnen auf dem Land, und jeden Mittag erwartet sie ihn fröhlich mit einem dampfenden Essen. Er liebt sie und sein spießiges ruhiges Leben ohne Unterlaß...
»Ich bin Lehrer und bereite mich auf den Unterricht vor«, sagte er.
»Ah ja«. Die junge Schweizerin schien das Interesse an ihm verloren zu haben.
Pause. Viktor kritzelte wieder. Dann blickte er auf: »Das gibt's doch nicht!«
»Was?« fragte die junge Schweizerin.
»Sie halten mich also wirklich für einen Lehrer. Sie meinen, ich könnte ein Lehrer sein, ja?« sagte Viktor.
»Wieso nicht?«
Viktor stöhnte.
»Haben Sie etwas gegen Lehrer?« In ihrer Stimme war ein waches Mißtrauen. Das gefiel Viktor. Er konnte sich die Nachmittage und Abende mit ihr vorstellen. Irgendwo bei Bern.
»Überhaupt nicht«, sagte er, »das wäre billig. Gegen Lehrer sind alle. Ich habe nichts gegen sie. Aber ich möchte nicht für einen Lehrer gehalten werden.«
»Da ist sich der Herr zu fein«, sagte sie und gefiel Viktor noch besser. Mit ihr könnte er es ein Leben lang aushalten. Der Spott machte sie schön. Sie war völlig ungeschminkt. Diese Nase. Pfeilgerade. Dieser Nasenring. Viktor würde ein Gedicht auf diesen Ring schreiben. Er notierte die Worte »Gruß aus der Steppe«. Er hatte eine Schwäche für ungeschminkte Frauen. Manche Frauen waren so schön, daß sie häßlich wurden, wenn sie sich schminkten. So schön war diese seine junge neue schweizerische Ehefrau nicht. Sie gehörte zu den Frauen, deren Schönheit geschminkt erst richtig sichtbar werden würde. Er sah das Häuschen vor sich, in dem er mit ihr lebte, und genoß den kurzen Traum. Mit ihr würde er sogar in das verhaßte Theater gehen. Dann würde sie sich schminken. Das würde er mögen. Im Theater würde er sich auf die Nacht mit ihr freuen.
»Und«, fragte sie, »was macht der feine Herr, der kein Lehrer ist?«
Viktor wollte ihr keinesfalls imponieren. Er wollte ihr treuer, biederer Mann bleiben. Er wollte sie lieben, wie Monsieur Bovary seine Emma liebte. Sie sollte sein ein und alles sein. Er sehnte sich danach, zu verzweifeln, wenn diese Frau sich irgendwann für einen anderen schminkte. Sie würde ihren treuen Viktor betrügen. Er würde den Schmerz kosten, ihr nicht zu genügen. Er wollte Dorfschullehrer sein, und der andere sollte ein Musiker sein. Ein berühmter Musiker.
Warum hatte Viktor solche Träume? Weil er sein Liebesleben so eingerichtet hatte, daß keine Dramen ihn heimsuchten. Deswegen träumte er gern dramatisch. Unglückliche träumen vom Glück. Viktor war glücklich genug, um vom Unglück zu träumen. Entschlossen strich er einen Absatz durch, den er heute abend nicht vorlesen wollte. Er schuldete ihr noch immer eine Antwort.
»Sind Sie Staatsanwalt oder was?« Sie fragte es fast gereizt, mit schöner Schärfe. »Paßt ihnen dieses Buch nicht? Ermitteln Sie gegen den Autor?«
Jetzt würde er ihr die Wahrheit sagen müssen. Aus mit dem Traum vom armen Schullehrer. Viktor schaute sie noch ein letztes Mal als ihr liebender Dorfschullehrergatte an. Dieser Nasenring, an dem er sie als ihr Monsieur Bovary nicht würde halten können. Nach drei Jahren würde sie die Schweizer Spießerehe satt haben und in die große Welt hinaus wollen. »Ich bin Schriftsteller«, sagte Viktor ernüchtert, »ich bereite mich auf eine Lesung vor. Dafür streiche ich meinen Text zusammen. Außerdem habe ich gerade ein Gedicht auf Sie und ihren scharfen Nasenring geschrieben.«
»Sehen lassen!« Die junge Frau streckte die Hand aus. Dafür, daß sie der Schriftsteller nicht beeindruckte, könnte er sie umarmen. Er würde sie überhaupt gern umarmen. Von dem Gedicht existierten nur vier Worte, an den Rand seines Buches gekritzelt.
