Aus - Jetta Heinen - E-Book

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Jetta Heinen

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Beschreibung

Mathilda und Aron haben sich vor Kurzem getrennt. Gezwungenermaßen verbringen sie einen letzten Abend zusammen, nachdem Aron sie versehentlich aus ihrer gemeinsamen Wohnung ausgesperrt hat. Im Treppenhaus vor ihrer Wohnung lassen sie ihre Beziehung Revue passieren. "Aus" ist eine Geschichte über die erste große Liebe, die deshalb so besonders ist, weil sie für immer ein Teil von uns sein wird.

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Jetta Heinen, 1994, lebt in ihrer Heimatstadt Köln. AUS ist ihr dritter Roman.

www.instagram.com/iam_jetta

www.jettaheinen.com

Für die erste große Liebe, die wir alle erleben.

Hast du schon mal versucht, eine brennende Kerze durch den Regen nach Hause zu tragen?

Der Zauber der ersten Liebe liegt darin, daß man sich nicht vorzustellen vermag, sie könnte jemals enden.

Benjamin Disraeli, Earl of Beaconsfield

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Nachwort

Kapitel 1

Schon auf der Treppe spürt Mathilda, dass sich ihr Hals zuzieht. Sie weiß nicht, ob es die winterliche Kälte ist, die Anstrengung oder das, was sie oben erwarten wird. Sie setzt einen Schritt vor den anderen, das Holz der alten Treppe knarrt. Sie erinnert sich daran, wie es geknarrt hat, als sie hier vor zwei Jahren eingezogen waren. Mathilda hat fachmännisch beäugt, wie Aron und ihr Bruder die Möbel in den zweiten Stock getragen haben. Es kommt ihr vor, als wäre dieser Tag Jahrzehnte her, Jahrtausende.

Als sie den Treppenabsatz erreicht, sieht sie ihn. Aron. Der Mensch, der zweifellos die Liebe ihres Leben gewesen ist. Ist. Sie ist sich nicht sicher, will ihn weggestoßen und an sich reißen. Er trägt eine schwarze Jogginghose und ein Carhartt-Shirt. Das Treppenhaus ist zu kalt, um sich in diesem Aufzug hieraus zu setzen. Er hat sein Handy in der Hand, hat seinen Blick auf das Display gerichtet. Als er ihre Schritte hört, sieht er auf. Sieht sie an. In das Gesicht, das er am besten auf der Welt gekannt hat. Kennt. Er ist sich nicht sicher, er will wegsehen und sie anschauen.

„Hallo“, sagt Mathilda. Sie runzelt die Stirn und zeigt erst auf die geschlossene Wohnungstür, dann auf ihn. „Warum sitzt du hier draußen?“

Aron hebt die Augenbrauen. Er nimmt die Zigarettenschachtel von der Stufe, auf der er sitzt und hält sie hoch. „Ich wollte Zigaretten holen. Hab den Schlüssel vergessen. Der Schlüsseldienst ist unterwegs.“ Schuldbewusst verzieht er den Mund.

Mathilda stöhnt innerlich auf. Sie ist nicht quer durch die Stadt gefahren, um jetzt vor verschlossener Tür zu stehen. Sie geht hinüber zur Tür, rüttelt am Knauf. „Mensch Aron“, sagt sie. Sie hat nicht vor, mit ihm zu streiten, sie haben sich eine Weile nicht gesehen. Es gab eine Zeit, da hat sie nicht ertragen, wenn er nicht im selben Raum war wie sie. Sie blickt auf das Holz der Tür. Es kennt ihre Geschichte, besser vielleicht als sie selbst. Es hat sich eine Meinung gebildet zu der Stille, die zwischen ihnen entstanden ist. Dazu, dass immer einer da war, aber nie beide zusammen. Schon lange nicht mehr. Sie sind sich nicht aus dem Weg gegangen, sie sind denselben Weg in unterschiedliche Richtungen gelaufen. Sie will ihm einen vorwurfsvollen Blick zuwerfen, aber stattdessen schließt sie die Augen und ärgert sich über sich selbst, dass sie ihren eigenen Schlüssel nicht mitgenommen hat, weil sie davon ausgegangen ist, dass Aron da sei. Bis sie jetzt zurück zum anderen Ende der Stadt fahren gefahren wäre, um ihren Schlüssel zu holen, wäre der Schlüsseldienst wohl allemal da.

