Aus dem letzten Hause - Georg Hermann - E-Book

Aus dem letzten Hause E-Book

Georg Hermann

0,0

Beschreibung

"Nein, ich sollte ihr lieber erzählen, was ich da auf der Bahn gewollt hätte, ich wäre doch nicht fortgefahren, ob ich da jemand erwartet hätte. – Ich fühle, wie meine Backen heiß werden: jetzt examiniert sie mich sogar. Ich will doch einmal sehen, ob sie Wahrheit vertragen kann. ›Ach nichts, ich wollte mich nur ein wenig unter den Zug werfen‹, – dabei lache ich recht laut." Doch Walter, der hier in seinen Tagebuchblättern von einer entscheidenden Begegnung berichtet, wirft sich nicht unter den Zug. Stattdessen vertieft sich sein Gespräch mit der jungen Frau, die Martha heißt, was schließlich dazu führt, dass sie ihn nach Hause begleitet und die Nacht über bei ihm bleibt. Am nächsten Tag schon holt sie ihre Sachen und zieht bei ihm ein. Doch am Ende seiner Tagebuchaufzeichnungen ist er wieder allein und ihn plagt eine "entsetzliche, furchtbare Angst" ... Der Band enthält neben der bewegenden Titelerzählung "Aus dem letzten Hause" auch Georg Hermanns frühe Erzählungen "Der Wert des Lebens", "Ein Gruß", "Unvergessliches", "Aus einem Vortrag", "Auf Posten", "Der Tod", "Ein Nachruf" und "Der Heringssalat".-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 272

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Georg Hermann

Aus dem letzten Hause

Saga

Aus dem letzten Hause

© 1900 Georg Hermann

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711517192

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com.

Die Buchbeschreibungen, von denen wir Händlern raten, sie an herausgehobener Stelle zu platzieren, weisen darauf hin, dass es sich um ein historisches Buch mit zahlreichen Druckfehlern oder fehlenden Textstellen handelt; es enthält weder einen Index noch Illustrationen.

Das Buch wurde mit einem Schrifterkennungsprogramm erstellt. Dieses Programm arbeitet mit einer Genauigkeit von 99 Prozent, wenn sich das Buch in gutem Zustand befindet. Doch uns ist bewusst, dass selbst dieses eine Prozent eine ärgerliche Zahl von Druckfehlern bedeuten kann. Und bisweilen kann eine Seite ganz oder teilweise in unserem Exemplar des Buches fehlen. Oder das Papier kann als Folge der Alterung so verfärbt sein, dass das Lesen problematisch ist. Wir bitten um Entschuldigung und danken für die Unterstützung durch Google.

Wenn wir ein Buch neu setzen und gestalteten, ändern sich die Seitenzahlen, so dass der originale Index und das Inhaltsverzeichnis nicht mehr zutreffend sind. Deshalb entfernen wir sie unter Umständen; falls sie doch vorhanden sind, ignorieren Sie sie bitte.

Jedes Buch, das wir in ausreichend großer Stückzahl verkaufen, um einen Lektor bezahlen zu können, wird sorgfältig korrekturgelesen. Bedauerlicherweise ist das bei den meisten nicht möglich. Daher sind wir bestrebt, unseren Kunden das Herunterladen eines kostenlosen Exemplars des fehlerfreien Originalbuches zu ermöglichen. Geben Sie einfach die Strichcodenummer auf der Rückseite des Taschenbuchs bei www.RareBooksClub.com ins Free-Books-Formular ein.

Sie sind vielleicht auch berechtigt, eine kostenlose Testmitgliedschaft in unserem Buchclub zu erhalten und vier Bücher kostenfrei herunterzuladen. Geben Sie einfach die Nummer des Strichcodes auf dem hinteren Einband im Mitgliedschafsformular auf unserer Homepage ein. Der Buchclub gibt Ihnen Zugang zu Millionen von Büchern. Geben Sie einfach nur den Titel, den Verfasser oder das Thema im Suchformular ein.

Sollten Sie Fragen haben, ziehen Sie freundlicherweise unsere FAQ zu Rate, die Sie unter www.RareBooksClub.com/faqs.cfm finden. Sie können dort auch gerne Kontakt zu uns aufnehmen. Books LLC™, Memphis, USA, 2013.

Aus dem letzten Hause von Georg Hermann erschien im gleichen Verlage:

öpielkinoer. Roman.

Modelle. Novellen und Skizzen.

Die Zukunftsfrohen. Novellen.

Alle Rechte besonders da« der Übersetzung vorbehalten

Jos. Ad. Bondy in Freundschaft

Inhalt

Seite

Aus dem letzten Hause 1

Der Wert des Lebens 159

Em Gruß 17!

Unvergeßliches 183

I6 ÄUÜeiti», 19?

Auf Posten 209

Der Tod 21?

Ein Nachruf 22?

Der Heringssalat 239

Vorwort.

Ein Freund, welcher irgendwie erfahren hat, daß ich Ichreibe, überließ mir diese Tagebücher mit dem Bemerken, ob sie mir vielleicht Stoff zu einem Roman böten. Da ich die Kunst besitze, selbst der besten Geschichte durch meine Erzählung zu schaden, so habe ich es vorgezogen, mit einigen geringen Streichungen diese Tagebücher unter meiner Flagge hinaussegeln zu lassen.