»Es ist noch nicht fertig«, sagte Viktor.
»Ich heiße Bettina«, sagte die Schweizerin, »wann ist es fertig?« Sie hatte ihren Namen mit Stolz gesagt. »Das Gedicht kann noch drei Stunden dauern«, sagte er so dahin.
Bettina sah auf die Uhr: »So lange bin ich noch locker im Zug.«
Viktor: »Aber ich habe keine Lust, hier zu sitzen und drei Stunden lang ein Gedicht auf Sie zu schreiben. Verplemperte Zeit. Ich unterhalte mich lieber mit Ihnen und schreibe es fertig, wenn Sie weg sind. Dann schicke ich es Ihnen. Adresse bitte.«
Bettina: »Nur, wenn Sie mir den Anfang verraten.«
Viktor: »Im Speisewagen.«
Bettina nickte: »Einverstanden.«
Viktor ahnte: Das würde nicht seine beste Lesung werden heute abend. Er hatte keine Lust, sich weiter vorzubereiten. Er würde sich in Hannover im eigenen Text verheddern und würde improvisieren müssen. Manche Leute im Publikum würden das sympathisch, andere, die Lehrertypen, würden es unverschämt finden. Bettina fuhr bis Hamburg. Sie würden zusammen im Zug sitzen, unzertrennlich, bis er in Hannover ausstieg – um eine Bekanntschaft reicher. Eine neue Bekanntschaft war wichtiger als eine perfekte Lese-Show. Bettina dürfte Anfang zwanzig sein. Es war wichtig, den Kontakt zur jüngeren Generation zu pflegen. Ein Autor, der den Kontakt zur jüngeren Generation verloren hat, ist weg vom Fenster. Bettina war ein Geschenk des Himmels. Eine Fügung. Das Gedicht, das er auf ihren Nasenring schreiben wollte, würde nicht gut werden, denn Viktor war bereits frisch verliebt, und frisch Verliebte schrieben keine guten Gedichte. Allerdings schrieb Viktor auch unverliebt keine guten Gedichte. Das wußte er. Mit dreißig hatte er sich noch einmal an einem Gedicht versucht. Vor zwölf Jahren. Eine späte Jugendsünde. Als er sich in Ira verliebt hatte. Lyrik war nichts für ihn. Er war prosaisch durch und durch, und das aus Überzeugung. Je älter er wurde, desto weniger konnte er mit Gedichten anfangen. Der hohe lyrische Ton war ihm manchmal richtig verhaßt – je höher, desto verhaßter. Beate, die Dattel, schwärmte für Rilke. Als Viktor noch für Beate schwärmte, konnte er Rilke ertragen. Als die heiße Sehnsucht nach ihr sich in eine warme Neigung zu verwandeln begann, wurde ihm Rilke zu süßlich. Erstexehefrau Ella hatte Ingeborg Bachmann für das lyrische Nonplusultra gehalten.
Was ist der Unterschied zwischen Lyrik und Sozialismus? fiel Viktor ein, während er sich mit Bettina in Richtung Speisewagen vorarbeitete. Das wäre doch mal eine hübsche Scherzfrage. Antwort: kein Unterschied, für beides begeistert man sich nur in jungen Jahren. Dürfte auf Widerstand stoßen, die These. Gut, wenn man mit Schriftstellerkollegen zanken wollte. Phantastische Möglichkeit zur Poetenbeleidigung. Schlagzeilen im Feuilleton. Viktor Goldmann behauptet: Lyrik macht mich krank. Er durfte die These nicht vergessen. Viktor drehte sich zu der hinter ihm durch den Gang des Zuges gehenden Bettina um: »Könnten Sie sich bitte die Worte Lyrik und Sozialismus bis zum Speisewagen merken?« Sie nickte: »Könntest du mich bitte duzen, das ‘Sie’ macht mich total krank.« Kleine Pause. »Freunde nennen mich Tini.«
Viktor war stolz. Sie empfand ihn offenbar nicht als einen alten Sack. Mit der Kurzform ihres Namens aber hatte er Schwierigkeiten. Tini. »Warum nicht ‘Tina’«, sagte er, »ich heiße Viktor.«
»Was hast du gegen ‘Tini’, Viktor?« sagte sie.