„Ich mach dir einen Vorschlag: Sobald ich drin bin, suche ich dir das Kleid raus und bring es dir heute noch vorbei.“ Aron rutscht auf der Stufenkante nach vorne.

Mathilda seufzt. „Du weißt doch gar nicht, welches ich brauche.“

„Ich schicke dir Fotos“, schlägt er vor.

Mathilda lehnt sich mit dem Rücken gegen die Tür. Sie sieht auf seinen Mund, auf seine Lippen. Sie sehen anders aus, als gehörten sie nicht zu ihm. „Haben die gesagt, wie lange das dauern wird?“ Sie deutet auf sein Telefon.

„Nein.“

Seine Einsilbigkeit löst etwas in ihr aus. „Du wusstest, dass ich komme und du weißt, dass ich morgen das Kleid brauche.“ Sie sagt es mit ruhiger Stimme und deswegen klingt es seltsam. Sie versucht es noch einmal am Türknauf, wundert sich aber nicht, dass die Tür immer noch verschlossen ist. In Arons Augen sieht sie, dass es ihm leidtut.

„Ich wäre besser schon im Laufe der Woche gekommen“, sagt sie kleinlaut. Aron ist zuverlässig. War er immer. Ihm die Schuld dafür zu geben, dass er sich ausgesperrt hat, wäre nicht fair. Das weiß sie. „Hast du dir neue Zigaretten geholt?“

„Nein, ich hab auf dich gewartet.“ Aron grinst sie an. Sein Grinsen schmerzt. Es passt nicht. Es ist fehl am Platz. Wie ein Löwe am Nordpol.

„Wie lange kann das dauern? Wartet man nicht ewig auf den Schlüsseldienst?“, überlegt Mathilda.

Aron sagt nichts dazu. Er hebt nur kurz die Schultern.

Mathilda wendet den Blick ab, sieht ihn wieder an. „Nun geh schon und hol dir Zigaretten. Ich warte hier so lange.“

Aron will abwinken, aber als er Mathildas Gesicht sieht, nickt er kurz. „Cool, gut.“

Er steht auf, geht an ihr vorbei und die Treppe hinunter. Er trägt nur ein T-Shirt, während draußen der Dezember vor der Tür steht.

Sie setzt sich auf die Stufe, auf der Aron gerade noch gesessen hat. Sie lehnt sich zurück, stützt die Ellenbogen auf die Stufe über ihr. Es ist ihr unheimlich, wie fremd ihr dieses Treppenhaus vorkommt. Zwei Jahre lang ist sie jeden Tag treppauf, treppab gelaufen. Jetzt hat sie das Gefühl, sie sitzt in einem anderen Haus, in einer anderen Stadt, in einem anderen Land. Auf einem anderen Planeten, in einem anderen Sonnensystem. Ganz egal, wo, jedenfalls weit weg von dem, was sie mit Aron verbunden hat. Wenn sie demnächst ihre Sachen aus der Wohnung holt, hat sie nicht nur das Kapitel abgeschlossen, sondern das Buch zugeschlagen. Wer hätte gedacht, dass es jemals so weit kommen würde.

Sie denkt an die Wohnung ihrer Schwester, in der sie momentan auf dem Sofa schläft. Seit 61 Tagen. Mit einem Koffer und dem Backpackrucksack ihres Bruders ist sie aus ihrer gemeinsamen Wohnung mit Aron ausgezogen, so gepackt, als würde sie für drei Jahre um die Welt reisen. Kleidung für besondere Anlässe hat sie dagelassen. Weil morgen ihr Neffe getauft wird, braucht sie das blaue Kleid, das im Schlafzimmerschrank hängt. Es trennt sie nur ein Stück Holz von diesem Kleid.

Sie holt ihr Handy aus der Tasche, schreibt ihrer Schwester eine kurze Nachricht. Dass sie später kommt – sie hatten eigentlich vorgehabt, etwas beim Asiaten zu bestellen und das Finale der Serie zu gucken, die sie gemeinsam angefangen haben. Vor 60 Tagen. Als Mathilda sich in einem Zustand befand, den sie selbst nicht definieren konnte. Sie hat sich wie Schokolade gefühlt, die zu lange in der Sonne gelegen hatte.