Leider verfällt der mir befreundete Verfasser in den Fehler aller Tagebuchschreiber: Zu sehr bei Unwichtigem zu verweilen, und das Beste, was er zu sagen hat, zu verschweigen. Ich aber, der ihn fast so gut kenne, wie mich selbst, vermag oft ganz etwas Anderes zu lesen, wie da geschrieben steht. Doch wer wird sich sonst noch die Mühe nehmen? !eorg Hermann, Au« dem letzten Hause,

Donnerstag.

Dieses Haus ist auch zu hellhörig. Wenn der Portier unten niest, denkt man oben das Dach fällt ein; und bei jedem Wagen, der die Straße entlang fährt, zittert es vor Schreck an allen Gliedern. Wäre es solch alter Rumpelkasten, an welchem sich die Iahre die Zähne ausgebissen haben, und riefe nun wenigstens das Gefühl des Heimischen, Eingewohnten hervor, — aber nein! Ich glaube, das Ding ist wohl erst im vergangenen Frühjahr fertig geworden. Überall hängt es voll Stuck. Der Erbauer hat eine ganze Schürze voll nackter Weiber und Jungen gekauft und Stück für Stück einzeln gegen die Fassade geworfen; wo sie trafen, blieben sie kleben, und wo sie kleben blieben, war gleichgültig.

Und doch ist gewiß kein neuer Balken im Bau, kein Stein, welcher nicht schon dreimal vermauert gewesen wäre. Auch nicht ein Wort können meine Wirtsleute reden, das ich nicht mit anhören müßte, und doch lockt es mich gar nicht, Zeuge ihrer ewigen Meinungsverschiedenheiten zu sein. Der Alte hätte sich einfach nicht eine Frau nehmen müssen, welche fünfundzwanzig Iahre jünger ist als er, dann wäre er dem nicht ausgesetzt, daß sie mit ihren Liebhabern tanzen ginge. Da schnauzt und bräbbelt er schon wieder, der Alte! — Mit wem denn nur? Sie ist doch schon seit zwei Stunden fort. — Im Grunde, was geht es mich an?

Fast Nacht für Nacht wimmern über mir die Kinder und dann keift wieder das Weib dazwischen, oder es brüllt der besoffne Kerl von Mann und schlägt seine ganze Sippe, daß es nur so klatscht.

Das ist mir eine angenehme Unterhaltung; denn ich kann auch, wenn es still ist, nicht schlafen, und diese schwere schwarze Dunkelheit um mich würde mich noch mehr beängstigen; so, wenn ich den Lärm von oben höre, fühle ich mich doch nicht ganz allein, ich empsinde wenigstens, daß es außer mir noch Wesen ans der Welt giebt, und ich rede mir doch nicht alles Erdenkliche ein, Dinge, die nicht gehauen und nicht gestochen sind.

Mittwoch. Ia, wenn ich auch wieder seit fünf Tagen mit keiner Menschenseele ein Sterbenswort gewechselt habe, so giebt es doch etwas, das mich voll und stets beschäftigt: wie kann ich drüben vom Holzplatz den Hund vergiften? Von abends halb sieben bis morgens vier Uhr heult er ununterbrochen, stößt so wehmütige, so jammervolle Töne aus, daß man weinen möchte und dann wieder heiser, gell und wild, Töne, die wie blutige, schartige Messer schneiden. Wenn ich nur Gift bekäme, ich würde es in ein Stück Fleisch tröpfeln und über den Zaun werfen. Und doch — es giebt Gründe, die mich davon abhalten wollen. Mit der Zeit hörte ich dieses Heulen vielleicht gar nicht mehr, möchte mich daran gewöhnen; und was der gewichtigste Grund ist, das Tier würde mir fehlen, wenn ich in den hellen Mondnächten an das Fenster trete und ich sehe nicht, wie es da unten seinen dicken Kopf gegen den Himmel hebt und wimmert zum Stein-erbarmen. Dann wäre meine Aussicht nicht ganz und von meiner Aussicht möchte ich nichts missen — auch ihn nicht.

Die Straße ist erst auf einer Seite bebaut; und gewiß weiß niemand in meiner Häuserreihe, niemand hier draußen in den letzten Häusern, wie herrlich seine Aussicht ist. Ich kann so weit über das Land sehen. Drüben hinter dem Holzplatz, hinter den Zäunen beginnen Felder und Äcker. Gleich einem grauen Band zieht sich der Weg zwischen ihnen hindurch, und wie in schwarzen Umrissen scheinen mir die Menschen, die darüber schreiten, auf ihm zu liegen. Ich sehe die kahlen Bäume vom Schloßpark wie zarte Gewebe auf dem weißen Himmelsgrund. Ich sehe die blauen Linien des fernen Waldes, ich sehe über Gestrüpp und Hecken, über aufgebrochne Äcker und Laubenstädte bis weit drüben zu Häuservierteln und Kasernenbauten, welche wie massige, behauene Blöcke in den Himmel schneiden; lange, quadratische Flächen sind es mit tausend Schießscharten von Fenstern und aus ihnen sprüht oft abends nach Sonnenuntergang Feuer. Ia, ich erkenne sogar jenseits der Kaserne, weit hinter dem Exerzierplatz, einen Villenort; aber ganz links wieder, da ragen — fünf Finger einer Riesenhand, welche aus dem Grab gewachsen, — fünf Fabrikschornsteine auf.