Viktor hob die Schultern. Er wollte nicht sagen, daß ihm der Name Tini zu kindlich war. Er konnte sich nicht vorstellen, hinter einer Frau her zu sein, die Tini hieß. Er wäre sich vorgekommen wie ein Kinderschänder. Mit Nasenring-Tina im Bett – durchaus denkbar. Mit Tini – undenkbar. Am besten mit Bettina.
Sie gingen am Zugtelefon vorbei. Ein Mann schrie in den Hörer: »Wir sind genau zwischen Basel und Freiburg... ja, Schatz... in zwei Stunden bin ich da, Schatz...«
Viktor zeigte auf den Mann und fragte Bettina: »Seine Frau oder seine heimliche Geliebte?«
Bettina riet: »Heimliche Geliebte.«
Der Mann am Zugtelefon war ein Phänomen. Er ließ sich von den beiden Betrachtern, die unmittelbar neben ihm stehengeblieben waren, nicht beirren. »Ist Annemarie schon aus der Schule gekommen?« kreischte er ungeniert... »Grüß sie von Papa...«
Bettina lachte: »Sakra, daneben! Klingt nach Ehe. Wahrscheinlich jedenfalls. Oder hat er Kinder mit der heimlichen Geliebten?«
Wenig später kamen sie an dem Abteil mit den drei Managern vorbei und blieben davor stehen. Viktor deutete hinein und war glücklich, daß Bettina sofort die Komik erkannte und amüsiert den Kopf schüttelte. Darauf kam es an: Schwachsinn als Schwachsinn erkennen. Das war die Basis. Einer der jüngeren telefonierte wieder mit dem Handy. Viktor zog die Schiebetür auf und fragte den telefonierenden Parade-Manager: »Entschuldigung, eine Frage.«
»Bitte!«, sagte der junge Parade-Manager, der auf Draht genug war, um zu telefonieren und gleichzeitig Fragen zu beantworten.
»Telefonieren Sie mit ihrer Frau oder ihrer heimlichen Geliebten?« fragte Viktor und schloß die gläserne Schiebetür. Bettina boxte Viktor in den Rücken: »Das war Klasse!« Er hatte gehofft, daß ihr seine Nummer gefiel. Nach dem kumpelhaften Stoß glaubte er, sie kurz mit beiden Händen an beiden Schultern anfassen zu dürfen. »Deine Nase, dein Nasenring!« Er frohlockte und spürte: Der Zeitpunkt war nicht fern, da würde er sie an den Schultern an sich heranziehen und ihr einen flüchtigen Freudenkuß geben können. Sie waren sich schon vertraut genug. Es wäre keine Verfehlung. Sie hätte nichts dagegen.
Im Speisewagen hatte das ebenso gütige wie ironische Schicksal einen ganzen Tisch für den Reservierungsgegner Viktor reserviert. Bettina wählte eine Cola, Viktor vermied strikt Alkohol vor Veranstaltungen, aber jetzt mußte ein Wein her. Bettina notierte auf eine Serviette: »Lyrik und Sozialismus – zur Erinnerung, deine Tina«. Er hatte es tatsächlich schon wieder vergessen. Er küßte die Serviette und steckte sie ein. Deine Tina. Nicht unbeholfen die Schrift. Angenehm altmodisch. Obwohl Viktor schon so weit war, jede Schrift von ihr gelungen zu finden. »Jetzt mein Gedicht«, sagte sie.
»Moment!« Viktor sammelte sich kurz und bat Bettina, nicht so neugierig auf seine Hände, sondern aus dem Fenster zu schauen. Dann schrieb er rasch einige Zeilen auf eine andere Serviette. »Es geht nicht«, sagte er, »in deiner Gegenwart geht es nicht.« Er lehnte sich zurück und sagte, daß er ihren Ring als einen »Gruß aus Busch und Steppe« empfinde und daß er in dem Gedicht den Wunsch zum Ausdruck bringen werde, selbst einen Nasenring zu haben und mit dem ihren verbunden zu sein.