Paula, ihre Schwester, braucht nicht lange für ihre Antwort. Sie fragt, ob Mathilda einen Wein vom Späti mitbringt. Mathilda verdreht die Augen und steckt das Handy wieder ein. Ihr Blick fällt auf die Fußmatte, dann wieder auf die Tür. Und plötzlich sieht sie all die Leute, die wegen Aron und ihr bereits vor dieser Wohnung gestanden haben. Ihre gemeinsamen Freunde, Freunde von Aron, ihre eigenen Freunde. Ihre Eltern, Arons Vater. Arons Mutter war kein einziges Mal hier gewesen, Mathilda hatte sie in den fünf Jahren sowieso nur ein einziges Mal gesehen. Sie lebt in Singapur, mit einem neuen Mann und für ihren Job. Was sie genau beruflich macht, hat Mathilda nie interessiert. Sie mochte sie nicht, weil sie Aron alleingelassen hatte.

Diesem Gedanken hängt sie nach, als Aron wieder oben ankommt. Er sieht, dass sie auf seinem Platz auf der Treppe sitzt und lehnt sich an das Geländer. Er hebt die Zigarettenschachtel an, um ihr zu bedeuten, dass er erfolgreich war, dann legt er den Kopf in den Nacken und sieht das Treppenhaus hinauf, als würde er sich für dessen Architektur interessieren. Es ist ein altes französisches Treppenhaus; die Stufen führen in weiten Kreisen in die Stockwerke hinauf, das Geländer ist massiv, der Handlauf breit und aus Holz. Das war das erste, in das sich Mathilda verliebt hat, als sie mit Aron die Wohnung besichtigt hatte. Er erinnert sich daran, wie sie mit der Bahn in diesen Teil der Stadt gefahren waren. Er hatte ihre Hand gehalten, als sie an der U-Bahn-Station ausgestiegen waren und sie nicht losgelassen bis sie vor der Haustür standen. Der Hauseigentümer hatte ihnen die Tür geöffnet, ihnen die Hand gegeben. Dann hatte er sie hinauf in den zweiten Stock geführt. Mathildas Augen hatten gestrahlt, als sie die Treppe hinaufgestiegen waren. Aron hatte keinen Blick für das Treppenhaus gehabt, nur Blicke für sie.

Jetzt sieht er wieder zu ihr und muss aufpassen, dass er sich nicht in dem Grün ihrer Augen verliert. Er verschränkt die Arme vor der Brust, da erwidert sie seinen Blick. Er lächelt sie an. „Ich kann dir das Kleid wirklich später noch vorbeibringen.“

„Es ist alles in Ordnung, Aron. Ich warte hier mit dir auf den Schlüsseldienst.“ Mathilda erwidert sein Lächeln und beobachtet, wie er wieder den Kopf in den Nacken legt, um seinen Blick auf die Decke des Treppenhauses zu richten.

Kapitel 2

Zum ersten Mal gesehen hatten sie sich in der Uni. Aron studierte Literaturwissenschaften und Philosophie, Mathilda Literatur- und Buchwissenschaften. Der Professor, der den Kurs Literatur der Gegenwart hielt, war ein älterer Herr in einem Nadelstreifenanzug mit grauem schütterem Haar und er war schon im Raum. Er unterhielt sich in der ersten Reihe mit einem wissenschaftlichen Mitarbeiter, der die Beine in seiner engen Jeans überschlagen hatte und seine ausschweifenden Worte mit dem Kugelschreiber untermalte, den er in der Hand hielt. Die Studenten, die ihre Plätze eingenommen hatten, hatten die Lektüre, um die es ging, herausgeholt: Benedict Wells, Vom Ende der Einsamkeit.

Mathilda trug ihre Haare noch lang, sie hatte sie noch nicht blond gefärbt. Sie kam in den Raum, setzte sich an einen Tisch am Rand und holte Block und Roman heraus.

Das Seminar hatte bereits begonnen, als die Tür erneut aufging und Aron hereinkam. Er steckte sich lässig seine Sonnenbrille in die Haare, hob entschuldigend die rechte Hand und ließ sich mit einem Stuhl Abstand auf einen Platz neben Mathilda fallen. Vermutlich, weil er schnell zu erreichen war.