Und über all dem der Himmel, über all dem die Wolken. Wissen sie denn in den Straßen der Großstadt, was ein Himmel ist? Sie nennen das Stückchen Weiß, Grau oder Blau, das wie eine Dachluke über ihnen hängt, so. Hier bei mir ist er weit, — ganz weit und hoch; hier färbt er sich allabendlich, und sei es auch nur ein einziger roter Streif unter schwarzen Wolken — ein rotes Seidenband in dunklem Haar; hier schwimmen tagüber weiße Segel auf blauem Grund, und hier jagen, wenn der Wind sie treibt, schwere Wolken in Schichten übereinander hin,

— schwarz, tiefgrau, grau — fortwährend ändern sie die Gestalt, strecken lange Arme, gleich Polypen, die einander packen wollen; oder es weint die graue Dämmerung auf das Land herab, senkt sich ein müder Schleier über alles

— dann aber leuchtet selbst noch durch den Nebel der Nacht der Schein der fernen Fabriken.

Das ist Himmel, ruhelos, weit und ewig wechselnd, wie das Meer. Aber, wenn nachts, drüben zwischen den Pappelstämmen, die vielgegliederten Feuerschlangen der Eisenbahnzüge hindurchkriechen, und die grünen und roten Lichter der Signale wechseln, dann kann ich Stunden am Fenster stehen und zuschauen.

Sonnabend.

Es ist eigentlich hübsch hier! Nur Geld müßte ich haben, viel Geld, hundertundzwanzig Mark monatlich und dann Bücher, gute Bücher; daß ich sie alle im Laufe der

Zeit versetzt habe, ist mißlich; eigentlich waren sie von jeher meine besten Freunde. Ietzt weiß ich zwar nicht mehr, was ich gelesen habe, ich weiß garnichts mehr, rein garnichts mehr, ich bin ganz leer und ausgepumpt. Ich weiß auch augenblicklich nicht, was ich erlebt, wie mein Dasein dahingeflossen. Halt mal! — Ich will mich besinnen, ich will nachdenken, ob mir nicht irgend etwas einfällt. Nein, nichts — doch ja — ich erinnere mich, ich habe einmal beim Militär Posten gestanden, an einem Sommerabend, im Zuchthaus, auf einem kleinen, gepflasterten Hof. Man muß viel Thore aufschließen, um zu mir zu gelangen. Schon dunkelt es; der Himmel hängt schwer, schwül und tief. Plötzlich bricht noch einmal die Sonne durch die Wolken; braungoldene Lichter spielen auf vermorschtem Bewurf, rotgoldene auf roten Ziegeln. Ein schwerer, verwitterter Goldton überzieht die bestrahlten Flächen, dringt selbst in die Luken der Verließe und vergoldet dort die Traillen und Stäbe der eisernen Gitter. Gesang klingt aus den Zellen, irgendwo hat einer begonnen. Erst weich und leise, dann laut und bestimmt. Andere von hier und drüben antworten, das singt, wie Winternachts, ein Rotkehlchen im Bauer, dumpf und sehnend. Ich lausche erschreckt, nicht ein Wort kann ich erhaschen, und doch ich verstehe sie. Ich höre, wie sie sich träumen nach weiten, ftillen Ländern und grünen Bergen, wie sie klagen um ihr Elend, den Hunger, die heimlichen Laster. Sie singen von den langen Bettreihen des Hospitals, von der feuchten Leichenkammer, von dem schwarzen Karren, der ihnen die Freiheit geben wird. Das Wasser schießt mir in die Augen, die Firsten werden eine brennende Burg, in mir quillt es auf. Angst, dumpfe Verzweiflung, tausend Schmerzen lösen sich; von irgend woher fällt ein Schein auf die Gewehrkammer, sucht mit einem roten, spitzen Strahl; in den Armen beginnt es zu schmerzen, in den Fingern zu ziehen, die Linke preßt den Kolben, als ob sie ihn zerdrücken müßte, die Rechte wird herübergezogen, ganz langsam, alles am Arm ist hart, wie Holz, geworden; die Finger fassen die Sicherung und ganz langsam legt sie sich nach rechts. Wie ein Stahlband preßt sich der Kragen um den Hals und zieht sich enger und enger. Die Haare schmerzen; überall aus der Haut schlagen Nadelspitzen. Iemand spricht neben mir, ich kann ihn nicht verstehen, aber er redet in mich hinein. Oben singen sie noch; die Lohe der brennenden Burg umhüllt mich. Als ob ich es zu zerbrechen fürchte, so leise nehme ich das Gewehr von der Schulter; so vorsichtig bewege ich mich, als könnte ich Schlafende aufwecken. Aber, wie ich es auch anstelle, es ist mir nicht möglich, das Gewehr auf mich zu richten, und die Finger an den Hahn zu bringen. Ob ich mit dem Fuß abdrücken könnte? Umsonst, die Spitze des Stiefels ist zu breit, aber mit den Zehen? Wenn ich den Stiefel auszöge? Er rührt sich nicht. — Da, wie ein Schlag auf den Kopf; Knirschen und Schlüsselrasseln. Im Augenblick gesichert. Gewehr über. „Halt, wer da!" „Ablösung." —