»Geil!« Bettina strahlte. Und nach einer Pause: »Deine Frau möchte ich mal kennenlernen. Wie kann man einen wie dich aushalten?«
Daß es eine Ehefrau gab, hatte ihr Viktor ziemlich bald zu verstehen gegeben. Er trug keinen Ring. Nicht am üblichen Finger und schon gar nicht an der Nase. Wer nicht am Ehering stillschweigend als verheiratet erkennbar war, mußte ein Ehe-Geständnis ablegen. Das war zwar albern, aber fair. Die Frauen sollten wissen: Hier baggert ein Ehemann. Sie sollten rechtzeitig die Chance haben, sich indigniert abzuwenden. Es gab Männer, die ihrem Ehe-Outing den süßlichen Satz folgen ließen: »Aber das macht nichts!« Nie würde Viktor eine derart schleimige Behauptung über die Lippen bringen, die nicht nur stillos, sondern auch falsch war. Denn es machte ja etwas. Die Ehe war den Liebschaften gehörig im Weg. Vielleicht war das sogar ihr Vorteil. Die Ehe verhinderte, daß die Liebschaften inflationär und damit entwertet wurden. Ein ganz neuer Aspekt: Die Ehe als Institution, die den Wert der Liebschaften bewahrt. Viktor hatte sich oft gefragt, wieso er, der unter der Ehe so oft und heftig litt, ein zweites und drittes Mal eine Ehe eingegangen war. Vielleicht war das die Antwort: weil er sich ohne die Fesseln der Ehe in der Freiheit der Liebschaften verlieren würde.
Er hatte sofort das Bedürfnis, seine neue Theorie zu skizzieren. Bettina war etwas zu jung, fand Viktor, um mit diesen sehr fortgeschrittenen und hartgesottenen Gedanken zur Ehe vertraut gemacht zu werden. Ihr Erstaunen über die Toleranz seiner Frau einem wildernden Mann gegenüber fand Viktor sympathisch, und so sagte er nur, möglichst unschuldig lächelnd: »Mein Herz ist groß.« Das kam trotz der Ironie noch zu selbstgefällig heraus, und prompt gab Bettina zurück: »Dein Herz?« Und nach einer ihrer raffinierten Pausen: »Eine Nummer zu groß, glaube ich.« Sie lächelt siegesgewiß. Viktor holte die von ihr beschriebene Serviette aus der Tasche und notierte: »Ehe als Liebschaftenwertebewahrungsanstalt«.
Stunden später nahte die Trennung. Die Reisenden wurden über die Bordlautsprecher darauf aufmerksam gemacht, daß der Zug in wenigen Minuten den Bahnhof Hannover erreichen würde. Die Zugchefs schienen Service-Schulungen zu besuchen. Ihre Ansagen wurden immer flughafenhafter. Das schneidende Norddeutsch dieser Stimme aber sorgte dafür, daß einem nicht allzu behaglich zumute wurde und man nicht vergaß, daß das Leben eine ernste Sache war. Bettina hatte Viktor viel von ihren Fahrten in fremde Länder erzählt. Das Zuhören war ihm nicht immer leichtgefallen. Das Naheliegende wußte er noch nicht. Was machte sie, wenn sie nicht reiste, und warum war sie nach Hamburg unterwegs? »Schnell«, sagte er, »ich muß gleich aussteigen.« Bettina, sagte, sie besuche eine Freundin, die sie auf einer Reise nach Thailand kennengelernt habe, und die wolle ihr Hamburg und den Hamburger Hafen zeigen. Wenn ihr Hamburg gefällt, kann es sein, daß sie da bleibt. »Ich bin Reisekauffrau.« Sie sprach die papierne Berufsbezeichnung fast feierlich aus, mit einem Stolz, der in einem charmanten Gegensatz zu ihrem Nasenring und zu ihrer frechen Art stand und der ihn rührte.
Viktors Instinkte waren beruhigt, daß sie eine Freundin und keinen Freund besuchte, der Verstand war alarmiert. Der Verstand hätte einen Freund vorgezogen. Er wollte Bettina wiedersehen, er wollte etwas von ihr, aber nur einen Teil. Er wollte das, was Susanne nicht hatte. Ellen hatte es auch nicht. Beate hatte es am wenigsten: diese ganz bestimmte Unverblümtheit. Es war nicht Bettinas junger Körper, der ihn reizte, sondern ihre junge Art. Die langen Beine schon auch. Wichtiger aber war ihre Mischung aus gerissen und naiv, aus spießig und frisch. Für einen Autor war es Pflicht, Repräsentanten der neuen Generation näher kennenzulernen. Wenn man die neue Generation nicht begriff, konnte man sich gleich einsargen lassen. Dann hatte man als Autor ausgespielt. Diese Generation war cool und absolut nicht lost.