Während des Seminars hörte Aron kaum zu, er schrieb E-Mails auf seinem Laptop - das konnte Mathilda aus dem Augenwinkel heraus sehen. Einmal fragte er sie, um welche Seite im Roman es gerade ging. Da sah er sie zum ersten Mal an. Sein Blick blieb an ihr hängen, lange genug, um ein Interesse erkennen zu lassen. Es war Mathilda, die den Blick abwandte. Aron schlug die Seite nicht auf, die sie ihm genannt hatte, er schlug den Roman auf einer beliebigen Seite auf, grinste und schlug ihn wieder zu. Sein Blick fiel noch drei, vier Male auf Mathilda, dann betrachtete er das Cover, als wäre das momentan Thema. Auf dem Buchdeckel waren ein Mann und eine Frau abgebildet. Der Mann trug ein helles T-Shirt, die Frau ein dunkles Top. Ihre Hände lagen in seinem Nacken, beide schauten sie in eine Richtung. Ihre Mimik war nicht auf den ersten Blick zu deuten. Ihre Gesichter schienen regungslos, als betrachteten sie etwas, ohne dabei etwas zu empfinden. Das Bild hatte einen orangefarbenen Stich. Aron drehte den Roman um, überflog den Klappentext. Es war das erste Mal, das er sich mit diesem Buch auseinandersetzte. Er hatte es gekauft. Das war’s. Mehr Anstrengung sollte nicht nötig sein, um diesen Kurs zu bestehen.

„Nun ist es an uns, den Begriff der Einsamkeit einmal näher zu definieren.“ Als der Professor das sagte, sahen Mathilda und Aron beide nach vorne. „Hermann Hesse hat einst gesagt, Einsamkeit sei der Weg, auf dem das Schicksal den Menschen zu sich selber führen wolle. Jetzt frage ich Sie, warum verknüpfen wir mit dem Begriff der Einsamkeit zunächst ein negatives Gefühl?“

Eine Handvoll Studenten meldeten sich, sprachen über ihre Gedanken. Mathilda kritzelte ein paar Notizen auf ihren Block. Sie spürte sehr wohl, dass ihr Sitznachbar sie immer wieder verstohlen ansah und konzentrierte sich darauf, seine Blicke nicht zu erwidern.

Aron meldete sich nach ein paar Minuten: „Für mich ist Alleinsein das Zusammensein mit sich selbst als etwas, was wohltuend ist, wohingegen der Einsamkeit ein Gefühl der Verlorenheit zugrunde liegt.“

Der Professor lächelte ihn an und nahm einen weiteren Studenten dran.

Jede Woche saßen Aron und Mathilda gemeinsam in diesem Kurs. Sie sahen sich in keiner anderen Veranstaltung. Wenn Mathilda schon da war, bemühte sich Aron, sich in ihre Nähe zu setzen, wenn Aron zuerst da war, achtete er darauf, dass um ihn herum noch Plätze frei waren. Kurz vor der Weihnachtspause saß er wieder einen Platz von Mathilda entfernt. An diesem Tag sprachen sie darüber, inwiefern Liebe das zentrale Element der Handlung war. Aron war unkonzentriert, er hatte sich vorgenommen, Mathilda anzusprechen, wenn sie nur wieder näher bei ihm sitzen würde.

Schließlich schlug er wieder eine beliebige Seite auf, las ein paar Zeilen. Er nahm den Kugelschreiber und unterstrich ein Wort, dann schaute er zum Professor, der in einen Vortrag über die Liebe zwischen Jules und Alva vertieft war, steckte seinen Kugelschreiber zwischen die Seiten sechsundvierzig und siebenundvierzig und schob das Buch über den Tisch zu Mathilda. Mathilda blickte von ihrem Block auf, hob amüsiert die Augenbrauen, als sie Arons Buch vor ihrem Block liegen sah und sah ihn fragend an.

„Öffne das Buch“, formte Aron tonlos mit den Lippen und untermalte seine Aufforderung, indem er selbst ein unsichtbares Buch aufschlug.

Mathilda nahm sein Buch in die Hand; der Kugelschreiber zeigte ihr, welche Seiten sie sich anschauen sollte. Auf der linken Seite war das Wort „Hey“ unterstrichen. Sie konnte nur schwer ein Lachen unterdrücken und sah Aron an, der sie zufrieden anlächelte. Sie nahm einen pastellfarbenen Textmarker aus ihrem Mäppchen und markierte dasselbe Wort in einem zarten Rosa. Da der Kugelschreiber noch immer zwischen den Seiten steckte, schloss sie das Buch und schob es zurück zu Aron.

Aron öffnete das Buch, lachte, als er sah, dass Mathilda dasselbe Wort markiert hatte und überflog die Seite. Er nahm den Kugelschreiber und unterstrich weitere Worte. Dann legte er den Kugelschreiber wieder zwischen die Seiten und schob das Buch zurück zu Mathilda.