Und dann weiß ich noch, wie ich ein anderes Mal — Nein, ich weiß garnichts mehr, ich will auch garnichts mehr wissen, es ist, um...! Da redet der betrunkene Alte wieder vor sich hin. Nun liegt er wohl wieder aus dem Bett; er dreht sich wie ein Quirl; immerzu kracht das ganze Gestell, und dazu schimpft er auf seine Frau: „Ah, olle Hexe, Hexe, Hexe, rumtreiben thust du dich, du Mensch, und ich, ich, ich muß hier zuhause bleiben. Weg, sage ich, ich bin ein anständiger Mensch und solche Be trüjersche, jeweint hab ich jestern früh. — Mein

Lebtag —"

In dem Ton geht es nun schon Stunden mit ihm. Wenn ich auch Schiffstaue’ statt der Nerven hätte, ich müßte ja rasend werden; und dabei muß ich zu übermorgen einen Brief über die inneren Verhältnisse in Rom schreiben. Ich, der nicht einmal ein Beefsteak auf italienisch verlangen kann, der keine Zeile aus dem Dante übersetzen könnte! Aber was soll ich denn thun, ich muß doch leben, ich mag nicht verhungern.

Was sie von mir alles verlangen! Ich glaube, wenn auf der Halbinsel Malakka ein Doppelraubmord passierte, müßte ich darüber berichten! Mir schießt soeben ein vorzüglicher Gedanke durch den Kopf. Unter anderem werde ich schreiben, daß wir von unterrichteter Seite erfahren, daß der König von Italien anläßlich der Hungerrevolte gesagt: „Das habe ich nicht um mein Volk verdient!" Und ich werde diesen Ausspruch als einen schönen Zug seines königlichen Herzens lobpreisen, auf fünf Zeilen zu sieben Pfennig, macht fünfunddreißig Pfennig, macht zwei Schrippen, ein halbes Viertel Butter und ein Stück Leberwurst. Und wie wäre es, wenn ich dann ein wenig über die nächstjährigen Ernteaussichten in Nordamerika, und über die Zukunft des Kramer Obstbaues orakelte? Ietzt bin ich endlich klug geworden; seitdem ich gemerkt habe, daß immer das Gegenteil von dem eintrifft, was ich mutmaße, schreibe ich immer gerade das Gegenteil von dem, was mir einfällt; aber manchmal klappt es auch dann nicht, ein anständiger Mensch kann sich eben in dieser schlechten Welt auf nichts mehr verlassen. Der Teufel hole sie!

Ich möchte mal etwas Verständiges zuwege bringen, solch eine unglaublich feine Sache, die ein Heidengeld brächte. Dann würde ich garnichts mehr schreiben, oder sicher doch nichts drucken lassen. Denn das Wort ist die Profanierung des Gedankens; der Druck aber die Prostitution des Geschriebenen. Ich habe keine Ahnung, was das werden sollte, doch es müßte etwas ganz Besonderes sein. Ah, mein Kopf, es hackt wieder jemand Holz auf ihm. —

Donnerstag. Ich bin doch nun ein Mann von bald dreißig Iahren, und ich fürchte mich, wie ein Kind. Ich fürchte mich, am Tag, wenn ich im Zimmer bin und, die Sonne breit hineinflutet, und ich fürchte mich in dunkler Nacht, wenn ich nicht schlafen kann; nicht, weil jemand da sein könnte; sondern weil niemand da ist, weil ich nur überall das Echo meinerselbst höre. Oft sogar, wenn ich andere Menschen sehe, fühle ich mich doch allein, dann scheint es mir, als wären sie alle nur geballte Luft, und ein Hauch von mir könnte sie auseinanderblasen. Nein, ich muß irgend ein Wesen um mich haben, vielleicht einen Hund — ein Wesen, dessen Gegenwart ich auch mit geschlossenen Augen empfände. Diese Einsamkeit macht mich noch trank. Ah, wenn ich so Stunden im Zimmer auf und nieder gehe, ich denke an garnichts — ich habe überhaupt kein Hirn mehr, ich habe ein Stück Nebel im Kopf — und wo ich mich dann hinwende, ist es kalt und leer, und wo ich hinspreche, hallt es von mir, giebt mich mir zurück, als ob es nichts von mir wissen wollte; was in mir ist, kenne ich nicht, was um mich ist, verstehe ich nicht — also was begreife ich denn? Und auch die anderen Leute, sie sind mir unlösbare Rätsel. Unersindlich ist es mir zum Beispiel, warum der Alte nebenan heute wieder brabbelt. Ist der Mensch wirklich — wie die allgemeine Annahme — ein Gewohnheitstier, so hätte sich der Alte doch schon längst darein schicken müssen, daß seine Frau ihm untreu ist, aber er — der Alte — stört immer noch mit Ausbrüchen seiner Eifersucht friedliche Anwohner.