Natürlich reizte ihn auch der Nasenring. Seit Jahren schon war dieser Schmuck Mode. Nie hatte er Gelegenheit gehabt, sich näher damit zu befassen. Schwer, sich Susanne oder Ellen mit einem Nasenring vorzustellen. Bei Bettina wirkte der Ring völlig unverkleidet. Jeder Mann hat einmal in seinem Leben das Recht auf ein Verhältnis mit einer Frau mit einem Nasenring, entschied Viktor. Wenn sie keinen Freund hatte, mußte er vorsichtiger sein. Zwanzig Prozent seines Herzens waren noch für Nasenringfrauen frei, reserviert sozusagen, und keinesfalls mehr als zwanzig Prozent würde er auch in Bettinas Herz beanspruchen wollen. Aus Paritätsgründen. Sonst kam es zu Schieflagen. Da geriet man ins Rutschen. Dann konnte es zu Tragödien kommen, von denen man besser nur träumte. Zwei Ehen hatte Viktor hinter sich. Er hatte Erfahrung.
»Ich schick dir das fertige Gedicht, wenn du mir versprichst, daß du mich anrufst, sobald du in Zürich bist«, sagte Viktor beim Abschied. Der Zug hielt. Viktor gab ihr einen zarten Kuß auf die Lippen, berührte mit dem Zeigefinger ihren Nasenring, stürzte aus dem Zug und klopfte von außen gegen die Scheibe. Er wollte warten, bis der Zug anfährt. Bettina aber deutete unsentimental auf ihre Uhr. Sie wußte, Viktor hatte es eilig und machte ein Zeichen, daß er nicht warten sollte und daß sie anrufen werde.
Viktor machte auf dem Bahnsteig ein ganze Reihe von Zeichen. Er wollte seinen Ärger über die modernen Zugfenster ausdrücken, die man nicht mehr öffnen konnte, wenn man sich anständig verabschieden wollte. Nicht einmal mehr klar hineinsehen konnte man von außen. Bettina lächelte erheitert, aber mit fragendem Gesicht. Sie schien die Pantomime nicht enträtseln zu können. Viktor blieb noch ein paar Sekunden stehen, wendete sich dann der Treppe Richtung Ausgang zu und atmete tief durch – beglückt und belebt von den letzten Stunden.
Bettina war keine Frau zum Anschmachten. Aber sie war ein Gewinn. Eine wie sie war Viktor noch nie begegnet. Keine Sekunde hatte er es störend gefunden, doppelt so alt wie sie zu sein. Ihr Tonfall, ihre natürlichen Bewegungen, ihre langen Beine, ihre unaffektierte Art, das mittelblonde Haar nach hinten zu schleudern – alles nichts Besonderes, aber alles zusammen hatte in Viktor Eindruck hinterlassen. Keinen tiefen Eindruck, aber einen, der eine Weile spürbar sein würde. Vier bis sechs Wochen würde das Bild dieser jungen Frau in ihm gegenwärtig sein. Mit ihren großen, fast etwas großspurigen Schritten würde sie ihn begleiten, wenn er allein durch die Straßen ging. Wenn er allein im Bett lag, würde sie manchmal zu ihm schlüpfen.
So war es immer, wenn Viktor eine neue Frau kennenlernte. Sie war zunächst eine unaufdringliche Gefährtin in seiner Phantasie, die dezent verschwand, wenn andere Frauen erschienen, und die flink wieder auftauchte, sobald er sich nach ihr sehnte. Wenn Viktor solche Frauen nicht wiedersah, verblaßten die Bilder allmählich und verschwanden nach einiger Zeit ganz. Er wußte dann noch von der Begegnung, aber das Gesicht dazu war seinem Gedächtnis entglitten.
Manchmal aber drängten solche Bekanntschaften in die Wirklichkeit zurück. Sie nahmen Viktor beim Wort, schrieben Briefe, riefen an und wollten sich wieder mit ihm treffen. Und es war jedesmal ein neues Erlebnis, wie die Wirklichkeit dem Phantombild der Erinnerung zunächst nicht standhielt, um sie dann plötzlich zu übertreffen – oder auch nicht.