Sie sah ihn grinsend an und schlug den Roman auf. Aron hatte einen Satz auf derselben Seite markiert, allerdings hieß er dieses Mal: „In der zweiten Runde bist du dran“. Mathilda nahm den Kugelschreiber aus dem Buch und blätterte vor und zurück. Sie überflog ein paar Sätze.

Aron beobachtete sie dabei. Er hatte noch nie ein Mädchen gesehen, dass so schöne Augen hatte. Er hatte noch nie ein Mädchen gesehen mit einem so schönen Mund. Er hatte noch nie ein Mädchen gesehen, dass so schön war und es so wenig wusste. Als sie ihm das Buch zurückgab, wartete er darauf, dass sie ihn ansah. Er hatte noch nie ein Mädchen gesehen, dass ihn ansah und ein solches Gefühl in ihm auslöste.

Der Kugelschreiber steckte zwischen den Seiten zweiundsechzig und dreiundsechzig. Mathilda hatte einen Satz auf der rechten Seite markiert: „Alles klar bei dir?“

Sie beobachtete, dass Aron schmunzelte. Eifrig blätterte er ein paar Seiten vor, auf der Suche nach einer Antwort, die Wells ihm zurechtgelegt hatte. Schließlich war „Ja, verdammt“ unterstrichen, als Mathilda das Buch zurückbekam.

Mathilda lächelte ihn an.

„Der Mensch ist sich seiner Gefühle vor allem in Traurigkeit und Schmerz bewusst. So stellt sich mir die Frage, ob Jules sich Alvas Besonderheit erst durch seine eigene Traurigkeit und seinen eigenen Schmerz bewusst wurde. Ist es nicht gänzlich ironisch, gänzlich sarkastisch, nahezu zynisch, dass er Alva verlor und in eine noch tiefere Traurigkeit, einen noch tieferen Schmerz stürzte?“ Der Professor hielt inne und ließ seinen Blick über die Seminarteilnehmer schweifen.

Am Ende der Seminarstunde zog Aron den Roman, der immer noch an Mathildas Platz lag, zu sich heran, zwinkerte ihr zu und verließ, ohne ein Wort zu sagen den Raum.

Eine Woche später setzte sich Aron direkt neben sie und sah sie erwartungsvoll an. „Hey“, sagte er.

„Hey“, antwortete Mathilda lachend.

„Ist das okay, wenn ich hier sitze?“, fragte Aron. Er zog seinen Kugelschreiber und seinen Roman aus der Tasche.

„Klar.“ Mathilda nickte ein paar Mal. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

Als der Professor das Seminar eröffnete, markierte Aron zwei Zeilen und schob Mathilda sein Buch zu. Sie schlug es auf, unterstrichen war die Frage: „Wäre es wirklich besser, wenn es diese Welt überhaupt nicht gäbe?“

Mathilda unterstrich einen Satz auf Seite hundertfünfundsechzig: „Hoffnung ist was für Idioten.“

Aron antwortete mit Seite hundertneunzig. „Wenn man sein ganzes Leben in die falsche Richtung läuft, kann’s dann trotzdem das Richtige sein?“

Danach bekamen sie die Aufgabe, den Blick des Protagonisten auf seine Kindheit bildlich darzustellen. In der Zeit sprachen die Studenten miteinander, um die Aufgabe zu lösen.

„Ich denke, dass es das Richtige sein kann“, sagte Mathilda, ohne ihren Textmarker gezückt zu haben.

Aron nickte. „Woher weiß man dann, was richtig und falsch ist?“ Er zeichnete zwei Kreise in den Roman, gleich auf die erste Seite, vermutlich, weil er nur dieses Buch und einen Kugelschreiber dabei hatte. „Darf ich deinen Namen erfahren?“, fragte er sie hoffnungsvoll.

„Mathilda“, antwortete sie. „Und wie heißt du?“

„Aron“, sagte er.

Mathilda nickte. „Was studierst du?“

Er nannte ihr seine Fächerkombination und fragte nach ihrer. „Schreibst du selbst?“, wollte er von ihr wissen.

„Nicht wirklich“, sagte Mathilda.

Am Ende der Seminarstunde nahm Aron Buch und Stift in die Hand, winkte ihr kurz zu und verließ den Raum.

Kapitel 3