Ogottogottogott, was soll ich denn nun machen? Ich möchte etwas schreiben, etwas ganz Lustiges, eine Posse, mit der man einen Haufen Geld verdienen könnte; denn diese Kuliarbeit ist mir in der Seele zuwider. Wenn die Welt untergeht, und ich gehe nicht mit unter, dann ist es mir doch vollends gleichgültig, und da muß ich den Leuten erzählen, daß Chamberlams Rede keine Gewitterwolken am politischen Horizont heraufbeschworen hätte. Ich kann es ja ganz unbefangen thun, denn ich habe sie nicht gelesen. Und doch, ich bin ein anständiger Mensch, diese Gewißheit hält mich noch aufrecht; nur soviel schwindle ich, wie ich zur Deckung der nötigsten Unkosten meines teuren Daseins bedarf. Und, wenn es mir gelingt, noch obenein täglich drei Cigarren in die Luft zu blasen, so glaube ich schon meine Haushaltungsbedürfnisse überschritten zu haben. Ich dünke mich noch ein Engel gegen die Leute, welche ihr ganzes Leben schwindeln, mit dem ernstesten Gesicht die belanglosesten Unwahrheiten in die Welt hinausposaunen, und die sogar hiermit ein lohnendes Geschäft machen, indem sie in der Regel reich und angesehen werden — diese Seeräuber. Nun frage ich: Kann es etwas Stumpfsinnigeres geben als Politik? Ein lächerliches Geschrei um Dinge, die uns fern liegen; ich habe nichts zu essen; mich hungert; schön, was kümmert es mich da, daß in Afghanistan Russen und Engländer sich die Nasen reiben; oder daß Krupp im Verhältnis zu wenig Steuern zahlt. Einen

Hund will ich haben!

Montag.

Was es doch für eigentümliche Dinge und Zufälle in der Welt giebt, und was einem so alles zustoßen kann! Man sollte es nicht glauben. Ich brauche von heute ab mehr Geld; ich werde doch nächstens mein Interview bei dem Kaiser von China zum besten geben und Erinnerungen aus meiner ahnungsweisen Bekanntschaft mit dem erschossenen Lassalle mitteilen. —

Aber, laßt mich der Reihe nach erzählen, das Er 13 lebnis ist so komisch, es liegt in ihm eine wahrhaft weltgeschichtliche Ironie, daß es schon deshalb verdiente, niedergeschrieben zu werden.

Der Alte nebenan wird ganz verrückt, er schreit und schimpft und schlägt gegen die Wand; erst belustigt es mich, aber auf die Dauer wird mir der Lärm doch zu dumm, und da es dunkel geworden, gehe ich fort.

Seit Iahren ist es eine kleine Schwäche von mir — alle großen Leute haben gewisse Eigenarten — nur des Abends fortzugehen. Am Tage sind mir die Unmenge fremder Menschen peinlich, während sie mich abends nur selten stören und nachts das ganze Pflaster mir allein gehört.

Es ist reisig und naßkalt. Drüben über grauen Feldern liegt die Nacht und nur von den fernen Fabriken quält sich ein roter Schein durch feuchte Luft. Der Wind treibt sinkende, sprühende Nebelmassen an der Laternenreihe vorüber, und die Gasflammen schwimmen in gelben, verdämmernden Höfen. Der Hund vom Holzplatz springt gegen den Zaun; er begleitet mich, soweit es sein Gebiet zuläßt, bläffend und jammernd, um mir endlich noch als Scheidegruß einige ganz überraschende Mißtöne nachzuwinseln. Wie ich um die Ecke biege, faßt mich der Wind heimtückisch in den Rücken und will mich weiter schieben. Mit ihren flatternden Mänteln gleiten da die Menschen in der trüben Luft vorüber, als würden sie von schwarzen Segeln getragen; alle haben die Hüte tief in das Gesicht gezogen und steuern vornübergelegt mit gesenkten Köpfen gegen das Wetter. Sie wissen alle, wo sie hingehören, was ihrer noch warten könnte, was sie empfängt; sie alle sind Sterne mit festen Bahnen, und nur ich bin ein losgerissener Lebensfunke, der ziellos im schwarzen Weltall umherirrt.