Die ausgestiegenen Reisenden, die sich eben noch auf dem Bahnsteig drängelten, hatten sich verlaufen, die einsteigenden waren im Zug, es wurde ruhiger. Nur ein Rentnerehepaar irrte herum und konnte sich für keinen der Wagen entscheiden. Er war bockig, sie hysterisch, beide hoffnungslos. Es war ihnen nicht zu helfen. Viktor prägte sich das Bild als Warnung ein: Nie so werden! Dann lieber langsam vor dem Fernseher verfaulen. Wenn man dem Reisen nicht mehr gewachsen ist, verletzt es die Menschenwürde. Dieses Paar würde zankend Platz finden, und während einer von beiden schnaufend und empört den harmlosen Menschen, die dort saßen, das Reservierungsticket vor die Nase halten und sie zum Verlassen der Plätze auffordern würde, würden sich die beiden Gestalten wieder näherkommen. Noch eine Weile würden sie sich Vorhaltungen machen und die Schuld der Verwirrung hin und her schieben, dann, wenn sie ausgeatmet und sich beruhigt hatten, würden sie zu ihren furchtbaren Illustrierten greifen und irgend etwas futtern, und eine Einigkeit würde von ihnen ausgehen, die noch viel schlimmer war als ihr Zank.
Viktor tastete nach der als Merkzettel dienenden Serviette in der Innentasche seiner Jacke und nahm sich vor, im Taxi die dritte Beobachtung des heutigen Tages darauf zu notieren: »Reservierung ist nichts anderes als ethnische Säuberung«. Während er zur Treppe ging, die zum Ausgang führte, setzte sich der Zug mit Bettina in Bewegung. Er spürte, wie er froh wurde und lächelte. Das Leben war spannend: Die Begegnung mit Bettina war wie ein Los, das er gezogen hatte, und es war höchste Zeit gewesen. Susanne in Ehren, ihr sexuelles Temperament war eine unverzichtbare Zufuhr an Vitalität, aber Neuheiten und Überraschungen gab es nicht mehr. Die Begegnungen mit Susanne waren ein rasantes Ritual. Man traf sich, man aß und trank und tauschte Erzählungen aus und wartete, bis die Geilheit heranrückte, die noch immer mit der Zuverlässigkeit der Flut kam, die die Ebbe ablöst. Die Lust war ein Naturereignis, aber die Körper waren erkundet, sämtliche Hemmungen längst gefallen, und wenn sie dann entspannt im Hotelzimmer lagen und auf das Regenerieren der Kräfte warteten, sprachen sie von den Anfängen ihrer Liaison, als sie noch unsicher waren und sich vortasteten, von der ungeheueren Aufregung, die Susanne mit ihrer Frage ausgelöst hatte, ob Viktor Erfahrung mit Fesselungen hätte, von seinem Leiden unter ihrem süßen Parfum, das er eines Tages endlich mannhaft beendete, indem er das teure Fläschchen in einem Berghotel bei Luzern aus dem Fenster in eine tiefe Schlucht geschleudert hatte. Seine finsteren Flüche hatten Susanne gefallen: Das Zeug stinke wie die Pest, das habe sich eine lesbische Modezarin ausgedacht, um den Männer die Freude an den Frauen zu nehmen, im übrigen dürften Geliebte niemals irgendein Parfum benutzen, das sei das erste Gebot aller heimlichen Liebschaften, diese Gerüche blieben schließlich auch am Liebhaber haften, sie könnten auch dessen noch so gutwillig die Augen und Ohren und die Nase schließender Gattin nicht verborgen bleiben. Viktor war in Fahrt wie ein Bergsturm, und Susanne hatte gesagt: »So mag ich dich.«
Leider waren derart große Taten nicht wiederholbar. Daher würde das Wiedersehen mit Bettina in Zürich weitaus aufregender sein als das routinierte Treffen mit Susanne übermorgen in Köln. Schon ob Bettina, die Reisekauffrau, überhaupt auftauchen würde, war ungeheuer spannend, und wenn sie auftauchte, dann würde es noch spannender werden, ob sich etwas ergäbe oder nicht – und wenn sich etwas ergäbe, dann würde die Frage dreifach spannend werden, was sich ergäbe.
Viktor fühlte sich erfrischt wie nach einem Bad. Es war höchste Zeit gewesen für einen neuen erotischen Aspekt. Das Gute war: Es war nichts Verbindliches verabredet, alles war wunderbar offen. Selbst vor dem bösartigsten Inquisitionsgericht der Welt, dafür bekannt, daß es Seitensprünge mit bis zu drei Mal lebenslänglich bestrafte, und dessen Geschworene sich aus zwölf giftigen, extremkatholischen alten Jungfern zusammensetzten, die nie die Liebe gekostet hatten und entsprechend rachsüchtig waren, könnte er guten Gewissens schwören: Es ist. Hohes und Gestrenges Gericht, mit Bettina Buri, genannt Tina, wohnhaft in Luzern, nichts vorgefallen; kein Geschlechtsverkehr mit Viktor Goldmann, wohnhaft mit freundlicher Genehmigung der helvetischen Republik in Zürich, Hauptwohnsitz Frankfurt am Main, nein, auch zu unsittlichen Berührungen mit erpresserischen Aufforderungen zum Geschlechtsverkehr unter Inaussichtstellung von Belohnungen und Vorteilen ist es bislang nicht gekommen, so wahr mir Gott helfe. Wie? Ob ich mit Bettina Buri, wohnhaft in Luzern, Geschlechtsverkehr haben wollte? Sie machen mir Spaß, Sie ahnungslosen Nullnummern, wie soll ich denn das wissen? Fragen Sie meinen Anwalt, Sie verdrucksten Jungfern, vielleicht kann der es Ihnen sagen.
Bettina war eine Option. Viktor war nicht verliebt. Aber es könnte eine Liebesgeschichte daraus werden. Er hatte nach einem Los gegriffen, und es stand nicht in seinem Ermessen, ob je Gewinnzahlen ermittelt und ob etwas dabei für ihn rausspringen würde oder nicht. Jeder Gewinn würde ihn entzücken, vom simplen Kinobesuch mit anschließendem Weintrinkengehen und halbwüchsigem Bettina-bis-vor-die-Haustür-Begleiten, vom allmählichen Sichnäherkommen mit langsam heftiger werdenden Umarmungen bis hin zum sofortigen blinden Aufeinanderabfahren bei der Wiederbegegnung und dem Entschluß, zwei Wochen zusammen nach Thailand zu fahren – eine kühne Unternehmung, die allerdings auch vor der toleranten Ellen sehr gut getarnt werden müßte. Wie viele Möglichkeiten! Heute morgen in Zürich waren sie noch nicht da. Der Zustand war noch besser als Verliebtsein. Es roch ein bißchen nach Liebe, das war alles. Es gab kleine Gewinnchancen. Und es eilte nicht. Es mußten keine Entscheidungen gefällt werden. Vier Wochen würde nichts passieren, bettinamäßig. Er hatte genug Zeit, sich mit Susanne zu treffen, und für den Versuch, den Ehealltag mit Ellen vielleicht etwas aufzufrischen.
Er hatte ein Los. Er spielte mit. Das war zunächst alles. Nicht viel, aber es genügte, um Viktor zum gutgelauntesten und vielleicht sogar glücklichsten Reisenden auf dem ganzen abscheulichen Bahnhof von Hannover zu machen, wo besonders viele Menschen mit Fußballfanfrisuren apathisch an Schließfächern lehnten, Bier aus Büchsen tranken und dabei das impertinente Niedersächsisch sprachen, das angeblich als reinstes Hochdeutsch galt.
Am Ausgang zur Stadt stand eine Frau, die Viktor bekannt vorkam. Nachdem er mehrere Stunden in unmittelbarer Nähe von Bettinas langen Beinen zugebracht hatte, war das erste, was ihm auffiel: der Rock ist etwas zu kurz für die etwas zu unstrukturierten Knie. Sofort genierte er sich für diesen Gedanken. Wieder war da der Vorsatz, ein besserer Mensch zu werden. Kein Frauenbeinbeschauer. Er versuchte sofort, seinem Blick alles Abschätzende zu nehmen. Zum Teufel mit den ewigen Äußerlichkeiten. Hoch leben die inneren Werte. Die unfremde Frau lächelte ihm zu. Keine Frage, sie stand hier, um ihn abzuholen. Das war nicht ausgemacht. Viktor wollte nicht abgeholt werden. Mit achtundachtzig würde er vielleicht froh sein, wenn jemand sein Gepäck trug und ihm den Weg wies. Er war Anfang vierzig und streunte lieber allein vom Bahnhof zum Hotel. Viel zu selten war er allein.
Die Frau lächelte vertraut, aber auch diffus und mehrdeutig. »Hallo«, sagte Viktor. Zum Glück gab es seit einigen Jahren diesen universal verwendbaren Begrüßungsruf, ideal, wenn man vergessen hatte, wie gut man die Leuten kannte. Sie streckte ihm die Hand hin, und als er sie verlegen nahm, merkte er, daß sie eine bewegtere Begrüßung erwartet hatte.