Ich bleibe an der Straßenecke stehen und weiß nicht, wohin ich mich wenden soll. Alles — das Pflaster, der Damm ist so schmutzig, naß und schwarz; doch die Häuserwände schwitzen einen weißen schimmligen Überzug aus, und auch das Eisen der Zäune starrt von diesem weißen Pelz. So stehe ich wohl eine Viertelstunde und warte, bis mir die Augen thränen; dann taumele ich weiter und sehe wieder lange Zeit durch halbblinde Scheiben in das verschwimmende Weiß einer Plätterei, wo sich nacktarmige, vollbusige Mädchen über Tische beugen, und die zischenden Eisen über weiße Wäsche gleiten lassen, bis es mich beunruhigt, daß sie einander mit den Ellbogen anstoßen und auf mich weisen, zu lachen beginnen. Dann treibt es mich weiter, wohl schon zum zehnten Male gehe ich denselben Weg, dieselbe Straße am Rand derselben Bordschwelle entlang. Immer von neuem aber zieht es mich nach dem Eingang der Stadtbahn, immer von neuem erstaunt es mich, wenn dort alle fünf Minuten ein schwarzer Strom von Menschen durch das Thor dringt, sich in schmale Arme zerspaltet und noch lange in dunklen Streifen fichtbar bleibt; während einzelne schwarze Tropfen, welche abgeirrt sind, schnell in der grauen, schweren Luft zerfließen. Aber immer schwächer wird schon der Strom, und endlich sickert es noch wie ein dünnes Wässerchen aus dem Thor, um schnell zu versiegen, der ganze große Platz liegt schon längst wieder tot und leer, ehe sich oben auf dem Wall neue Züge heranschieben. Sie keuchen, Rauch und Feuer blasen sie aus den Nüstern, weißen Qualm schleifen sie nach — weißen Qualm, der sich ballt und senkt, der die Glieder der langen Kette umschließt, der sich auf die Verdecke legt, als ob er sich mitziehen lassen will, der die erleuchteten Wagenfenster mit grauen Tüchern verhüllt. Ich will dahinauf gehen, fahren, ganz gleich, irgendwohin; in unbekannten, wildfremden Straßen umherirren, bis der Morgen anbricht. Von dem halbverschlafenen Mädchen am Schalter löse ich eine Fahrkarte, gehe durch den gewölbten Gang; eine Eiskellerluft, der schwarze Boden glitschig, die Ziegelwände, die Gasarme weiß bereift — selbst bis hierherein ist die feuchte Kälte gedrungen; oben auf dem Bahnsteig treibt der Wind Schnee und Regen durch die Halle. Zahllose Signallichter flackern draußen am Boden und zeigen in ihren Widerscheinen die vielfachen Verästelungen der Geleise; hoch in der Luft schweben die grünen und roten Funken der Einfahrtszeichen; aber weit draußen schimmert es von einem hellen Blockhaus. Da schleicht es heran um eine ferne Ecke, lautlos kommt es herangekrochen, wie die Schlange auf dem Bauch, mit grellen, zitternden Blicken aus zwei feurigen Augen; sie werden immer größer, sie schieben sich auf mich los, sie hypnotisieren mich, so daß ich gebannt bleibe. Dieses Untier mit dem Krebskopf und dem Tausendfußleib — wie die Zangen, wie die Scheren sich bewegen, wahnsinnig ineinandergreifen, als müßten sie mich packen, zerstückeln, zermalmen und in den schwarzen Schlund werfen. Ietzt donnert es an mir vorüber, weiß gepudert an allen Gliedern, starrend vor Reif; es blickt mich noch einmal listig von der Seite an, und bläst mir höhnend seinen feuchten Atem ins Gesicht. Durch den ganzen Zug geht ein Dröhnen und Schwingen, die Räder schleifen und knirschen auf den Schienen. Es zieht mich in den Armen, es stößt mich nach vorn — vor die Füße dieses schnaubenden Ungeheuers. Was dann wohl sein mag? Nichts, garnichts. Der Zug wird nach drei Minuten weiterfahren und die Leute werden das Geleise säubern, der schwarze, klebrige Kies wird rot und klebrig sein und der Reifkopf der Muttern an den Schienen ist vielleicht abgetaut. Das Untier holt drei-und viermal schwer und rasselnd Atem, schreit dann gell auf und setzt sich wieder in Bewegung; Wagen auf Wagen zieht vorüber, Scheibe auf Scheibe — gelbe Flächen. Ich starre auf den schwarzen Kies, der ölig glänzt; da, da könnte ich jetzt liegen. Wie das auf mich zukam, — gerade wie in meinen Träumen die gewaltigen roten Skorpione mit den Menschenaugen, die von der Decke des Zimmers herabgleiten.

Es tauchen wieder zitternde Glühaugen auf, ich muß mich dort hinwenden, ihm entgegen sehen, schon von ganz fern heftet es seine Blicke auf mich, ich will zurücktreten, aber es zieht mich zum äußersten Rand. Die Feueraugen werden immer größer, immer furchtbarer; ein Tosen und Knattern von schwarzen, gierigen Zähnen und Kiefern, jetzt kaum zehn Schritt von mir. Die Arme will ich ausbreiten.

„Zurücktreten!" Es faßt mich jemand und reißt mich zur Seite. „Wenn Se an die Trittbretter kommen, liegen Se unter die Räder, die schneiden Ihnen mitten durch," sagte eine gutmütige Stimme.

Ich wische mir den Schweiß von der Stirne.

Der Beamte geht, um die Wagenthüren zu schließen.

Ein Mädchen, das soeben ausgestiegen, bleibt über unsere Unterhaltung erstaunt stehen und blickt mich groß an. Sie ist recht ärmlich gekleidet, trägt ein Packet im Arm. Sie ist nicht einmal besonders hübsch; klein, unscheinbar. Die hat wohl noch keinen Menschen gesehen? So häßlich ist sie wohl garnicht, und wie mich dünkt, es ist irgend etwas wie Mitleid in ihren Blicken gewesen, irgend etwas wie Verständnis, das wäre doch gar zu eigenartig. Ob ich sie anreden soll? Ich gehe hinter ihr her, sie blickt sich ängstlich um und beschleunigt ihre Schritte. Auf dem Platz bin ich neben ihr.