Endlich hatte er eine Eingebung: »Christine«, sagte er tastend, »ich werd verrückt!«
»Fast«, sagte die Frau nachsichtig und korrigierte: »Sabine!«
»Sabine, natürlich!« Viktor tat durcheinander und war durcheinander. Seine Zerstreutheit war echt und wirkte echt. Plötzlich hatte er das Gefühl, mit dieser Frau in einer anderen Stadt schon einmal in einem Bett gelegen zu haben. »Ich werd verrückt«, wiederholte er noch einmal, um Zeit zu gewinnen, »Sabine – was machst du in Hannover?«
»Du bist verrückt!« Sabine war nachsichtig, tat aber, als ob sie schmollte: »Wir haben uns nie woanders getroffen als in Hannover. Buchhandlung am Rathaus. Zweimal hast du hier gelesen. Danach immer Hotel Interconti.« Sie machte eine Pause. »Mit mir. Mit Lila. Du hast mich Lila genannt.«
Sie sagte es freundlich, geduldig – wie zu einem alten, zerstreuten Mann, dachte Viktor, und dieser Eindruck hob seine Stimmung nicht. Seine Erinnerung war nun wieder da. Diese unglaubliche lila Hose damals. Sabine war so sehr lila Hose, daß er sie ohne das extravagante Kleidungsstück kaum erkannte. Offensichtlich trug sie es nicht mehr, weil sie nicht mehr hineinpaßte. Sie war nicht mehr die verwegene lila Sabine. Er konnte sie nicht Lila nennen. Ihr vorgeschütztes Schmollen aber war gleich geblieben. Damals hatte sie allerdings weniger Anlaß dazu gehabt. Es war das Schmollen jener Frauen, die zufrieden mit sich und der Welt sind, es aber richtig finden, ein bißchen unzufrieden zu wirken.
»Dein Schmollen...«, sagte er, wieder tastend. Diesmal lag er richtig.
»Genau«, sagte sie befriedigt, »du hast ein Gedicht auf mein Schmollen geschrieben.«
Viktor sagte nicht, daß er sich an das Gedicht nicht erinnern konnte. Er sagte auch nicht, daß er sich für einen miserablen Lyriker hielt. Er nickte und lächelte und dachte nur eines: Ich habe Alzheimer.
Sabine hatte wieder im Interconti ein Zimmer für ihn gebucht. Die Art, wie sie das sagte, ließ keinen Zweifel aufkommen. Sie erwartete, die Nacht mit Viktor in diesem Zimmer zu verbringen. Ihre Zielstrebigkeit machte Viktor nervös. Das verstieß gegen das Gesetz der Quarantäne. Das war nicht bekömmlich. Bis er übermorgen Susanne in Köln traf, hatte er gerade mal genug Zeit, die Nasenring-Bettina so weit in den Hintergrund zu schieben, daß sie den Exzessen mit Susanne nicht im Weg stand. Von Sabines Erwartungen fühlte er sich jetzt bedrängt. Sie hängte sich ein und steuerte ihn zu ihrem Auto. »Ich bin ziemlich kaputt!« sagte er vorbeugend. Es fiel ihm nichts anderes ein. Er sagte es ungern, weil er diese Standardfloskel nicht leiden konnte, mit dem alle Welt ihre Leistungsfähigkeit und Liebesbereitschaft vorab in Frage stellte.
Natürlich kamen in Viktors Büchern Leute vor, die sich ziemlich häßliche Gedanken über Leute machten, die von sich behaupteten, sie seien ziemlich kaputt. Sabine, die einige seiner Bücher kannte, glaubte zu Viktors Gunsten, er zitiere eine hypochondrische Romanfigur, und kicherte. Viktor selbst hatte vergessen, daß er sich über die »Was-bin-ich-kaputt!«-Sager schon mehrfach literarisch lustig gemacht hatte.
Sabine fuhr ihn in ihrem Auto zum Hotel. »Ich laß dich jetzt allein«, sagte sie. Kurz vor acht würde sie ihn abholen. Nein, zum Veranstaltungsort zu laufen, sei es zu weit, entschied sie.
»Ich laufe lieber.« Obwohl Viktor sich bemüht hatte, das freundlich und ohne Trotz zu sagen, wurde Sabine mißtrauisch oder spielte die Mißtrauische: »Magst du mich nicht mehr?«
»Um acht bin ich da«, sagte Viktor.