„Sie haben mich doch vorhin so angesehen, Fräulein." Etwas Dümmeres kann ich wohl auch nicht vorbringen und wie blechern dabei meine Stimme klingt.

„Ia, Sie haben mir leid gethan, wie Sie so dastanden."

Ich habe ihr leid gethan? Wie kommt das Mädchen dazu, etwas von alldem zu ahnen. Ich blicke sie genauer an. Wie angenehm ist das blasse, schmale Gesicht. Die Augenbrauen sind über der kleinen gebognen Nase zusammengewachsen, wie ich es so gern habe; der Mund kindlich und weich, die Augen braun und groß. Von dem Haar, das in der feuchten Luft von seiner Festigkeit ver

Georg Hermann, Au« dem letzten Hause. 2 loren hat, fallen ihr welke Strähnen über die Ohren und in die hohe Stirn, und vergröbern noch den Eindruck des Unscheinbaren, Ungepflegten. Und doch liegt in dem Persünchen, — zwanzig Iahre mag das Neine Wesen sein — in der ganzen Weise sich zu tragen, etwas, das mich anspricht, etwas von Bestimmtheit, Ruhe, Selbstbewußtsein. Woher kann sie denn auch nur das instinktive Verständnis haben für Dinge, die in mir vorgehen?

— Was sie mit dem Packet wolle, — diese alberne Verlegenheitsfrage. Aber ich kann nichts anderes sagen, was haben wir denn gemein, dieses Mädchen da und ich. —

— Nein, ich sollte ihr lieber erzählen, was ich da auf der Bahn gewollt hätte, ich wäre doch nicht fortgefahren, ob ich da jemand erwartet hätte. —

Ich fühle, wie meine Backen heiß werden: jetzt examiniert sie mich sogar. Ich will doch einmal sehen, ob sie Wahrheit vertragen kann. „Ach nichts, ich wollte mich nur ein wenig unter den Zug werfen," — dabei lache ich recht laut.

„Pfui, wie können Sie so etwas sagen! — Ia, lachen Sie nicht, ich glaube, Sie wollten es wirklich. Sehen Sie, Sie sind doch nun ein gesunder, großer Mensch; wenn Sie arbeiten wollen, dann müssen Sie eben Arbeit sinden, und es wird Ihnen schon mal wieder besser gehen. Wenn es jedem, dem es mal ein wenig schlecht geht, einfallen wollte, sich das Leben zu nehmen, da wäre ja bald niemand mehr auf der Welt." — Das klingt ganz fest und bestimmt.

Zu lustig, die Kleine kann sich nur vorstellen, daß man wegen Nahrungssorgen in den Tod gehen will: also verstehen thut sie mich doch nicht.

„Mein Kind, damit Sie nicht glauben, daß ich so ganz und gar an den Hungerpfoten sauge, kommen Sie mit hier herein, der Konditor hat immer bis eins auf."

„Ich muß nach Haus."

— Wer sie denn erwartet. —

— Niemand, sie hätte keinen Menschen auf der weiten Welt. — „Aber es ist doch, denke ich, Zeit."

Wie nett sie die Worte setzt.

— Dann wäre es doch gleich, ob sie früher oder später käme. —

— Sie sei gar nicht danach angezogen. —

«Ach!"

— Und mit dem Packet? —

„Das trage ich." — Und damit nehme ich das Packet und gehe in die Thür; sie folgt unwillig, aber lächelnd. Drin sitzt nur noch ein einsamer Herr, und kritzelt vor sich Zahlen auf dem runden Marmortisch. Aus einem Nebenraum stürzt ein ganz kleiner Konditorjunge und fragt überhöflich nach unseren Wünschen.

Ah, ist das warm und hell; wir drücken uns beide in eine Ecke, sie nimmt die Krimmermütze ab und streicht sich das Haar zurecht. Ietzt, da das Mädchen von der Luft gerötet ist und lacht, sieht sie recht gefällig aus. Aber, was soll ich nur mit ihr sprechen, wir haben doch nichts Gemeinsames.

„Sind Sie in einem Geschäft, Fräulein?" Sie wird plötzlich ganz ernst und schaut fast ängstlich.

„Nein, augenblicklich nicht, ich war bis zum Ersten Verkäuferin in einem großen Bazar, nun bin ich fast schon einen Monat ohne Stelle. Doch zu Weihnachten bekomme ich sicher wieder eine Aushilfe, ganz bestimmt. Da brauchen sie ja viel Mädchen, da giebts zu thun, da hat man oft bis des Nachts um zwölf zu arbeiten, und des Morgens wieder um halbacht an Ort und Stelle zu sein, so gehts fast einen Monat durch. Hergott, wie müde man oft wird, aber wenn man tüchtig ist, dann behalten sie einen; sehen Sie, wo ich jetzt war, da sind zu Weihnachten zehn junge Mädchen eingestellt worden, und davon sind acht im Ianuar entlassen worden, eine im Iuli und ich jetzt zum Oktober. Ich wäre ja noch geblieben, wenn nicht eine Verwandte vom Alten meinen Platz bekommen hätte. Ach, erst war ich ja bis vergangenen Herbst bei Schröters, aber da mußt ich fort. Nicht vielleicht, weil ich mir was habe zu Schulden kommen lassen, — sie waren sogar sehr zufrieden mit mir, ich bin in einem Iahre zwanzig Mark im Gehalt gestiegen, und ich — das wird Sie wohl nicht interessieren." —

„Gewiß.-"

„Aber die Sache ist sehr verwickelt," weicht sie aus.

„Nein, nun muß ich es wissen, sonst kann ich die ganze Nacht nicht schlafen."

„Ach Gott, ich habe so viel geweint."

„So?"

— Da wird sie ärgerlich; was das wäre, ich sollte mich nicht über sie lustig machen. —

— Ich hätte gar nicht die Absicht, mich über sie lustig zu machen, sie möchte nur erzählen, warum sie die reiche Pfründe von siebzig Mark eingebüßt. —

— Ich sähe überhaupt so spöttisch aus, als ob ich über alles erhaben wäre. —

— Ach Gott, wenn sie wüßte. —

„Ia, mein Vater ist nämlich mein Stiefvater."

Nun hätte ich aber fast laut aufgelacht. Entweder Vater oder Stiefvater, aber beides? Das ist doch ungemein ulkig.

„Weil ich vor der Ehe geboren bin. — Da war ein Oberkellner in dem Restaurant, wo meine Mutter Köchin war. Warum soll ich denn das nicht sagen, ich kann doch nichts dafür." —

Ietzt lache ich nicht mehr.

„Und wo nun meine Mutter das andere Kind hat, kann sie mich nicht ausstehen. Sie hat das andere Kind, es ist jetzt zwölf Iahre, ein bildhübsches Mädchen, und es hängt an mir wie eine Klette, ja sogar ebenso gennnnt, wie mich, auch Martha. Mein Stiefvater ist zu mir immer freundlich gewesen, aber meine Mutter — immer hat sie es mich fühlen lassen und mit mir gezankt und mich geschlagen — ich kann doch nichts dafür! Die alte Frau in Ketzin, von der ich aufgezogen worden bin, die ist so gut zu mir gewesen, wie eine richtige Mutter, und wenn sie Monate lang das Geld nicht bekommen hat, dann hat sie es mich doch nicht merken lassen; und die Frau, — wenn ich mal fünf Mark zuhause nicht abgegeben habe, oder, wenn ich eine Stunde später gekommen bin, dann hat sie auf mich eingeschlagen, wie auf kaltes Eisen. Und da habe ich endlich zu meinem Stiefvater gesagt — er hat ja auch keinen Einfluß zuhause, — es thäte mir leid, er wäre ja immer gut zu mir gewesen, aber mit der Frau könnte ich nicht länger unter einem Dache zusammen leben; ich ginge fort und würde mir schon allein durchhelfen. Da hat er gemeint, er könne das-vollkommen verstehen; denn ein erwachsener Mensch dürfe sich auf die Dauer so etwas nicht gefallen lassen; da habe ich meine paar Sachen gepackt und mir eine Schlafstelle gemietet. Am nächsten Tag ist Mutter ins Geschäft gekommen und hat solchen Lärm gemacht und so gemein geschimpft, daß sie rausgeworfen worden ist. Draußen auf der Straße hat sie mich abgelauert und ist hinter mir hergelaufen, und hat geschrieen und mich gestoßen, daß die ganzen Leute zusammen gelaufen sind, viel hätte nicht gefehlt, dann hätten sie uns beide zur Wache gebracht. Mit einem Mal kommt eine Pferdebahn, ich in meiner Angst herauf, die Frau will hinterher, da sagt der Schaffner, daß kein Platz mehr wäre, und alle Leute brüllen, johlen und lachen. Der Wagen fährt fort, und sie steht da, und schimpft, was das Zeug hält. Am nächsten Morgen bin ich nun ins Geschäft gegangen, habe um mein Gehalt gebeten, weil ich sofort abgehen müßte. Da hat der Abteilungschef gesagt, aber Fräulein Günzel, warum wollen Sie denn fort! wir lassen Sie so ungern gehen, Sie sind ja meine beste Verkäuferin und von nächsten Ersten sollten Sie wieder zehn Mark Zulage bekommen. Da habe ich ihm die ganze Geschichte erzählt, da hat er gemeint, ich sollte nur ruhig bleiben, die Frau sollte überhaupt nicht mehr hereingelassen werden. Ich aber hab mich so geängstigt, daß sie mich wieder ablauern würde, daß ich mir habe mein Gehalt geben lassen und gegangen bin. Dann hab ich meine Sachen genommen, und bin nach Ketzin zu meiner Pflegemutter gefahren. Die alte Frau hat vor Freude geweint, als sie mich wiedergesehen hat, ich könnte solange bei ihr bleiben, wie ich wollte und brauchte nichts zu bezahlen. Aber ich habe täglich in der Zeitung nachgesehen ob sich nichts für mich fände, und wie ich gelesen habe, daß Raff, Verkäuferinnen für die Weihnachtszeit suchen, bin ich sofort nach Berlin gefahren und habe dann auch eine Stellung bekommen. Meine Mutter hab ich nicht wiedergesehen. — Bis letzten Ersten bin ich dageblieben, und jetzt will ich mir wieder was Neues suchen, ich werde schon was sinden, ich habe gute Zeugnisse. —"